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Drittes Kapitel.

N Nachdem Ambrogio und Felice ihre Botschaft überbracht hatten, begaben sie sich ihrem klösterlichen Gehorsam zufolge ohne Verzug auf die Heimreise; auch begehrte keiner von ihnen, länger in der Welt, wo sie am bewegtesten flutet, zu leben; und während Ambrogio die stille Klosterzelle von Voghera ersehnte, weil der Mensch mit den Jahren nur ungern seine Lebensordnung für geraume Zeit vermißt, so strebte Felice nicht minder sehnsüchtig dem Segen der Zurückgezogenheit entgegen, um die mannigfachen und nicht selten verworrenen Bilder, die seine Seele empfangen hatte, im Lichte der Einsamkeit, der Betrachtung und des Gebetes zu unterscheiden.

Indessen war Prior Balthasar Schanz auf seinem Maultier und unter Giorgios Führung und Schutz dem unwirtlichen Norden gemäß langsamer und beschwerlicher gereist als die beiden Rompilger. Nur in der lombardischen Ebene und auf dem südlichen Abhang der Berge hatte eine unveränderlich klare Oktobersonne seine Straße begünstigt; die war er denn auch im übermütigen Gefühl dahingezogen, als könne es bis Wittenberg nicht anders weitergehen, und hatte sich kaum die Nachtstunden zur Ruhe der Glieder gegönnt. Sein Geist wanderte indessen von allen ungleichen Lagerstätten, deren der Körper bedurfte, diesem immer in kühnem Zuge voraus, zunächst die Höhe der Alpen erstrebend, als sei damit Deutschland und das Ziel der Fahrt gewonnen. So nahm er denn auch leichten Herzens Abschied von der letzten Zypresse, die einsam an seinem Wege stand, und achtete den kristallnen Himmel gering, der als freundliches Geschenk Italiens noch einmal über seinem Haupte schwebte, bevor er sich mit den Bergen der Wetterseite zukehrte.

Giorgio, der als geborner Italiener ein natürliches Grauen vor dem schweren, hängenden Himmel der Nordländer niemals von seinen Schultern schütteln konnte, und der zudem von früheren Wanderschaften den jähen Wechsel kannte, seufzte während dieser letzten sonnenbeschienenen Tagereisen unaufhörlich, so daß der Prior ihn auf das Maultier nötigte, da er glaubte, die stärkere Schwellung des Gebirges mache ihm Beschwerde; aber Giorgio antwortete mit trübseliger Miene:

»Ach, mein Vater, bemerkt Ihr denn nicht, daß es hierzulande eine Lust ist, auszuschreiten?«

»Nein, Giorgio,« wandte der Prior lächelnd ein, »in deinem Angesicht lese ich vielmehr eine bedenkliche Unlust.«

»Die gilt nicht der gegenwärtigen Stunde,« fuhr Giorgio unbeirrt in seinem Kummer fort, »wohl aber einer, die bald genug kommen wird. – Herr, wandert weitere drei Tage und Ihr müßt Italien aus Eurem Herzen reißen, wenn Ihr nicht an der Erinnerung verschmachten wollt.«

»Das wird uns nicht sogleich geschehen,« tröstete der Prior, aber wunderlich mutete es ihn dennoch an, als, nachdem er eines Abends noch den Sonnenball rotglühend und prächtig hatte hinter dem zackigen Horizont untersinken sehen, der erste Föhn ihn wenige Stunden später aus dem Schlafe schreckte.

Erstaunt richtete sich Prior Balthasar auf seinem Bett in die Höhe und lauschte der ungewohnten Musik, die das väterliche deutsche Blut in seinen Adern seltsam bewegte; ihm war, als umbrause der Sturm nicht allein die kleine Schweizer Herberge, darin er nächtigte, sondern als fahre er mitten durch seine Seele und treibe sie hinaus in den Weltenraum, wo sie, losgelöst von allen sanften Gesetzen, die sie bisher mit den unsichtbaren Mächten verbunden hatten, sich allein vor ihrem Schöpfer zu behaupten und zu verantworten habe. Er erkannte mit Entsetzen im Sturm die Stimme des Versuchers, die ihm einblies, dieses trotzigen Landes freigeborne Kinder seien von Gott selbst zu ihren eignen Priestern gemacht, – sie, die dem Felsen ein Stück Weideland abringen und dem Schnee eine Handvoll Blumen, müßten auch freimütig die Augen aufheben zu ihren Bergen und in der Gerechtigkeit Gottes den Quell der Gnade rieseln sehen, ohne sich ihrer Menschenwürde zu entäußern.

Sein Blick fiel auf den schlafenden Giorgio, und ein lutherischer Ratschlag, den jener ihm zugetragen hatte, kam ihm in den Sinn; es war ein Ratschlag für geistliche Versuchungen, für welche der Reformator, – wie Prior Balthasar urteilte – seine nicht selten auftauchenden Gewissensbisse anzusprechen pflegte.

»In geistlichen Versuchungen,« riet Martino, »soll der Mensch die Einsamkeit fliehen und lieber sich mit seinem Schweinehirten oder mit seinem Weibe verschwatzen, als die Seele in ihrer Bedrängnis allein lassen.«

Der Prior sah ein, daß Giorgio ihm weder ein Weib noch einen Schweinehirten würde ersetzen können, demütigte sich vor Gott und betete tapfer den Sturm in seinem Gemüte nieder, bis dasselbe so still und feierlich dalag, wie am Morgen das beschneite Land, nachdem sich der Wind um die Stunde der Dämmerung gelegt hatte. Als Giorgio aus den geknickten Ästen der Tannen sowie aus den zusammengewehten Schneehaufen den nächtlicherweile dahingegangnen Sturm erkannte, wandte er sich zum Prior und sagte:

»Jetzt seht Ihr es deutlich, mein Vater, daß wir Italien hinter uns gelassen haben, und« – fügte er schwermütig hinzu – »dies ist nun die Schweiz.«

»Ja, dies ist nun die Schweiz,« wiederholte Prior Balthasar mechanisch, denn seine Augen folgten eben dem Fluge eines Adlers, der zwischen den Gipfeln der Berge einsam und gelassen seine Kreise umschrieb; erst als er seinen Blick losgerissen hatte, fügte der Prior lebhaft hinzu:

»Schilt mir nicht dieses Land, Giorgio; ich bemerke wohl, daß es Kämpfe und Gefahren für alle bereit hält, die es betreten, aber es sind ehrliche Kämpfe, ohne Tücke und Hinterlist, und wer sie besteht, wird stärker sein als einer, der unveränderlich in der Ebene wohnen bleibt.«

Giorgio, welcher glauben mußte, der Prior rede von schmalen, nebligen Pfaden, die hart an ungemessnen Abgründen vorbeiführen, von rollendem Gestein oder auch von ungeschliffnen Gesellen, die nicht gern friedliche Wanderer in der Wildnis vorüberlassen, ohne ihre Lust am Stechen und Raufen an ihnen zu büßen, antwortete mit blitzenden Augen, indem er seine sehnigen Glieder ausreckte:

»Da habt Ihr recht, mein Vater, und wir wollen zur Not diesem bäurischen Volk schon beweisen, daß auch in der Kutte ein Arm stark genug werden kann, kecke Angriffe zurückzuschlagen.«

Es zeigte sich, daß weniger die Menschen als die Natur dieses Landes den Mönchen von Voghera die von Giorgio erwarteten und erwünschten Gefahren bereitete; seit die katholischen Kantone in der Schlacht von Kappel den protestantischen ihren Helden Zwingli entrissen hatten, gelüstete keinen unter den deutschen Eidgenossen länger nach dem Blute der Brüder, das die Erde schrecklicher dampfen macht als das Blut natürlicher Vaterlandsfeinde; so lebten, wo nicht aus dem welschen Lande kalvinische Eiferer herüberkamen, die dann den alten Glauben blindlings und wütend verfolgten, die katholischen Christen unangefochten neben ihren reformierten Bundesbrüdern und reisten Mönche und Pilger in Frieden durch die deutsche Schweiz.

Weil aber das Jahr seinem Ende entgegenging, blieben Schnee und Eis nicht aus und gaben dem Boden eine schlüpfrige Glätte, auf der Mensch und Tier schneller zu Fall kamen, als sie in ihrer lombardischen Heimat hätten träumen können. Freilich trat Giorgio den Spiegel des Eises mit der gleichen Festigkeit, als setze er den sichren Fuß auf eine Rasenfläche; aber etliche Stunden oberhalb Zürichs wurde der Stolz und die Zuversicht der kleinen Expedition – das Maultier – von seinem Schicksal ereilt, – einem Schicksal, das auch den Reiter Balthasar, der mit dem Maultier ein verknüpftes Ganzes bildete, notwendig bedrohen und streifen mußte.

Giorgio hatte sich seiner Gewohnheit entgegen, immer führend voraus zu sein, ein wenig verweilt, der Prior aber in freudiger Erwartung eines nahen, bedeutenden Reiseziels das Maultier allzu heftig angetrieben, so daß dieses in der Bedrängnis des Abstiegs einen Fehltritt tat und, nachdem es seinen Reiter seitlich zu Boden geworfen hatte, den felsigen Abhang hinunterglitt.

Hätte eben der Schnee die Härte und Spitzigkeit der Steine mit weicher Decke überbreitet, so möchten wohl beide – der Prior und sein Maultier – leichteren Kaufes an diesem Sturze vorbeigekommen sein; aber vor ihnen war ein feindlicher Tauwind diese Straße gezogen und hatte die Felskanten bloßgelegt, die nun wahrlich kein sanftes Bett für eine niedergeworfene, lebendige Kreatur bildeten.

Giorgio war mit zwei langen Schritten dem Gefallenen an die Seite gesprungen und glaubte nicht anders, als daß er diesem mit einem kräftigen Griff würde auf die Füße helfen können; aber der Prior lag bleich und ohne Bewußtsein vor ihm, während der Stein unter seinem Haupte sich dunkel und unheilverkündend rötete. Nachdem Giorgio das rinnende Blut so gut er konnte gestillt und die Kopfwunde notdürftig verbunden hatte, gelang es ihm, den Prior aus seiner verlorenen Selbstbesinnung ins bewußte Leben zurückzurufen, das er noch durch einen Schluck Wein kräftiger anzufachen sich bemühte; auch bewegte der Kranke schon die Lippen zum Sprechen, eine Anstrengung, die ihm indessen erst nach mehrfachen Versuchen gelingen wollte. »Giorgio,« flüsterte er eindringlich, »ist der mulo verwundet?«

An das unglückliche Maultier hatte Giorgio nun freilich in seiner Besorgnis um den Prior noch nicht gedacht, sah es aber bald an fünfzig Palmen tiefer und mit zerschundenen Gliedmaßen wie tot liegen.

»Herr,« entgegnete der Mönch, »es mag ihm nicht besser als Euch ergangen sein, worüber ich es nicht wohl befragen kann.«

Giorgio versuchte darauf dem Prior begreiflich zu machen, daß er Mühe genug haben werde, mit ihm allein Zürich zu erreichen, oder etwa ein vereinzeltes Haus, wie man solches hier und da im Umkreis der Städte anzutreffen pflegt. Aber der Kranke setzte ihm, was das Maultier anging, einen unüberwindlichen Widerstand entgegen, erklärte eigensinnig, daß er selbst sich ganz wohl befinde und nicht von dieser Stelle weichen werde, bis Giorgio willige Menschen gefunden hätte, die das Maultier mit ihm zugleich aus seiner hilflosen Lage befreien würden. So mußte sich Giorgio seufzend entschließen, den kranken Prior für die nächsten Stunden seinem ungewissen Schicksal zu überlassen, empfahl dasselbe Gott und machte sich mit Eile, aber der Gefahr halber ohne Überstürzung auf den Weg, der in schier endlosen Windungen dem Tale und der Stadt zuführt.

Diese winkte nun zwar bald dem Auge durch die Majestät der Türme von Großmünster; es winkte auch mit Grazie der schlanke Turm der Frauenkirche, und inmitten das silberne Band der Limmat erschien nah und lieblich und vollendete die Täuschung für den wandernden Ankömmling, der das Ziel immer vor sich, und doch immer von neuem entrückt sah.

Schon brach die Dunkelheit herein, als Giorgio endlich am Gehöft eines Bauern anlangte, dem er des Priors Unfall klagte, und der sich – worüber Giorgio ein dankbares Stoßgebet zum Himmel sandte – auch freundlich erbot, an dem Verunglückten seine Menschenpflicht zu erfüllen; er nahm seinen halbwüchsigen Buben und einen Handkarren mit sich und folgte dem vorauseilenden Giorgio auf dem Fuße nach. Da der Aufgang des Mondes erst spät in der Nacht zu erwarten war, bedeutete jeder Schritt, den die Männer noch im sinkenden Tageslicht vorwärts taten, einen Gewinn, wenn sie auch entschlossen waren, mit Tapferkeit und Vorsicht Herr über die feindliche Finsternis zu werden. Die verhüllte schon Weg und Steg, als Giorgio am felsigen Terrain die Stelle erkannte, an der zuvor das Unglück geschehen sein mußte; auf seinen Anruf antwortete ihm der Prior mit dem schwachen Laute eines Schlafenden, so daß er sich nunmehr willenlos von seinen Rettern auf den Karren heben ließ.

Währenddessen mochte das Maultier am Abhang dem Verenden nahe sein, denn Dunkelheit und Schweigen deckte es gleichermaßen undurchdringlich zu.

Als der blutrote Mond gespensterhaft von der Höhe der Berge in das beklommene Tal sah, hatten die nächtlichen Wanderer eben mit ihrer fast leblosen Bürde das Haus des Landmannes erreicht; die Bauersfrau wies dem Kranken für die andere Hälfte der Nacht ihr und ihres Hausherrn eheliches Bett an, denn einen Verwundeten oder, wenn Gott im Himmel wolle, Sterbenden könne man nicht wie sonst wohl reisende Burschen, die guten Mutes seien, zur Rast auf den warmen Heuboden einladen; auch wußte sie für den kommenden Morgen Rat genug. Es wohnte ihr drunten in der Stadt ein wohlhabender Bruder, der in seiner Herberge »Zur Möve« schon Reisende aus aller Herren Länder aufgenommen hatte; kämen die Brüder aus Italien, so wohne zur Stunde ein gelehrter Herr in der Möve, dessen Wiege im Königreich Navarra gestanden habe, und überdies als ein Arzt dem Kranken in seiner leiblichen Not beistehen könnte.

»Für die geistliche führt er ja den Bruder Priester mit sich,« schloß sie ihre Rede und ließ Giorgio mit seiner Sorge für den Prior allein, der anfing, Schmerzen zu leiden, und dessen schlaftrunkene Erschöpfung vergeblich gegen die erwachende Unruhe des Fiebers ankämpfte.

In der Frühe des Morgens betteten Giorgio und der Bauer den Kranken noch einmal und unter größerer Mühsal als am Abend zuvor auf den Karren, denn der Gleichmut der Seele war mit dem Bewußtsein des Fiebernden gewichen und Klagen strömten so reichlich über seine Lippen, daß Giorgio sich im Herzen bekümmerte, wie sein geistlicher Vater so aller Lobpreisungen gegen Gott vergessen konnte.

Der Mövenwirt Jakob Guggenbühl stand in seiner Haustür und betrachtete den nebligen Morgen, als die drei vor ihm eintrafen.

»Schwager,« redete ihn der Bauer an, »dieser Mönch ist in den Bergen arg zu Schaden gekommen.«

Guggenbühl maß den kranken Prior sowie seinen Begleiter Giorgio mit einem wägenden Blick, als dächte er: »Gäste ohne eure schwarzen Röcke sind mir für die Regel die lieberen,« doch mochte er sich wohl zur selben Zeit erinnern, daß ja nicht alle Menschen Zürcher Bürger sein und also vernünftige Meinungen über die christliche Religion haben können; denn er rief der Magd und befahl ihr, das an die Wirtsstube angrenzende Gastzimmer für die Mönche herzurichten, die er einstweilen einlud, an seinem Tische niederzusitzen.

Der Bauer sparte indessen übrige Worte und machte sich, noch ehe ihm Giorgio einen Gruß und Dank bieten konnte, mit seinem Karren auf den Heimweg.

Auch in der Wirtsstube floß die Rede nicht reichlich; Jakob Guggenbühl war wie Giorgio ein Mann, den die Nähe menschlichen Unglücks nur so lange erträglich dünkte, als er zu dessen Linderung helfen und handeln konnte; jetzt, da der Kranke ein gastliches Dach über seinem Haupte und ein Bett gewiß hatte, vermochte Giorgio nur noch zu seufzen, während der Mövenwirt einmal über das andere sagte:

»Wenn erst der Doktor Servet da ist, der wird ihn schon kurieren.«

Damit sprach er von dem spanischen Arzt, den die Bauersfrau als Helfer verheißen hatte, und der eben auf einer morgendlichen Wanderschaft weilte, wie er solche zu allen Tageszeiten liebte, wenn andere Menschen schlafen oder sich eines Unwetters halber gern in ihren Häusern aufhalten; doch kehrte er weniges später, als der Prior schon im Bette lag, in die Herberge zurück und nahm sich mit seiner ganzen Kunst des Kranken an.

Dennoch wechselten im Gastzimmer der Möve trübe Tage mit dunklen Nächten in hoffnungslosem Einerlei ab und reihten sich zu Wochen, deren vierte begann, als noch der Kranke nicht dem Fieber und dem Tode entrissen, dem Leben aber zurückgeschenkt war, – Wochen, die Giorgio außer dem notwendigen Kummer um das gefährdete Dasein des Priors noch die besondere Bitterkeit auferlegten, daß Dr. Servet ihn ungeduldig zu entfernen pflegte, indem er vorgab, eine größere Macht über den Kranken zu besitzen, wenn er mit diesem allein sei. Der arme Giorgio lagerte sich dann wie ein geduckter Rüde auf die Schwelle seines Herrn und erwartete unter Gebet und Seufzen die Dämmerung, bei deren erstem Anbruch Dr. Servet, als ein Feind des unbestimmten Lichtes, die Stube erleuchtete, Giorgio aber hinaus in den Garten ging und das treue Gesicht gegen die Scheiben des Kammerfensters drückte, teils um so aus der Entfernung einen geringen Teil an dem Krankenlager des Priors zu haben, teils um – nicht ohne Mißtrauen – die wunderliche Art zu beobachten, in welcher der spanische Arzt seinen Patienten behandelte.

Freilich lag dieser gewöhnlich in scheinbar vollständiger Apathie da, während jener, als sei er mit der Welt seiner Ideen allein, am Tische saß und das Haupt tief über ein Pergament gebeugt hielt, darauf er unablässig niederschrieb, was seine Vernunft ihm eingab.

Nur zu Zeiten trat er an das Lager des Kranken und sah diesem lange und mit so großem Eifer ins Gesicht, als müsse er dasselbe nachmals aus dem Gedächtnis auf die Leinwand malen; danach hob er seine kohlschwarzen, stechenden Augen zugleich mit seinen Händen zur Decke, nicht anders, als vermöchte er durch Wände und Wolken in den Himmel zu reichen, – eine fromme Gebärde, die Giorgio mit Erbauung ansah. Aber nach vollendetem Gebet beugte sich Michael Servet von neuem über den Prior und blies dem Wehrlosen von seinem eigenen Odem in Nase und Mund, worüber sich Giorgio nicht wenig entsetzte, denn niemals hatte er desgleichen von einem christlichen Arzte gesehen, und es dünkte ihn eine blasphemische Nachäffung des göttlichen Schöpfungsaktes. Er schlug ein Kreuz und nahm sich in seinem Herzen vor, den spanischen Doktor zu gelegener Zeit seiner dunklen Kunst halber zur Rede zu stellen.

So kam über Schweigen und Harren, Beten und Wirken die Stunde heran, in der Prior Balthasar seinen ersten ruhigen Schlaf der Genesung tat. Giorgio saß mit Jakob Guggenbühl bei einem Kruge Veltliner Weines in der Wirtsstube, während der Spanier aufmerksam jeden Atemzug des Schlummernden bewachte, als vollzöge sich eben unter seinen Augen das große Wunder der Natur, das lebendiges Leben aus den Banden des Todes löst, so lange noch ein Funken im Innern flackert; auch konnte er sich nicht enthalten, nach seiner Gewohnheit dem Prior von Zeit zu Zeit hart ins Antlitz zu schauen, bis dieser durch den forschenden Blick im Schlafe beunruhigt, die Augen aufschlug und seinen Arzt mit deutlichem Bewußtsein ansah.

»Wie geht es meinem unglücklichen Maultier?« fragte der Prior milde.

Sei es nun, daß Michael Servet von jeder menschlichen Seele, die eines Mondes Dauer zwischen Tod und Leben geschmachtet hatte und also den geheimnisvollen Bezirken der jenseitigen Welt näher gewesen war als der Geist des Gesunden, erwartete, daß sie, an das diesseitige Licht zurückgekehrt, die geschauten Mysterien offenbare, – sei es, daß er aus dem Gesicht seines Kranken geglaubt hatte, auf eine seltsam innige Verbindung seiner Seele mit der Gottheit schließen zu müssen, von deren Früchten er im Augenblick der Genesung zu pflücken hoffte, – er beantwortete die unschuldige Frage des Priors nicht mit Worten, sondern griff sich wie einer, der an seinem eignen Verstande zweifelt, an die Stirn und stürzte in das Nebenzimmer, wo er bei Giorgios Anblick in heftige Worte ausbrach.

»Wie konntest du,« rief er, »den Schlaf meiner Nächte für einen Menschen mißbrauchen, dessen Geist sich mit einem unvernünftigen Tier, einem Esel, – einem Maulesel beschäftigt, während,« fügte er in schmerzlicher Klage hinzu, »die Schwere des Körpers von ihm weicht und er das Gesicht Christi hätte anschauen können?«

Giorgio mochte den Spanier in diesem Augenblick mit dem leeren Ausdruck des Unverstandes ansehen, denn Servet erbitterte sich von neuem und sprach:

»Hätte ich mich nur von der Kranzbeschneidung auf Eurem Haupte warnen lassen, die auf dem ganzen Erdkreis die allein nützliche Herzensbeschneidung verhindert, durch welche aus gemeinen Menschen Christen, Priester und Heilige werden; o Herr Jesus Christus, rechne mir meine Torheit nicht zu! Ein Sohn des apokalyptischen Tiers war in meine Hand gegeben, und ich habe ihn mit Fleiß für das Reich des Antichrist lebendig und wirksam erhalten, daß er hingehen wird und dich von neuem grauenvoll durch sein babylonisches Opfer lästern –«.

Leise, aber vernehmlich erscholl aus der Kammer die Stimme des Priors: »Giorgio, – Giorgio!«

Der Gerufene, der mit dem schwerfälligen Gang seiner Gedanken noch weit davon entfernt war, zu begreifen, daß Michael Servet von der heiligen Messe geredet hatte und somit mehr verwirrt als empört war, entzog sich gern den unsinnigen Vorwürfen dieses rasenden Spaniers und eilte an das Bett des Kranken; aber auch Servet verließ die Wirtsstube, die ihm lästig wurde, nachdem der geeignete Gegenstand seines Zorns sich dessen Ausbrüchen entzogen hatte, und Jakob Guggenbühl blieb allein und kopfschüttelnd vor seinem Schoppen Wein sitzen.

Indessen fand Giorgio den Prior heiteren Gemütes vor; sein klarer freundlicher Blick machte dem Mönche das Herz warm, und in der überquellenden Freude, das ihm teure Leben gerettet vor sich zu sehen, beugte er sich über die abgemagerten Hände und bedeckte sie mit täppischen Küssen. Aber der Prior ließ ihn nicht lange gewähren, sondern fragte schalkhaft:

»Giorgio, welcher von uns redet im Fieber, – er« – damit deutete er auf die Tür, durch die Michael Servet entwichen war – »oder ich?«

»Bei meinem heiligen Schutzpatron St. Georg,« rief Giorgio fröhlich, »mich dünkt, Ihr redet recht, – und ein anderer hat das Fieber!«

»Dennoch,« fuhr der Prior fort, »begehre ich von dem Fieberkranken, der mich zudem geheilt hat, noch mancherlei Aufklärung.«

»Herr,« begann jetzt Giorgio, der lange genug über seine Beobachtungen geschwiegen hatte, »wäret Ihr bei Sinnen gewesen, Ihr hättet Euch verwundern müssen, auf welcherlei Weise er Eure Heilung vollzogen hat; er hat Euch von seinem Hauch und Atem mitgeteilt.«

»Ich habe dieses und anderes bemerkt,« entgegnete der Prior, »und bin gewiß, daß auf seinem Pergament davon geschrieben steht.«

Giorgios Blick fiel auf das offne Manuskript, das Servet, bis ihn heute die Erregung vorschnell aus der Stube getrieben hatte, sorgfältig in eine Truhe zu verschließen pflegte. Der Mönch vermochte seiner Neugierde nicht zu widerstehen und näherte sich zögernd den frischen Schriftzeichen.

»Es handelt von dem Hauche,« flüsterte Giorgio, nachdem er einige Sätze entziffert hatte.

»Lies, lies!« drängte der Prior, der wie sein Ordensbruder der Schwäche des Fleisches erlag.

»Der Lebensgeist ist der Geist, welcher durch Eröffnungen der Schlagadern den Blutadern mitgeteilt wird, in denen der natürliche Geist angenommen wird; der Lebensgeist hat in der linken Herzkammer seinen Ursprung, wobei die Lungen ganz besonders zu seiner eignen Erzeugung mitwirken« –

»Begreifst du, Giorgio,« unterbrach ihn der Prior, »er hat es gut mit mir gemeint, als er mir seinen Odem einblies.«

»Der Himmel möge wissen,« antwortete Giorgio nachdenklich, »warum er diesen Sätzen ein Heilandswort anfügt:

›Was zum Munde eingeht, das verunreinigt den Menschen nicht; sondern was zum Munde ausgehet, das verunreinigt den Menschen.‹«

»Giorgio,« sagte der Prior, »wie nennt er seinen Traktat; handelt er von irdischen oder himmlischen Dingen?«

Giorgio wandte die Blätter des Pergaments, bis er die Aufschrift vor sich hatte und las, indem er sich über die Maßen entsetzte:

» De trinitatis … erroribus.« –

»Herr,« urteilte er kurz und gut, »der das schreibt, ist ein boshafterer Heresiarch als Luther, Calvin und Zwingli in Gemeinschaft.«

Der Prior lehnte sich erschöpft in sein Kissen, während Giorgio die Handschrift auf ihre rechtmäßige Seite zurückklappte. Als Michael Servet eine geraume Weile später eintrat, seinen Schatz wieder an sich zu nehmen, entging ihm das Erröten auf Giorgios Antlitz nicht und offenbarte ihm, daß er sich in die Geheimnisse seines Geistes gedrängt hatte.

Während nun allgemach des Priors Kräfte zu wachsen begannen, so daß er Giorgios Dienstleistungen von einem Tage zum andern vermindert sehen wollte, hielt sich Servet von dem Genesenden in gleichem Maße fern, wie er zuvor von dem Kranken nicht gewichen war. Erst als der Prior seine Kammer verließ und sich nicht ungern die Länge der Zeit durch des Mövenwirtes Gesellschaft verkürzte, traf er von neuem mit dem Spanier zusammen und zögerte nicht, diesen durch Frage und Anrede zum Verweilen zu nötigen.

Es war an einem lautlosen Winterabend, der draußen den Schnee langsam in großen Flocken und unaufhörlich zur Erde sandte, als die Mönche von Voghera mit Jakob Guggenbühl in der Wirtsstube saßen und ohne Groll den Lauf der Zeiten miteinander besprachen. Da öffnete Servet in seiner hastigen Art die Tür, und als er die »babylonischen Opferpriester« am Tische sitzen sah, gab er vor, nur einen Krug Wein zu begehren, weil ihm die Kehle trocken sei. Aber der Prior fand es für gut, die Unhöflichkeit des Spaniers nicht zu bemerken, und redete ihn ohne Umschweif an:

»Ihr habt Euch bisher meinem schuldigen Dank entzogen, Herr Doktor, – wodurch Ihr mich zwingt, daß ich Eure Wohltat an meinem kranken Leibe nur um so schwerer wiegen fühle –«

Servet unterbrach den Prior, indem er höhnisch fragte:

»Habt Ihr Euch mittlerweile über Euer unglückliches Maultier getröstet?«

»Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen,« entgegnete der Prior ungekränkt, fügte aber sogleich die Frage, die ihm auf der Zunge brennen mochte, unvermittelt hinzu:

»Was hattet Ihr doch, Herr Doktor, während ich krank und, wie es scheinen mochte, meiner Besinnung beraubt darniederlag, in meinen Taschen und Papieren zu suchen?«

Hierbei lächelte der Prior freimütig, wie er denn wohl dem Spanier, dem er von Herzen gut war, jedes Gefühl der Scham ersparen wollte, als sei er durch die getane Frage einer Ehrlosigkeit verdächtigt.

Dennoch empfand Michael Servet die Notwendigkeit, sich zu rechtfertigen, setzte sich und antwortete nicht ohne Verlegenheit:

»Es ist wahr, ich habe in Euren Papieren gesucht …«

Dann, als er das rechte Wort nicht finden konnte, fuhr er unwillig fort: »Eure Krankheit hat mich getäuscht! Das Fieber und der Schmerz haben Eure Züge verschärft, – ach! Hätte ich das beschauliche Antlitz Eurer gesunden Tage gekannt, wären mir Eure Papiere so gleichgültig wie jenes gewesen! Ich suchte, – ich suche, – begreift Ihr nicht, was ich suche!?« wandte er sich fragend von einem zum andern.

»Ganz und gar nicht,« antwortete der Prior für alle. Der Spanier sprang erregt von seinem Stuhle auf, griff sich leidenschaftlich in die Brust und sagte:

»Meine Seele verzehrt sich durch ein inwendiges Feuer, – wie sollte nicht auch mein Leib nach der Flamme schmachten? O ihr Gesättigten und Sichren, ich suche niemand anders als meinen Inquisitor!«

Giorgio sah Michael Servet mit unverhohlnem Erstaunen an, denn von allen Ketzern, die er kannte, schien ihm dieser der sonderlichste; aber der Prior fragte ernsthaft:

»So glaubtet Ihr, Doktor Michael, in meinen Papieren ein päpstliches Siegel zu finden?«

»Das glaubte ich, das suchte ich,« antwortete Servet.

Indes mischte sich Jakob Guggenbühl in das Gespräch und sagte:

»Herr, Ihr vergeßt, daß die weltliche Gerechtigkeit den Urteilen der Kirche ihren Arm leihen muß; wenn der Bruder Prior ein päpstliches Siegel mit sich führte, so täte er in unserem Lande am besten, es sich zum Zierrat in sein Knopfloch zu hängen!«

Aber der Prior redete über diesen beschränkteren Einwurf hinweg und sprach:

»Michael Servet, glaubt Ihr an Christus, den Sohn der Jungfrau?«

Da stürzten dem Spanier die Tränen aus den Augen, und er stammelte, von Schluchzen oder Seufzen erstickt: »O Jesus Christus, – Jesus Christus!«

»Und an die auf den Felsen gegründete Kirche vermögt Ihr nicht zu glauben?« fuhr der Prior fort.

Da antwortete Servet schwärmerisch: »Ich glaube an eine Gemeinschaft der Heiligen.«

»Dazu benötigt Ihr keines Inquisitors,« entgegnete der Prior, »auch ich glaube an eine Gemeinschaft der Heiligen; doch eben diese bedürfen der sichtbaren Kirche am mindesten. Herr, gönnt noch den Sündern und geistlich Armen einen Platz am himmlischen Mahle, und Ihr werdet finden, daß wir eines Glaubens sind!«

Servet sah finster vor sich hin, und es verging eine kurze Stille, bevor er sprach:

»Gott ist Zeuge, daß ich auf Erden versucht habe, Brüdern meine Hand zu reichen; aber wer ist mein Bruder? Wer baut nicht immer neue Kirchen und setzt an Stelle der alten Päpste neue Tyrannen hinein –?«

»Herr Doktor,« unterbrach ihn der Mövenwirt, »Ihr seid ein gelehrter und geschickter Herr, aber wenn Ihr mit Eurer Rede sagen wollt, daß Ihr mehr wißt, als unser Huldreich Zwingli gewußt hat –«

»Der hatte ein schönes Vaterland,« sagte Servet, während seine umflorten Augen in die Ferne blickten, »und ein irdisches Vaterland mag ein so großes Gut sein, daß wir das ewige darüber vergessen müssen; er war ein Schweizer, und Luther ist ein Deutscher, ich aber begehre nichts zu sein als ein Schüler Christi und ein Fremdling auf Erden.«

»Ich will mich nicht in Eure Bruderschaft drängen,« sagte der Prior, »doch scheint Ihr mir ein wahrhaftigerer Katholik zu sein, als Euch selbst aufgegangen ist, denn auch unsre Liebe reicht über die Grenzen der Völker hinaus!«

»Gott bewahre die Ruhe Eurer Seele vor meiner Bruderschaft!« rief Servet; »riecht Ihr nicht Brand in meiner Nähe? Eure Nase sollte für dergleichen empfindlicher sein. Armes Pfäfflein! Wenn schon die nordischen Frühlingsverkünder vor meiner dargebotnen Bibelweisheit erbleichen, – wie könntest du in winterlichem Eis Gebundner meine Offenbarung ertragen!«

»Ihr redet kühn, Michael Servet,« sagte der Prior.

»Einer lebt noch,« fuhr der Spanier fort, »der ein Fremdling in seiner Stadt ist, und in dessen Kreise mich mein Genius zieht; wird er mir Bruder sein oder Richter oder Henker?«

»Von wem sprecht Ihr?« fragte der Prior, der die großen Männer seiner Zeit nicht deutlich genug kannte, um sie aus einer Andeutung zu erraten. Aber Michael Servet stöhnte tief auf, griff sich von neuem in die Brust, als brenne ihn das innere Feuer, von dem er geredet hatte, wandte sich und verließ schnellen Schrittes das Zimmer.

»Herr,« antwortete Giorgio an seiner Stelle, »er hat von Johannes Calvin ausgesagt, von dem die Rede geht, daß er einen schärferen Geist in seiner Leiblichkeit berge als die deutschen Reformatoren, dazu auch ein schärferes Schwert in seiner Scheide.«

*

Schon hatte das Jahr des Herrn 1546 unter Stürmen und Brausen seinen Anfang genommen, als endlich der Prior im Gefühl der wiedergewonnenen Kräfte sich von neuem zur Reise anschickte.

»Ich scheide ungern,« sprach er auf der Schwelle der »Möve« zu Jakob Guggenbühl; »eure beschneiten Bergkuppen haben es mir angetan. Ich muß sie an blauen Tagen mit dem großen Marmorwunder vergleichen, das in Mailand zur Ehre Gottes aufgebaut wird, und schon hoch und leuchtend in den Himmel hinein ragt; aber weißer und ewiger als der Dom von Mailand ist der Schnee eurer Berge, und im Abendglühen glänzt ihr Purpur köstlicher als der Flitter der Könige; das ist Andacht, das ist Erbauung.«

Giorgio verwunderte sich über den jugendlichen Schwung seines Priors, mit dem er dieses fremde Land zu loben vermochte; aber der Mövenwirt schmunzelte befriedigt, als habe er ein eigenes Verdienst an den Vorzügen seiner Heimat, und entließ die Mönche im stolzen Bewußtsein, daß den armen Geschornen unter seinem Dache ein Lichtlein göttlicher Vernunft aufgeleuchtet war.

Wie nun das Maultier tot, der Geldbeutel geleert, die Tapferkeit der Füße vermindert war, und zudem der Winter in seiner Mitte alles Ausschreiten erschwerte, kamen der Prior und Giorgio nur langsam im deutschen Lande vorwärts, und Wandertage wechselten mit Tagen der Rast ab, wie es zu Zeiten die vielen Feiertage mit den Werktagen tun, daß alle Folge und Ordnung immer aufs neue unterbrochen wird.

Um die Mitte des Februars hatten die Wanderer Thüringen erreicht, und schon begann Giorgio in den ihm bekannten Herbergen nach dem Verbleib seines Bruders Benjamin zu forschen; denn nichts war ungewisser, als ob er gerade in Wittenberg sein tägliches Brot gesucht und gefunden hatte, und ob er nicht das beklagenswerte Los so mancher evangelischer Prediger teilte, die, wandernd und ohne Haus und Herd für ihre hilflose Familie, sich und den Ihren kümmerlich das nackte Leben bewahrten. Doch mußte sich Giorgio ohne Antwort und Weisung gedulden, bis Eisleben erreicht war, wo der Apotheker Johannes Landau ihn zu guter Zeit in Benjamins Begleitung, und nachmals zu böser, als er einsam und unglücklich zurückreiste, aufgenommen hatte, und der auch jetzt die Mönche mit Freude und Rührung in sein Haus lud.

Ja, er, der Apotheker, hatte sichre Kunde von Benjamin, und wußte zu erzählen, daß er mit seinem Weibe vor den Toren Wittenbergs wohne, daß es ihm wohl gehe, und zumal das junge Volk seinen Predigten zulaufe.

»Und der gute Alte, unser Gastfreund?« fragte Giorgio dazwischen.

»Ist ein einsamer Mann geworden,« entgegnete Johannes Landau; »der Weg von der Schloßvorstadt bis zum Elstertor mag ihm allzu anstößig sein – er führt am Hause Luthers vorbei; also, daß der Vater nicht zu seiner Tochter kommen kann.«

Giorgio sah bei diesen Worten den Prior hingebungsvoll an, als wolle er sagen: »Seht einen Vater, der über riesenhafte Berge und durch ein Heer von Ketzern zu seinem Sohne schreitet;« auch mochte der Apotheker solche Gedanken erraten haben, denn er wandte sich entschuldigend an Prior Balthasar.

»Würdiger Vater, nicht jedes menschliche Gemüt kann seinen gerechten Unwillen über schnöde Abtrünnigkeit so verwinden, daß es dem Beispiele unsres Herrn und Heilandes zu folgen bereit wäre und dem verirrten Schafe in Geduld nachgeht. Dazu hat der Alte in Wittenberg das Treiben der Neuerer, solange es solche gibt, vor Augen gehabt; Ihr aber vermögt Euch in der Stille Eures Klosters wohl schwerlich auszudenken, mit welcher Unverschämtheit entsprungene Mönche und Nonnen das über Nacht erlangte Gut der Freiheit auszunützen pflegen.«

»Gebe Gott, daß Ihr mit diesem Satze nicht von meinem Sohne Benjamin gesprochen habt,« antwortete der Prior, »sonst müßte ich ja ganz an seiner Umkehr verzweifeln, und täte überdies besser, meine anvertraute Herde zu weiden, als diesem einen böswilligen Schaf in den Abgrund nachzusteigen.«

»Herr,« entgegnete der Apotheker, »Umkehr ist ein schweres Ding, aber mit der Gnade Gottes kein unmögliches. Ich habe solche, die um der Lehre, und solche, die um der Freiheiten willen lutherisch geworden waren, zur Kirche zurückkehren sehen, – aber ein hoffärtiges Herz hat keiner unter ihnen besessen; Ihr kennt Euren Sohn; trägt er den Kopf auf steifem Nacken, wenn er seine Sünde vollbracht hat, dann werdet Ihr ihn dem Teufel nicht aus den Klauen reißen!«

Da der Prior schwieg, führte Giorgio Benjamins Verteidigung und rühmte die Sturmflut der Reue, die schon manchen Schandfleck in seines Bruders Gemüt hinweggeschwemmt hatte, also, daß es sich wieder zu Gott erheben konnte. »Darum verzage ich nicht,« schloß er seine Rede, »daß die Ermahnungen unsres Vaters das Ihrige über ihn vermögen, wenn nicht seines Weibes starrer Sinn ihm zu eigen geworden ist; denn Margrete ist aus härterem Holze geschnitzt.«

»Und wäre sie auch aus weicherem,« sagte darauf der Apotheker, »so wird doch in deutschen Landen von jedem Dache der Hochmut gepfiffen; den Männern heißt man es weibisch und den Weibern kindisch, allen aber römisch, wenn sie sich vor der Sünde scheuen; und ist es wirklich Wahrheit, daß Gott da nicht gefürchtet wird, wo er nicht ist, so sucht ihr ihn bei uns vergeblich; denn keiner ist so verworfen, daß er sich nicht lieber in die Hölle hineintrotzte, als zur Kirche ›zurückzukriechen‹ – wie sie es nennen, um den erlösenden Schritt recht verächtlich, recht eines deutschen Mannes unwürdig zu machen.«

Der Prior stand bei den Worten seines Gastfreundes von Unruhe geplagt auf, ging ans Fenster und trommelte mit den Fingern gegen die Scheiben; wehte nicht auch ihm auf dieser nördlichen Seite der Alpen auf Schritt und Tritt der Atem der Freiheit würzig und berauschend entgegen, daß er sich versucht fühlte, zwischen Deutschen und Welschen zu unterscheiden, als könnten die einen ihres Herzens Meinung selbstherrlich vor Gott vertreten, indessen die anderen zur Demut und zum Gehorsam geboren schienen?

Draußen ließ sich der Abend auf die kleine Stadt nieder und bedeckte die Giebel der Häuser mit Dunkelheit. Auch sah der Prior nicht nach diesen, sondern drehte sich um und sagte zu Johannes Landau:

»Haben nicht dazumal, als Martin Luther zu lehren anfing, die würdigsten und gelehrtesten Männer seiner Predigt zugestimmt? Welches war doch das Goldkorn, das sie blenden konnte?«

»Das Goldkorn«, antwortete der Apotheker, »war die Gewißheit des Glaubens, die, wenn auch zuzeiten verdunkelt, doch ewiglich unsre Väter und Vorväter selig gemacht hat, dieselbe, die aus dem gesamten göttlichen Testament, wie es die Kirche bewahrt, herausgerissen, rings um uns her zur Dreistigkeit entartet.

Seht, Herr, ich gehöre weder zu den würdigen noch zu den gelehrten Männern meines Vaterlandes; doch redet ein jeder am sichersten von sich selbst; denn er ist bei seinen eigenen Gedanken zur Stelle gewesen. Auch ich habe im Oktober anno 1517 vor Hoffnung geglüht, als solle viel Schaden und Unrecht in der Kirche Gottes durch den Wittenberger Mönch gutgemacht werden. Als aber die Sache begann, den Geruch des Fleisches anzunehmen, habe ich Gott um wahre Reformatoren gebeten und den Rebellen seines Weges allein ziehen lassen; – allein freilich ist übel gesagt, denn das halbe Deutschland ist ihm gefolgt und hat aus uns die Treulosen, Verächtlichen und Verworfenen gemacht.«

Der Prior kehrte langsam und bekümmert an seinen Platz zurück; wie war es doch eine so harte Aufgabe, an das Böse zu glauben, wo immer es Macht über einen Menschen gewonnen hatte, der doch auch ein Kind und Geschöpf Gottes, und gut aus seinen Vaterhänden hervorgegangen war wie er! Wahrhaftig, der Spanier hatte wahr gesprochen, – es steckte kein Inquisitor in ihm. Ablenkend sprach er zu seinem Gastfreund:

»Seid Ihr der einzige Katholik im Städtchen verblieben, und könnt Euer Brot unter den Lutherischen verdienen, wie vormals unter den Glaubensgenossen?«

»Dank für die Nachfrage,« antwortete der Apotheker. »Meinen Glauben teile ich nur mehr mit dem Unterstadtschreiber Gallus Brandt, den sie seiner Sorgfalt und Sauberkeit halber im Amte belassen haben; und was die Apotheke angeht, so begreift Ihr leichtlich, daß einer, wenn er auch die heilige Schrift auf die neue Art auszulegen weiß, sich doch um deswillen nicht gleich auf Kräuter und Mixturen versteht; seine Seele vertraut nun zwar jeder bald den neuen Führern an, aber mit dem Leibe ist man vorsichtig und schätzt Kunst und Erfahrung wie es sich gebührt. Auch der Doktor Luther selbst ist kein Verächter meiner Heilmittel, sobald ihn eines seiner Übel befällt, wenn er – wie eben jetzt – in Eisleben weilt, um den Mansfelder Grafen ihre Güter auszuteilen –«

»Habt Ihr denn keine Richter und Büttel in Eurem Lande, daß solche Geschäfte die Priester ausführen?« fragte der Prior erstaunt.

»Nun, Herr,« entgegnete Landau, »die Menschen und die Länder sind einander nicht so unähnlich, wie es Euch erscheinen mag; hat doch gerade der Doktor Luther in seiner Jugend gelehrt, daß die geistlichen Herren sich nicht in irdische Händel mischen sollten, – aber das irdische Tun ist nun einmal kein gesondertes Ding von der unvergänglichen Seele, sondern plagt das Gewissen, oder gibt ihm Recht und Ruhe; da hilft kein Predigen, daß er und die Seinen Bärenhäute, Wildschweinshäute über ihre zarten, katholischen Gewissen gezogen hätten, – ganz können sie bei ihrem Handel und Wandel doch die Stimme Gottes nicht schweigen machen, – so ziehen sie denn ihren Tröster und Helfer, den Doktor Luther, zu Rate.«

Giorgio schlug die Hände übereinander und rief aus: »Muß der, wenn seine Zeit kommt, schwer beladen von hinnen fahren!«

»Wollte Gott ihm ein mähliches Ende schenken,« sagte der Prior, »daß er seine Sache noch einmal nachprüfen kann, wenn das letzte Stündlein kommt.«

»Herr,« wandte dagegen der Apotheker ein, »da wünscht Ihr ihm Ungleiches, als er selbst begehrt; als ich ihm um die Mittagsstunde etliche Magentropfen überbrachte, verwarnte ich ihn ernstlich, daß er sich doch vor unverdaulicher Speise hüten solle; aber er lachte unter Schmerzen und gab mir zur Antwort: ›Mit euch Quacksalbern lebt sich's elend; ich esse was ich mag, und sterbe wann Gott will; schneller Tod macht die mindeste Not.‹

Es trat darauf der Herr Justus Jonas hinzu und bat ihn, daß er doch nicht möchte von seinem bittren Sterben reden, worüber sich alle lauteren Christen betrüben müßten; aber er machte ein verdrossnes Gesicht, daß ich erschrak, und antwortete: ›Wenn ich nach Wittenberg zurückkomme, so will ich mich hinlegen und den Maden einen feisten Doktor zu fressen geben.‹«

»Das ist nicht christlich gesprochen«, sagte der Prior traurig und verwundert zugleich, während Giorgio mit einer lebhaften Handbewegung ausdrückte, daß er an solcher Sprache den Doktor Luther erkenne.

Indessen sie noch redeten, klopfte es an die Haustür, und der Apotheker ging, dem späten Kunden die obere Klappe aufzumachen, um vorerst mit einem »wer ist drauß?« nach seinem Begehr zu fragen. Schon an der Stimme erkannte er Luthers Diener, öffnete nunmehr eilig die ganze Tür, denn er glaubte nicht anders, als daß er schlechte Nachricht über das Befinden seines Herrn bringen und stärkere Tropfen zur Hilfe holen wollte. Aber der Diener richtete eine weit andere Bestellung aus und sagte:

»Halten zu Gnaden die späte Abendstunde, doch ist dem Herren unversehens beim Nachtmahl der Wein ausgegangen.«

»Da kann ich helfen«, antwortete Johannes Landau; »befiehlt der Herr Doktor von dem italienischen, den ich ihm drei Tage zuvor geliefert habe?«

Während nun der Apotheker die geforderten Krüge herbeiholte, erzählte ihm der Diener, daß es Doktor Luther wohlgehe, daß er nicht länger hätte als ein Kranker in seiner Kammer bleiben wollen, sondern vielmehr Gäste zum Abend geladen habe und so fröhlich und guter Dinge sei, daß man draußen in der Gesindestube seine zu Scherzen erhobne Stimme im Wechsel mit dem dröhnenden Gelächter der Grafen und Herren, die mit ihm zu Tische säßen, vernehme.

Als der Diener gegangen und Landau zu seinen Brüdern und Gästen in die Stube zurückgekehrt war, fragte ihn der Prior:

»Ist also Herr Martino von seinem Leiden wiederum genesen?«

»Würdiger Vater, wer kann das wissen,« antwortete der Apotheker; »gewiß ist, daß er seinen mittäglichen Anfall von Übelsein überwunden hat und sich nunmehr bestrebt, auch die Mißstimmung des Gemütes mit den dazu gebräuchlichsten Waffen zu bekämpfen.«

Giorgio mochte in diesem Augenblick den Doktor Luther so leibhaftig vor sich sehen, wie er ihn in der überquellenden Laune abendlicher Feste kannte, – daß die Tafelrunde an dem Strom seiner Lippen hing, – genug, er sprang auf und konnte sich nicht enthalten selber trunken zu reden, als stehe er an eines großen und wunderlichen Propheten Stelle.

»So soll es fürderhin gelten,« rief er mit wilder Gebärde, »daß aller Ehebruch, Geiz und Greuel von Wittenberg für die Vorzeichen des Weltendes gehalten werden, – kommt aber der Versucher und will uns einblasen, das liebe Evangelium von der Freiheit eines Christenmenschen habe die Deutschen um ihre Scham und Reue gebracht, so wollen wir ihm nicht mit Sorgen und Grämen zu Willen sein, sondern frisch den Teufel zur Hölle treiben, mit dem Krug im einen und dem Weib im andern Arm, – wie ich denn dazumal meine Käthe insonderheit deswegen geehelicht habe, um dem Satan damit ein Ärgernis zu bereiten.«

»Giorgio, Giorgio, mäßige dich!« sagte der Prior, »denn auch der ärgste Ketzer weiß, daß unser Herr und Meister gewisse Teufel nur mit Gebet und Fasten ausgetrieben hat; dazu könnte die Verleumdung der Feinde Martino Schlimmeres anhängen, als vor der ungefärbten Wahrheit zu bestehen vermag –«

Giorgio lachte, aber der Apotheker sagte gleichmütig: »Lieber Herr, Bruder Giorgio hat seine Worte gewiß keinem anderen als Luther selber nachgeredet; dieser aber spricht nicht allezeit gleichermaßen gottlos. Wer ihn in seiner Jugend gekannt hat, wird ihm manch christliches Wort und Werk nicht vergessen; freilich ist es lange her, und er mochte wohl in seines Herzens Grunde noch katholisch sein, als er wußte und lehrte, daß der Christ im Kampfe unterliegt, im Leiden aber gleich seinem Erlöser verherrlicht wird. Er hat seitdem viel gekämpft und viel gesiegt, aber wer hätte je einen mißvergnügteren Sieger gesehen als der Doktor Luther ist, den man doch billig neben Kaiser Karl den Herrn von Deutschland nennen könnte! Was aber den Wein und das Weib angeht, so ist es auch bei den Heiden kein Geheimnis, daß jeder Durst durch seinen besonderen Trunk kann gestillt werden; das Geheimnis beginnt erst im Gemüte des Christen, wo einer seine Brunst im Tau des Himmels zu löschen unternimmt.«

»Und wer ein Mönch ist, hat es noch dazu geschworen,« warf der Prior dazwischen; aber der Apotheker fuhr ohne Gegenrede fort:

»Seit Martin Luther ein Weib genommen und also seine mönchische Not auf eine natürliche Weise zum Schweigen gebracht hat, dünkt er sich hoch über die Anfechtungen des Fleisches erhaben und kennt nur mehr geistliche Versuchungen, die er denen des Apostels Paulus zur Seite stellt, von dem er vorgibt, daß er unangefochten von Thekla verblieben sei, – etwa wie er von seiner Käthe, nachdem sie durch zwei Jahrzehnte sein Ehegemahl gewesen ist.«

Auf dem Marktplatz von Eisleben rief der Wächter die zehnte Stunde aus, bei deren Klang Johannes Landau den gewohnten Schlaf in seinen Augen verspürte, weshalb er Prior Balthasar um einen frommen Abendsegen bat und sich nach gesprochnem Gebet und Gruß zur Ruhe in seine Kammer zurückzog.

Giorgio hatte indessen Mühe, seine Seele, die eben noch auf den hellen Ton zorniger Empörung über die heidnische Lebenskunst des Doktor Luther gestimmt gewesen war, zur Andacht umzustimmen, – eine Mühe, die der Prior überdies mit ihm teilte; denn wenn dieser auch in seiner milden Freundlichkeit durch fremdes Wesen minder kriegerisch aufgereizt wurde als Giorgio, so bewegte doch jedes seltsam ketzerische Wort sein aufhorchendes Gemüt, daß es der Zucht bedurfte, um in Frieden beten zu können. Diese Zucht legte er denn auch sich selber und seinem Bruder Giorgio auf, erinnerte ihn an den göttlichen Gleichmut des Heilandes, dessen Nachfolge sich durch Geduld, nicht aber durch wilde Leidenschaften ausweise, und befahl ihm, zu schweigen, bis er Ruhe und Vergebung auch für die Feinde der Kirche gefunden hätte.

Es zeigte sich, daß Giorgio, nachdem er dem Befehl seines Oberen in Ergebenheit gehorcht hatte, leichter den Schlaf des Gerechten fand als Prior Balthasar, den es auch nach vollendetem Gebete nicht auf seinem Bette litt, so daß jede schlagende Stunde ihn wach und unruhig überraschte.

Draußen lagerte dunkle Nacht über den beschneiten Gefilden – eine Nacht, die selbst des Trostes der Sterne entbehrte, und deren Stille auch die fernsten Seufzer zu den Ohren der Einsamen trug, – eine Nacht zum Verzagen, dachte der Prior, und betete ein Paternoster für alle todbetrübten Seelen.

Da hallten um die dritte Morgenstunde eilige Schritte die schlafende Straße herauf, da polterten einen verhaltenen Atemzug später harte Schläge gegen die Tür der Apotheke; schneller als Johannes Landau war der Prior, als ein Schlafloser, zur Stelle und vertröstete den ungeduldig klopfenden auf die Ankunft des Apothekers, der denn auch bald notdürftig mit seinem Schlafrock bekleidet herbeieilte, um zu öffnen; draußen stand der nämliche Diener Luthers, der wenige Stunden zuvor den Wein für seinen gutgelaunten Herrn geholt hatte.

»Herr,« sagte er nunmehr zitternd vor Grauen oder Kälte, »kommt in Eile mit Eurem stärksten Elixier, – der Doktor Luther ist soeben mit Tode abgegangen!«

Der Apotheker, dessen Geist gerade in den Banden eines freundlichen Traumes gelegen hatte, schüttelte sich und antwortete:

»Bist du bei Sinnen? Glaubst du, ich habe ein Wasser, das Tote lebendig macht?«

»So kommt doch, kommt!« drängte der Diener von neuem, »es möchte ja doch sein, daß Gott noch einmal Gnade gibt.«

Darauf zog sich der Apotheker einen großen Mantel über den Schlafrock, steckte ein Fläschchen Lebensgeist in seine Tasche und schritt mit dem Diener von dannen, während der Prior seine Bestürzung Giorgio mitteilte, der inzwischen auch durch die laute Rede und Bewegung im Hause aufgescheucht und herzugekommen war.

Wie nun die Nacht sich immer deutlicher als zum Schlafen untauglich erwiesen hatte, nahmen die beiden Mönche das Öllichtlein mit sich in die Wohnstube und warteten unter beweglichen Gesprächen über die Nichtigkeit des irdischen Daseins auf die Rückkehr des Apothekers. Noch rang vergeblich der erste Schein der Morgendämmerung gegen den trüben, wolkenschweren Nachthimmel, als der Schlüssel im Haustor knarrte und Johannes Landau wiederum eintrat.

»Wie war sein Sterben?« fragte der Prior, dem das Herz in der Brust klopfte, als gälte es seines liebsten Bruders Ende.

»Laßt mich Euch der Ordnung gemäß erzählen, was ich davon weiß,« entgegnete der Apotheker, indem er sich seufzend in seinem Armstuhl niederließ.

»Ich fand ihn«, begann er, »inmitten der Stube, wo ihm seine Freunde und Pfleger ein großes Bett von vielen Federbetten, drei Unterbetten und Tüchern hergerichtet hatten; Graf Albrecht und seine Gemahlin standen bekümmert zu beiden Seiten, der Doktor und der Magister, dazu Herr Jonas zu Luthers Häupten und hießen mich sogleich das Gesicht an seinen fünf Sinnen einzureiben; als ich aber die Verzerrung gewahr wurde, dazu, daß die rechte Seite geschwärzt war, sagte ich: ›Er ist tot!‹ und versuchte meine Kunst nur mehr, um den Herren gefällig zu sein, aber ohne Hoffnung, daß ich den Geist, der bereits entflohen war, zurückrufen könnte.

Währenddessen stritten die beiden Ärzte über die Ursache des Todes; der Doktor sagte, es sei ein Schlaganfall gewesen, aber der Magister meinte, daß ein so heiliger Mann nicht durch die Hand Gottes vom Schlage getroffen werden könnte; ein erstickender Katarrh habe ihn befallen und sei der Tod durch mangelnden Atem eingetreten. Aber der Doktor beharrte auf seiner Deutung und bewies, wie solcher Schlag bei treuen Lehrern kein seltnes Ding ist, die durch viele Arbeit ihr Hirn schwächen.

Es seien dem Verstorbenen, sagte der Doktor weiter, noch einige bewußte Augenblicke vergönnt gewesen, die er, wie es denn nicht anders möglich wäre, zu lautem Beten benützt habe.

Da mischte sich Justus Jonas in das Gespräch der Ärzte, sah den Doktor vorwurfsvoll an und sprach: ›Er hat mit großer Geduld seinen Geist aufgegeben.‹

Ich aber mußte denken, daß hier der Tod nicht lange gefragt, ob der Mensch sich drein ergeben oder zur Wehr setzen wolle, sondern genommen hatte, was sein war; doch freute ich mich, daß der Doktor Luther, wenn er schon ohne Sakrament absterben mußte, doch nicht mit einem Scherz der vergangenen Nacht, sondern mit Gebet auf den Lippen aus dieser Welt gegangen war.

Indessen kamen auch die anderen Grafen von Mansfeld, Fürst Wolfgang von Anhalt und viele adlige Herren herbei, zu denen Jonas sagte:

›Seht, da liegt der große Mann! Seht, wie er schläft, der die Kirche des Herrn geleitet hat! O Gott, erwecke einen andren zum Wohle deiner Kirche!‹ Und er fügte hinzu: ›Erlauchte Herren, es wird nun das Beste sein, daß man an den Kurfürsten einen schnellen Reiter absende, und daß jemand niedersitze, um ihm zu schreiben, wie sich alles zugetragen.‹ Dazu wurde Jonas nicht müde, jedem der Herren einzeln zu erzählen, wie Luther beim Nachtmahl so fröhlich gewesen sei, wie er sich nachmals unwohl gefühlt und warme Tücher auf den Magen verlangt habe, und wie endlich um Mitternacht die Ärzte schon keinen Puls mehr in seinen Adern gespürt hätten.

Ich aber«, schloß der Apotheker, »begehrte nicht länger in des Toten Luftkreis zu verweilen; man sagt von den Heiligen, daß ihre Seelen beim Verlassen des Körpers den Duft der Lilie zu verbreiten pflegen. – Liebe Brüder! Die Nähe des toten Luther beklomm mir den Atem, dazu erbauen im Tode nur die edlen Züge eines frommen Dulders, während das gebändigte Antlitz des Titanen alle Schauer der Sterblichkeit erregt. Also nahm ich Urlaub und freute mich der Nachtluft, die mich kühl und reinigend umfing.«

»Ich gäbe ein Jahr meiner Zeitlichkeit,« rief der Prior mit aufgewühltem Gemüte, »wenn ich wüßte, in welchem der drei jenseitigen Orte dieses Mannes Seele gelandet ist!«

»Herr, daran könnt Ihr zweifeln?« fuhr Giorgio entsetzt auf. »Wenn Luther selber noch reden könnte, so würde er nicht fackeln, Euch begreiflich zu machen, daß entweder er oder aber die Papisten müssen im höllischen Feuer braten, und daß es nie keine Vermählung zwischen beiden im Himmel und auf Erden gäbe. Wäre aber ich der Heilige Vater in Rom,« – hierbei stand Giorgio von seinem Sitze auf, – »ich ergriffe meine Schlüsselgewalt und spräche Martino zum Erbleichen der Christenheit in einem feierlichen Akte unselig, wie ich andere vor ihm selig gesprochen hätte.«

»Du tätest besser, aller abgeschiedenen Seelen in Frieden zu gedenken, statt solche kindische Reden zu führen,« sagte der Prior; »Gott aber halte die Hand über uns und gebe uns nicht der Verwirrung preis.«

*

Solange die Nacht alle Welt überbreitete, blieb die Bestürzung und Trauer um den Tod des großen Mannes in dessen Sterbezimmer, in der Wohnstube der Apotheke und in den Kammern einiger aufgeschreckter Pförtner beschlossen; aber mit dem Anbruch des Tages teilte sich die Bewegung dem Städtchen mit und nahm von da aus ihren Weg durch das deutsche Vaterland, so weit die Worte des Verstorbenen als Prophetenworte geglaubt und verehrt worden waren.

Da erkannte Prior Balthasar an den lauten Klagen eines, wie ihm schien, einigen Volkes, was er mit seiner Reise unternommen hatte: nämlich nichts anderes, als aus einem reißenden Strom, der Starke und Schwache gleichermaßen mit sich forttreibt, einen von den Schwachen aufzurufen, daß er rückwärts gegen die Wogen ankämpfe; denn wenn auch Benjamin die lombardische Klosterpforte offen stand, so ging der Weg, der dahin führte, doch durch aufgereiztes Land, wie der Weg des Herzens sich nur durch Dunkelheit und Stürme zur Stätte des Friedens finden konnte.

So geschah es, daß der Prior in den jener Sterbenacht folgenden Tagen mutlos über seinen verschwiegenen Sorgen brütete, während Giorgio vergeblich ein Zeichen zum Aufbruch nach Wittenberg erwartete. Schon war der Sarg Luthers mit großem Aufwand und Gefolge dorthin überführt worden und begann das tägliche Leben wieder seine gewohnte Geschäftigkeit, als noch immer Prior Balthasar unschlüssig verharrte, ob er den entscheidenden Gang zu Benjamins Haus und Hof wagen sollte, Giorgio aber endlich unternahm in seines Oberen niedergeschlagenes Gemüt zu dringen und sagte, indem er versuchte, seiner rauhen Stimme einen liebevollen Ton abzugewinnen:

»Herr, vertraut Ihr denn so nahe am Ziel nur mehr Eurer Füße Wanderschaft? Habt Ihr die Gebete vergessen, mit denen die Brüder in Voghera unser Tun begleiten?«

Da verklärte sich des Priors Antlitz, als sei der Schein der Sonne darauf gefallen; er schaute im Geiste die zu Gott erhobenen Hände Bruder Micheles und fühlte sich wunderbar in dem Gedanken getröstet, daß dessen Glut der Seele – ungedämpft durch die Ermattung des Wankenden, die seine eigenen, sehnlichsten Gebete ihrer zwingenden Gewalt beraubte – Gott und den Heiligen um Benjamins Schicksal entgegenflammte wie Rauch und Feuer eines angenehmen Opfers.

»Wir wollen uns in Gottes Namen auf den Weg machen,« entgegnete der Prior, worauf Giorgio unverzüglich das Bündel schnürte, der Apotheker aber Mühe genug hatte, die vorwärtsstrebenden Mönche zu einem Abschiedsmahl zurückzuhalten. Danach entließ er sie mit der herzlichen Bitte, auf ihrer Rückfahrt nicht ohne Heimsuchung an seinem Hause vorbeizugehen.

Ein milder, märzlicher Tag hatte die letzte Wanderschaft der Dominikaner begünstigt und ihre wie aller Menschen Hoffnungen neu belebt; doch war der Tag schon der Dämmerung und diese wiederum der hereinbrechenden Nacht gewichen, als Prior Balthasar und Giorgio die Elbgasse heraufschritten und unschlüssig auf dem Wittenberger Marktplatz stehen blieben, ob sie bei dem Alten in der Schloßvorstadt oder bei dem Tischler Lukas ein Obdach erbitten sollten.

Giorgio hätte gern dem Prior, solange es anging, schlimme Nachrichten, die ihn in der Lutherstadt erwarten mußten, ferngehalten, – wie er denn auch den Zufall segnete, daß es Nacht über ihrem Einzug geworden war, die manches zudeckte, was sich etwa gerade auf offener Straße breit gemacht haben würde, – eine für die Freiheit erregte Menge, ein Gespött über zwei auftauchende Mönchskutten, oder gar Benjamin selbst im Taumel seiner neuen Freuden. Giorgio erwog, daß der alte Tischler zwar von Herzen gut, aber ein Polterer sei, der seinen väterlichen Groll in schrecklichen Verwünschungen über die Häupter der Hörer ergießen möchte, daß hingegen der verschmähte Freier Lukas die ihm widerfahrene Kränkung nicht ansehen und mit christlicher Vergebung von Benjamin und Margrete sprechen würde; deshalb entschied er sich, dieses letzteren Gastfreundschaft anzurufen.

Lukas begrüßte die Mönche von Voghera mit Freuden. Um der Religion sowie um der Verachtung Margretens willen vereinsamt, genoß er selten das beschauliche Glück, mit gutmeinenden Menschen Freud und Leid des Lebens auszutauschen; jetzt, da der späte Abend ihm solch unverhoffte Wohltat bescherte, blies er das Feuer im Ofen von neuem an, nötigte einmal über das andere zum Sitzen und Plaudern und hieß den Lehrling die Vorräte des Hauses auftragen. Dennoch bemerkte Giorgio im Gesichte seines Gastfreundes Falten des Grams, die vor Jahresfrist nicht darin gestanden hatten und die sich wohl mit der erloschenen Hoffnung eingegraben haben mochten.

Eine Zeitlang ging es an, über das große Ereignis der jüngsten Vergangenheit, den Tod des Reformators, zu sprechen; die wenigen Katholiken von Wittenberg – berichtete Lukas – erzählten sich Schauergeschichten, wie der Teufel Luther nachts im Bette gewürgt, oder auch, wie man ihn in der Frühe des Morgens aufgehängt an seinem Bettpfosten gefunden habe. Melanchthon dagegen verbreite erbauliche Anekdoten von dem gottseligen Hinscheiden des großen Propheten. Nachdem aber Giorgio die Wahrheit, wie er sie wußte, gerechtermaßen hingestellt hatte, konnte sich der Prior nicht länger enthalten, nach seinem Sohne und Augapfel Benjamin zu forschen, insonderheit nach dem Zustand seines Gemütes, und ob er mit Gewißheit oder mit Skrupeln ein Lutheraner geworden sei.

»Gott weiß,« entgegnete Lukas, »welche seines Herzens Meinung ist, wenn er sich allein in seiner Kammer mit ihm beredet; ob er solches freilich von Zeit zu Zeit tut und nicht bei dem ersten Antrieb des Gewissens sein Weib oder seine Freunde zur Zerstreuung aufsucht, vermag ich nicht zu entscheiden. Was er zur Schau trägt, ist das Antlitz des durch das lutherische Evangelium Gerechtfertigten, und was aus seinem Munde geht, sind die gewöhnlichen Verunglimpfungen der Kirche, an die er und alle glauben, die noch gestern katholisch waren und so gut wie wir wissen müßten, daß die Wahrheit anders, aber ihnen verderblich aussieht. Wie werden erst ihre Kinder und Kindeskinder, die nur von ihnen belehrt sind, unsre heilige Kirche verabscheuen!«

Der Prior seufzte, aber Lukas fuhr fort zu reden: »Wäre er allein geblieben, so stünde es besser um Eure Hoffnung, ehrwürdiger Vater; aber ich glaube, daß der Doktor Luther recht gesprochen hat, wenn er zu sagen pflegte: ›Frauenliebe ist gar ein köstlich Ding, – wem sie zuteil kann werden.‹ Nun,« fügte Lukas mit mehr Schmerz als Bitterkeit hinzu, »Benjamin ist sie zuteil geworden! Ihr aber, liebe Brüder, verwundert euch nicht, wenn auch wir Katholischen hierzulande bisweilen die Lutherworte gebrauchen, als wären sie althergebrachte Volksweisheit; aber keiner trifft aus seinem Eigenen die menschlichen Dinge so genau auf ihren Kopf wie er, und was insonderheit die Frauenliebe angeht, so muß er gewißlich mehr davon verstehen als die drei einsamen Gesellen, die hier miteinander am Tische sitzen.«

Bei diesem Gedanken an seine eigene Ehelosigkeit war das Seufzen an Lukas, doch ließ er die Stille nicht in der Stube andauern, raffte sich auf und erzählte weiter:

»Dazu hat Margrete in der vergangenen Woche ihrem Gatten einen Knaben geschenkt, der schön sein soll wie seine Mutter schön ist; – sie haben ihm den Namen Martin gegeben.«

»Sankt Martin,« sagte Giorgio, »ist ein mildtätiger Schutzpatron; denn er hat seinen Mantel mit einem armen Manne geteilt; vielleicht erbarmt er sich auch dieser unschuldigen Kreatur.«

»Benjamin und Margrete werden den Knaben zu einem anderen Heiligen beten lehren,« entgegnete Lukas; »ob aber der neue Martinus seine Zeichen neben den Wundern des in der Glorie Triumphierenden sehen lassen kann, erregt um des Kindes willen meinen Argwohn.«

Die Nacht wuchs und erreichte ihre Mitte, als endlich Lukas über seinen mancherlei Erzählungen die Augen schwer wurden und auch die Mönche nach des Tages Wanderschaft Schlaf und Ruhe verlangten. Ruhe freilich ist wie andere Güter ein Geschenk, das nicht jedem Begehrenden gegeben ist, und mancher muß es leiden, daß sein Geist dem ermüdeten Körper zur Qual in seinen Sorgen und Ängsten vom Abend bis zum Morgen fortlebt. Als Giorgio mit dem Aufgang der Sonne des Priors überwachte und unstete Art bemerkte, ergriff er ohne Zögern zu dem schweren Geschäfte dieses Tages die Führung, der sich Prior Balthasar auch willig und erleichtert unterwarf.

»Herr,« sagte Giorgio mit dem Worte des Dienenden, aber mit dem Ton des Überlegenen, »ich werde zuvor allein in Benjamins Haus gehn und darin Eure Ankunft ansagen; erwartet Ihr mich indessen außer Sorge, zu der nachmals, wenn uns kein Gelingen beschieden ist, die Zeit nicht mangeln wird.«

Der Prior nickte und Giorgio machte sich mit kräftigem Mute auf den Weg nach dem Elstertor; als er aber das Giebelhäuschen vor sich sah, in dem nach der Beschreibung des Lukas Benjamin und Margrete in glücklicher Eintracht wohnen mußten, befiel ihn der Kleinmut, so daß er zögernder ausschritt und sich im Herzen fragte: »Wie kann das gut enden?« Auch klopfte er nur sanft gegen die Tür, hörte aber gleich darauf inwendig eine helle Frauenstimme, die er kannte, sagen: »Geh, Toni, mach auf und sieh, wer draußen ist!«

Schritte näherten sich, die Tür wurde geöffnet, und in ihrem Rahmen standen sich die Mönche von Voghera einen Augenblick wortlos gegenüber; der eine gehorsam, arm, keusch und in der Kutte des Weltflüchtigen, der andere abtrünnig, erwerbend, ehelich und im behaglichen Schlafrock des Erdenbürgers.

Benjamin überwand seine Verlegenheit leichter und schneller als Giorgio, wie jener ja auch einen altvertrauten Anblick vor sich hatte, während dieser das veränderte Bild Benjamins erst langsam und in seiner ganzen Bedeutung begreifen mußte.

»Gott zum Gruße, Bruder Giorgio!« sagte der junge Hausvater zuvorkommend, nötigte den Mönch in die Stube und begann alsbald Wunderdinge von dem neugebornen Kinde zu erzählen, wobei er den Kopf oftmals zur Türe drehte, als erwarte er Margretens Ankunft mit Ungeduld.

Giorgio suchte indessen vergeblich nach einem aufrichtigen Wort, das Bruder Benjamin, nicht aber dem Prädikanten Antonius Eichler gelten würde, und hörte nicht auf, dieses letzteren Erscheinung zu studieren; dennoch hätte er sich minder, als er tat, darüber verwundern sollen; denn wenn schon der häusliche Herd und Kind und Gemahl einem Laien den Schimmer der Jugend und das kecke Gesellentum abzustreifen pflegen, um wieviel größer mußte der Abstand zwischen dem gesättigten Eheherrn von heute und dem schmächtigen jungen Priester von damals sein, der alle Tage die leuchtende Stirn im Weihrauch göttlicher Geheimnisse gebadet hatte.

Überdies trat Margrete herein, ein wenig blaß von der überstandenen Geburt, aber stolz und herbe und ihrer selbst gewiß, – wie sie auch als Mädchen gewesen war, nur dies ihr eigentümliche Wesen durch die neu gewonnene Frauenwürde befestigt und verstärkt. Sie grüßte Giorgio mit Gastlichkeit, aber ohne Wärme, trug die Morgenmilch auf, setzte sich und schien nachdenklich abzuwarten, in welcher Gesinnung der Dominikanermönch gekommen sein mochte; auch empfand Giorgio nunmehr deutlich, daß er nicht länger wie ein Freund des Hauses am Tische sitzen konnte, sondern daß die Wahrheit, geschickt oder ungeschickt, ausgesprochen werden mußte.

»Benjamin,« sagte er deshalb beklommen, »der Prior ist in Wittenberg, um dich an dein Gelübde zu mahnen.«

Bei dieser Anrede sah er seinem einstigen Bruder seelenvoll ins Gesicht, während dieser errötete und mit unsichrem Blick fragte: »Der Prior?«

Wie nun Giorgio das Auge an Benjamins Befangenheit weidete und aus dieser einige Hoffnung schöpfte, das Gemüt seines Bruders möchte auch im Stande der Ketzerei zart und für eine liebevolle Vorstellung empfänglich geblieben sein, bemerkte er nicht, daß Margrets Gebärde sich zur Wildheit verzerrt hatte; es hätte ihm sonst wohl der Mut gemangelt, in vorwurfsvollem Ton weiter zu Benjamins gutem Herzen zu sprechen:

»Benjamin! Kannst du den Prior, der dir geistlicher- und leiblicherweise ein Vater gewesen ist, aus deinem Gedächtnis auslöschen wollen? Benjamin, –«

Aber Margrete war keineswegs gesonnen, ihres Gatten weichmütigen Sinn durch den rührsamen Vortrag des Mönches umgarnen zu lassen.

»Räuber!« rief sie mit blitzendem Auge dem erschreckten Giorgio entgegen; »brichst du wie ein Wolf in unseren Frieden ein? Willst du einem Weibe ihren angetrauten Gatten und einem Säugling den Vater stehlen?«

Giorgio taumelte einen Augenblick unter der Wucht dieser Anklage zurück.

Wahrlich, die Welt und der Kampf gegen die Welt hatten ein anderes Gesicht, wenn man sie in der Zelle des Klosters und also nur im Geiste betrachtete, ein anderes, wenn man ihnen leibhaftig gegenüberstand. In der Einsamkeit hatte man immer die unwiederbringlich vergangnen Dinge vor Augen – den knieenden Mönch, der Profeß ablegt, den Wankenden und den Fallenden; – hier, auf dem Kampfplatz, zeigte sich allein mächtig das Gewordene, – Haus und Hof, Weib und Kind, und bewies, daß nicht die Ausschweifungen des Fleisches den Abtrünnigen in der Welt festhalten würden, – wie man sich das in grellen und glühenden Farben vorgemalt hatte, sondern Pflichten, heilig und unverletzlich wie der Gehorsam gegen eine gelobte Regel.

Hiermit gedachte Giorgio wiederum des gebrochnen Eides, raffte sein mönchisches Bewußtsein zusammen und sagte feierlich zu Margrete:

»Ja, ich bin in Jesu Christi Namen nicht gekommen, eurem Hause seinen Frieden zu bringen. Euer Friede ist Sündenschlaf! – Ich bin gekommen, euch zu wecken, damit euch nicht nachmals die Posaune zum Gerichte wecke.«

»Womit sündigen wir?« forderte Margrete den Mönch heraus, »leben wir nicht ehrbar und rechtlich unsre Tage, wie es Christenmenschen geziemt?«

Giorgio reckte sich in die Höhe und fragte zurück: »Kannst du auch, wenn du deinem Nachbarn hundert Gulden schuldig bist, frei und ohne Schulden sein, – außer er hätte sie dir erlassen? Wie wollt Ihr denn mit einem ungesühnten Gottesraub und falschen Eide auf dem Gewissen ein christliches Leben führen können?«

»Das Mönchsgelübde ist kein rechter Eid,« antwortete Margrete hart und zögerte nicht, ihren Satz mit lutherischen Beweisen deutlich zu machen. »Ein jeder,« sagte sie, »kann nur das geloben, was er besitzt; ist einem die Gabe der Keuschheit nicht von Gott verliehen, wie kann er denn schwören, ehelos zu bleiben bis zum Tode?«

»Darin sprichst du nicht unklug, Margrete,« antwortete Giorgio, »wie denn schon König Salomo von sich selbst bekennt: ›Als ich wußte, daß ich nicht anders enthaltsam sein könnte, außer Gott gebe es, – ging ich zum Herrn und habe ihn gebeten!‹«

»Man soll nicht,« sagte Margrete dagegen, »hartnäckig etwas erbitten, was der Herr nicht hat verleihen wollen. Ich bitte auch nicht um eine Speise, die nicht auf der Erde wächst, und versuche damit Gott zu meinem Schaden!«

»So erleuchte der heilige Geist die Finsternis deines Herzens,« rief Giorgio, »denn auch Glauben, auch Liebe, auch Gehorsam, auch Treue ist Speise, die vom Himmel kommt! Wie willst du deinem Gatten, der dir lieb ist, antworten, wenn er zu dir spricht: ›Gott hat mir die edle Gabe der Treue versagt; soll ich mich wider ihn empören?‹«

Da flammte Margretens Zorn hell auf; ihrer Würde und Haltung beraubt schrie sie mißtönig: »Geh, geh, du Friedenstörer, du Dieb und Einbrecher!«

Aber Benjamin wehrte seinem Weibe und redete begütigende Worte; dennoch wollte Giorgio für diesmal den Staub von den Füßen schütteln, bot Benjamin die Hand und sagte traurig: »Was soll ich dem Prior für Nachricht von dir bringen?«

Wie der junge Hausvater mit seiner Antwort zögerte, stellte sich Margrete dicht neben ihn und sah finster und drohend ihren Gatten an; dieser aber konnte sich weder ihr noch der lockenden Stimme, die der der Mutter zu gleichen schien, ganz überlassen und sagte ausweichend:

»Ich habe morgen eine Gedenkrede auf das Hinscheiden des Reformators zu halten, – darum bitte ich dich, – entschuldige mich, – nachmals –«

»Nie!« rief Margrete außer sich, – »nie wird der alte Fuchs seinen Fuß über unsre Schwelle setzen!«

»Margrete,« sagte Benjamin unwillig, »du kennst den würdigen Prior nicht; ich darf ihm meine Tür nicht verschließen –«

»So werde ich es tun,« rief Margrete von neuem: » nie sollst du ihn wiedersehen, nie soll er mich und das Kind mit seinem Geifer schänden!«

»Margrete!« sagte Benjamin mit unterdrückter Heftigkeit. Giorgio indessen dachte, daß Benjamin recht geschähe damit, daß sein Weib sich gegen ihn auflehne, weil er sich auch gegen seinen rechtmäßigen Herrn aufgelehnt hatte; aber er schwieg, um die Streitenden nicht zu reizen, und verließ sie ohne Gruß und Segen.

Als Giorgio sich dem Hause seines Gastfreundes näherte, sah er Lukas und den Prior beieinander im Gärtchen stehen, schweigsam und die Milde des Vorfrühlings mit Wohlgefallen genießend. Kaum aber hatte der Prior den herankommenden Mönch erkannt, als sich der stille Ausdruck seiner Augen in Angst und Schrecken verwandelte, denn Giorgios verstörtes Gesicht zwang ihn, an die Stunde zu denken, in der der Unglücksrabe zu ihm gesprochen hatte: »Benjamin ist lutherisch geworden!« Auch diesmal entledigte Giorgio sich seiner bösen Zeitung ohne Umschweif und indem er mit dem Übelsten begann.

»Mein Vater,« sagte er bitter, »Frau Margrete wird bei Eurem Kommen ihre Tür verschließen, und Benjamin –«

Giorgio stockte, und der Prior sagte eindringlich: »Er wird mich nicht zurückstoßen.«

»Benjamin«, fuhr darauf Giorgio seufzend fort, »läßt sich entschuldigen, weil er morgen eine Gedenkrede auf den Tod des Reformators zu halten habe.«

Einen Augenblick blieben die drei im Gärtchen stehen, ohne daß einer ein milderndes Wort gefunden hätte; Lukas, der wohl allein ein solches gesucht hatte, sagte endlich:

»Nachdem Philipp Melanchthon die feierliche Leichenrede für den Doktor Luther gesprochen hat, ist an die jüngeren Prädikanten der Ruf ergangen, daß ein jeder unter ihnen dem Propheten noch ein eignes Wort nachrede, weil auch das deutsche Volk niemals genug über die großen Taten des Verstorbenen belehrt werden könne.«

Aber die beiden Mönche achteten nicht auf die Erklärung ihres Wirtes; vielmehr zog sich Giorgio in das Haus zurück, während der Prior nach einem stummen Blick auf Lukas den Weg zur Elbe einschlug.

Ihn beklemmten die Mauern der Städte; wo immer er in der Fremde am Morgen ans Fenster trat, ergriff ihn die Sehnsucht nach dem weiten Lande, das sich bis in die Himmelslinie hinein vor seiner Prioratszelle in Voghera ausdehnte. Wohl erschienen auch ihm die Berge schön und bewunderungswürdig, die Wälder geheimnisvoll und die Städte prächtig; aber die Kinder der Ebene verlangen alle Zeit nach dem unbegrenzten Horizont, und wenn der Alpsohn sie im Besitze seiner beschneiten Höhen um ihrer öden, gleichförmigen Felder willen bemitleidet, so wissen sie wohl, daß kein aufgetürmter Bergriese sie die kahle Unendlichkeit ihrer Ebene vergessen machen könnte; darum gefiel dem Prior das Land um Wittenberg, und er suchte es mit Vertrauen auf, bei seinem Anblick Beruhigung des Gemütes zu empfinden.

Es hatten in der letzten Zeit Frost und Tau häufig gewechselt, und unter dem rinnenden Wasser schoben sich die gelösten Eisschollen stromabwärts; wie sie sich nun vom Winde bewegt aneinander drängten oder durch eine Welle getrennt in ungleicher Richtung fortstrebten und jede einen neuen Zusammenstoß erleiden mußte, klangen die Schollen in der Tiefe hell und abgetönt wie Glocken, so daß der Prior, der das Spiel des Eises nicht kannte, sich lebhaft horchend über den wundersamen Strom beugte und lange vergeblich nach dem unsichtbaren Glockenturm suchte und nach dem Meister, der die Glocken gegossen haben mochte; als er ihn gefunden hatte, entbrannte sein Herz im unbeschreiblichen Gefühl, den Hauch der Gottheit in der Natur zu spüren, der immer treuen Natur, in die sich seine Liebe und Betrachtung, seltner zwar, aber mit gleicher Innigkeit wie in die Bibel oder in den Glauben versenkte.

Schon stach die märzliche Mittagssonne mit ihrer jugendlichen Kraft in die umpflügte Erde, als der Prior seine Sinne von Strom und Ufern losriß und in die Stadt zurückkehrte. Jetzt hatte er auch für die Belehrung des Lukas ein williges Ohr, fragte, an welchem Ort und zu welcher Stunde Benjamin seine Rede halten würde und erklärte freimütig, daß er hören wolle, was der Knabe zu Luthers Ruhme vorzubringen wisse. Lukas freilich widerriet dem Prior solches Vorhaben, schilderte, wie die evangelischen Prediger in ihren Gottesdiensten nicht mit Ernst und Dringlichkeit die Heilige Schrift auslegten noch auch beteten oder Gott in schweigsamer Andacht verehrten, sondern daß sie mit erhitzten Köpfen die Kanzel zu verlassen pflegten, gleich als hätten sie einer begierigen Menge Krieg und Aufruhr an Stelle der Tugend gepredigt.

»Geht es aber schon also in der Kirche zu,« endete Lukas seine Erzählung, »und in Gegenwart der Weiber und Kinder, um wieviel zügelloser wird einer seine Leidenschaft rasen lassen, wenn er in einem profanen Saale und allein vor Männern redet.«

Dennoch betrat der Prior am folgenden Morgen zur bestimmten Stunde und in Begleitung Giorgios den denkwürdigen Raum, in dem Luther zuerst seinen Studenten das Evangelium von der christlichen Freiheit mit der Stimme einer Trompete verkündet hatte. Sie mischten sich unter die Letzten und Geringsten und hörten in Erwartung des Redners manches Lob, das Benjamin im voraus gespendet wurde, denn man hatte seine letzte Predigt »Über das Fasten« in bestem Andenken behalten, nach welcher ein jeder mit neu gestärktem Vorsatz zu seiner Hausfrau heimgekehrt war, ihr eindringlich empfehlend, daß, wenn auch die ganze Woche das Geld nicht für Fleisch und Fett langen wolle, doch am Freitag in einer christlichen Küche gut evangelischer Bratenduft in den Rauchfang steigen müsse.

Es lief eine Bewegung durch die Hörer, und Benjamin trat ein.

Auch dem Prior konnte die Wandlung vom Geistigen zum Weltlichen auf dem Antlitz seines geliebtesten Sohnes nicht entgehen, wiewohl es würdiger über dem schwarzen Predigertalar dreinschaute, als es über dem hausväterlichen Schlafrock vermocht hatte. Einen Augenblick senkte Benjamin das Haupt und die Augen, wobei ihm die vorderste Locke, die seit Jahresfrist üppig hatte wachsen dürfen, in die Stirn fiel; dann hob er den Blick bis über die Köpfe seines Auditoriums und begann zu reden.

Der Prior hörte und staunte. Wer unter allen, die hier im Saale versammelt waren, kannte wie er den Redner, dem sie lauschten, – die Stimme seines Mundes, die Geste seiner Hände, das glatte Gefüge seiner Worte? Selbst Giorgio, der die Erinnerung an den Kapitelsaal von Voghera mit dem Prior teilte, mangelte doch das feine Ohr der einst verblendeten und nunmehr geläuterten Liebe, durch welche der Prior genötigt war, Benjamins Reden als Mönch gegen diese Rede als lutherischer Prädikant abzuwägen. Wahrlich, sie glichen einander nur zu sehr an Spitzen und Schärfen, an Schwellung und Zurückhaltung, und selbst die Pausen von der Dauer einer Minute hätte der Prior voraussagen können.

Wunderliche und von Benjamins Text höchst unabhängige Gedanken durchzogen seine Seele; während um ihn her das Gefallen an dem Vortrag groß zu sein schien, fühlte er sich geneigt, kühle Betrachtungen über die Kunst der Beredsamkeit im allgemeinen anzustellen und diese, als dem Menschen äußerlich anhaftend, nur gering einzuschätzen; wie konnte sonst dieser Knabe ungleiche Dinge wie Kirche und Luthertum in die gleichen Gewänder seiner schillernden Sprache kleiden?

Es durchzuckte den Prior ein Gedanke an den heiligen Bernhard von Clairvaux, von welchem die Rede geht, daß er den Kreuzzug seiner eignen Überzeugung zum Hohn allein aus Gehorsam gegen den Papst und mit der Zunge eines Engels gepredigt habe.

Aber aus welchem unwiderstehlichen Gehorsam des Herzens hätte Benjamin die Glut schöpfen sollen, die seiner Kunst Leben und Seele eingehaucht haben würde? Der Prior begriff, daß Benjamin weder vormals als Mönch sich dem Gesetz Christi, noch jetzt als Protestant sich dem Gesetz der Freiheit mit dem Todessprung des Entschlossenen verpfändet hatte; er redete wie ein Knabe, ungebrochen und unergriffen; aber in des Priors Seele begann die geheimnisvolle Christuslehre feuriger zu brennen als je zuvor, daß keiner von neuem geboren werden könne, der sich nicht zuvor habe vernichten wollen. Er dachte mit Rührung an die Gebärde jenes spanischen Doktors, der ihn in der »Möve« gepflegt hatte und dem bei dem Namen des Heilands Tränen aus den Augen gestürzt waren; ihn oder das Wehen Lutherschen Geistes wünschte er bei Benjamins kunstvoller Rede über das » Odium Papae« herzu, damit ein Hasser vom Haß und ein Liebender von der Liebe zeuge; denn was wußte Benjamin bis zu dieser Stunde von beidem? Eben predigte er:

»Dr. Martinus Luther hat seiner Kirche ein Vermächtnis hinterlassen, das ihr teuer sein muß wie Kindern der letzte Wille ihres heimgegangenen Vaters. Meine Freunde, Freunde der reinen Lehre und des wiederhergestellten, apostolischen Christentums, wir finden das Testament unsres von Gott gesandten Propheten verzeichnet in der letzten Gabe seines erleuchteten Geistes, in der Schrift: ›Wider das Papsttum in Rom, vom Teufel gestiftet'. Schon mußten wir fürchten, daß das nahende Alter Doktoris Martini rumorenden Geist eingeschläfert und unfähig gemacht haben könnte, mit der Baumaxt weidlich zuzuhauen, wozu er durch die Gnade Gottes einen höheren Geist erhalten hatte denn andre Menschen; aber siehe! – wie ein furchtbares Racheschwert blitzt der Donnerkeil Luthers über dem gekrönten Drachen, dem Antichrist von Rom, und befiehlt uns um der Liebe Christi willen, den Vater der Lüge, den Mörderbischof und Teufelsapostel zu hassen. Meine Freunde! Gedenkt der menschlichen Mißgestalt, die Doktor Luther uns in Wort und Bild vorgeführt hat und die niemand anders bedeutet als den obersten Schalk der Welt, zu dessen Narren und Hofnarren sich ihrer Würde gänzlich vergessend auch die Deutschen gemacht haben. Hört die Stimme unsres Befreiers:

Martinus Luther bin ich genannt,
Von Gott dem deutschen Land gesandt,
Welches durch des Papsts und Teufels Lehr'
War ganz und gar verführet sehr,
Und hab' durch Schrift beweiset klar
Und wird auch ewig bleiben wahr,
Der Papst, der sei der Antichrist,
Sein Ursprung hat vom Teufels Mist. –«

Danach begann Benjamin mit dem Griffel seines Meisters die gesamte Erscheinung eines Papstes zu ihrer Karikatur zu verzerren, bis sie in allen Gliedern als ein Bild des Spottes vor dem Geiste der Hörer auftauchte. Während diese sich an dem satanischen Spuk ergötzten, klagte der Prior in seinem Gemüte, daß Benjamin auch das gemeinste aller rednerischen Mittel nicht verschmähe und das Volk zu billigem Gelächter über seine Feinde anreize.

Indessen lenkte Benjamins Redefluß wieder in ein schwerfälligeres Bett ein.

Mit flammenden Worten empfahl der Lutherprädikant seinen neuen Brüdern, ihre Liebe zu Gott am Hasse gegen den Papst anzufachen, dieweil das menschliche Herz leichter und eifriger zum Haß erglühe als zur Liebe.

» Impleat vos Dominus odio Papae,« schloß er pathetisch diesen ersten Teil seiner Predigt und streckte die Hände wie zu einem Himmelssegen aus.

Die versammelte Luthergemeinde durchrieselte ein frommer Schauer, als wolle ein jeder der seltsamen Gabe Gottes, den Papst zu hassen, teilhaftig werden.

Auch gönnte Benjamin seinen Hörern eine geraume Weile, in ihrer Empfindung zu schwelgen, bis er wie zu Beginn seines Vortrags das Haupt von neuem erhob und mit maßvoller Stimme von den Gründen redete, die einen Christen bewegen müßten, den Papst und seine Kirche wie den Teufel und die Sünde zu verfolgen. Er bewies, daß nicht ein sterblicher Mensch, sondern nur der Widersacher selbst im erborgten Gewande Christi zu so großmächtiger Gewalt auf Erden hätte gelangen können; daß aber in Wahrheit der römische Vater ein Vater der Hölle, nicht wie er vorgebe, der Vater der Christenheit sei, erkenne man deutlich daran, daß er den Edelstein der Erlösung, die sola fides verdunkelt habe.

Der Prior horchte auf. Was Benjamin bisher über die Hierarchie gesprochen hatte, konnte er dem Unverstand seiner Jahre und der Verführung durch die Rebellen zugute halten; redete er aber nunmehr über die schlichten Glaubenssätze seiner mütterlichen Kirche und redete falsch, so konnte es nicht anders als aus argem, unlauterem Herzen geschehen.

»Es hat der Papst«, predigte Benjamin, »unser Gewissen hart bedrückt, daß wir lieber unsres Leibes spärliche Notdurft zur üppigen Pflege seines Bauches hergegeben haben, als daß wir uns getrost auf die Barmherzigkeit Gottes verlassen hätten. Ach, wir armen Seelen, wie waren wir, bis er uns Doktor Martinum gesandt hat, mit Fasten, Beten und Almosengeben so besorgt um unsre Gerechtigkeit, mit der wir den strengen Richter beschwichtigen wollten; ja wir hatten wohl, ehe das Licht von Wittenberg aufgeleuchtet ist, das Heil der Seelen höchst sträflich und verwerflich ganz und gar in unsrer Tugend gesucht, die hochgelobte dreieinige Gottheit aber mit ihrer seligmachenden Gnade aus unsrem Herzen vertrieben. –«

Die rhetorische Pause, die Benjamin zum größeren Nachdruck seiner Worte eintreten ließ, wurde plötzlich aus dem Hintergrund des Saales mit einer Stimme angefüllt, die wie das tiefe Register einer Orgel grollte.

»Wo nicht deine Gottheit thront,
Nichts im Menschen Gutes wohnt,
Nichts in uns ist sündenrein –«

sagte die Stimme, auf die alle Gegenwärtigen erstaunt und mit verhaltenem Atem hörten. Indem trat der Prior aus der Menge der Menschen hervor und rief Benjamin empört entgegen:

»Knabe, hast du niemals diese Worte gebetet oder gesungen, solange du noch der Kirche gehorsam warst?«

Jetzt erst merkten die Lutherischen, daß ein Katholik, ein Mönch sie belauscht und überrascht hatte, drängten und riefen durcheinander, womit sie zwar den Prior und Benjamin, die sich für einen Atemzug Auge in Auge gestanden hatten, trennen, nicht aber ihrem Redner ein dunkles, unaufhaltsam aufsteigendes Erröten ersparen konnten.

Als Giorgio sah, daß einige zügellose Burschen Schimpfreden gegen seinen geliebten Vater erhoben, bahnte er diesem einen Weg durch das Gedränge und führte den zögernd Folgenden aus dem Saale.



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