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Fünftes Kapitel.

W Wenn Pater Juan mit Benjamin auch den Weg nach Thüringen, als die südliche Straße, einschlug, so hatte er für diesen regenschwangeren Tag, an dessen Himmel die Wolken wie verhüllte Geschicke hingen, doch kein anderes Ziel, als Benjamin in eines rechtlichen Wirtes Herberge unterzubringen und daselbst abzuwarten, ob er nach Wittenberg zurückkehren oder sich weiter seiner Führung anvertrauen würde; denn nichts wäre dem Priester ruchloser erschienen, als einen Unwilligen und darum Unwürdigen vor die Klosterpforte von Voghera zu bringen, einen, der zwar im Leben in Bedrängnis geraten, in seinem Herzen aber ungeängstigt und unzerschlagen geblieben war.

Freilich unterschätzte Pater Juan die Bedeutung dieses Einherschreitens auf der Straße nach Thüringen keineswegs. Wer einmal wandert, bedarf einer entschlossenen Umkehr, um wiederum dahin zu gelangen, von wo er ausgegangen ist. – Würde Benjamin vermögen, selbstwillig umzukehren? Was aber dem Pilger an Frömmigkeit, Reue und Einsicht fehlen mochte, konnte auf der Wanderschaft die Gnade Gottes, Belehrung und Gebet in ihm wirken; vornehmlich auf dieses letzte gründete Pater Juan wie alle in Gott ruhenden Menschen seine Hoffnung.

Sie waren wenig mehr als zwei Stunden schweigsam miteinander die Straße entlang gegangen, immer an junger Saat und umpflügten Äckern vorbei, als der Regen nachließ und ein leichter Wind die Schwere der Wolken zu teilen begann; da blieb Benjamin stehen, seine Knie wankten, und Pater Juan leitete den von leiblicher Schwäche Befallenen an einen nahen Meilenstein, wo er haltlos in sich zusammenfiel.

Der Priester wartete geduldig, bis Benjamin selbst begehrte, weiter zu wandern, führte den Erschöpften an der Hand und beschloß, das erste Gasthaus, das am Wege stehen würde, nicht unbesucht vorbeizulassen. Es war eine Fuhrmannskneipe, die bis in die Nacht hinein von Flüchen widerzuhallen pflegte, und wenig geeignet, den Frieden des Herzens darin zu finden; doch gewährte sie für den Augenblick alles, dessen man bedurfte: Speise und Trank und ein Lager in der Kammer; auf dieses sank Benjamin wie einer, der nach schwerer Krankheit zu früh seinen Füßen vertraut hat, und auch der Priester, als er sich still am Bette niederließ, betrachtete seinen Schützling nicht wie einen Sünder, den er bessern, sondern wie einen Kranken, den er pflegen sollte, und also mit Sorglichkeit.

Benjamin hielt für den Rest des Tages die glanzlosen Augen halb geöffnet, – Augen, die deutlicher als Worte von der öden Verlassenheit der Seele zeugten, darin weder Trotz noch Reue, weder Erinnerung noch Sehnsucht glühte, nur Unrast wach und verworren wohnte. Endlich um die Abendstunde übermannte der Schlaf der Jugend alle friedelosen Geister; schwer fielen die Lider zu, die Stirn glättete sich, und jeder Atemzug schöpfte tief aus einem verborgenen Quell die Erneuerung und stählte dem Schläfer Leib und Seele und Willen, damit er im Lichte des Tages seine Kräfte nütze.

So urteilte der Priester, dem die Nacht über mancherlei Gedanken und Reiseplänen fast unbemerkt entflohen war, urteilte, als er mit der Morgenröte die Röte der Gesundheit auf Benjamins Wangen gewahrte, daß es nunmehr Zeit sei, diesen an das göttliche Gebot: »Betet ohne Unterlaß« zu mahnen und legte seine arg zerlesene »Nachfolge Christi« dem Schlafenden in die Hände, – nicht ohne für den Erwachenden eine wohlgewählte Seite aufgeschlagen zu haben. Dann verließ er die Kammer, durchschritt mit quellendem Ekel die Wirtsstube, in der noch der Atem gemeiner Fröhlichkeit gefangen lagerte, schüttelte, während er hinausging, die Nacht von den Schultern und badete sich im Aufgang des Morgens.

Der leuchtete schon hell vom Himmel, als Benjamin endlich mit schwerem Atemzug erwachte; irgend ein Gefühl ruhiger Kraft verführte ihn, die Wochen unruhigen Begehrens zugleich mit den überschwänglichen Stunden der Erfüllung zu vergessen und schlicht väterlich »Martin« zu rufen. Aber der süße Name seines Kindes wandelte sich auf der Zunge in Bitterkeit, – das verratene Kloster, die geschändete Ehe und die verlorene Geliebte tauchten zu Schreck und Qual aus der Nacht eines traumlosen Schlafes empor und verwirrten von neuem das Leben der Seele.

Indem Benjamin sich auf seinem Lager in die Höhe richtete, war er gezwungen, Pater Juans offnes Andachtsbuch zu sehen, fast auch gezwungen, den von leichter Hand unterstrichenen Satz herauszulesen.

Felix hora, quando Jesus vocat de lacrymis ad gaudium spiritus.

Ein ungewohnter Zug von Verachtung flog reifend und verschärfend über Benjamins weiches Antlitz. »Was ist Glück? Was ist Berufung?« empfand er müde und lehnte sich zurück in die Kissen; »was sind Tränen, und was ist Freude?« Seufzend überdachte er die Hoffnungslosigkeit seiner Lage; nach Wittenberg zurückkehren, mit Ave im Herzen in Margretes Arm zurückkehren und das Mitleid der Amtsbrüder zugleich mit der Verhöhnung des Volkes erdulden? Oder sollte er einen Boten an Ave entsenden und sie dennoch zu sich rufen? Aber Ave, die Zarte, in der Fremde, die wahrlich ein Elend ist, ohne Obdach über dem geliebten Haupt! – Nein, da war kein Rat und Ausweg, – er allein mußte wandern, – gleichviel wohin! – Drüben im lombardischen Lande stand ein Kloster, das seiner wartete, aber er bedurfte keines Zieles für seine Wanderschaft, keiner Heimat, keines Klosters. – Unwillig legte er die »Nachfolge Christi« beiseite und verlangte im Geiste nach seinen Lutherschriften, die er als Brevier hätte mit sich nehmen sollen und als Talisman gegen die papistischen Lockungen des Priesters.

Eben trat Pater Juan leuchtend wie der Morgen in die Tür, was Benjamin nur um so mehr gegen ihn aufbrachte.

»Schaffe mir meine Freiheit eines Christenmenschen zurück!« rief er ihm entgegen, sich des doppelten Sinnes seiner Worte wohl bewußt.

Der Glanz der Morgensonne, den der Priester mit sich hereingebracht hatte, wich augenblicklich von seinem Antlitz, und ernsthaft entgegnete er:

»Du hast die menschliche Freiheit in Wittenberg genießen dürfen, – eines Christen Freiheit hast du nie besessen.«

Pater Juan trat näher an Benjamins Bett, sah seinem Patienten ins Gesicht und begriff, daß kein Gebet über diese Lippen geflossen war.

»Was gedenkst du also zu tun, Bruder Benjamin?« fragte der Priester nicht ohne Bangen vor der Antwort, aber Benjamins unsterbliche Seele mit einem Seufzer Gott befehlend.

Benjamin schloß von neuem die Augen und antwortete gleichgültig:

»Ich will wandern, – hierhin und dahin, – an Weggesellen wird es nicht fehlen.«

Pater Juan ergriff begierig diese dünngewebte Ausflucht Benjamins und kam seiner ungewissen Art mit festen Vorschlägen zu Hilfe.

»Es wird Euch nicht unlieb sein«, sagte der Priester, »die Grenze protestantischer Länder zunächst auch als die Grenze Eurer Wanderschaft anzusehn. Mich treiben Geschäfte in die lange nicht betretene Genfer Heimat; wenn es Euch gefällt, mich dahin zu begleiten, so mögt Ihr in Calvins Kirchenstaat meine Katholizität mit Eurer evangelischen Gesinnung decken, indes ich Eure Leiblichkeit im väterlichen Hause berge.«

Benjamin, der noch eben geglaubt hatte, eines Reiseziels entraten zu können, empfand deutlich die dargebotne Wohltat, Sammlung für seine schweifenden Gedanken um einen festen Punkt zu empfangen. Genf! –

Blau hob sich der See und schimmernd der Zug der Berge vor Benjamins Seele und erfüllte ihn mit plötzlicher Sehnsucht, dieses Sachsen weit hinter sich zu lassen.

Genf, die Herrliche, vom Himmel geliebt und von den großen Nationen begehrt, – jetzt freilich durch einen strengen Reformator ihrer menschlichsten Reize entkleidet, – Genf, die protestantische Roma, – war sie nicht wert, in Ehrfurcht betreten und in Demut geprüft zu werden? Luther hatte Johannes Calvin verworfen, Melanchthon urteilte ungleich, aber wer vermochte in diesen wirren Zeiten die wahren Propheten von den falschen zu unterscheiden? Schon wollte Benjamin Pater Juan um seine Meinung über die Genfer Kirche und ihren Hirten befragen, als der Priester fortfuhr, seines Schützlings eigenste Angelegenheiten zu ordnen.

»Es ist nötig,« sagte er, »daß ich heute nach Wittenberg zurückgehe, Eurem Weibe einige Aufklärung und Eure Grüße zu überbringen; Margrete muß wissen, daß Ihr beschlossen habt, – auf unbestimmte Zeit zu wandern, und daß sie Eurer in christlicher Vergebung, soweit ihre Liebe reicht, gedenken soll. Auch werdet Ihr über das Schicksal des Fräuleins gern die Gewißheit, daß es gnädig sei, mit auf die Reise nehmen –«

Pater Juan sah, wie Benjamin sich entfärbte, brach ab und begann nach kurzem Schweigen von neuem:

»Erwartet mich nicht früher als morgen, denn meine Mission ist doppelt und verwickelt, dazu schulde ich meinem Gastfreunde Lukas ein Lebewohl.«

Der Priester segnete Benjamin mit dem Zeichen des Kreuzes.

»Und so beschütze dich Gott, Bruder Benjamin,« sagte er im Scheiden; Benjamin aber, als er sich allein sah, flüsterte, indem er die Hand auf sein schlagendes Herz legte:

»Herr, hilf mir!«

Als am nächsten Tage Pater Juan die Straße von Wittenberg bis zur Herberge zu den drei Raben zurückwanderte, kam ihm Benjamin schon ein Stück Weges entgegen, frei schreitend und mit unbekümmerter Stirn. So sehr der Priester sich an der offenbaren Genesung eines kranken Herzens erfreute, so kehrte sich doch sein geistiges Auge auf die Not der Frauen, die das leibliche erst eben geschaut hatte und von der er wußte, daß auch Jahre sie nicht stillen würden; und der Bringer bittrer Leiden wandelte wie ein Schuldloser im Lichte sonder Reue und Sühne? Wahrlich, ihm steckte der Luther, der glaubt, alle Missetat, die einem Sohne Evas zustoßen kann, in einer männlichen Aussprache mit seinem Schöpfer abzutun, noch tief im beweglichen Blute, und das katholische Bewußtsein, als ein armer sündiger Mensch der ewigen Barmherzigkeit zu bedürfen, schlummerte noch ungeweckt unter wildrankender Gottes- und Menschenliebe.

Pater Juan begrüßte Benjamin mit einem Lobe des strahlenden sommerlichen Tages und sparte seine Wittenberger Nachrichten, bis sie den Gasthof erreicht hatten und beieinander in der Kammer saßen. Hier begann er:

»Als ich zwei Tage zuvor mit Euch die Stadt verließ, und der Tischler und seine Tochter vergeblich unsre Ankunft erwarteten, machte sich der arglose Lukas auf den Weg, uns vor dem Elstertor zu suchen und zu größerer Eile anzutreiben. Wie mußte er daher erstaunen, Ave allein im Giebelhäuschen vorzufinden, tränenüberströmt, aber standhaft jede Auskunft über Euren Verbleib weigernd; er also kehrte, wie er glaubte, ohne Neuigkeit in die Schloßvorstadt zurück, doch – erzählte mir Lukas – sei Margrete bei seinen ersten Worten in Tränen und Geschrei ausgebrochen und habe wie eine klagende Prophetin gerufen: ›Der kommt nicht wieder!‹

Als ich selbst zu Eurem Weibe kam, fand ich sie ohne Trost oder Hoffnung, gegen Schuld und Verhängnis gleicherweise hadernd vor; ich konnte ihr nichts offenbaren, was ihr Gefühl ihr nicht bereits kundgetan hatte; nur Euer Entschluß, heimatlos in der Welt umherzuwandern, war ihr befremdend und ärgerlich.

›Nein,‹ sagte sie finster blickend, ›er kehre nach Voghera in sein Kloster zurück.‹«

Benjamin fühlte sich peinlich berührt, daß dieselbe Margrete, die vor Jahren seiner Fesseln gespottet hatte, ihn heute in die katholische Knechtschaft verwies; doch fuhr Pater Juan fort, die wunderlich und qualvoll gemischten Regungen der Gewissensunruhe, der Eifersucht und Luthertreue in dem Herzen des unglücklichen Weibes aufzudecken:

»Ist doch nur ein Gott über allen, sagte Margrete, dem hat er früher geschworen, als er sich mir verlobte; – die Welt ist voll von falschen, teuflischen – buhlerischen Weibern; eh' ich ihn Ave oder einer anderen Metze gönne, seh ich ihn lieber heim in sein Kloster kehren. Aber auch da soll er nicht vergessen, daß Beten und Fasten kein Nutzen ist zur Seligkeit, sondern daß der Mensch gerecht wird aus dem Glauben, wie es Doktor Martin Luther so göttlich gelehrt hat.«

»Daß der alte Tischler«, erzählte Pater Juan weiter, »Euer Andenken wenig ehren wird, darf Euch nicht kränken; denn Ihr habt lebend sein Kind zur Witwe gemacht; ihr aber, Margrete, rechnet er in der Betrachtung ihres Unglücks, die schon vergebne Schuld immer leichter und geringer zu, und wenn Gott ihm Gesundheit verleiht, so dürft Ihr hoffen, Weib und Kind in seiner Liebe geborgen zu wissen.«

»Martin,« rief Benjamin sehnsüchtig aus. Pater Juan gedachte der hilfesuchenden Kinderaugen, die in allem Jammer von ihm zur Mutter, vom Großvater zu dem neuen Freunde Lukas gewandert waren, stumm und beredt, und ach! so traurig ahnungsvoll, – doch gedachte er ihrer nur im Herzen und sprach von seiner Unterredung mit Ave:

»Mit vollkommener Fassung empfing mich das Fräulein; hätte ich nicht gewußt, daß Leidenschaft, Erniedrigung und Trennungsweh diese Mädchenseele zerreißen, ihr Antlitz würde mir außer der Blässe, die erschreckte, kein Gefühl verraten haben, dessen Heftigkeit einem Edelfräulein nicht geziemte. Ich aber suchte nur um so vergeblicher nach einem bescheidenen Wort, daraus sie meine Wissenschaft erkannt und mir ihre Not anvertraut hätte; durfte doch ihres Bleibens in Wittenberg, wo schon die Steine redeten, nicht sein!

Zu meiner nicht geringen Verwunderung begann sie selbst, zwar errötend, doch tapfer, von ihrem Schicksal zu sprechen, so daß ich Gott für mein priesterliches Kleid dankte, dem allein solch fraglose Entblößung jungfräulicher Schmach gelten konnte. ›Hochwürdiger Herr,‹ begann das Fräulein, ›ich bitte Euch inständig, mich von der frechen Nähe jenes jungen Gärtners zu befreien, den Ihr gewißlich im Garten, von wo er auch bei Nacht nicht weicht, angetroffen habt, und der glaubt, meine verlorne Ehre werde mich seiner Werbung gefügig machen –‹

Ich versprach ihr, den lästigen Freier mit Güte oder Gewalt aus ihrem Gesichtskreis zu entfernen, und erbot mich, zu ihrem Heile bei Philipp Melanchthon anzufragen, wo er ihr in seiner weitreichenden Freundschaft eine notdürftige Heimat anbieten könnte. Aber sie schüttelte den Kopf und antwortete: ›Herr, mich hat die evangelische Freiheit ohne Verzug ins Unglück gestürzt, – so begreife ich sie weder mit dem Herzen noch mit dem Verstande –‹

›Fräulein,‹ sagte ich, indem ich ihr frei in die Augen sah, ›Ihr begehrt für das Feuer, das in Euch brennt, nichts anderes als die reinigende Buße‹ –

Jetzt errötete Ave dunkler, und die Gehaltenheit, die sie bisher bewahrt hatte, zerfloß in weiche Gebärden, als sie entgegnete:

›Gott weiß, ob ich entfernt von dem Geliebten auf Erden Frieden finden kann. Das Kloster ist ein rechter Wohnsitz für gebrochne Herzen; aber eben die Buße ist es, die ich fürchte …‹

Ich tat nach meiner Pflicht und erinnerte sie an die Streiche, die der erduldet hat, der ohne Sünde war –«

»Grausamer!« unterbrach Benjamin den Priester mit schmerzlichem Aufschrei. »Sollen die zarten Glieder dem Übermut der Schwestern und einer hartherzigen Äbtissin preisgegeben sein?«

Pater Juan ließ sich schweigend grausam schelten und bekannte nicht, daß auch er gegen seine mächtig aufwallende Ritterlichkeit, die um keinen himmlischen Lohn das schöne Mädchen einer seinem Frauenliebreiz unwürdigen Buße ausliefern wollte, hatte kämpfen müssen, während Ave rührend und angstvoll die Strenge der Äbtissin geschildert hatte.

Ave war noch ein Kind gewesen, als eine der Schwestern einen Bittbrief an Luther verfaßt und – die Törichte – treulosen Händen zur Überlieferung anvertraut hatte; die mußte zum Gespött der Kinder bei den Horen vor dem Chore knien und lang zur Erde niederliegen, wenn die Schwestern ab und zu gingen, wobei eine jede selbstgerecht über die Gedemütigte hinwegschritt; beim Mahle saß sie – ein Strohkränzlein auf dem Haupt – zu Füßen der erzürnten Äbtissin, – und – o Schrecken! – am Freitag um die dritte Stunde stäupten sie die Schwestern, bis deren keine mehr zu schlagen vermochte –

Pater Juan stieg die Röte zu Kopf, als er dieser Erzählung Aves – und Aves zarter, zarter Glieder gedachte, und rauh stieß er, um nicht weichmütig wie Benjamin zu erscheinen, seine Worte hervor:

»Der treue Lukas wird von der Äbtissin Gnade und Vergebung für Ave erbitten –«

Pater Juan brach ab und trat ans Fenster; keine Stunden seines geweihten Lebens empfand er bittrer, als wenn der Mann in ihm begehrte, den Priester zuschanden zu machen.

Wie nun er sowohl als Benjamin, ein jeder dem Zuge seiner Gedanken nachhing, mahnte keiner von ihnen zum Aufbruch, obgleich die Sonne noch hoch am Himmel stand, um allem irdischen Tun zu leuchten. Da erhoben sich in der Wirtsstube zwischen dem Rabenwirt und seinen Gästen laute Reden, die zu bedenklichen Drohungen schwollen, und die Träumer dem friedlichen Bezirk ihrer Kontemplation entrissen.

»Komm, Bruder Benjamin,« sagte Pater Juan, sobald ihm die Roheit seiner Umgebung aufs neue bewußt war, »wir können wohl heute noch zwei oder drei Dörfer durchwandern und im vierten ein Obdach finden, darunter weder geflucht noch gestochen wird, –« damit rief er der Wirtin und zahlte die Zeche, während Benjamin das Bündel mit den wenigen Habseligkeiten ergriff, die Pater Juan für sich und ihn aus Wittenberg mitgebracht hatte.

*

Es zeigte sich, daß Benjamins Reiselust mit der gleichen Schnelligkeit, mit der sie von Zeit zu Zeit erwachte, auch wieder entschlummerte, so daß er tagelang wenig tauglich zum Wandern war und weder rückwärts noch vorwärts strebte; zumal als die Sommersonne höher und heißer zu brennen anfing, schleppte er nur mühsam den unlustigen Leib, aus dem die beherrschende Seele gewichen zu sein schien.

Pater Juan ertrug indessen die Schläfrigkeit seines Gefährten mit Langmut und handelte auf allen beschwerlichen Straßen mit den Herbergsvätern um ein billiges Fuhrwerk, soweit ihm seine schmilzende Barschaft solche Guttat an Benjamin gestattete.

Eben die schmilzende Barschaft war es, die den Priester dringlicher in die Heimat trieb, als das Verlangen, die entfremdeten Geschwister mit ihren Ehegatten und der nachgeborenen Generation brüderlich zu begrüßen, – oder gar der Wunsch, in Calvins Kirchenstaat das Bürgerrecht zu erneuern.

Weder der Abenteurer, der er gewesen, noch der durch Bruder Michele Bekehrte, der er geblieben, hatte mit seinen reformierten Landsleuten auch nur die gleiche Luft atmen oder das Brot mit ihnen brechen können.

Es war offenbar, daß der strenge Reformator, dessen Stolz die neue Sittenzucht bildete, keinen landbekannten Frauenverführer auf Genfer Gebiet dulden durfte; nicht minder aber durfte katholischer Aberglaube sein auserwähltes Häuflein mit giftigem Atem bedrohen.

Hätte nicht ein für Pater Juan freundliches, für die geistlichen Wächter tückisches Geschick gewollt, daß das väterliche Weingut, das vor Lancy am linken Arveufer gelegen war, bis über die savoyische Grenze hinausreichte, der Ritter vom flammenden Herzen würde schon 1541 mit Annahme der calvinischen Ordonnanzen durch den Magistrat sein Vaterland haben auf immer verlassen müssen; so aber pflegte er sich, wenn ein Glied der vénérable compagnie bedrohlich im Umkreis von Lancy auftauchte, aus dem wohlgegründeten Hause seiner Väter in ein luftiges Sommerhaus zu flüchten, das am Ende der Parkanlagen und auf katholischem Grund und Boden in leichter Architektur der Genfer Behörde zu spotten schien.

Auch kehrte Pater Juan, der in Künsten und Wissenschaften fein gebildet war, nicht selten freiwillig einer Stadt den Rücken, die sich, wenn nicht alles täuschte, der Barbarei ergeben hatte; denn wer konnte noch für Schönheit erglühen, wo man die Gebilde der Schönheit verfolgte und zerstörte? Wer für Kultur des Geistes, wo man die kultiviertesten Geister des Altertums verachtete, die Juden aber mit ihrer bürgerlichen, lebenskundigen Weisheit als die Vorbilder aller Völker pries? Wer endlich für die süßen Geheimnisse göttlicher Gnade, wo der düstre Glaube an die unwiderrufliche Schmach der Verworfnen auf den Gemütern lastete?

Solche Stadt mied Pater Juan nicht ungern und erging sich viel lieber in den Gefilden Italiens. Notwendig wurde indessen seine Entfernung von der Heimat erst, als der schwarze Tod in Genf und seinen Nachbarorten wütete und der Verdacht der Pestbereitung auch auf ihn gefallen war.

Wie da auf dem Molardplatz die Scheiterhaufen lohten und Männer, Weiber, ja selbst unmündige Kinder vom Feuer des Wahnsinns verzehrt wurden, entwich mancher aus den Toren Genfs, der, mit irgend einem körperlichen Fehler gezeichnet, leicht als ein Zauberer und darum Pestbereiter aufgegriffen werden konnte; auch Pater Juan entwich, nachdem man ihm die Kunde zugetragen hatte, daß sein Name auf Calvins todbringender Liste verzeichnet stehe.

In der Fremde war ihm der unternehmende Geist seiner Vorfahren zu statten gekommen, die von alters her mit allerlei Städten und Ländern Handelsbeziehungen unterhalten hatten, so daß es dem reisenden Sohn an Kredit und Geld nicht fehlen konnte. Indessen bemerkte er bald nach dem Tode des Vaters an der Zurückhaltung ausländischer Banken, daß sein Bruder daheim die Geschäfte mit Ängstlichkeit führte, – ein Umstand, der ihm das weltmännische Reisen, das er auch als Priester beibehalten hatte, häufig zur Pilgerschaft umgestaltete. Als er um die Wende des Winters 1552/53 erzählen hörte, daß Calvins Allmacht in Genf gebrochen sei, daß man der geistlichen Herrschaft genug habe, und die Freigesinnten unter Perrins Führung kühn ihr Haupt erheben dürften, beschloß er, die Heimat, sei es auch in aller Stille, zu besuchen und sich mit neuen Kreditbriefen zu versehen.

Über dieses und andres begehrte Benjamin wenig Aufschluß, bis die beiden Wanderer in einer mondhellen Augustnacht die Rhonebrücke überschritten.

Pater Juan hielt inne und betrachtete schweigend und bewundernd die weiße Bergspitze zur Linken, die von ewigem Schnee und wandelbarem Mondlicht gleicherweise glänzte, rechts die felsige, waldige und halb beschattete Wand, vor der, und hoch über die Wohnungen der Menschen erhaben, die Peterskirche lichtumflossen thronte; – in dieser Kirche hatte ihn einst als Knabe der letzte Bischof von Genf mit dem heiligen Chrisma gesalbt, – in dieser Kirche, in der der Weihrauch nun schon längst vom Worte vertrieben worden war! Seufzend schritt Pater Juan von neuem aus, und Benjamin folgte.

Der Weg zur Arvebrücke führte sie durch das Innere der Stadt an der Kathedrale vorbei; je näher sie dieser kamen, um so heller tönten ihnen Hammerschläge durch die Lautlosigkeit der Nacht entgegen, die dennoch kurz und gleichsam vorsichtig abgegeben wurden, nicht als schaffe einer, dem der Tag nicht reichte, in seiner Werkstatt weiter, sondern als müsse er fürchten, vom Wächter, der freilich zu schlafen schien, überrascht zu werden. Auch entfloh, als Pater Juan und Benjamin den Petersplatz betraten, eine dunkle Gestalt, die eilig ihren Mantel zusammenraffte, vom Portal der Kirche um deren schützende Ecke, und nur ein großes, weißes Plakat glänzte an der Stelle, wo er gehämmert hatte. Pater Juan begriff, daß hier ein Mißvergnügter seinen verschwiegenen Groll mit dem kommenden Morgen öffentlich zum Volke reden lassen wollte, und, wiewohl es Gefahr brachte, vor solchen Dokumenten giftgeschwängerter Seelen stehen zu bleiben, hieß er Benjamin mit der Handlaterne leuchten und begann zu lesen:

Herr Christus, der du in den ew'gen Himmeln thronest,
und dennoch, wenn dein hochgelobtes Wort nicht trügt
auf Erden, hier in unsrer Genfer Mitte wohnest,
sieh, wie man wunderlich auf deinem Acker pflügt, –
soll nicht dein Same eitel Gotteskindschaft wecken?
Ach, was man sät und erntet, Herr, ist Blut und Schrecken.

»Das erntete man schon dazumal, als ich Genf verließ,« sagte Pater Juan dazwischen; dann las er weiter:

Warst du nicht mild vordem, o Herr, und sehr geduldig,
wie wurdest du dir selbst so bitter wenig gleich.
Nun bist du wahrlich aller Feuerfackeln schuldig,
und baust auf Menschenqual und -Tod dein Gottesreich.
Da ist kein Greul so aller Nächstenlieb entbunden,
dazu man nicht Geheiß in deinem Wort gefunden.

Pater Juan seufzte; denn es ist schwer und unmöglich, daß der Mensch aus seinem eignen Gottes Wort recht verstehe.

O weh, das gallisch Feuer brennt mit bösrer Flamme
als je das spanische – es sei verflucht! – gebrannt,
die wachsen beide wohl auf einem dürren Stamme.
Nun, Meister Calvin, reich dem Papst die Bruderhand:
wir brauchten der Tyrannin Rom nicht abzusagen,
um fürderhin dein angemaßtes Joch zu tragen.
Du richtest Glaub und Lehr, – dich wird die Nachwelt richten, –
Wird sie dir Servets dunkle Kerkerhaft verzeihn –

»Wie? Servet, – Michael Servet gefangen?« rief Pater Juan, und eh' Benjamin fragen konnte, was es mit diesem Manne für eine Bewandtnis habe, fuhr der Priester voll Wißbegierde zu lesen fort:

Verbirg uns sein Bekenntnis, seines Eifers Werk mit nichten! –
Wir Genfer Bürger wollen alle Richter sein.
Sprichst du: Gott zeugte ewig das verdammte Böse,
so mag er künden, wie der Herr die Welt erlöse.
Und ein wohlweiser Magistrat? Hat er vergessen,
sanft eingelullt vom frommen Kirchenregiment,
wie man mit Würde sonst auf jenem Platz gesessen? –
Ist keiner mehr in Genf, der Mannesehre kennt?
Was fragt ihr Basel, Bern um Einsicht und Gedanken!
Auf! zieht aus eigner Macht den Venerablen Schranken.
Sie wissen nicht – sie nicht – wiewohl vom Geist der Milde
Vom heil'gen Geiste Gottes selber angeweht,
Welch Diadem dem ihm erwählten Ebenbilde,
Welch königlicher Schmuck dem Bilde Gottes steht, –
So gebt ihr Herrn vom Rat, verleiht, wonach wir dürsten,
Gewissensfreiheit einem Volk von Priestern, – Fürsten! –

Pater Juan zog, als er geendet hatte, Benjamin unverzüglich mit sich die Treppenstufen hinunter und suchte in Eile aus dem offenen, mondbeschienenen Platz in die Enge der Gasse zu entkommen; denn brandiger noch und gefährlicher als er vermutet hatte, dünkte ihn, was er gelesen; als er wiederum den Schritt verlangsamte, sagte Benjamin:

»Ich verstehe nicht ein Wort von diesem seltsamen Gedicht!«

»Mir erklärt es alles, was sich eben in Genf zuträgt,« entgegnete Pater Juan.

»Wer ist dieser Michael Servet, den sie gefangen halten?« fragte Benjamin dagegen.

»Ein berühmter Ketzer und Leugner der heiligen Dreifaltigkeit,« antwortete Pater Juan, »den man aus Basel verbannt, in Regensburg verabscheut hat, in Straßburg zur Vierteilung ausersehen, in Charlien überfallen, in Paris verklagt, in Vienne zum Feuer gerichtet, von wo er, da er noch lebt, jedenfalls entflohen ist, – genug, ein Mann, den sein Jahrhundert einmütig ausspeit, denn auch Calvin wird seiner nicht schonen, sondern vielmehr das Urteil der ganzen Welt an ihm vollziehen.«

»Dennoch«, wandte Benjamin ein, »wirft sich der Verfasser jenes Gedichtes zu seinem Fürsprecher auf –«

»– ah, ein Libertiner, irgend ein Mensch ohne Zucht und Sitte,« entgegnete Pater Juan achselzuckend; »jeder rechtgläubige Christ, der sich zudem im Besitze der Macht befindet, wird seinen Ruhm darin suchen, den weißen Leib Christi von dieser antitrinitarischen Pestbeule zu säubern.«

»Wer ist rechtgläubig?« fragte Benjamin verwirrt.

Pater Juan antwortete schleunig:

»Johannes Calvin, Martin Luther, Ulrich Zwingli, Bucer, Melanchthon, Oecolampad – kurz, alle, die einen genügenden Anhang haben, um ihre Lehre zu verteidigen.«

Über dieser Hohnrede erwachte Benjamins protestantisches Bewußtsein.

»Herr,« sagte er erglühend, »jene Männer, deren Rechtgläubigkeit Ihr nach der wahren Meinung Eures Herzens verspottet, beweisen ihre Worte aus der Heiligen Schrift –«

Der Priester lachte.

»O«, sagte er mit verbindlich wehrender Geste, »das ist es nicht, was du zu ihrer Ehre vorbringen solltest, Benjamin, denn gerade der Auswurf, den sie verabscheuen, die Rottengeister, können – wie ich Luther sagen hörte – ihre vorwitzigen Lehren aus der Bibel beweisen; das wahre Christentum ist allezeit auf Erden gelehrt und geglaubt worden, – dessen sind die lieben Väter Zeugen –«

Benjamin wußte nicht länger, ob Pater Juan von den Katholiken oder von den Protestanten, ob er ernst oder spöttisch rede; kannte er nicht Lutherworte die Fülle, welche die Kirchenväter ungelehrte Narren schalten, deren Meinungen keinerlei Glauben beizumessen sei, – und auch von Calvin hatte er sagen hören, daß er Hieronymus und Hilarius, Irenäus und Origenes als kindliche Schwätzer brandmarkte; dennoch kündete des Priesters ironisch zuckender Mund, daß dieselben Reformatoren, die die Bibel entdeckt zu haben glaubten, sich gegenüber vereinzelten Schwärmern – den neuen Ketzern – der Autorität der Väter bedienten.

Auch redete Pater Juan, als er Benjamins Unsicherheit bemerkte, nunmehr ernsthaft.

»Wenn du zu finden geneigt bist,« sagte er, »daß es einem Protestanten übel ansteht, an einem, der seinerseits protestiert, Gericht zu üben, so mußt du dich erinnern, wie sehr man die Sprache des freien Gewissens auf biblischem Grunde, – die Sprache von 1521 verlernt hat. Man glaubt wieder an eine sichtbare Kirche, die ihren Gliedern die Offenbarungen Gottes unfehlbar vorstellt, man sieht sich verlegen nach der unterbrochenen Kontinuität um und ruft die ›lieben Väter‹ zu Zeugen auf dafür, daß sie lehrten, wie die Reformatoren lehren; man späht nach Ketzern aus, die ›die Kirche‹ verunehren, und beschließt, sie nicht zu dulden.

Michael Servet freilich weiß nichts von solchen Bündnissen mit der katholischen Vergangenheit; er ist der wahre Protestant, er das mahnende Gewissen der verratnen Freiheit.

Höre, und urteile selbst, ob er nicht aus dem edelsten Geiste der Reformation geboren ist: eine glänzende Laufbahn am Hofe des Kaisers winkt dem jungen spanischen Edelmann, – da findet er in Toulouse eine Bibel. Er entsagt dem buntlockenden Leben, entsagt dem Glauben der Väter, entsagt dem Anrecht auf einen natürlichen Tod. Jesus Christus und das Neue Testament seines Blutes bleiben ihm einzig Sehnsucht und Passion; fragst du ihn nach Stand oder Würde, so antwortet er: étudieux de la Sainte Ecriture, – ayant zèle de vérité.

Kann einer treulicher nach dem Herzen des jungen Luther antworten?«

»Und diesen Mann richten die Reformatoren?« fragte Benjamin entsetzt.

»Sie müssen ihn richten!« antwortete Pater Juan; »sie haben neue, sichtbare Kirchen aufgeführt, und jeder hat erdschwere Steine zum Bauen genommen; wen sollten sie wohl hitziger verfolgen als den Verkünder der freien, flüchtigen, unsichtbaren Gemeinschaft aller Heiligen in Christo, die keiner ›Kirche‹ bedarf.«

Pater Juan schwieg, und schweigend erreichten die beiden Wanderer das heimatliche Haus des Priesters. Noch verzog die Nacht über der Höhe des Weinbergs, daran das Haus lehnte; weil aber der Morgen nicht mehr fern sein konnte, beschloß Pater Juan, die Schlafenden nicht aufzuschrecken und saß mit Benjamin auf dem Rande eines Springbrunnens nieder, von wo er sein Vaterhaus betrachten und mit Muße der entschwundenen Jugend gedenken konnte.

Im Anblick der grau gestrichenen Wände entsann er sich einer heiligen Hippolyta, die einst im Gewand von Brokat und inmitten lustiger Ornamente fürbittend über dieser Tür und Schwelle gestanden hatte, nun freilich längst unter der reformatorischen Tünche verschwunden war; wie aber seine Augen unwillkürlich das alte Bildnis suchten und im ungewissen Licht von Mond und Dämmer an die gewohnte Stelle malten, siehe, da lugte kräftig und farbenfroh ein Zipfel des Heiligenmantels aus dem Einerlei der Mauer hervor. – Der calvinische Malermeister hatte wohl seine Farbe nicht dick genug über dem Zipfel aufgetragen, so daß sie dem ersten Wetter gewichen war.

Pater Juan lächelte in Gedanken an seine guten Genfer Landsleute, denen gewiß noch heute der Katholizismus schier unüberwindlich in Worten und Werken und gleichsam aus dem Blute hervorbrach. Ach, das ehrwürdige Genf hatte sich für die Neuigkeit des Evangeliums wenig empfänglich gezeigt, – so wenig, daß nun nach geschehener Reformation die Chronisten der Stadt im Zweifel waren, ob sie der Nachwelt diese Bekehrung als ein offnes Gotteswunder oder als die Tat einer mächtigen, handfesten Stadt Bern aufzeichnen sollten.

Indessen schwoll in den Baumkronen das Gezwitscher der Vögel zum ungestümen Jauchzen, denn die Sonne nahte.

Auch währte es nicht lange, bis der mittelste Fensterladen im oberen Stockwerk kräftig aufgestoßen wurde und eine hübsche Frau, zwar noch im Nachtkleid, aber mit morgenfrischem Gesicht, im Rahmen erschien. Pater Juan sah zu ihr auf und dachte bei sich: »Grüß dich Gott, Frau Schwägerin! – mein schämiger Bruder hat eine erstaunliche Wahl getroffen!«

Da rief auch die Hausfrau, die den landfremden Schwager nicht kannte, schon ihm und Benjamin scheltend entgegen:

»Gesellen! Was treibt ihr vor Tagesgrauen in meinem Garten?«

Sie mochte wohl eine demütige Entschuldigung und eiligen Rückzug der beiden Fremden auf ihren Anruf erwartet haben, so daß, als Pater Juan sich vielmehr unbeirrt und heiter dem Hause näherte, ihr Zorn aufflammte und sie heftig herunterzankte:

»Wartet, ich wecke meinen Mann; der wird bald wissen, ob ihr zur Nachtzeit unsren Weinberg besucht habt!«

Aber das Wecken des Eheherrn war jedenfalls leichter gesagt als getan, denn die entschlossene Hausfrau, die zudem allem Anschein nach selbst Manns genug war, reisende Burschen ihres Weges zu verweisen, trat nach kurzer Zeit sauber umgekleidet aus der Tür und fragte mit Würde:

»Was sucht ihr zu dieser Stunde vor der Schwelle meines Hauses?«

»Wenn ich nicht irre, schöne Herrin,« antwortete der Priester galant, »so teilt Ihr Euer Haus mit Jacques Alençon, und desgleichen Eure Verwandtschaft; ich bin sein Bruder und somit der Eure!«

»Claude!« rief die junge Frau im Tone so aufrichtiger Freude, daß Pater Juan unschwer erkannte, man habe seinen Namen im alten Vaterhause nicht vergessen, und hafte ihm wohl gar in den Köpfen der Jugend der Reiz des Abenteuerlichen an, – eine Frucht, die der nüchterne Bruder Jacque wohl kaum mit seinen Erzählungen hatte säen wollen.

Benjamin hörte bei der Anrede der Madame Alençon zum ersten Male den Namen seines Begleiters, den er getragen hatte, bevor aus dem Saulus ein Paulus geworden war, – hörte ihn – während seine überwachten Sinne nach Aufreizung verlangten – von freundlichen Lippen liebevoll gesprochen, so daß ihn plötzlich eine bis zur Wirklichkeit deutliche Vorstellung von Pater Juans zärtlichen Geschichten überkam; eine Vorstellung von Mädchenmündern, die Claude flüstern, und von der der Sprung zu Ave nicht mehr kühn war. Hatte nicht Ave in seliger Stunde »Toni« gelispelt?

Benjamin schwindelte und konnte nur mit Mühe einige Haltung bewahren, als Pater Juan ihn seiner Schwägerin zuführte.

»Diesen meinen Freund empfehle ich Eurer Pflege wärmer als mich selbst,« sagte der Priester, »denn wie Ihr seht, genügt die Wanderschaft einer kurzen Sommernacht, um ihn zu erschöpfen.«

Als die drei in das Haus eingetreten waren, fand die junge Frau nunmehr das richtige Wort oder Mittel, ihren schläfrigen Gatten aus den Federn zu holen; der kam bald mit Schlafrock und Nachtmütze angetan aus der Kammer hervor und freute sich, mit den Angekommenen ein schnell gerichtetes und redereiches Morgenfrühstück abhalten zu können.

Im Verlaufe dieses Frühstücks erfuhr Pater Juan bereits alle derzeitigen Geschehnisse, die einem Genfer Landeskind Anteil abgewinnen mußten, – nämlich, daß Herr Calvin seit der Gefangennahme des Michael Servet wieder mächtig im vormals gesunkenen Ansehen erstarke, wie denn jeder anständige Bürger, der sonst auch zu den Feinden des Reformators gezählt habe, den Antitrinitarier für einen Bösewicht halte, für einen Wolf, der sich in den Schafstall Christi eingeschlichen, und den zu würgen man Herrn Calvins starker Hand nur zu sehr bedürfe; daß der Rat indessen seine gewohnte Unentschlossenheit auch diesmal bezeige und sich – lächerlich genug! – nicht getraue über wahre und falsche Glaubenslehren selbständig zu entscheiden, sondern wie letzthin im Prozesse gegen Bolsec schweizerische Weisheit anrufe.

»Und wie haben die Herren von Zürich, Bern und Basel über jenen Bolsec gerichtet?« fragte Pater Juan, den Servets mutmaßliches Schicksal nicht gleichgültig ließ.

Jacque Alençon kratzte sich hinter dem Ohr und antwortete:

»Milde, milde! – Du mußt wissen, Claude, daß sich der Angriff des Hieronymus Bolsec auf die Lehre der ewigen Vorherbestimmung richtete, welche die heilige Kirche zu Genf angenommen hat, von der aber Bolsec und andere ungelehrte Menschen behaupten, daß sie Gott zum Urheber der Sünde mache.«

»In der Tat, einige ungelehrte Menschen behaupten dies,« lächelte der Priester.

»Schon gut,« antwortete Jacque, »auch die Schweizer sind ungelehrt; aber du begreifst, Claude, daß sie sich, wenn auch in ihren Kirchen die Prädestination nicht vorgetragen wird, dennoch gegen die Gemeinschaft mit einem Ketzer verwahren müssen; hatte doch der Magistrat von Genf Herrn Calvin erst eben seine Rechtgläubigkeit vor Zeugen und durch ein besonderes Handschreiben bestätigt.«

»Das wird Herrn Calvin sehr tröstlich gewesen sein,« warf Pater Juan dazwischen.

»Allerdings,« entgegnete Jacque würdevoll. »Und die Schweizer Kirchen taten nach ihrer Pflicht gegen den Genfer Rat und ihr eignes Gewissen, wenn sie Versöhnlichkeit anempfahlen. Hieronymus Bolsec ist demgemäß mit einer gelinden Strafe für seine Kühnheit davongekommen, indem er, statt des Todes zu sterben, nur barhaupt und barfuß, eine brennende Fackel in der Hand, vom Gefängnis zum Stadthaus zu gehn hatte, wo angekommen er den Rat und Herrn Calvin um Verzeihung bat. Danach wurde er ausgewiesen.«

»Gelinde,« sagte Pater Juan.

»Aber Michael Servet,« fuhr Jacque fort, »der die ganze Christenheit durch seine Verhöhnung der heiligen Dreifaltigkeit beleidigt, kann keine Helfer in den Schweizer Städten finden; selbst das sanftmütige Basel wird crucifigatur über ihn sprechen. Es heißt, daß Herr Calvin auch einen vertraulichen Boten nach Wittenberg entsandt habe, in aller Stille die Meinung des christlichen Melanchthon einzuholen.«

Nachdem Jacque Alençon dem heimgekehrten Bruder so von den wichtigsten und jüngsten Ereignissen des kleinen Genfer Staates Mitteilung gemacht hatte, Erzählungen, die Benjamin nur mit Verwunderung anhörte, wandte sich das Gespräch auf die Familie und auf die Geschäfte; mit diesen letzten war Jacque nicht unzufrieden, wiewohl er seine Verbindungen mehr in der Schweiz als an entlegneren Plätzen suchte; doch versicherte er Pater Juan, der die Absicht aussprach, künftig seinen Aufenthalt in Italien zu nehmen, daß die Florentiner Banken zu den verläßlichsten der Welt gehörten, weshalb sich in der Arnostadt seine Anteile am Gewinn des ererbten Gutes ohne Verlustgefahr würden deponieren lassen. Mit den Römern, die so oft ihren Herrn wechselten, daß es sich für ehrliche Leute gar nicht lohne, Unternehmungen auf die Länge zu begründen, habe er niemals gern zu schaffen gehabt.

»Ich freilich gedenke eben die Römer heimzusuchen,« entgegnete Pater Juan, »doch ist der Verkehr mit Florenz lebhaft genug, so daß ich um das meine nicht in Ungelegenheiten kommen werde.«

Es waren Pater Juan und Benjamin einige freundliche Tage im Hause Alençon beschieden; die Hausfrau sorgte mit Liebe, und eine Schar fröhlicher Kinder lichtete umwölkte Stirnen von früh bis spät. Benjamin, wiewohl er seines Sohnes wehmütig gedachte, genoß doch den Verkehr mit Kindern als ein lange entbehrtes Glück, und die Sommertage von Lancy wären zur lieblichen Oase für das Gedächtnis geworden, wenn Pater Juan der Versuchung widerstanden hätte, eine Predigt des Reformators zu hören und Benjamin einer solchen teilhaftig zu machen. Am ersten Sonntag des September schritten die beiden der Peterskirche zu.

»Ich bin mir bewußt,« sagte Pater Juan auf dem Wege zu Benjamin, »daß ich ein Wagnis an dem Frieden deiner Seele unternehme, indem ich dich unter die Kanzel Calvins führe; seine Rede ist überzeugend und reißender von der Glut eines geläuterten Hasses, als die schäumende Sprache deines Wittenberger Reformators.«

»O, auch Luther verstand zu hassen!« entgegnete Benjamin.

»Auch Luther,« antwortete Pater Juan, »aber sein Haß floß aus anderen Quellen als der Haß Johannes Calvins; diesem hat sich irgend etwas von der düstren Majestät des Gottes, den er verkündet, mitgeteilt, was ihm verleiht über viele zu herrschen.«

Mit Gefühlen der Ehrfurcht und Erwartung betraten Pater Juan und Benjamin das Gotteshaus – Gefühle, in die sich freilich bei dem Priester der weltumspannenden Kirche die Bereitschaft zur kühlen Kritik an dem Schismatiker mischte.

Die andächtige Gemeinde war schon versammelt und hob eben im einleitenden Gesang ihre Herzen auf.

»Finde Aug' und Ohren, Herr, geschlossen,
wenn ihr Elend zu den Wolken steigt;
laß Erbarmen nicht im Busen sprossen,
kein Gefühl, das sich dem Beter neigt;
finde deine Hand verdorrt zum Geben,
keine linde Wohltat labe sie, –
aber merke auf ihr sünd'ges Leben,
achte ihren Dienst für Blasphemie …«

… Sang man von den Katholiken oder von den Wiedertäufern, die Calvin fast noch mehr als jene verachtete?

Die bald beginnende Predigt klärte solche Zweifel; sie galt allen Feinden der Kirche, zuerst den andersgläubigen Christenseelen, die außerhalb Genfs böswillig in ihrem Irrtum verharrten, – und an sie mochte der Dichter des gesungnen Liedes gedacht haben, – sie galt aber auch den inneren Feinden, die dem Reformator zur Stunde mehr als die äußeren zu schaffen machten, den Freigeistern und Ausschweifenden, die sich der calvinischen Kirchenzucht nicht unterwerfen wollten. Sie sprach ihr »Wehe« über die einen und die anderen!

Wehe den Verstockten! Wehe den Zuchtlosen! Wehe den Falschgläubigen! Wehe denen, die es wagen wollen, den über sie ausgesprochenen kirchlichen Bann zu mißachten, – die, ausgeschlossen von der Gemeinschaft, ihre Schritte bis vor den Tisch des Herrn setzen würden, – Gott hat seinem Diener die Gabe des Mutes verliehen, – Johannes Calvin wird nicht dulden, daß einer, den er unwürdig gesprochen hat, vom Leibe des Herrn esse …

Die beiden Fremden verstanden nicht, wie erbittert Calvin mit solchen Worten gegen den Rat und die öffentliche Meinung um das Recht der Exkommunikation, das allein der vénérable compagnie zustehen sollte, ankämpfte, sie wußten nicht, daß eben die Freigesinnten ihre Teilnahme am Abendmahl auf eigne Verantwortung erzwingen wollten, – aber sie begriffen, daß diese Predigt mehr von der Politik als von der Religion eingegeben war.

Nur als Calvin sich des von Gott verliehenen Mutes gegenüber seinen Widersachern rühmte, tauchten Pater Juan Erinnerungen auf aus einer Zeit, in der ihm jedes kleinste Ereignis im Genfer Gemeinwesen bekannt und verständlich gewesen war. Es war die Zeit der Pest, an die er gemahnt wurde, die ihn zudem aus der Heimat vertrieben hatte. Als damals alle Spitäler überfüllt waren von Verzweifelnden, die zwar die Hoffnung zu leben hinter sich gelassen hatten, wohl aber für die Bitterkeit des Todes der Stärkung bedurften, – wo waren da, als die Ärzte vor der Macht des Todes müßig standen, die dem Volke von Gott gegebenen Priester? Wer tröstete die Leidenden? Wer absolvierte die Schuldbeladnen? Wer hieß die Sterbenden in Frieden fahren? – Die vénérable compagnie erklärte öffentlich vor dem Magistrat, daß Gott ihr die Gabe des Mutes versagt habe, weshalb weder Calvin noch einer von den Seinen Kraft genug in sich finden könnte, ein pesterfülltes Spital zu betreten, – und ein ausländischer Priester, mit größerem Heldenmut begabt, wurde zum Beistand für die Unglücklichen gerufen.

Scharf grub sich ein bittres Lächeln in Pater Juans bedeutende Züge ein; aber es ist in Genf nicht gefahrlos zu lächeln, während andere verehren. Jean de la Maisonneuve, seit einem Jahrzehnt Polizeileutnant und unbestechlicher Wächter im Gottesstaat, würde es seiner Dienstehre nicht vergeben haben, wenn er einen Hörer Calvins zu den Füßen des Meisters ungestraft hätte lächeln lassen; als er zudem dem frechen Spötter näher ins Gesicht sah, erkannte er Claude Alençon, auf dessen Fährte er früher vergeblich geschlichen war, und beschloß, ihn und den Fremden, den er bei sich hatte, nach vollendeter Predigt hinter Schloß und Riegel zu bringen.

Pater Juan und Benjamin wurden, bevor man sie einer geistlichen Inquisition unterzogen hatte, als leichte Gefangne behandelt und zu einem bedauerlichen Alten gesperrt, der, als er des Polizeileutnants ansichtig wurde, sogleich in Klagen und Bitten ausbrach.

»Barmherzigkeit«, rief er unter lebhaften Gebärden, »ich bin ein ehrlicher Bürger, der sich niemals der heiligen Ordnung des Herrn Calvin widersetzt hat.«

»Nur die Zunge, die täppische Zunge«, jammerte er gegen die beiden neuen Leidensgefährten, indem er mit der Hand nach dem Munde deutete, – »nichts als die altersschwache Zunge hat mich an diesen Ort für Ehebrecher und Aufrührer gebracht.«

»Herr«, – damit griff er Pater Juan in den Ärmel, »ich hatte einen Sohn, und in alter Zeit war es keine Sünde, seinen Sohn zum Gedächtnis des Täufers und eines rechtlichen Ahnen Jean Baptisard zu rufen. Dieser Sohn zeugte mir einen Enkel und starb; da gab meine Schwiegertochter dem Neugebornen den Namen des abgeschiedenen Gatten, – das heißt Jean nannte sie das Kind, nur Jean, in Hinsicht auf die Regel des Herrn Calvin, nach der die Namen der Auserwählten keine deutliche Erinnerung an die Namen der katholischen Heiligen an sich tragen dürfen. Aber mögt Ihr mir glauben, wenn ich den Knaben einherspringen sehe, – nach Gesicht und Wuchs sein leibhaftiger Vater, – mein Sohn, lieber Herr, mein Sohn, – dann rufe ich ›Baptisard‹, lange bevor ich mich des kirchlichen Verbotes erinnert habe.«

»Euer Baptisard wird Euch noch um Kopf und Kragen bringen,« knurrte der Polizeileutnant.

»O Herr Leutnant,« bettelte der Alte demütig, »verwendet Euch bei der ehrwürdigen Genossenschaft für einen Unglücklichen …«

»Ich werde Eure Reue vor das Gehör des Herrn Calvin bringen,« antwortete Jean de la Maisonneuve huldvoll und nahm den gerührten Dank des Alten entgegen.

Noch an demselben Tage kam ein Abgesandter Calvins, um Claude Alençon und seinen Begleiter vorläufig zu verhören. Mit dem ersteren hätte man, da er seinen katholischen Aberglauben trotzig bekannte, wohl kurzen Prozeß machen können und ihn des Ländchens verweisen, unter Androhung von Vierteilung, wenn er es wagen würde, noch einmal die Genfer Grenzen zu überschreiten; doch erheischte die Verspottung einer Predigt des Reformators besondere Buße, deren man sich am wirksamsten hinter Gefängnismauern und bei Wasser und Brot bewußt wird; dazu erwies sich der Genosse Alençons keineswegs als unverdächtig; fragte man ihn nach seinem Namen, so schien er im Zweifel zu sein, ob ihm Benjamin oder Antonius zugehöre, fragte man ihn nach seinem Bekenntnis, so begann er ein Stottern, daß der calvinische Inquisitor urteilte, nur ein Idiotischer oder ein abgefeimter Bube, der dieser Maske zu bösen Streichen benötigte, könne sich dergestalt gebärden.

So fand man denn Pater Juan sowohl als Benjamin anstößig genug, um sie einige Zeit gefangen zu halten, – bis die Wahrheit aus ihrem Munde hervorgehen würde; doch gewährte man ihnen die Gunst, so lange sie sich ordentlich aufführten, eine gemeinsame Zelle zu bewohnen.

Der Mond, der in voller Rundung den Wanderern bei ihrer Ankunft in Genf geleuchtet hatte, grüßte, als er spät und halb entschwunden über die Berge stieg, die Gefangenen in ihrem Kerker. Pater Juan kniete leise betend mit erhobnen Händen am Fenster, während Benjamin sich auf sein Lager hingestreckt hatte, ohne freilich zu schlafen; lautlos wohnte die Nacht mitten unter ihnen.

Aber plötzlich trug sie auf ihren ausgebreiteten Schwingen eine klagende, brünstige, mauerndurchdringende Stimme zu den Aufhorchenden; die Stimme erhob sich in der benachbarten Zelle, füllte die Atmosphäre mit ihrer glühenden Seele und schien als eine wahrhaft betende Stimme die Grenzen des Raumes überwunden zu haben.

»Ich werde dein Angesicht schauen und mich sättigen an deinem Bilde,« klang es sehnsüchtig durch die Nacht; »Jesus Christus, der du sitzest über den Cherubim, erscheine, – zeige dich mit Glanz. Erleuchte dein Angesicht, laß glänzen dein Angesicht, so werde ich genesen.«

Der Beter versank in eine Betrachtung, dann begann er von neuem:

»Bewähre mich im Feuer; gib Flügel, die durch Flammen tragen. Was wäre meine Wahrheit, wenn sie nicht im Feuer bestünde? Ja, sende mir das Feuer, sende mir bald das brennende Feuer, das meinen Leib verzehrt, – aber steige hervor aus meiner Asche, so wie ich dich erkannt habe. Geliebter meiner Seele, du Angesicht Gottes, du himmlische Schönheit, öffne die erblindeten Augen der Menschen für deine Wohlgestalt, reize ihre stumpfen Gaumen für deine Süßigkeit, öffne die Ohren, die verstopften, für die Musik deines Mundes.«

»So betet niemand anders als Michael Servet,« sagte Pater Juan leise zu Benjamin.

»Er betet um infamen Tod auf dem Scheiterhaufen,« gab Benjamin schaudernd zurück.

Pater Juan schwieg und horchte hinüber zu dem Todgeweihten, bis der Morgen dessen brünstige Gebete zerstreute.

Die nächtlichen Klänge jener nach der Flamme schmachtenden Menschenseele ließen in Pater Juans Herzen einen unwiderstehlichen Anteil an den letzten Erdentagen des Michael Servet zurück, und er begann seinen Wärter nach dem Gange des Prozesses auszufragen. Auch erwies sich der Wärter als ebenso mitteilsam wie gut unterrichtet, erzählte freilich während der folgenden Wochen von immer neuen Verzögerungen, da Herr Calvin durch seinen Kampf mit der weltlichen Behörde um das Recht der Exkommunikation zu sehr in Anspruch genommen sei, als daß die anhängigen Inquisitionsprozesse zu einer Entscheidung gebracht werden könnten.

Diese Wochen durchlebten Pater Juan und Benjamin teils schweigend und betend, teils lesend und in sinnreichen Gesprächen; man hatte dem Priester die Bücher, die er bei sich trug – das Brevier und die Nachfolge Christi – genommen, ihm dafür eine Auswahl aus der »christlichen Institution« Calvins zum Heil seiner Seele überreicht; doch wußte Pater Juan das Ziel dieser Maßregel auf zweierlei Weise zu umgehen, indem er erstens die Gebete seiner Kirche unauslöschlich im Gedächtnis trug und sie Benjamin mit Glaubenseifer vorbetete, indem er aber auch bald in den calvinischen Stücken vom Elend des gefallenen Menschen, vom allgemeinen Sündenbekenntnis, von der Notwendigkeit des unablässigen Gebetes die Entlehnung aus der verlästerten Messe entdeckte und nicht anstand, diese Stellen nicht nur zur Belehrung, sondern geradezu zur Erbauung zu benützen. Für die Belehrung der Gefangnen sorgte überdies das Genfer Gesetz, demzufolge sie jeden Sonntag und Mittwoch durch den Gerichtsdiener in die lautere Predigt des Gotteswortes geführt wurden.

So entflohen die Tage in Untätigkeit des Körpers und in Regsamkeit der Seele. Benjamin nahm teil an den Gebeten des Priesters, ohne sein im Herzen entwurzeltes Luthertum auch mit dem Munde zu verleugnen, – ein Schweigen, das Pater Juan um so sorgloser ehrte, als es mit Gebet erfüllt und also der Wirkung des heiligen Geistes befohlen war. Nachts wurden die beiden Gefährten Zeugen der seltsamsten Anrufungen Christi, die aus der Nachbarzelle zum himmlischen Firmament aufstiegen und die mit gleicher Glut einmal um Tod, einmal um Leben flehten, einmal um Vergebung für die Feinde und Verfolger, einmal um ihren Sturz in den Abgrund der Hölle.

Schon raschelte das dürre Laub am Boden, als Calvin über seine Widersacher im Rat gesiegt hatte und zudem die Schweizer Antworten sowie die des Philipp Melanchthon eingetroffen waren.

Gerötet von der Hitze der Neuigkeit besuchte der Wärter seine Gefangenen.

»Er ist verloren! er ist gerichtet,« rief er schon auf der Schwelle Pater Juan entgegen; dann begann er die mächtigen Henkershelfer des Unglücklichen an seinen fünf feisten Fingern herzuzählen.

»Zürich, Basel, Bern, Solothurn – sowie der milde und gerechte Wittenberger wollen die giftige Natter vom Erdboden vertilgt wissen. O der fromme Eifer des Herrn Calvin gegen jenen Abschaum des Menschengeschlechtes wird aus dem Scheiterhaufen von Champel gerechtfertigt vor aller Welt herausleuchten, und die neidischen Hunde, die behaupten, Herr Calvin verfolge den Doktor Servet, um seiner eigenen Ehre etwas Außergewöhnliches zuzulegen, werden aufhören müssen zu bellen!«

»Was weißt du von der Antwort des Philipp Melanchthon?« fragte Pater Juan.

»Dieses und jenes,« entgegnete der Wärter; »ich weiß, daß er Herrn Calvin im Namen der evangelischen Kirche des gegenwärtigen und zukünftigen Deutschlands Dank gesagt hat dafür, daß er dem Magistrat seiner Stadt befiehlt, einen Gotteslästerer der Ordnung gemäß zu verurteilen und hinzurichten.«

»Auch die katholische Kirche hat ihn schuldig befunden,« erklärte Pater Juan finster, indem er sein Mitleiden unter seine Gerechtigkeit beugte.

»Die katholische Kirche,« antwortete der Wärter und hob die kühn geschwungene Nase stolzer in die Luft, – »die katholische Kirche soll keinen vernünftigen Grund finden, auf uns Evangelische herabzusehen. Auch wir wissen, was not tut, die auserwählte Gemeinschaft von verpesteter Ketzerei rein zu halten.«

»Doch sollte ein Ketzer nicht eher gerichtet werden, als bis alle Mittel, ihn zu bekehren, vergeblich befunden sind.«

Der Wärter wiegte den Kopf hin und her und entgegnete:

»Schon in seiner Jugend hat Herr Calvin versucht, dem Doktor Servet durch schriftliche Ermahnungen das richtige Verständnis der heiligen Bibel beizubringen; aber es hat keinen größeren Nutzen gehabt, als wenn man Episteln an ein Schwein oder an einen Ochsen verfassen würde! – Wenn Ihr aber von der Folter redet, die schon manchen Halsstarrigen belehrt hat, so werdet Ihr ja auch wissen, daß die bischöflichen Marterzeuge für unsren Eifer nicht länger ausgereicht haben, weshalb ich selbst mir einiges Verdienst durch Erfindung einer Fußschraube erwerben konnte, bei deren Anwendung die Nägel der Gemarterten …«

»Genug« – wehrte Pater Juan mit seiner feinen Hand. Wenn er auch die Qualen des Leibes für gering erachtete, sofern sie eine Seele vor dem Höllenbrand bewahrten, so verursachte das Bild menschlicher Verzerrungen doch seiner empfindsamen Natur Ekel und Grauen.

Gekränkt, sich in der Ausbreitung des von allen Gutgesinnten anerkannten Erfinderruhmes unterbrochen zu sehen, zuckte der Wärter die Achseln und sagte beschließend:

»Endlich wird Herr Calvin seiner erhabnen Würde nicht gedenken und Michael Servet vor Vollziehung des Urteils im Kerker besuchen. Vielleicht zwingt der Trost dieser Erscheinung den Lästerer noch in letzter Stunde zum Widerruf.«

Damit ging der Wärter hinaus und überließ Pater Juan und Benjamin ihren Gefühlen.

Um die Abenddämmerung wurde das Stillschweigen, das sonst ungebrochen in den Mauern des Gefängnisses hauste, von hastigen Schritten, fallenden Türen, knarrenden Schlössern aufgestört; die Wände selbst schienen von einer bebenden Bewegung ergriffen, die träge Luft zitterte, – Genfs Machthaber schritt von zwei Ratsherren begleitet durch das Haus der Seufzer bis vor Servets Zelle.

Die Tür wurde geöffnet und fiel dröhnend zurück in ihr Schloß.

Atemlos lauschten Pater Juan und Benjamin.

»Was begehrst du von mir, Michael Servet?« begann der Reformator.

Pater Juan jenseits der Mauer erbleichte bei dem Klang dieser Stimme; ihm war, als sähe er Calvins schmale, vornehme, ein wenig gebeugte Gestalt unnahbar vor dem gezeichneten Opfer stehen, als sähe er die unerbittlichen Züge seines Gesichtes, den dunkel lodernden Blick der Augen, während er die kühle Anrede hörte, die ohne Barmherzigkeit war.

Servet warf sich seinem Richter zu Füßen und schluchzte: »Gnade, Gnade, Gnade.«

»Erkläre dich deutlicher, Michael Servet,« entgegnete Calvin. »Rufst du unsere Gnade und Vergebung an, weil du nunmehr deine Gotteslästerungen aufrichtig bereust, – so wisse, – erflehe dir zuvor die Vergebung unsres Herrn Jesu Christi, den du schwerer als mich beleidigt hast.«

Die Nennung des von Servet so unaussprechlich geliebten Jesusnamens mochte seine Todesfurcht wunderbar hinwegnehmen, denn der Verurteilte sprang auf die Füße und rief:

»O Gottesfülle, die da leuchtet aus dem Angesicht Christi!«

Calvin, der in diesem Ausruf einen jener mehrdeutigen Sprüche Servets erkannte, denen zufolge die menschliche Seele zwar nach dem ewigen Sohne des Höchsten schmachtet, dieser aber in aller seiner Herrlichkeit dennoch nicht als übersinnlich eins mit dem Vater geglaubt wird, – nur als sittlich eins, wie auch der Christgläubige eins sein kann mit dem Willen Gottes, – Calvin, der zudem lieber zu einem knienden als zu einem aufrecht Stehenden sprach, verlor bereits die für diesen Gang in den Kerker angenommene Geduld und erinnerte den Gefangenen mit Heftigkeit an seine hoffnungslose Lage.

»Knabenhafter Schwätzer!« fuhr er Michael Servet an; »hast du angesichts der geöffneten Erde, die dich mitsamt deinem Geifer verschlingen wird, kein anderes Bekenntnis abzulegen als solch unvernünftiges Gestammel?«

Ein gurgelnder Laut drang hinüber zu den Horchenden. War durch Calvins Rede die Vorstellung des nahen und schrecklichen Todes wieder mit solcher Gewalt über Michael Servet gekommen, daß er ohne Rechtfertigung nur von dem Stärkeren das nackte Leben erbettelte und seiner lauteren Liebe zu Gott vergaß, in der zu sterben er hundertmal ersehnt hatte?

Benjamin drückte sein blasses Gesicht, darin es wie im Wetter zuckte, gegen die feuchtkalte Mauer, teils um deutlicher das seltsame Gespräch zweier Protestanten, die unter sich Ketzer und Richter darstellten, mit anzuhören, teils um die überströmende Bewegung seiner Seele vor dem erkennenden Blick des Priesters zu verbergen.

»Mich mitsamt meinem Werke!« klagte jetzt Michael Servet laut und deutlich. »Grausamer! o über alle Maßen Grausamer! töte mich, brenne mich, verzehre mich, zerteile meinen gemarterten Leib in seine winzigsten Atome, aber gönne mir im Tode die Hoffnung, daß der Geist, der für dies Geschlecht dahinfährt, noch zu den Nachgebornen reden wird.«

»Bedauerlicher Tor,« antwortete Calvin hochmütig, »hältst du mich für so ganz kurzsichtig, daß ich meinen Blick nicht über die Mitwelt hinaus auf alle zukünftigen Geschlechter richten sollte? Heißt das väterliche Fürsorge, die Giftpflanze ausrotten und das ihr entzogne Gift in die Hände der Unmündigen überantworten?«

Eine fremde Stimme, die einem der Ratsherren zugehörte, sagte spitzig dazwischen:

»In der Tat, viele unsaubere Hände strecken sich nach dem verführerischen und gefährlichen Buche des Doktor Servet aus, und die Zungen jener Elenden scheuen sich nicht, ihren Reformator anzuklagen, als vernichte er jenes Werk nur deshalb, weil es gottselige Gedanken enthalte, die seine eigene Rechtgläubigkeit in Zweifel ziehen würden.«

Aber Johannes Calvin, der große Theologe, ließ sich nicht von einem ungelehrten Genfer Bürger spotten. Hoheitsvoll antwortete er:

»Gott hat mir die Gnade verliehen, mir zu offenbaren, was gut und böse ist; kraft dieser Wissenschaft verwerfe und verdamme ich das Ketzerbuch › de trinitatis erroribus‹ für ewige Zeiten.«

Der also zwiefach Verurteilte, der den beiläufig geführten Kleinkrieg zwischen Ratsherrn und Geistlichem nicht beachtete, seufzte trostlos den berühmten Namen eines Genossen seiner Not:

»O Abälard, Abälard!«

Benjamin hob den Kopf und wandte ihn zu Pater Juan.

»Wen ruft er?« fragte Benjamin.

»Die Werke jenes Abälard,« erklärte Pater Juan, »die auch ketzerischerweise von der heiligen Dreifaltigkeit handelten, sind, wie heute die seinen, zu ihrer Zeit gerichtet worden, also daß du ihre Spur nicht findest.«

»Aber,« fügte der Priester mit hochgezogenen Brauen hinzu, »Michael Servet ist im Unrecht, wenn er meint, in dem Namen Abälard einen ihm verwandten Geist unter den Abgeschiedenen anzurufen. Abälard hat sich in Demut der Kirche Christi unterworfen, und wenn mich nicht alles, was von ihm auf uns gekommen ist, täuscht, so hat er auch ihren überschwänglichen Segen verspüren dürfen; er, der seiner Gattin und Geliebten nach vollendetem Schicksal im Kloster einen Ort des Friedens anwies, wird jenen Wohnsitz nicht ohne Tiefsinn Paraklet geheißen haben. Der Tröster, welcher uns alle leiten möge, wird auch ihn sowie die unglückliche Heloise so völlig getröstet haben, daß beide Seiner zeitlebens gedenken wollten.«

Benjamin kehrte das Gesicht von neuem der Mauer zu, denn schon hatte Calvin wiederum begonnen zu sprechen:

»Michael Servet,« hörte man ihn sagen, »verschwende nicht die kurze Stunde, die dir zu deiner Rettung gegeben ist durch frevelhafte Wünsche, die dein stinkendes Dokument betreffen; die ganze Christenheit wird mir beistehn, dies Werk des Abgrundes aus dem Lichtkreis der Sonne zu vertilgen; nur dir selbst vermagst du durch Widerruf deiner Lästerungen und durch Beschwörung des richtigen Glaubens noch zu helfen!«

»Von der Erkenntnis Christi hängt alles ab,« sagte Servet mit lauter Stimme; »welche Ehre aber, welche Macht, welche Hoheit Christus gebührt, wird die Kirche entscheiden!«

»Gott, Gott, welche Kirche!?« flüsterte Benjamin.

Auch Calvin fragte, und fragte mißtrauisch: »Welche Kirche?«

»Die ewig eine, die da atmet in der Wahrheit des Geistes, die unsichtbare Gemeinschaft der Heiligen.«

»Boshafter Fälscher!« empörte sich Calvin, »schon durch das Symbolum Athanasianum wurde entschieden, was ein Christ über die Hoheit des Erlösers und seine Einigkeit mit dem Vater und dem heiligen Geiste zu glauben habe.«

»Herr«, entgegnete Michael Servet in einem Tone, der zu sanft für ein Bekenntnis war und eben bescheiden genug, dem mächtigen Gegner vorsichtig eine kleine Blöße zu enthüllen.

»Herr, vor der Synode von Lausanne erklärtet Ihr, daß eine wahre Kirche das Symbolum Athanasianum niemals würde genehmigt haben …«

» Pardieu, wo sollen wir den wahren Antitrinitarier suchen?« fiel die mißtönige Stimme des Ratsherrn dem Gefangenen in die Rede.

Michael Servet, der, wenn er sich begünstigt glaubte, sogleich mit unkluger Kühnheit eine verwegene Sprache führte, wandte sich zu dem Ratsherrn und sagte:

»Herr, wenn ich Euch beschreiben könnte, wie ich die freien Seelen der Reformatoren geliebt habe, geliebt wie die Erde den Himmel, der sie betaut, wie die Nacht den Mond, der ihr leuchtet. Aber sie haben sich von den Netzen der Tradition umstricken lassen, und alle meine Gebete, der Erzengel Michael möge mit dem zweischneidigen Schwert der Bibel ihre hohen Geister befreien, sind vergeblich gewesen. Ach, sie halten die Vernunft, die göttliche, die uns gegeben ist, die heiligen Schriften zu begreifen, für ein kupplerisches Weib, und wenn sie mahnt und warnt und nicht abläßt, so rufen sie herrisch: mulier taceat in ecclesia! Herr! wo findet Ihr im Neuen Testament jene abenteuerliche Lehre menschenverständlich ausgedrückt, es sei ein dreiköpfiger Gott …«

Damit war die Lästerung gefallen, die Calvins lange verhaltene Wut entfesselte.

»Wilde Bestie, unreiner Hund, giftiges, zischendes Otterngezücht,« fiel er über den Spanier her, »nun bekennest du selbst mit dem Schleim deines Mundes, daß du einer von jenen Fluchwürdigen bist, die Gott von Anbeginn verwarf, weshalb er auch dein Herz verhärtet und dich zu so grauenvoller Blasphemie angetrieben hat.«

Aber auch Servet hatte alle Zurückhaltung von sich getan und antwortete ohne Zittern: »Wenn Gott meine Sünde wirkte, – Elender! was richtest du mich

»O du ganz geistloser Schwätzer,« entgegnete Calvin; »soll ich klüger sein als der Meister? Er war es, der dich zuerst verworfen hat, – wohlan denn! so verwerfe ich dich auch! Er will durch deinen Tod seine Majestät verherrlichen, – nicht weniger als durch das Leben der Erwählten – …«

»Ich beklage dich, Johannes Calvin,« unterbrach ihn Michael Servet stolz, »und das süße Gefühl meiner Gotteskindschaft soll mich bewahren, dir in die finstren Abgründe deiner Philosophie nachzufolgen. Gott hat, was unsre Kräfte nicht vermochten, uns als ein Geschenk seiner Gnade dargereicht, nämlich, daß wir mit kindlichem Willen in Christo Jesu sprechen können: Ja, Vater, ich komme. Durch den knechtischen Willen, den du lehrst, verkehrt sich Gnade in Magie! –

O Gott, daß du irgendeinen Stein erhebst, – wie soll dich das verherrlichen? Daß du eine Larve krönst, wie willst du Ruhm davon haben?«

Der Ratsherr, der im Punkte der Prädestinationslehre, die Calvins Teuerstes, das Kleinod seiner Gotteserkenntnis war, nicht eben eines Sinnes mit dem Reformator sein mochte, sagte dazwischen:

»Michael Servet redet, wie mich dünkt, nicht unfromm; die Sprache, die er führt, zeugt von Gelehrsamkeit und christlichem Streben –«

Da aber erhob Calvin seine Stimme und rief:

»Bewahre dich Gott, daß du dich von dem Scheinglauben des Verworfnen täuschen lassest, – denn auch seine Tugenden, sein Glaube, seine Gelehrsamkeit gereichen ihm zur Verdammnis. Ja, nicht selten schleicht sich Gott in das Gemüt des Verfluchten ein, um ihn für den Tag des Gerichts nur desto unentschuldbarer zu machen! – Ich aber will mich nicht länger dem Gebot des Apostels widersetzen, sondern mich von dem, der sich selbst das Urteil gesprochen hat, zurückziehen und ihn für einen Zöllner und Heiden erachten!«

Es folgte ein kurzes Schweigen, in dem Henker und Opfer Blicke tiefen, unausmeßlichen Mißverstehens miteinander tauschten. Dann knarrte die Tür und fiel zurück in ihr Schloß; Johannes Calvin hatte, von dem Ratsherrn gefolgt, Michael Servet allein gelassen.

Als Benjamin endlich sein Gesicht der Zelle wieder zukehrte, war er naß von Tränen.

»Glaube mir,« flüsterte er seinem Gefährten zu, »Martin Luther, dem ich gedient habe, wandelte auf lichteren Pfaden.«

Pater Juan, weit entfernt, Benjamin aus seinem wahrhaft erbarmungswürdigen Seelenzustand durch beschönigende Güte heraushelfen zu wollen, entgegnete hart:

»In der Tat, Doktor Luther erkannte nicht wie sein scharfsinniger Amtsbruder die Wirkungen des knechtischen Willens, die denen des Medusenhauptes nicht unähnlich sind; dazu war seine Rede mit minderem Harm und mehrerem Behagen ausgestattet, so daß sie weniger als die Johannes Calvins in den Mittelpunkt des Bewußtseins traf.

Dennoch hat er uns Katholiken Trotz geboten, ob wir mit all unsrem Fleiß in Kraft und Namen des freien Willens eine Laus greifen und totschlagen könnten; sofern wir das vermöchten, so wolle er alsbald kommen und mit uns den freien Willen, den großen Gott, der eine Laus totschlagen kann, anbeten!«

Benjamin verbarg sein Gesicht in den Händen, schwieg für die Länge des Abends und fand erst einigen Frieden, als Pater Juan erbaulich die Nachtgebete sprach. Schlaf freilich war ihm und dem Priester in dieser Nacht nicht beschieden. Schon die Nähe des Verurteilten zwang ihre Seelen zu einer unablässigen Mitempfindung seiner Todesnot, aber mehr noch der tönende Psalmengesang, mit dem Michael Servet sich die qualvolle Erwartung des Gerichtes zu verkürzen suchte, riß ihre für Augenblicke schläfrig dämmernden Gefühle immer von neuem zur Lebhaftigkeit des schmerzlichsten Anteils empor.

»Ich liebe dich, o Herr, meine Stärke –« klang es in langgezognen Tönen durch die Nacht, und die Zuversicht der Worte stand in einem ergreifenden Widerspruch zu der dumpf klagenden Weise des Gesanges.

»Der Herr ist meine Stütze, meine Zuflucht und mein Erretter; mein Gott ist mein Helfer, ich hoffe auf ihn; er ist mein Beschirmer und das Horn meines Heils; er nimmt sich meiner an.

Lobpreisend rufe ich den Herrn an und werde errettet von meinen Feinden.

Es haben mich Todesschmerzen umgeben und des Frevels Ströme mich erschreckt.

Der Unterwelt Schmerzen umfingen mich; es faßten mich unverhofft Todesschlingen.

Da rief ich in meiner Drangsal zu dem Herrn und schrie zu meinem Gott, und er hörte meine Stimme aus seinem heiligen Tempel, und mein Rufen kam vor ihn und drang zu seinen Ohren.

Er neigte die Himmel und stieg hernieder. Dunkel war unter seinen Füßen.

Und er stieg auf Cherubim und flog dahin, flog dahin auf den Flügeln des Windes.

Er machte Finsternis zu seiner Hülle, rings um sich her zu seinem Zelte, Wasserdunkel und dichte Wolken der Lüfte.

Vor seines Angesichts Glanze zogen Wolken daher mit Hagelschauer und Feuersglut –«

Noch vor Aufgang der Sonne erschien der Leutnant Jean de la Maisonneuve im Kerker, den Verurteilten zu seiner Hinrichtung und die übrigen Gefangenen zum warnenden Anblick des Schauspiels abzuholen. Gesenkten Hauptes schritt Michael Servet allen voran bis vor das Rathaus, wo ihm von den Stufen herab vor versammeltem Volk durch den Syndik das Todesurteil verkündet wurde.

Strahlend stieg die Sonne, die so Furchtbares bescheinen sollte, über die Dächer von Genf, aber niemand achtete ihrer.

Der Spanier warf sich vor seinen Richtern auf die unterste Treppenstufe hin und flehte inständig um die Gnade, durch das Schwert gerichtet zu werden, damit ihn die Größe des Schmerzes nicht zur Verzweiflung treibe; aber die Herren vom Rat, die von der Schuld des Gotteslästerers überzeugt waren, antworteten mit einem feierlichen Schweigen.

»Barmherzigkeit!« stöhnte Servet, »ich flehe um Vergebung für alles Sündige, das ich in Unwissenheit beging; ich habe versucht, die göttliche Ehre zu befördern …«

Da drängte sich maître Farel, der alte Freund und Bewunderer Calvins, der zu jeder großen Aktion von Neufchâtel nach Genf herüberkam und für diesmal übernommen hatte, den Verurteilten auf seinem letzten Gange zu begleiten, an Michael Servet heran und rief ihm zu:

»An die Schmerzen des Gerichtes hättest du denken sollen, solange es noch Zeit war; so denke wenigstens jetzt an die Qualen der Verdammnis und brüste dich nicht im Angesicht des Todes mit der frevelhaften Art, auf die du die Ehre Gottes befördern wolltest!« –

Diese fühllose Anrede gab Michael Servet die Erinnerung an sein reines Streben nach Wahrheit, das ihn vor die Stufen des Rathauses geführt hatte, zurück und damit den Mut, nunmehr entschlossen den Weg zur Richtstätte anzutreten. Langsam setzte sich der Zug nach Champel in Bewegung, – die Richter, der Verurteilte inmitten der Geistlichkeit, die Gefangenen, denen das Exempel zum eignen Heile gereichen sollte, von Jean de la Maisonneuve bewacht, und die Menge des Volkes.

Michael Servet, der die zudringlichen Bekehrungsversuche Farels keiner anderen Antwort als der eines verächtlichen Blickes würdigte, wandte sich oftmals um und bat die Nachfolgenden, sich im Gebete mit ihm zu vereinigen.

Da flog ein unedles Lächeln über Calvins Gesicht; deutlich genug, so daß den Gefangenen seine Worte nicht entgingen, sagte er zu Farel:

»Dieser Mensch, der gelehrt hat, daß es in Genf keine wahre Kirche, keinen Glauben, keine Taufe gäbe, bettelt nun doch um die Gebete des Volkes!«

Auf der Richtstätte angekommen und angesichts des pyramidenförmig aufgeschichteten Holzstoßes entfuhr Michael Servet ein Schrei des Entsetzens.

»O Gott, o Gott!« stöhnte er.

»Hast du nichts anderes zu sagen?« fuhr ihn Farel an.

Noch einmal gewann sich der Verurteilte aus der Schamlosigkeit des geistlichen Begleiters neue Fassung, um als Held und Märtyrer in den Tod zu gehen. Ruhig und um den Aufschwung der schon in Gott ergebenen Seele über ihn erhaben, blickte er Guillaume Farel an und entgegnete:

»Was könnte ich Besseres tun, als von Gott reden?«

Dann warf er sich zu seinem letzten Gebet zur Erde nieder.

Diesen Augenblick der Stille benützte Farel zu einer Ermahnung an das Volk.

»Da seht Ihr,« predigte er, »welche Macht Satan besitzt, wenn er einen Menschen in seiner Gewalt hat; der Mann, der hier kniet und nach Weise der Verworfnen vergeblich betet, ist ein Gelehrter von Ruf und glaubte vielleicht recht zu handeln. Nun aber hat Satan ihn inne, und euch könnte dasselbe widerfahren.«

Der Henker begann sein Werk, – setzte Michael Servet einen Schwefelkranz auf das Haupt, hob ihn auf den Holzstoß, band ihn mit einer eisernen Kette an den aufgerichteten Pfahl und befestigte mit dem Verurteilten zugleich dessen Hauptwerk » de trinitatis erroribus« an der Kette; dann schwenkte er die todbringende Fackel durch die Luft und entzündete den Scheiterhaufen an seinen drei Ecken.

Sogleich stieg eine dichte Rauchsäule in die herbstlich klare Bläue des Himmels und verhüllte das Schmerzensantlitz des Gequälten vor den Blicken der Menge; nur seine Stimme drang noch hin und wieder mit der ihr eigenen Inbrunst zu ihren Ohren.

»Jesus, du Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner!« tönte es deutlich aus Rauch und Feuer.

»Gibt es einen halsstarrigeren Menschen als diesen Servet,« sagte Calvin zu Farel, »noch in den Flammen drückt er sich doppelzüngig aus, um sein Bekenntnis zu wahren!«

Indessen wuchs die Zeit, in der ein gemarterter Mensch mit Tod, Verzweiflung und Wahnsinn rang zur Ewigkeit. Hatte der Henker seine mörderische Arbeit mangelhaft getan? oder stand man im Begriff, ein Wunder der Hölle mit anzusehen? Sollte wirklich dieser Ketzer – wie Vielwissende vorgaben – durch sein Bündnis mit Satan die Natur eines Salamanders, der im Feuer leben kann, angenommen haben? Genug, es reihte sich Minute an Minute, und jede neue brachte dem Unglücklichen neue Qual und zögerte mit der Gabe des Todes.

Die Zuschauer wurden unruhig, drängten sich mit Ratschlägen und Mutmaßungen näher an den Holzstoß heran, und auch Jean de la Maisonneuve, dessen Diensteifer nur noch hinter seinem Aberglauben zurückstand, litt es nicht länger auf dem Posten neben den Gefangenen; eilig und eifrig bahnte er sich einen Weg durch die Menge, um mit eignen Augen den Salamander aus den Flammen hervorkommen zu sehen.

Als Pater Juan das bemerkte und durchschaute, faßte er seinen bleichen Gefährten fest ins Auge und sagte:

»Benjamin, entfliehe!« –

Benjamin stand wie vom Donner gerührt. Je empfindsamer seine Seele in der Abgeschlossenheit des Kerkers gelebt hatte, je höher und tiefer sie sich in Gebet, Glauben und Betrachtung verstiegen hatte, um so weltenferner war Benjamin die Notwendigkeit eines Entschlusses, die Möglichkeit einer Tat gerückt; er lebte nicht anders, als ob die Gefängnismauern von Genf ihn ewig von der Welt, in der man handeln und etwas Umgrenztes vorstellen mußte, trennen würden.

Aber so unvorbereitet ihn des Priesters Anschlag, keck zu entfliehen, traf, so enthüllte ihm das einzige Wort doch augenblicklich die Wahrheit, daß er ein Gefangener war, dem die Freiheit winkte, – daß er sich in einem Irrgarten verloren hatte, und mit kühnem Sprung die Straße zur Heimat erreichen konnte.

»Entfliehe!« wiederholte Pater Juan seinen Befehl; »der Leutnant wird sich unsrer nicht eher erinnern, als bis der unglückliche Servet dennoch auf kreatürliche Weise zu Asche verbrannt ist; sollte er aber gegen meine Erwartung sich vorzeitig umwenden, so werde ich ihm in den Gebilden des Rauches eine Teufelsfratze zeigen, bis ich dich von den Häusern gedeckt und durch einen genügenden Vorsprung gerettet weiß. Du kennst den Weg nach Lancy; versieh dich bei meinem Bruder mit Geld und Zehrung, das er von dem Meinen nehmen soll, und halte dich auf savoyischem Gebiet, oder wo immer es dir jenseits der Macht Calvins gefällt …«

»Herr,« fiel Benjamin dem Priester mit jugendlich aufflammender Begeisterung in die Rede; »eben füllt sich das Maß Eurer Barmherzigkeit gegen mich fahrenden Gesellen. Es ziemt sich nicht, auf dem Weg, den ich nehmen will, nach Herrenart zu reisen; ich habe das Ehrenkleid eines Dominikanermönches verwirkt, darf seinen Trost und Frieden bei Gott nicht teilen, – aber doch darf ich mich in der Armut und Niedrigkeit ihm gleichmachen, – darum, Herr, spart an mir Euer Hab und Gut! Ich mag nicht anders als arm und elend, hungrig und durstig, krank und als Bettler in Voghera ankommen; dort, nur dort will ich den Tröster suchen, will ich aus dem ungeheuren Wirrsal der Meinungen den finden, der unabänderlich und mit der von Christus verheißnen Treue inmitten seiner Kirche wohnt, – der Kirche, die unser Erlöser auf den Felsen gegründet hat.

Mir winkt der Paraklet!« schloß Benjamin leuchtenden Auges sein Bekenntnis; »darum scheue ich mich nicht zu tun, wie Ihr befehlt, und unverzüglich von dieser Stätte der Raserei zu entfliehen!«

Kaum konnte Pater Juan, dem das Herz vor Freude entbrannte, Benjamin ein »Fahre mit Gott« auf die Reise nachrufen, so schnell hatte sich dieser, und mit erstaunlicher Umsicht, unter das Volk gemischt, wo es am dichtesten drängte, und aus dessen Menge er sich unverdächtiger entfernen konnte als aus der Schar der Gefangenen.

Als der Scheiterhaufen verglimmt und Michael Servet aus dem Angesicht der über Gerechte und Ungerechte scheinenden Sonne vertilgt war, kehrte Jean de la Maisonneuve hurtig zu seinen Gefangenen zurück, deren Unvollzähligkeit er mit dem ersten scharfen Dienstblick bemerkte.

»Wo steckt dein alberner Genosse?« schnauzte er Pater Juan an.

Der Priester zuckte die Achseln.

»Ich entsinne mich nicht,« entgegnete er lächelnd, »daß mich der Syndik zum Polizeileutnant und Gefangenwächter von Genf ernannt hätte …«

Indessen strebte Benjamin auf beflügelten Sohlen der savoyischen Grenze entgegen. Golden lag der Tag vor seinen Augen und schimmernd vor seiner Seele die Straße von Voghera, die maulbeergesäumte Via Tortona, die von der genuesischen Seite zum heimatlichen Kloster führt; denn weil der Winter drohte, beschloß Benjamin, den Übergang über die Alpen zu meiden und auf dem kürzesten Wege einen französischen Hafen zu erreichen – Marseille, – wo die Schiffe nach Genua hinüberfahren.

Auf dem Landwege ging es dem bettelnden Gesellen oftmals gut und öfter noch elend, doch konnte weder Hunger noch Obdachlosigkeit ihm das Reiseziel, das süße, verdunkeln.

Winterlich wirbelte der Schnee, als Benjamin im Hafen von Marseille Umschau nach den in nächster Zeit abgehenden Schiffen und ihren Kapitänen hielt; da entdeckte er ein Maisschiff aus Genua, dessen Besitzer ihm gutmütig genug schien, einen bescheidenen Vaganten gegen jede Arbeit, die der Schiffsherr verlangen würde, mitzunehmen.

»Euer Gnaden,« redete Benjamin den Kapitän demütig an, »mein Ziel ist Genua, und Ihr begreift, daß ich nicht zu Fuß über das Wasser komme; laßt mich während der Fahrt auf Eurem Schiff dienen, so ist mir geholfen, Euch aber kränkt das Almosen wenig.«

»Kannst du kochen?« fragte der Kapitän dagegen.

Benjamin errötete.

»Ich fürchte, es könnte mir mißlingen,« antwortete er beschämt.

»Schade, unser Koch ist ein Taugenichts,« sagte der Schiffsherr; »was also kannst du? Was ist dein Gewerbe?«

»Herr, ich war geistlich«, stotterte Benjamin in Erkenntnis seiner Schmach, ein entlaufener Priester, ein meineidiger Mönch zu sein.

Aber der Kapitän, der viele Länder und vielerlei Priestertum gesehn und alle gut befunden hatte, achtete nicht auf die Verlegenheit seines Bittstellers, sondern antwortete gleichmütig:

»Wenn du geistlich bist, so verstehst du dich auf unsern Herrgott, aus dessen Hand die Winde hervorgehen; bei gutem Wind magst du sitzen und beten, daß er dauere; bei zuwidrem Sturm kann ich dich auf der Ruderbank gebrauchen, – da lernt auch der Ungeistliche die Götter um gut Wetter anrufen.«

Benjamins Gebet schien, seinen entweihten Lippen zum Trotz, dennoch angenehm im Himmel zu sein; denn am Tage der Fahrt wehte ein sanft treibender Wind, der die Segel blähte und die Wellen des Meeres fügsam machte.

Wie ein Kreuzfahrer die Zinnen von Jerusalem erwartet, so erwartete Benjamin sehnsüchtig die Küste Italiens; endlich, als alle Sterne am Firmament der Nacht standen, mischte sich das rote Licht des Leuchtturmes von Genua in ihr Gefunkel.

Benjamin erbettelte in dieser Nacht kein Obdach; in Genua angekommen, irrte er ziellos in den engen Straßen umher und ließ seine bewegte Seele den Füßen voraus nach Voghera ziehn.

Dort schliefen noch alle Brüder, und schlief der Prior der frühen Morgenglocke entgegen, die wie gestern und ehegestern den Tag einläutete, der mit Gebet und Arbeit, mit Studium und Betrachtung – wie gestern und ehegestern – begann; als aber die Stunde kam, in der Prior Balthasar von seinem Betschemel aufzustehn und an das eisenvergitterte Fenster zu treten pflegte, den milden Blick über das ausgebreitete, lombardische Land mit Wohlgefallen schweifen zu lassen, siehe, da lehnte an fünfzig Schritt vom Kloster entfernt und ein wenig abseits der Landstraße am Stamm der ragendsten Pappel eine menschliche Gestalt, die das Angesicht unverwandt zum Kloster kehrte. Der Prior fühlte einen Stich im Herzen, drückte die Stirn gegen die Fensterscheiben, um durch diese geringe Annäherung die Bettlergestalt auf der Wiese recht zu erkennen; aber das stürmisch kreisende Blut in seinen Pulsen verdunkelte ihm das Gesicht nur um so mehr, und entschlossen und verwirrt zugleich lief er aus seiner Zelle und rief in den hallenden Flur:

»Giovanni! Fra Giovanni!«

Als der Gerufne in seiner sanftmütigen Art langsam aus der Zelle trat, fiel ihm der Prior schluchzend um den Hals und stammelte:

»Hilf mir, Giovanni, hilf mir sehen!«

Jetzt erst wurde Prior Balthasar Fra Giovannis entzündete Augenlider gewahr und erinnerte sich, daß er ja keinen anderen als den Blindesten unter seinen Brüdern zum Sehen aufgerufen hatte, drückte ihm, als eine stille Bitte um Vergebung und lächelnd die Hand und rief aus voller Kehle:

»Giorgio, Felice, Francesco! – Brüder, helft mir sehen!«

Giorgio war der erste zur Stelle und bestätigte dem entzückten Prior: »Der an der Pappel lehnt, ist Bruder Benjamin!«

Bald aber füllten sich alle Fenster der nach Abend gerichteten Klosterseite mit neugierigen Mönchsköpfen, die, teils vor Freude über die Heimkehr des Sünders erglühend, teils vor Grauen über dessen Anblick erblassend, wiederholten:

»Es ist Bruder Benjamin.«

Kaum hatte Prior Balthasar die Aussage der Brüder gehört, als er, seine Jahre vergessend, die Treppe hinunter, durch den Hof und rechter Hand um die Ecke der Kirche mit ausgebreiteten Armen die Landstraße heraufeilte, daß seine weiße Kutte im Winde flog, was den Vorübergehenden ein spöttisches Lächeln, den zuschauenden Mönchen aber Tränen der Rührung entlockte.

Lange lagen sich Vater und Sohn in den Armen, unbeweglich, als vermöchte keiner unter ihnen zu sprechen oder seine Glieder zu gebrauchen. Endlich griff der Prior Benjamin bei der Hand, und die Brüder an den Fenstern sahen zwei Glückliche dem Kloster entgegenschreiten.



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