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Viertes Kapitel.

D Des nämlichen Tages Sonne, die Benjamin über seiner Predigt vom geistlichen Testament des Reformators geleuchtet hatte, säumte tief im Westen eine breite Wolkenwand mit goldig-gelbem Saum, als Prior Balthasar und Bruder Giorgio über die Felder schritten, die Lutherstadt weiter und weiter hinter ihrem Rücken lassend.

Am Fenster des Giebelhäuschens vor dem Elstertor stand Margrete und schaute den Wanderern mit feindlichem Blicke nach. »Möge euch der Satan mit den höllischen Heerscharen geleiten!« sprach sie in ihrem Herzen, kniff aber die Lippen bei dieser innerlichen Rede zusammen, um nicht Benjamin durch ein lautes Wort aus seinem Brüten aufzuschrecken. Der saß, seit Giorgio gekommen war, über seinen Büchern, ohne zu lesen, und am häuslichen Herde, ohne Weib und Kind zu sehen. Jetzt, als die Mönche von Voghera Margretens Gesichtskreis entschwunden waren, verließ diese mit einem Seufzer der Befreiung ihren Standort am Fenster, näherte sich Benjamin und sah ihm fürsorglich in sein blasses, bekümmertes Gesicht; auch hob er den unsicheren Blick zu seinem Weibe auf und sagte:

»Es hat geklopft, Margrete, – mich dünkt, es stehe einer vor der Tür.«

»Niemand ist draußen!« entgegnete Margrete und fügte, indem sie ihre Gedanken verbarg, hinzu: »Wer sollte auch herein begehren?«

Benjamin nickte, und Margrete nahm ein Strickzeug zur Hand, mit dem sie sich neben ihren Gatten auf die Bank setzte. So schwiegen sie beide, und nur das Geklapper der Nadeln und der schwere Atem Benjamins erfüllten die Wohnstube mit freudelosem Geräusch.

»Ich könnte ja auch gehen und ihn holen,« sagte endlich Benjamin.

»Wohin willst du gehen?« fragte Margrete mit leidenschaftlicher Gebärde.

»Man hat mir gesagt, daß mein Vater im Hause des Lukas wohne,« antwortete Benjamin,

Da legte Margrete das Strickzeug in ihren Schoß und sprach mit hochgehobenem Haupte:

»Prior Balthasar und Bruder Giorgio haben in dieser selben Stunde Wittenberg verlassen.«

So glaubte also Margrete nicht anders, als daß mit den entweichenden Mönchen ihr und ihres Gatten Erzfeind von hinnen zöge, daß Benjamin dem Evangelium Christi und dem der Frauenliebe von neuem geschenkt sei, und daß sie Ursache zu einem offnen Triumph habe.

Auch der Prior, wie er mit Giorgio seine Straße zog, vermeinte in Margrete seinen wahren wittenbergischen Widersacher zu hinterlassen und grollte ihr, als der Unterlegene, aus der Ferne. Dennoch hätten die beiden, deren Unmut sich bald begegnete, sich auf einem langsameren Wege, in Liebe und Leid, das sie um Benjamin trugen, zusammenfinden können; denn des Priors Klagen, die er über Giorgio ergoß, waren von denen, die Margrete unablässig in ihrem Herzen bewegte, keineswegs wesentlich unterschieden.

»Sieh, Giorgio,« sagte der Prior zu diesem, »das kränkt mich am meisten, daß die neue Lehre vom Glauben und der Erlösung unsrem Bruder nur ein wenig die Dialektik verwandelt, nicht aber das Herz von Grund aus umgekehrt hat. Wahrhaftig, ich getraute mich, seit ich den Doktor Servet und einige andere Ketzer gesehen habe, die auf eine erhabene Art verblendet waren, eine bessere evangelische Predigt zu halten, als es Benjamin getan hat; ja, ich bedaure vielmehr die Kirche, zu deren Streiter er sich aufgeworfen hat, und wäre nicht das Weib die Urheberin des Übels gewesen, fühlte ich mich geneigt, auch Margrete zu beklagen, weil sie ihr Haus auf den untiefen Grund dieses Herzens gebaut hat.«

Wenn darauf Giorgio widersprach und die tiefsinnigen Ketzer mit den leichtfertigen gleichermaßen verdammte, ja sogar wünschte, daß Benjamin einer von diesen letzten sein möchte, da sie leichter bekehrbar seien als die ersten, ereiferte sich der Prior nur um so mehr und rief Gott um seine heilsamen Schickungen an, in denen Benjamin sich am ehesten zu einem ganzen Protestanten oder – wenn die Gnade Gottes nicht fehlte – zu einer reuigen Heimkehr aufraffen würde.

Solche Gebete um des Herzens Erschütterung sprach auch Margrete; denn ihr, der, als sie noch mit Benjamin unterm Apfelbaum gesessen hatte, die neue Religion mehr nach ihren Freiheiten als nach ihrer Verantwortung aufgegangen war, wirkte nunmehr der Gram um des Gatten unbefestigte Art zugleich mit der Sorge um ihr ängstlich behütetes Glück, ein tieferes Hinabsteigen in den Schacht göttlicher Geheimnisse; aber vergeblich drang sie in Benjamin, ihr dahin zu folgen.

Schon in der Zeit keimender Liebe, die zudem für den jungen Mönch eine Zeit des Taumels gewesen war, bemerkte Margrete, daß sie mit Worten und Taten Geringeres über ihren Geliebten vermochte, als sie andere Mädchen bei ihrem Erwählten mit einem bloßen Lächeln hatte ausüben sehen. Weil aber ihr ganzes Sinnen und Trachten auf Benjamins braune Augen und dunkle Locken gerichtet stand, strebte sie um so heftiger danach, die allgemeine Verwirrung seines Gemütes erst nach geschlossener Ehe zu einer neuen Ordnung bringen zu helfen; denn wer konnte wissen, ob er im sicheren Bewußtsein seiner Männlichkeit, und nachdem er zuvor schon die Welt und die Frauen gekannt hätte, sich Margrete zu eigen gegeben haben würde?

Somit hatte sie im Drange ihres Herzens das an Wehmut und Bitterkeiten reiche Leben jener Frauen auf sich genommen, die, statt vom Manne umworben zu sein, selbst die kleinen Gelegenheiten des Tages erspähen, in denen sie die Laune ihres Eheliebsten sich geneigt machen können, und hatte den treuen und dienstbereiten Lukas dazu abgewiesen, um durch eigne Knechtschaft hier und da eine gutmütige Zärtlichkeit von Benjamin zu erhaschen. Wie sie aber von Natur mit der Härte des Befehlenden, nicht mit der Schmiegsamkeit des Unterwürfigen begabt war, stand ihr Gebahren nicht selten in einem ungeschickten Widerspruch zu ihrem wahren Wesen, dessen herber Reiz durch jene angenommene Sanftmut verdunkelt wurde und Benjamin recht eigentlich im gefälligen Reiche des Eros ein Fremdling blieb, – wenn er es sich auch einstweilen in den Behaglichkeiten des Ehestandes wohl sein ließ.

Nur die Augenblicke der Gefahr, in denen Margrete um den Besitz des Geliebten zu kämpfen anfing, trieben mit der Kraft zugleich ihre Schönheit an die Oberfläche, so daß dieselbe auch für Benjamins blöde Augen sichtbar wurde, und sein träges Blut begann sich zugunsten seines Weibes zu regen. Aber der gemäßigte Fluß der Tage verschlingt und verleugnet nur zu leicht den hohen Wogengang großer Stunden und versucht vielmehr, diesen selbst im Gedächtnis der Menschen sich gleich zu machen und seine Spur zu vertilgen.

So begann auch für Margrete nach vollbrachtem Kampf und, wenn andre die Heiterkeit des Friedens genießen, von neuem die nagende Sorge und der Kampf im kleinen um ihres Gatten Gewogenheit und eheliche Treue, und Giorgios Worte, daß die Treue wie die Keuschheit eine Gabe des Geistes, nicht aber des ungebändigten Fleisches sei, hätten sie minder, als sie taten, ins Herz getroffen, wenn nicht der Zweifel an Benjamins Ehegelöbnis jedes täglichen Brotes bitteres Salz gewesen wäre.

O, sie bedurfte keines Mönches aus Voghera, um den Schwur eines Mannes für ungewiß zu erachten, der zuvor Gott seinen Eid gebrochen hatte und nunmehr in Wittenberg mit Augen sah, wie auch das dem Weibe gegebene Gelübde löslich geworden war; ja, Margrete überraschte sich nicht selten bei einem quälenden Neid gegen ihre katholischen Schwestern, deren Menschenglück durch ein Sakrament sublimiert war, indessen sie ihre Hoffnung auf die natürliche Liebe zwischen den Geschlechtern setzen mußte, von der sie doch ihren Herrn und Meister hatte sagen hören, daß es gar ein schweres Ding sei, sein eigen Gemahl lieb und wert zu halten.

Solange freilich Luther noch lebte und sein Haus Benjamin und dessen Weib offen stand, fühlte Margrete nicht selten ihre Sorgen und Ängste durch ein einziges Wort des Reformators verscheucht, – irgend ein Wort, das aus der Tiefe seines großen Herzens kam und allen dunkel bedrohlichen Lehren Trotz bot, und auch Benjamin pflegte vom alten Augustinerkloster mit einem offeneren Blick für die erworbenen Güter seines Lebens zum Elstertor heimzukehren, als ihm auf dem Hinweg zu eigen gewesen war.

Da zog denn mit der Nachricht von Luthers Tode ein trostloses Gefühl der Verlassenheit in Margretes Seele ein; sie wie alle, die in seinem Bann und Umkreis gelebt hatten, empfand deutlich, daß man sich lieber dem Strudel seiner unberechenbaren Entscheidungen anvertraute, als dem ewig zögernden Melanchthon auf seinen vorsichtigen Pfaden folgen zu müssen.

Melanchthon, wiewohl Geschöpf und Mitstreiter Luthers, hatte doch allezeit im gemeinsamen Geschäfte des Reformierens den von seinem Freunde längst zum alten Eisen geworfenen katholischen Bestand an Glauben und Lehren aufs neue aus dem Winkel gezogen und immer, wenn Luther eben seine Grundideen von Christentum und Menschentum zur Tat machen wollte, auf die notwendigsten katholischen Ideale zurückgegriffen, so daß es dem ernsthaften Lutherchristen schwer fallen mußte, sich in dem ihm von Gott zugemessenen Teil von Freiheit und Bindung auszukennen. Während nun Luther im Vertrauen auf Gott und die eigne Mission mit einem kräftigen Beichtrat die darniederliegenden Skrupulanten aufzurichten vermocht hatte, wollte es Melanchthon, dem die logischen Bedenklichkeiten im System zuwider waren, nicht recht gelingen, zweifelnde Gemüter zur Sicherheit eines mehr aus dem Willen und Gefühl als aus der Erkenntnis gewonnenen Urteils zu bringen.

Auch Margrete trug in den Jahren, die Luthers Tode folgten, ihre Mühseligkeiten seltner und immer seltner vor Philipp Melanchthon. Von ihrem Meister hatte sie gelernt, sich – wenn das schuldbeladene Menschenherz nach dem Troste der Religion verlangt – allein auf den dreieinigen Gott zu verlassen und der Priester auf Erden sowie der Heiligen im Himmel zu entraten, – da bedurfte es keines Führers und Freundes; und ihrem heimlichen Kummer um Benjamins Liebe und Treue schien in dem kleinen Martin – mit seinem Spiel und unschuldigen Lachen – ein stärkerer Tröster zu erwachsen, als Melanchthon mit einer wohlgemeinten Rede jemals hätte werden können. Ja, es kamen Stunden, in denen, – während Benjamin mit dem Knaben an der Hand beschaulichen Gemütes durch den Garten schritt, – Margrete Gott unter Tränen dankte, daß er sich seines Anrechtes auf ihren Geliebten begeben und vielmehr dieses Kind zum Schutze ihres häuslichen Friedens gesandt habe.

Aber der große Rivale – wer kennt nicht seine Art? Hinter der Bläue des Himmels und den weißen Wänden der Wolken verbirgt er sich am Tage, hinter den sieben Sphären der Sterne bei Nacht und hält seine Blitze in der Hand zurück, bis die Menschen sicher geworden sind in ihrer Sünde, – dann aber zielt er unversehens und trifft und vernichtet, und wehe allen, die ihr Hab und Gut von seinem Eigentum geraubt haben.

Eines Tages – es war im Vorfrühling und milde wie damals, als Margrete ihrem Kinde das Leben gegeben hatte – begehrte Philipp Melanchthon in der Frühe des Morgens im Giebelhäuschen vor dem Elstertor Einlaß. Margrete schaffte im Hause, während drinnen in der Wohnstube der kleine Martin seinem Vater das erste Blatt der Bibel mit heller, erhabner Stimme vorlas und Benjamin dabei in seinem Innern die neue Schulordnung Johann Bugenhagens lobte, nach welcher nunmehr jedes siebenjährige Kind für einen kleinen Schriftgelehrten gelten konnte.

Als Melanchthon in die Türe trat, setzte Martin seinen braunen Zeigefinger auf den fünften Schöpfungstag, hob den Kopf und sah dem frühen Gast aus den dunklen Augen seines Vaters, aber mit der Festigkeit der Mutter ins Gesicht. Das zeigte, wenn auch nicht für den Knaben, so doch für Benjamin bemerkbar, jenen Ausdruck unüberwindlichen Mißvergnügens, den die Freunde der Reformation an ihrem treuen Vorkämpfer kannten, wenn immer er sich vor die Aufgabe gestellt sah, Ausschweifungen in Worten oder Werken seiner Gesinnungsgenossen rechtfertigen zu sollen.

»Gott zum Gruße, lieber Eichler,« begann Melanchthon und redete, nachdem er Benjamins Einladung, sich zu setzen, nachgekommen war, nicht ohne Verlegenheit weiter:

»Lieber Eichler, es ist eines jener ärgerlichen Dinge geschehen, mit denen Gott uns zwar einige Zeit verschont hatte, die aber mitsamt ihren bösen Folgen im Gedächtnis aller ehrbaren Leute verblieben sind. Solche Folgen für diesmal zu hindern,« fuhr er stockend fort, »bevor es in der Stadt ruchbar geworden ist –«

»Kommt zur Sache, Herr Magister,« unterbrach ihn Benjamin, dessen Neugierde aufgereizt war; doch wurde Melanchthon noch einmal durch Margretes Erscheinen zurückgehalten, die, als sie ihres Gatten Stimme hörte, in die Stube getreten war und nunmehr ihre Verwunderung über die Person des Gastes laut werden ließ; sie hatte Melanchthon, der eine leise Rede führte, von draußen weder erkannt noch vermutet.

»Das muß ein absonderliches Geschäft sein,« rief sie, »das Euch zu so früher Stunde in unser Haus führt.«

Melanchthon seufzte und setzte mit neuem Umschweif ein, der indessen schon einen engeren Kreis um das leidige Ziel seines Besuches zog, als es die allgemeine Klage über unschickliche Vorkommnisse und ihre Folgen getan hatte.

»Als vor nahezu eines Menschen Alter«, sagte er, »der erste Nonnenraub in Mariathron geschehen war, begann für uns Evangelische die nicht geringe Mühe, den entlaufenen Frauenzimmern ein Dach über den Kopf zu schaffen, denn ihre eignen Familien, die zumeist katholisch geblieben waren, schämten sich ihrer, und die ledigen Männer von Wittenberg fanden nicht allezeit Neigung, ihnen die christliche Tat, mit dem Klosterleben auch dem schändlichen Aberglauben und ihrer Werkheuchelei abgesagt zu haben, damit zu vergelten, daß sie sie zu ihren Hausfrauen gemacht hätten.«

»Freilich mußten Hausfrauen aus den befreiten Jungfrauen werden,« lachte Benjamin dazwischen; »wozu hätten sie anders das Kloster verlassen?«

Aber Melanchthon fuhr in seiner bekümmerten Weise fort:

»Es ist noch heute zu unsrer eignen Schande in aller Munde, wie wir dazumal in unsrer Not die willigen Nonnen nach Schönheit, Adel und Jugend ausgeboten haben, als dürfe jeder Bube nur eben seine Lust an ihnen büßen, statt daß sie als ehrbare Jungfrauen in Züchten eine jede auf ihren Freier gewartet hätten. Aber wo nicht das gesamte Kloster aufgehoben wird, also daß man die Mädchen mit einer ansehnlichen Mitgift aus dem Klostergut ausstatten kann, ist die Ankunft der Bewerber jeweilen ungewiß, und die Last hängt an uns statt an den Eltern oder an dem nährenden und – ach! – schützenden Kloster!«

Melanchthon seufzte ein zweites Mal und jetzt mit einer so sorgenschweren Ältervatermiene, daß ein Unkundiger geglaubt hätte, es säßen ihm sechs unversorgte und alternde Töchter um den Tisch seines Hauses. »Diesmal sind es ihrer vier,« setzte er kleinlaut, aber beschließend hinzu; denn schon konnte Benjamin begriffen haben, daß ein Teil der Last und Sorge Melanchthons um etliche frisch entsprungene Nonnen von seinen kräftigen Schultern getragen werden sollte.

»Wo sind sie hergekommen?« nahm Benjamin das Wort.

»Aus dem böhmischen Grenzlande,« entgegnete Melanchthon. »Ein junger Priester und Liebhaber des Evangeliums Christi hat sie im Beichtstuhl darin unterwiesen, hat auch mit einer unter ihnen das Eheverlöbnis für die Zukunft getauscht, so daß wir für diese nur ein bürgerliches Kleid zu beschaffen brauchen, da sie den Gatten und Versorger bereits mit sich führt; die zweite ist einer freundlichen Aufnahme im Hause ihres zu Erfurt wohnenden Oheims gewärtig, der von guter evangelischer Gesinnung und ein Erzfeind der katholischen Abgötterei ist; die dritte ist von schlechter Herkunft und mag bei meinem Weibe Küche und Keller versehen, bis ich ihr einen ordentlichen Arbeitsmann zum Eheherrn gefunden habe; aber um der vierten willen komme ich zu Euch, lieber Eichler und Frau Margrete, ob Ihr sie in Euer gottseliges Haus aufnehmen wollt?«

Schon neigte Benjamin sich ein wenig Melanchthon entgegen, um dessen Antrag in Wort und Gebärde zuzustimmen, als Margrete mit einer stählernen Härte ausrief:

»Ich mag keine ausgelaufene Nonne in meinem Hause leiden; sie soll zusehen, ob die Jonassin oder die Bugenhagnerin sie zur Magd annimmt!«

Während Benjamin versuchte, Margretes liebloses Gebaren vor den Augen des Fremden mit einem Scherz zu bedecken, indem er sagte: »Magst doch den ausgelaufenen Mönch in deinem Hause leiden!« suchte Melanchthon den Irrtum aufzuklären, die junge Nonne könne als Magd und nicht als Schützling in ihrer neuen Heimat angesehen werden.

»Sie ist aus edlem Geblüt,« wandte er sich mehr zu Benjamin als zu Margrete; »ihr Name ist Ave, – Ave von Brandenfels; sie ist eine Waise, doch sorgfältig im Kloster erzogen, so daß sie sogar zum Erstaunen ihres Lehrers einige lateinische Oden verfaßt hat –«

Aber Margrete ließ Melanchthon nicht die Vorzüge Aves wie Samt und Seide im Raum ausbreiten, sondern fuhr trotzig dazwischen:

»Soll vielmehr ich dem adligen Fräulein Magddienste verrichten?«

Da sowohl Philipp Melanchthon als Benjamin Margrete als eine treue Mutter kannten, die allen Armen und Kranken, wenn etwa keine gefühlvolle, so doch gewiß eine tatkräftige Hilfe lieh, sannen sie beide vergeblich auf einen vernünftigen Grund, weshalb Margrete ihr Herz gegen diese heimatlose Nonne verhärten möchte; aber keiner von ihnen konnte ihr zur Stunde durch das herrische Antlitz in die arme, von Angst und Ahnung gequälte Seele sehen.

Nach einer beklommenen Stille sprach Philipp Melanchthon, wie es seine schlichte Frömmigkeit ihm eingab:

»Wollt doch bedenken, Frau Margrete, daß niemand anders als der allmächtige Gott uns die Verlassnen ins Haus schickt.«

Da riß Margrete die Augen weit und erschrocken auf und blieb für einen Augenblick ohne Bewegung; dann aber rang sich ein Schluchzen in ihrer Brust hoch, – verzweifelt schlug sie die Hände vor das Gesicht und stürzte in die angrenzende Kammer.

Der kleine Martin sprang, als er die Mutter in Tränen entfliehen sah, von seinem Platz vor der Lutherbibel auf und wollte Margrete folgen; doch fand er die Kammertür verschlossen und blieb mit weinerlich verzognem Gesicht davor stehen.

Melanchthon fühlte indessen, da sein Ansinnen, die junge Nonne aufzunehmen, einen häuslichen Sturm heraufbeschworen hatte, den unbestimmten Drang, sich bei Benjamin zu entschuldigen, und sagte:

»Ihr könnt mir billig glauben, lieber Eichler, das Mädchen ist an Leib und Gemüt von einer feinen Art und ihr Schicksal sonderlichen Mitleids würdig, wenn sie schutzlos, als ein leichtes Ziel für die männliche Begierde ins Leben treten müßte. Schon folgt ihr der Gärtner des Klosters – ein kecker Bursche, dem sie indessen seines geringen Standes halber keinen gnädigen Blick gönnt – auf den Fersen nach, und ich besorge, die Jugend von Wittenberg möchte wenig ehrbarlich für sie entbrennen, wenn wir eilig und ohne Scham nach einem Gatten Umschau halten, statt sie mit Geduld im Schoße einer christlichen Familie vor den Blicken der Lust zu verbergen.«

»Herr Magister,« entgegnete Benjamin mit Würde, »Margrete wird sich auf die heiligen Pflichten einer evangelischen Pfarrfrau besinnen; dazu will ich bei ihr für das verlassne Mädchen bitten, und die Zahl der Wünsche, die sie mir in achtjähriger Ehe unerfüllt gelassen hat, ist gering.«

Es verging eine Weile, die das Schweigen der beiden Männer lang machte, bis Margrete, ihren Knaben beiseite schiebend, wiederum hereintrat. Die Flamme zorniger Abwehr war in ihren Augen erloschen, glanzlos und schwer von den Lidern überhangen, lagen sie in ihren Höhlen; ein Strähn des blonden Haares fiel lässig über die Stirn, und selbst die Glieder hingen schlaff wie bei Toten am Leibe herunter. So vernichtet trat sie aus der Kammer vor Melanchthon und ihren Gatten hin und sagte ohne Klang noch Seele:

»Wenn niemand anders als der allmächtige Gott mir Ave von Brandenfels ins Haus sendet, so geschehe sein Wille.«

Philipp Melanchthon erbaute sich nicht wenig an dem offenbaren Sieg, den christliche Tugend über das widerstrebende Herz dieses jungen Weibes gewonnen hatte, und Benjamin drückte Margrete einen Kuß der Dankbarkeit und Freude auf die Stirn; sie aber, ohne sich geradezu der Zärtlichkeit zu widersetzen, ergriff eine auf dem Tische liegende bunt bemalte Holzente und kauerte sich mit dem Spielzeug bei Martin nieder.

Nachdem Melanchthon gegangen war, zog Benjamin Margrete zu sich empor, sprach gute und tröstliche Worte zu ihr, die sie willig als eine Linderung des Augenblicks hinnahm, und während draußen die Märzsonne den hellen Tag heraufführte, gönnte dieser der kleinen Familie im Giebelhäuschen eine letzte, leidlose Stunde. Aber sie, die ohne Leid und ohne Wünsche war, ging zu Ende; und Ave kam, und mit ihr kam Leid und kamen Wünsche.

Auch schlossen sich wiederum Margretes Sinne; über dem leibhaftigen Bilde der jungen Nonne verdunkelte sich das im Geist geschaute, daran die Rache Gottes gehaftet hatte; und blind wie Benjamin ging Margrete, als es nahte, dem Geschick entgegen.

Ave trug ein kurzes Bauernröckchen und ein rotes Mieder, das der Gärtner seiner Schwester mit Bitten und Flüchen abgedrungen und der Angebeteten zu ihrer Flucht aus dem Kloster überbracht hatte. Wunderlich genug steckte ihre edle Gestalt in dem Gewande der Niedrigkeit, das freilich die Zartheit der Gelenke nur um so deutlicher hervortreten ließ; wunderlich auch und spärlich wurde das sanfte Mädchenantlitz, dem jedermann gern den Schmuck der Zöpfe gegönnt hätte, vom streng verschnittnen Haar umrahmt; denn noch zeigte dieses den Druck der Haube und hing nach der klösterlichen Sitte, die, wenn der Schleier gefallen war, der Haartracht der Pagen gleichkam, nur knapp bis in den Nacken, was dem erwachsenen Mädchen fast das Aussehen eines Kindes verlieh.

Im Bewußtsein ihrer Verkleidung, sowie in dem ihrer Hilflosigkeit schlug Ave die Augen demütig und ein wenig beschämt zu Boden, als sie Margrete und Benjamin grüßte; doch faßte sie bald Vertrauen und begann, durch die teilnehmenden Fragen ihrer Gastfreunde ermutigt, ohne Scheu ihre Geschichte zu erzählen.

Sie habe, so meinte sie, niemals den rechten Beruf zum Klosterleben in ihrem Gemüte verspürt, doch sei das Schicksal rauh mit ihr verfahren, indem es ihr frühzeitig die Eltern genommen, sie selbst aber der Fürsorge eines geistlichen Verwandten überlassen habe, vor dessen Begierde, den Nonnenschleier über ihrem kaum erblühten Leibe wallen zu sehen, sie so heftig gezittert habe, daß ihr aller Mut zu einer offnen Einsprache ferngeblieben sei.

Danach richtete Benjamin die erste, eindringliche Frage an Ave, die bis dahin in mädchenhafter Befangenheit zu Margrete gesprochen hatte, und genoß somit zum erstenmal das Glück, Rede und Gegenrede mit ihr zu tauschen.

»Dennoch lebtet Ihr in Deutschland, Fräulein,« sagte Benjamin; »war Euch nicht, bevor Ihr Profeß ablegtet, Luthers frohe Botschaft zu Ohren gekommen?«

»Herr,« entgegnete Ave, von Leben und Hoffnung strahlend, »der Frühling dringt bis ins Innere der Berge, bis auf den Grund des Meeres und bis in die finstersten Gefängnisse, wo Menschen und Tiere schmachten, – wie sollte er nicht auch durch die Mauern der Klöster dringen? Aber die Gewalt der Eltern hält ein Kind, und die Gewalt des Gelübdes eine Jungfrau härter als mit Ketten gebunden im Kloster zurück, und wenn nicht Gott heraushilft, möchte wohl keine jemals los und ledig werden!«

»Auch der Doktor Luther«, entgegnete Benjamin, »hat uns gelehrt, das Auskommen der Nonnen aus ihrer Gefangenschaft für ein offenbares Wunder Gottes zu halten, das er eigens zur Verherrlichung des Evangeliums geschehen läßt.«

»Es ist wohl ein Wunder,« bestätigte nunmehr Ave mit einem Blick zum Himmel, »und Menschen allein könnten es nimmermehr vollbringen; das weiß auch die Äbtissin und nennt Teufelswerk, wenn eine Jungfrau über die Mauer kommt, was in Wahrheit vielmehr Gotteswerk ist. Denn wer hat mitten im Kloster mein Herz für die neue Lehre entbrennen lassen, also daß die Füße unschwer den Sprung gewagt haben, – Gott oder der Teufel? Auch ist aller Heimlichkeit, mit der wir hier und da ein Lutherwörtlein auffangen durften, eines Tages eine offne und laute Predigt zu Hilfe gekommen, die die meisten Klosterfrauen mit Abscheu, uns aber mit Sehnsucht und Liebe für das Evangelium erfüllt hat.« –

Ave setzte sich, bevor sie erzählte:

»Es war vor Jahresfrist eine der Unsrigen entkommen, – auf welcherlei Art mag Gott allein, der sie geführt hat, wissen – die hat in ihrem Glück der gefangnen Schwestern nicht vergessen, sondern sich vielmehr mit unierten Truppen, die eben plündernd durch das Land zogen, verbündet und ist von Soldaten bedeckt und selbst mutig wie ein Soldat mit Gewalt in unser Kloster eingedrungen, wo wir zu derselben Stunde im Kapitelsaal zu einer erbaulichen Lektion versammelt waren. Da hat sie das Katheder der Domina eingenommen und weit anders als diese, aber nicht minder erbaulich zu uns gesprochen, nämlich von der Ehe, und wie selbige für alle Menschen, Männer und Weiber, von Gott befohlen, die Jungfrauschaft aber ein vermessnes und gottwidriges Ding sei –«

»Martin,« sagte Margrete zu ihrem Knaben, »geh, schau im Garten, ob nicht ein Veilchen aufgeblüht ist.«

Der kleine Martin, der mit dem Worte »Soldaten« ein Interesse an der Geschichte gewonnen hatte, gehorchte zögernd, und Ave fuhr fort:

»Als uns nun Schwester Modeste aufklärte, daß die Ehe mit einem rechtlichen Manne aller Unruhe des Herzens ein fröhliches Ende bereite, woraus man am deutlichsten Gottes Willen zu erkennen vermöchte, hätte die Domina gern unsre Ohren verstopft oder uns zum Saale hinausgetrieben; aber die Soldaten hielten die Türen besetzt und ermunterten Schwester Modeste durch ihren lauten Beifall, alles auszusagen, was sie nur immer von der Güte Gottes gegen die Schwachheit der Menschen erfahren hatte.«

»Ach, liebe Freunde in Christo,« fügte Ave ihrer Erzählung als Moral hinzu, »wie muß es doch so leicht und lieblich sein, auf Erden ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen, wenn man nur erst durch den Doktor Martin Luther Seinen Willen richtig erkannt hat.«

»Ja, Fräulein!« stimmte Benjamin lebhaft diesem seligen Seufzer Aves bei und sprach seinem Meister die Worte nach, indem er voll evangelischen Eifers ausrief: »Niemand hat unter dem Papsttum gewußt, was Evangelium, was Christentum, was Taufe, was Beichte, was Sakrament, was Glaube, was Gebet, was Vaterunser, was Geist und Fleisch, was Trost und Leiden, was Obrigkeit und Ehestand, Eltern und Kinder, Herr und Knecht, was Frau und Magd ist; in Summa: wir haben gar nichts gewußt, was ein Christ wissen soll.«

Währenddessen blickte Margrete dunkel drein und dämpfte den jugendlichen Schwung der beiden mit diesen Worten:

»Glaubt Ihr denn, daß auf die Luthersche Regel uns länger keine irdische Trübsal heimsuchen kann? Wer hat denn gelehrt und gedichtet:

›Des Christen Herz auf Rosen geht, wenn's mitten unterm Kreuze steht‹?«

»Es ist wahr,« entgegnete Ave demütig, »wir haben von Pater Bonaventura nur Luthers frohe Botschaft als das Hauptstück im neuen Glauben empfangen und wissen wenig, was er von Kreuz und Leiden ausgesagt hat.«

»Philipp Melanchthon wird sich Eurer Seele annehmen,« sagte Margrete, »und«, fügte sie leise seufzend hinzu, »auch du, Toni, solltest das Fräulein in Luthers Schriften und Predigten unterweisen und somit eine rechte Christin aus ihr machen.«

Benjamin, indem er weihevolle Stunden mit Ave vorempfand, erglühte vor Freude und Verwirrung, deutete auf die aufgeschlagene Lutherbibel und sagte:

»Fräulein, habt Ihr schon mit Euren eignen Augen ein deutsches Bibelbuch gesehen?«

Da hätte Ave wohl gern zur Ehre des Reformators die schöne deutsche Bibel verleugnet, die anno 1483 in Nürnberg gedruckt und eigens für das Kloster in purpurnes Leder gebunden worden war, daraus die Äbtissin allabendlich nach vollendetem Rosenkranz ein Kapitel vorzulesen pflegte; doch widerstand sie der Versuchung und antwortete:

»Ich glaubte bisher nicht anders, als daß die Heilige Schrift von Kirchen und Klöstern bewahrt wird; daß sie aber hinfort ein jeder in seinem Hause verwalten darf, ist eine rechte Gnade Gottes.«

Nach diesen Gesprächen erinnerte sich Margrete ihrer fraulichen Pflichten und lud Ave ein, ihr in die Kammer zu folgen, wo sie das bunte Kleid der Bäuerin gegen ein bürgerliches Gewand vertauschen sollte.

Margrete entnahm ihrem wohlgefüllten Schrein – wenn der Vater auch zürnte, so hatte er ihr doch das Ihre an Kleidern, Leintüchern und Geräten nicht vorenthalten – ein blaues, tuchenes Kleid, mit hellbraunem Rande, gelben seidnen Puffärmeln und gleicherweise seidnem Hals – dasselbe Kleid, das sie einst, um sich für Benjamin zu schmücken, bei ihrer Flucht und Hochzeit angelegt hatte, – das ihr aber mit zunehmender Körperfülle allzu eng geworden war.

Ave dagegen fand für ihren schlanken Körper Raum genug darin. Wie nun Margrete ihren Schützling so jungfräulich blau angetan vor sich sah, regte sich ihr mütterliches Gefühl gegen das unschuldige Mädchen, und sie beschloß, ein Übriges zu tun und durch die schmucklosen Haare Aves als ersten Tribut an die Eitelkeit der Welt ein buntes Seidenband zu ziehen. Damit war die Einkleidung für das beginnende irdische Leben geschehen, und Ave lächelte glückselig bei dem Anblick ihres eignen Spiegelbildes. Margrete mochte indessen glauben, mit ihrem Kleid und Seidenband allein dieses schöne Gebilde der Schöpfung hervorgebracht zu haben, denn sie drängte Ave begierig zurück in die Wohnstube, um ihren Stolz an Benjamins Wohlgefallen zu weiden.

»Schau, Toni,« rief sie mit ungewohnter Heiterkeit, »was für ein schmuckes Fräulein ich aus dem Bauernmädchen gemacht habe!«

Und Benjamin tat, wie Margrete ihn geheißen hatte, und schaute und schaute.-

»Ave!« sagte er endlich.

Es sind sonderliche Süßigkeiten, die der Name Ave für alle, die seine Trägerin lieben und suchen, in sich birgt; klingt ihnen die Feier eines stillen, sternfunkelnden Abends, oder die Andacht einer unberührten Morgenstunde, oder die Verheißung eines feuchten, wonnevollen Märztages in den Namen der Geliebten aus, so fügt sich durch ihn selbst zu diesen beiden verbundnen Seligkeiten wie ein drittes Grundgefühl des Herzens ein keuscher Gruß, eine unaussprechliche Devotion für die Geliebte, – Gesegnete, – Ave! –

Nichts war natürlicher, empfand Benjamin, als bei Aves Anblick auszusprechen: Sei gegrüßt!, sei tausendmal gesegnet und gegrüßt! Margrete freilich blickte erstaunt auf ihren Gatten, der es wagte, das fremde Fräulein so ohne Förmlichkeit bei seinem Vornamen anzureden; doch blieb ihre Seele ohne Arg, und mit einer Entschuldigung gegen ihren Gast verließ sie die Stube, um in der Küche das Mittagbrot zu richten.

Als der Abend kam, fand er Ave, die die Nacht zuvor mit Wachen und Wandern verbracht hatte, so sehr von Müdigkeit übermannt, daß Margrete ihren Schützling wenig anders als ein Kind zu Bett legte; auch deckte, sobald Mutter Margrete die schweren Glieder mit den Federkissen überbreitet hatte, der Schlaf wie bei Kindern Aves Augen zu, und nur im Traum sah sie noch einmal die verlassnen kahlen Wände ihrer Zelle mit der schmerzensreichen Maria, ihrem einzigen Schmuck, fühlte die neblige Nachtluft, die sie umfangen hatte, als sie zaghaft die angelegte Leiter hinuntergestiegen war, fühlte schaudernd in ihrem Traum den frechen Druck des Gärtners, mit dem er sie in Wahrheit die letzten Stufen herabgehoben hatte, und auch der untergehende Mond neigte sich wie in jener Nacht gelb leuchtend in seinem letzten Viertel zu der mitternächtlichen Erde; aber schnell überwand der beflügelte Traum Nacht und Grauen, – es tagte, und Benjamin stand rückwärtsschauend auf der Landstraße, als erwarte er Ave mit Freundlichkeit; doch sieh, worauf er stand, war keine gemeine Landstraße, die durch die Felder führt, sondern die Straße des Lebens.

Während nun Ave schlief und träumte, kehrte Margrete in die Wohnstube zurück und nahm ihren Platz auf der Bank neben Benjamin ein.

Der saß beim Schein der Lampe über Lutherschen Schriften gebeugt, die er lange nicht gelesen, heute aber voll Eifer zusammengesucht und ihrer Verstaubung entkleidet hatte.

»Margrete,« sagte er gedankenschwer, »ich zweifle, mit welcher Predigt des Reformators ich die Unterweisungen bei dem Fräulein am nützlichsten beginnen könnte. In der Tat, seine letzten Schriften ›wider das Papsttum‹ oder ›wider die Juden‹, die uns zwar den Haß der reinen Lehre gegen allen Abschaum recht begreiflich machen, möchten doch das Gemüt eines Mädchens durch ihre Schärfe erschrecken –«

Jetzt war es an Margrete, gedankenschwer dreinzuschauen. Wann hatte je die Verantwortung für seine Hörer ihrem Gatten Seufzer und Sorgen abgepreßt? Wann hatte je Margrete ihn von so ernsten Gedanken um die Wahl des Wortes erfüllt gesehen, mit dem er einer Seele nahen könnte, die ihm zugefallen war? Wahrlich, die Seele Aves mußte ihm köstlicheres gelten als dieses und jenes auf Erden.

Margrete sah Benjamin forschend ins Gesicht, doch fand sie darin nur Kümmernisse um das Nächstliegende ausgedrückt, weshalb auch sie das Ferne schlummern ließ und antwortete:

»Selbst unter den Freunden des Reformators sind etliche, welche meinen, er habe, bevor er sich in seinen letzten Lebensjahren anschickte, den Kiel in die Tinte zu tauchen, sein Blut durch starke Getränke erhitzt, um damit das gewöhnliche Maß menschlichen Hasses zu überbieten und das Erstaunen der Welt über die Schlechtigkeit der Papstkirche nur um so vollständiger zu machen. Wenn du meinen einfältigen Rat nicht verachtest, Toni, so laß das Fräulein in der neuen Lehre mit dem Anfang anfangen, und unterweise sie in der rechten, wohlverstandenen Freiheit eines Christenmenschen.«

»Ja, Margrete,« rief Benjamin dankbar aus, »wie oft hast du mir nicht schon guten und klugen Rat erteilt –« danach faßte er sie um die Hüfte und flüsterte zärtlich wie ein Liebhaber; – »oder wäre ich wohl unberaten in meiner Torheit ein evangelischer Prediger und dein Gatte geworden?«

Margrete lächelte wehmütig, aber Benjamin sprang auf, rieb sich vor Freude die Hände und sagte:

»Morgen wollen wir, wenn uns der Abend vereint, mit Ave ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹ studieren und uns allen Heil daraus gewinnen.«

Danach legten sich Benjamin und Margrete zur Ruhe; Benjamin so lebensunruhigen Herzens, daß er sich wundern mußte, warum dieser Frühling Kräfte spendete, davon er in den vergangnen Jahren kaum einen Hauch verspürt hatte.

Am andern Tage – der erste, den Ave nach stärkendem Schlaf im Hochgefühl ihrer Freiheit durchlebte, waltete wiederum der Himmel mit besonderer Gunst und Gnade über Wittenberg; an den Sträuchern zeigten sich dicke Knospen, die jeden Augenblick aufzubrechen schienen, Krokus blühte auf den Beeten, und wer nicht durch häusliche Geschäfte oder ein grämliches Gemüt im Hause gehalten wurde, stand im Garten und betrachtete Erde und Himmel. Solches tat Benjamin, während Margrete ihre Küche versah und Ave sich um ihn her mit Martin haschte. Wer sie so hingegeben an das Spiel mit dem Kinde sah, mochte wohl zweifeln, ob dasselbe Fräulein sich um die Abendstunde zum ernsthaften Anhören und Begreifen von Reformationsschriften geneigt fühlen würde; dennoch fand es sich, daß mit sinkendem Tage Ave als erste den kleinen Martin mit einem Spielzeug im Winkel stillsitzen hieß und andachtsvoll das Büchlein von der Freiheit eines Christenmenschen aufschlug, im Gefühl, sieben Siegel vom Buche der Geheimnisse zu lösen.

Benjamin ließ sich nicht lange mahnen, und auch Margrete schüttelte den Staub der Tageslast von ihren Füßen, setzte sich an den Tisch und erwartete mit gefalteten Händen Benjamins Vortrag.

»Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.

Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

Diese zwei Beschlüsse stehen klärlich bei St. Paulo, 1. Korinth. 9: Ich bin frei in allen Dingen und habe mich eines jeden Knecht gemacht; item Röm. 13: Ihr sollt niemand in etwas verpflichtet sein, außer daß ihr einander liebt. Liebe aber, die macht dienstbar und untertan dem, was sie lieb hat.«

Benjamin fühlte sich von diesen Worten, die Ave katholisch genug und darum minder wunderbar dünkten, seltsam ergriffen, weshalb er inne hielt und mit bewegter Stimme noch einmal sagte: »Liebe macht dienstbar und untertan dem, was sie lieb hat.« Da hob Margrete den Kopf, seufzte und entgegnete: »Ja, das tut Liebe.«

Aber das war nicht der Augenblick, über Liebe, die das Herz verwandelt, nachzusinnen, und Benjamin las, wie Luther seine ungleichen Sätze von Freiheit und Knechtschaft mit der ungleichen, halb geistigen, halb leiblichen Natur des Menschen begründete, und erhob erst seine Stimme, als er an die frohe Botschaft, das neue Evangelium selber kam:

»Daß du aber aus deinem Verderben kommen mögest, so setzt Gott dir vor seinen lieben Sohn Jesum Christum und läßt dir durch sein lebendiges, tröstliches Wort sagen, du sollst in demselben mit festem Glauben dich ergeben und frisch auf ihn vertrauen, so sollen dir um desselben Glaubens willen alle deine Sünden vergeben, all dein Verderben überwunden sein, und du gerecht, wahrhaftig, befriedet, fromm und alle Gebote erfüllt sein …«

Benjamin brach ab und sah Ave an, um der bis eben unter das Gesetz gebückten Nonne Muße zu einem Hallelujah ob dieser Verkündigung des göttlichen Heilsplanes zu gönnen; und wirklich hob sich Aves Busen, als sei eine Beklemmung zersprengt, und »befriedet und fromm« sagte sie:

»Es ist also wirklich Wahrheit, was Pater Bonaventura gesprochen, daß wir zur Seligkeit nur mehr des Glaubens bedürfen.«

»Siehst du,« wandte sich Benjamin eifrig an Margrete, als hätte er zuvor verschiednerlei Meinung über Aves Bereitschaft, das Evangelium anzunehmen, mit seinem Weibe ausgetauscht, – »siehst du, wie das Fräulein bald die Gnade Gottes begreift, die uns vom Gesetz entbindet!«

»Man erzählt sich im Kloster,« sagte Ave, »daß der Doktor Luther alle seine Worte mit Worten der heiligen Schrift belegt und damit als von Gott selbst gesprochen ausweist; nun zeigt mir, Herr Prädikant, die Bibelstelle, in der geschrieben steht, daß kein Fasten, Wallen und Almosengeben unsrer Seele nützen könne; denn ich habe bei den Lektionen der Äbtissin fleißig aber vergeblich auf eine solche gewartet!«

Nichts konnte Benjamin willkommener sein als dies Begehren Aves, das ihren Willen, eine bessere Einsicht in das Evangelium zu gewinnen, offenbarte, und das zu stillen mit den Waffen des Meisters ein leichtes Ding sein mußte; konnte doch dieser mit seinen deutlichen Texten zehn katholische Doktoren und Magister um die rechtgläubige Antwort verlegen machen. –

»Wie spricht – Johannes am 6. – Jesus Christus zu den Juden,« entgegnete Benjamin fröhlich, »da sie ihn fragten, was sie für Werk tun sollten, daß sie göttlich und christlich Werk täten? Er sprach: ›Das ist das einzige göttliche Werk, daß ihr glaubt an den, den Gott gesandt hat!‹«

Benjamin deutete mit dem Finger auf die verlesene Stelle und schaute triumphierend von Ave zu Margrete; auch nickte diese befriedigt, wie Luther so herrlich Gottes Wort verkündete, aber Ave griff unbegeistert nach dem Büchlein und sagte:

»Steht in Wahrheit geschrieben ›das einzige göttliche Werk‹?«

Benjamin schob Ave die Schrift zu, damit sie sich des Wortes versichere, doch blieb sie, auch nachdem sie gesehen und gelesen hatte, zögernd in ihrer Gebärde, so daß Benjamin fragte:

»Was zweifelt Ihr?«

»Herr,« entgegnete Ave, »das Evangelium Johannes war das Lieblingsstück unserer Äbtissin, weshalb sie uns mehr als mit leiblicher Nahrung damit gespeist hat, und vornehmlich das sechste Kapitel, darin von dem Himmelsbrot geschrieben steht, schien ihr tröstlich zum ewigen Leben. Sollte nicht Jesus den Juden geantwortet haben: Dies ist das göttliche Werk, daß ihr an den glaubt, welchen er gesandt hat?«

» Hoc est Opus Dei, ut credatis in eum, quem misit ille« zitierte Benjamin nach seinem Gedächtnis die Worte der Vulgata.

»In der Tat,« sagte er darauf mit einer leichten Befangenheit, »wir finden an verschiedenen Stellen, daß Luther dem gemessnen Ausdruck der Schrift ein schärferes Wort beifügt, um damit gleichsam dem verblendeten Volk mit einem Griff die Binde von den Augen zu reißen. –«

»Wie?« rief Margrete heftig, »du willst doch nicht vorgeben, Benjamin, daß Doktor Martin Luther am Worte Gottes gedeutelt habe?

›Das Wort sie sollen lassen stahn und kein Dank dazu haben –‹ Glaubst du, der das von seinen Feinden fordert, hätte selbst eigne Gedanken zu den Heilandsworten hinzugesetzt?«

»Nimm's nicht also, Margrete,« antwortete Benjamin; »in diesen dunklen Zeiten mußte das liebe Himmelslicht erst einmal auf den Leuchter gesetzt werden, damit es allen, die im Hause waren, vorleuchten konnte.

Heißt das selbsteigne Gedanken hinzutun, wenn ich in der Schrift geschrieben finde: ›Der Mensch wird gerecht aus dem Glauben‹, und ich setze getrost und fröhlich, weil ich mich meines gnädigen Gottes rühmen möchte: ›Der Mensch wird gerecht allein aus dem Glauben‹?«

»Dennoch«, wandte Ave ein, »redet die heilige Bibel vielmals von mildtätigen Werken, die der Mensch mit Furcht und Zittern ausüben sollte –«

Aber Benjamin verließ sich unbeirrt auf seinen Meister und las die aufgeschlagene Seite des Büchleins weiter:

»Hier ist fleißig zu merken und auch mit Ernst zu behalten, daß allein der Glaube ohne alle Werke fromm, frei und selig machet, wie wir hernach mehr hören werden, und ist zu wissen, daß die ganze Heilige Schrift in zweierlei Worte geteilt wird, welche sind: Gebot oder Gesetz Gottes und Verheißen oder Zusagung …«

»Daraus könnt Ihr schon ersehen, Fräulein,« sagte Benjamin, »was auch sogleich aufs klarste ausgebreitet wird, daß alles Gesetz und Werk und Mühsal in den ersten Teil der Bibel gehört, nämlich ins Alte Testament, alles Verheißen und Zusagen aber durch Christo Jesu ins Neue Testament. Wollen wir nun«, fragte Benjamin siegessicher lächelnd, »Christen oder Juden vorstellen, Fräulein Ave?«

»Herr,« antwortete Ave, »Ihr müßt mich in allen Stücken belehren, denn ich bin gewiß, daß die Lektionen der Äbtissin auf nichts anderes abzielten, als uns mit Bangen vor der ewigen Verdammnis zu erfüllen: traue ich der klösterlichen Unterweisung, so muß ich glauben, daß unser Herr und Heiland nicht gekommen ist, das Gesetz, darunter wir seufzen, um unsrer Unkraft willen aufzulösen, sondern daß er vielmehr, als er auf dem Berge redete, uns einen rechten Halsstrick daraus gedreht hat; denn die zehn Gebote sagen uns nur, daß wir nicht mit unsres Leibes Gliedern töten, ehebrechen und falsch schwören sollen, – er aber – will schon den in die Hölle hinunterstoßen, der in seinem verschwiegenen Herzen haßt, flucht oder freventlich begehrt.«

Margrete stieg die Röte ins Gesicht.

»Ei,« rief sie aus, »seht das vorwitzige Ding, das den Herrn Christus besser als der Doktor Luther verstanden haben will!«

Ave, die sich keines Vorwitzes, vielmehr der reinen Begierde, das neue Evangelium recht zu begreifen, bewußt war, blickte bei Margretes ungerechter Anklage hilfesuchend auf Benjamin.

»Fräulein,« sagte dieser mit Nachsicht, »es ist gar gefährlich, biblische Worte, die von den guten Werken handeln, für sich allein zu betrachten, und kann leicht ein Schaden unsrer Seele daraus kommen, wie es auch unter dem Papsttum gewesen ist; deshalb hat der Doktor Luther die Texte, welche unsre Christenfreiheit nach jüdischer Weise in ein Gefängnis verkehren wollen, in allen seinen Reden ›strohern‹ genannt, während das göttliche Geheimnis von der Gnade und Erlösung nur den Worten vom Glauben innewohnt … Versteht Ihr recht, Fräulein?« fragte Benjamin freundlich.

Ave errötete und antwortete stockend:

»Es kommt mir ein, ob ich auch das Heilandswort für strohern halten soll, mit dem er zu den Juden gesprochen hat: Will jemand unter euch den Willen dessen tun, der mich gesandt hat, so wird er inne werden, ob meine Lehre von Gott sei, oder ob ich aus mir selber rede.«

Während Margrete ungeduldig den Kopf in den Nacken warf, bewahrte Benjamin den Gleichmut des Seelenführers und entgegnete:

»Fräulein, auch der Doktor Luther lehrt uns, Gottes Willen in einer jeden Verrichtung unsres Lebens zu erfüllen; wenn es aber einer unter uns nicht vermag in seiner Schwachheit, so soll er um deswillen nicht verzweifeln, sondern gläubig Jesum Christum anrufen …«

Aber Ave wehrte Benjamins eindringliche Worte ab, als wolle sie den Doktor Luther so lange mit Gottes Wort versuchen, bis er gewaltiger durch dasselbe antwortete, als sie in ihrer Klosterweisheit ertragen konnte; sie sagte:

»Es wird nicht jeder, der zu mir spricht: Herr, Herr! in das Himmelreich eingehen, sondern der den Willen tut meines Vaters im Himmel.«

Da litt es Margrete nicht länger in duldsamem Schweigen; sie sprang von ihrem Sitz in die Höhe, um nunmehr selber das mit Benjamins Mildigkeit schlecht beschützte Lutherevangelium gegen dieses Mädchen zu verteidigen.

»Toni!« rief sie ihrem Gatten zu, »was machst du lange Federlesens mit dem papistischen Trotz einer entlaufenen Nonne? Hast du vergessen, wie der Doktor Luther zu uns gesprochen hat: ›Ich bitte euch, wollt solchen Eseln ja nichts anderes auf ihr unnützes Geplärre von der sola fides antworten als soviel: Luther will's so haben und spricht, er sei ein Doktor über alle Doktoren im Papsttum.‹«

»Nun denn, Fräulein,« wandte sich Margrete höhnisch gegen Ave, »wollt Ihr Euch nicht auf den Doktor Luther verlassen, so hättet Ihr besser getan, auch fürder im Kloster zu fasten, zu wachen und in großer Angst um Euer Heil ohne Unterlaß Almosen auszuspenden; in Wittenberg wird der Mensch gerecht aus dem Glauben …«

Ave, die sehr beweglichen Geistes war, hatte nur für einen Augenblick erschrocken und regungslos Margretes Heftigkeit angesehen; danach war auch sie aufgesprungen und zögerte nicht, ihrer Angreiferin noch einmal Gottes Wort mit Inbrunst entgegenzuhalten:

»Wer einem unter meinen geringsten Brüdern nur einen Becher kalten Wassers zu trinken reicht, wahrlich, der wird seinen Lohn im Himmel davon haben!«

Benjamin mischte sich begütigend in den Streit der Frauen und zwang sie durch Sanftmut, wieder hinzusitzen und eine von der andern mit dem feindlich funkelnden Blick abzulassen.

»Seht, Fräulein,« sagte er darauf zu Ave, »auch ich habe im Kloster von Kindesbeinen an mit den Sprüchen von den Werken viele Plage gehabt; nachmals, in der Freiheit, ist es vonnöten, daß man, um den ganzen wahrhaftigen Trost des Evangeliums inwendig im Herzen zu verspüren, aufmerksam annimmt, wie Doktor Luther kundtut, daß der Glaube nicht nur aller Gnaden voll, frei und selig macht, sondern daß er die Seele so mit Christo vereinigt wie eine Braut mit ihrem Bräutigam, aus welcher Ehe folgt, daß Christus und die Seele ein Leib werden.

Dabei unterscheidet wohl, Fräulein, daß die Katholischen solch überirdisch köstliche Vermählung der getauften Seele mit ihrem Erlöser nur bei den Heiligen begreifen, wie es von der heiligen Katharina erzählt wird, daß sie den Verlöbnisring mit dem Christkindlein gewechselt habe, – während die Evangelischen sonder Abtötung allesamt durch den Glauben mit Christo in rechter Ehe verbunden sind; – das aber ist eine überschwängliche Gnade Gottes, denn welche von unsren sündigen Seelen ist zur Heiligkeit erwählt und müßte nicht verzagen, wenn es auf ihr elendes Rechttun ankäme, Christi verlobte Braut zu heißen?«

Ave lächelte.

»Auf diese Regel möchte wohl jeder bald sich den himmlischen Brautring gewinnen und durch ihn leicht vor Gott gerecht sein, wie vormals nur die Heiligen durch schwere Aufopferung gerecht waren,« sagte sie.

Auch Benjamin lächelte.

»Hört, Fräulein,« entgegnete er und griff von neuem nach dem Buche, ohne freilich die Augen, die liebevoll blickten, von Ave fortzuwenden, »hört, wie erbaulich der Doktor Luther von solch seliger Ehegemeinschaft zu reden weiß.«

Ave ließ einen stillen, glücklichen Blick auf Benjamin ruhen, und dieser begann von Christus und der Seele also zu lesen:

»So werden auch beider Güter, Fall, Unfall und alle Dinge gemein, so daß, was Christus hat, auch eigen ist der gläubigen Seele; was die Seele hat, wird eigen Christi. Nun hat Christus alle Güter und Seligkeit: die sind der Seele eigen; nun hat die Seele alle Untugend und Sünde auf sich: die werden Christi eigen. Hier erhebt sich nun der fröhliche Wechsel und Streit. Dieweil Christus ist Gott und Mensch, welcher noch nie gesündigt hat, und seine Frommheit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist; so er denn der gläubigen Seelen Sünde durch ihren Brautring, das ist der Glauben, sich selbst zu eigen macht und nicht anders tut, als hätte er sie getan, so müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäuft werden. Denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark. Also wird die Seele von allen ihren Sünden geläutert durch ihren Mahlschatz, das ist des Glaubens halber, und wird ledig und frei und begabt mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christi. Ist das nicht eine fröhliche Wirtschaft, daß der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie entledigt von allem Übel, zieret mit allen Gütern? So ist's nicht möglich, daß die Sünden sie verdammen, denn sie liegen nun auf Christo und sind in ihm verschlungen. Auf diese Weise hat sie so eine reiche Gerechtigkeit in ihrem Bräutigam, daß sie abermals wieder alle Sünden bestehen kann, ob sie schon auf ihr lägen. Davon sagt Paulus 1. Kor. 15: ›Gott sei Lob und Dank, der uns hat gegeben eine solche Überwindung in Christo Jesu, in welcher ist verschlungen der Tod mit der Sünde.‹«

Als das Ave hörte, machte sie große, gläubige Augen, – oder waren es ungläubige? Genug, daß auf ihrem dunklen Grunde Tränen schimmerten, als sie leise sagte:

»Nun sehe ich, daß gleiche Worte dennoch Ungleiches bedeuten können; hat man uns nicht gelehrt, die Überwindung, von der St. Paulus sagt, als eine Überwindung unsrer bösen Begierde in uns selbst anzusprechen, die die Juden nicht vermochten, die aber uns durch Christi Blut und Gnade, sofern wir darum bitten, gegeben wird? O auch mit Christi Hilfe ist es Not und Beschwerde, gegen die Sünde anzukämpfen, und ist wahrlich ein fröhlicheres Ding, zu wissen, daß die Seele aber- und abermals alle Sünden bestehen kann, weil sie ja auf ihrem Bräutigam Jesus Christus lagern –«

»Ja, denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark,« sagte Benjamin selig mit den Worten Luthers. Auch wollte er fortfahren »Von der Freiheit eines Christenmenschen« mit gleichermaßen wachsender Andacht vorzutragen, wie dem schönen Mädchen an seiner Seite die Erkenntnis des Heiles sich zu mehren schien, als zu seiner Bestürzung Ave in Tränen ausbrach.

Während Margrete sich gegen diese Tränen verschloß, ihnen vielleicht nicht einmal glaubte, da Ave noch eben wie ein Magister disputiert hatte, machten sie Benjamin ebenso unglücklich wie ratlos.

»Ave,« sagte er, dessen Herz entbrannte. Margrete wandte sich indessen ab und rief nach ihrem Knaben, der in seinem Winkel eingeschlafen war und nunmehr schwankend und blinzelnd in den Lichtkreis der Lampe eintrat.

*

So hatte die erste Lektion, die Benjamin abhielt, um Ave zu unterweisen, mit Verwirrung geendet. Ave, wenn sie auch ihre Tränen trocknete, ließ doch das Köpfchen hängen, und ein bekümmerter, unbeschreiblich weicher und haltloser Ausdruck wich nicht von ihrem Antlitz; auch zögerte Benjamin, ihr von neuem, und um sie zu stärken, mit dem Buche des Reformators zu nahen, wiewohl es seine Pflicht als Lehrer und Freund erfordert hätte; doch stellte sich ihm – dem oft um seiner Rede willen Beneideten – das rechte Wort nicht ein, und zumal, wenn ein kalter Blick aus Margretes Augen den seinen, der Ave suchte, traf, dünkte ihm kein gesprochener Trost zärtlich und kräftig genug, als daß er ihm aus dem Herzen bis über die Lippen gekommen wäre.

Margrete allein lebte ihr pflichtbeherrschtes Leben unverworren durch die Lutherlektion weiter, die, wie sie urteilte, Toni auf eine unmännliche Art abgehalten und der Ave einen kindischen Vorwitz entgegengesetzt hatte, weswegen sie sich freilich nicht weniger darüber kränkte, daß Benjamin mit Ave zugleich verstört und traurig war und – dessen war sie gewiß – erst wieder lächeln würde, wenn auch von Ave der Schatten gewichen wäre; denn selbst Martin, den sie mit hundert kleinen Aufträgen zum Vater entsandte, vermochte nicht sein Gemüt aufzuheitern.

Ach, es hatte den Anschein, als ob Benjamin seit Aves Anwesenheit im Hause seine Vaterpflichten ganz vergessen hätte! War er nicht bis zur Stunde, in der Philipp Melanchthon mit der schicksalsschweren Bitte, die Nonne aufzunehmen, in die Türe getreten war, der sorglichste Erzieher des Knaben gewesen, der seine Studien geleitet, seine Freuden überwacht hatte? War er nicht um seinetwillen fast ein Verächter der Gelehrsamkeit und der stillen, bücherbekleideten Stube geworden und hatte sich vielmehr bei der Jagd nach einem Schmetterling länger mit Martin im Felde verweilt, als seine Hausfrau des zubereiteten Mahles halber gutheißen konnte. Jetzt aber wollten alle Tagesstunden nicht ausreichen und bedurfte er noch der halben Nacht, um, wie er versicherte, die Schriften des Reformators zu studieren, und weder Margrete noch er selbst bemerkte, daß es ja Aves Lächeln und Blick, ihr letztgesprochenes Wort, ihr eben verhallter Schritt war, dem nachzusinnen Benjamin so viel Muße und Weile nötig hatte.

Da dauerte Margrete der Knabe, und als eines Tages die Sonne wieder aus Tau und Tropfen lockte, nahm sie Martin bei der Hand, rückte ihm das Mützchen zurecht und rief in die Stube, wo Benjamin, den Kopf schwer in die Hände gestützt, vor seinen Büchern saß: »Jetzt gehen wir die Rehe belauschen und kommen vor Nacht nicht heim!«

Martin lachte laut auf, und Benjamin fuhr einen Augenblick in die Höhe, – er mochte wohl Lust verspüren, mit von der fröhlichen Partie zu sein; aber ein Blick auf Ave, die nähend am Fenster saß, bannte ihn, so daß er Frau und Kind unbegleitet hinausgehen ließ.

Als das Lachen des Kindes in Benjamins Herzen verklungen war, trat er näher zu Ave und sagte:

»Was haltet Ihr nunmehr von der Freiheit eines Christenmenschen, Fräulein Ave?«

Ave ließ Arbeit und Hände in den Schoß sinken, sah Benjamin an und antwortete:

»Ich halte dafür, daß die Lutherschriften gleich dem heiligen Buche, das sie erklären wollen, und gleich allen göttlichen Offenbarungen nur mit Einfalt können begriffen werden. Wenn Ihr mir ein zweites Mal die Worte des Reformators, denen die gelehrtesten Herren der Welt gehorcht haben, vorlesen wollt, so will ich ihm und Euch Glauben schenken –«

Wiewohl Benjamin deutlich empfand, daß es katholische Art sei, sich demütig einer von Gott gegebenen Einsicht zu unterwerfen, während evangelisches Christentum für jeden Kopf, sei er auch noch so unwissend, das Recht beanspruchte, seine eigenen Gedanken über die Religion vorzutragen, konnte er Aves schmiegsamer Rede dennoch nicht widerstehen und lobte ihre Willigkeit, Belehrung anzunehmen. – Wann hätte auch jemals ein Mann die geistige Hingabe des geliebten Mädchens um des Prinzipes willen verschmäht und nicht in ihr einen dürftigen Ersatz für die Hingabe des Herzens gesucht, wenn göttliches und menschliches Gesetz ihm diese versagte?

»Ich bin gewiß,« sagte Benjamin eifrig, »daß Euch das Herz aufgehen wird, wenn Ihr sonder Eigenwillen die herrliche Predigt von der christlichen Freiheit anzuhören vermögt –«

Damit wandte er sich zu seinem Arbeitstisch, zog das Büchlein »Von der Freiheit eines Christenmenschen« unter dem aufgeschlagenen »Warum Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen« hervor und setzte sich aller Freude und Erregung voll zu Ave in die Fensternische, mit dem Rücken gegen die Scheiben.

Wie er nun teils dringlich betonend, teils hell verkündend zu lesen anfing, lehnte Ave, die seitlich vom Fenster saß, den Kopf gegen die Mauer und schloß die Augen über ihrem von Empfindung bebenden Gesicht; nur wenn Benjamin sich unterbrach und sie seinen Blick auf ihr ruhen fühlte, hob sie ein wenig die Lider und sah ihn hingebungsvoll an, doch bedeutete sie ihm bald, fortzufahren, als könne sie nur so lange das Glück unnennbarer Gefühle genießen, als er las, ohne zu fragen, als sie unbegriffenen Wohllauten ohne Antwort lauschen durfte; denn das waren nicht Luthers Worte, die sie glauben machten, die Musik des Meeres oder eine von Engelsstimmen gesungene Messe klingen zu hören, – das war nichts anderes als die unentweihte, nie gespürte Nähe des Geliebten.

So geschah es, daß Benjamin Luthers Predigt von der Freiheit eines Christenmenschen durch keine Rede unterbrochen bis zu ihrem Ende vortragen und die letzten Sätze, hingerissen von den großen Gedanken des Reformators, sowie von Aves sanft nach außen strahlender Ergebung, inbrünstig aussprechen konnte:

»Aus alledem folget der Beschluß, daß ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christo und seinem Nächsten durch die Liebe; durch den Glauben fähret er über sich in Gott; aus Gott fähret er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe, gleichwie Christus sagt, Johannes 1, 51: ›Ihr werdet noch sehen den Himmel offen und die Engel auf- und absteigen über den Sohn des Menschen.‹«

Eben warf die sinkende Sonne einen Kranz von Licht auf Benjamins Haupt, als dieser schwieg und bang die Brust hob und senkte, um der wonnevollen Stunde je und je einen Augenblick zuzulegen, in der die erste Ahnung in ihm keimte, daß der Mensch wahrhaftig selig zu preisen ist, der aus sich fähret durch die Liebe und losgebunden wohnt in dem Geliebten, sei er von dieser oder von jener Welt.

Aber es währte nicht lange, bis Margrete mit dem Knaben nach Hause kam, dessen kindische Munterkeit nur zu schnell die beiden Seligen, außer sich Wandelnden in die Grenze ihres Selbst zurückwies.

Als Margrete Benjamin und das fremde Fräulein wortlos beieinander fand, begriff sie mit Entsetzen, daß die von ihrem fürchterlichen Rivalen gegen sie ausgestreckte Hand sich ihrem Herzen genähert hatte. Da half kein Schreien und Aufbegehren, und wenn sie auch bei sich beschloß, Ave nicht wieder mit ihrem Gatten allein zu lassen, so wußte sie doch gewiß, daß er, den sie beraubt hatte, ihrer Mittel und Mühe spotten und die Gelegenheit bereiten würde, wenn seine Zeit gekommen war.

»O Gott, noch einen Tag laß mir die Liebe meines Toni!« stöhnte Margrete in ihrer Kammer, von Schmerz und Eifersucht gequält. Aber ihr Seufzen zum Himmel blieb ungetröstet, und Verzweiflung ergriff sie, wie den Verworfnen, der um sein Leben bettelt, Verzweiflung ergreift, wenn es ihm entgegenbraust: » Heute will ich deine Seele von dir fordern!«

Als sie alle zusammen beim Nachtmahl saßen – Benjamin, Margrete, Ave und Martin, – erschien ein ungewohnter Gast im Giebelhaus vor dem Elstertor. Es war der Tischler Lukas, der seit nunmehr acht Jahren Margretes Anblick gemieden hatte, und den nur ein Ereignis von sonderlicher Wichtigkeit über ihre Schwelle führen konnte. Auch zögerte Lukas nicht, die schwerwiegende Botschaft, die er trug, zu überbringen.

»Frau Margrete,« sagte er, »Euer Vater liegt krank darnieder und Gott allein weiß, ob er sein Leben behalten oder verlieren wird; weil aber der Herr gesprochen hat: willst du zu meinem Tische treten, und hast etwas wider deinen Bruder, so gehe zuvor hin und versöhne dich mit ihm – besorgt Euer Vater, daß unser aller Richter die Unversöhnlichen auch vom himmlischen Abendmahl ausschließen möchte, und sehnt sich nach Frieden mit seiner Tochter.«

Da Margrete schwieg und nur der jähe Wechsel des Blutes auf ihrem Antlitz von einer Erregung der Seele zeugte, fuhr Lukas fort:

»Es findet sich, daß zur Stunde ein welscher Priester in meinem Hause wohnt, der bereit ist, Eurem Vater die heiligen Sakramente der Beichte, der göttlichen Mahlzeit und, wenn es sein muß, der letzten Salbung zu spenden, nach deren erstem er unverzüglich Verlangen trägt; doch will er Euch zuvor in väterlicher Vergebung umarmen, weshalb ich Euch bitte, Frau Margrete, mir noch in dieser Stunde an sein Krankenbett zu folgen.«

Glühende Röte bedeckte Margretens Wangen, als sie erwiderte:

»Toni soll mich begleiten!«

»Frau Margrete,« wandte Lukas ein, »reizet doch nicht das im Angesichte des Todes zur Versöhnung gestimmte Gemüt, dessen natürliche Art Ihr als unerbittlich kennt; nun Euer Vater seine eigene Beschaffenheit überwindet und milde nach der verlornen Tochter verlangt, – soll man ihm zugleich den zuführen, der sie ihm dazumal genommen hatte? Nein, das könnte an der Liebe Stelle sein Herz mit Bitterkeit füllen. Erbarmt Euch der bedürftigen Seele Eures Vaters und pfleget seinen kranken Leib, nachmals wird er selbst Euren Gatten in seine Versöhnung aufnehmen wollen.«

»Ja, ja,« sagte Benjamin, »Lukas redet recht und gut –«

Aber Margrete unterbrach ihn durch herzzerreißendes Schluchzen; »oh, oh,« stöhnte sie, als versetze ein unerträgliches Gewicht ihrer Brust den Atem; »ich will nicht, … ich will nicht … heute nicht, … morgen … morgen!«

Dann sprang sie auf und schrie noch einmal laut und verzweifelt: »Ich will nicht!«

Benjamin erbleichte; ihm begann vor diesem Weibe zu grauen, das nicht fühlte, wie Menschen fühlen, sondern wahllos haßte und liebte, als gäbe es keine Bande der Menschlichkeit und keine des Blutes. Hatte sie sich nicht auf heidnische, ungebärdige Art gegen Aves Ankunft empört? Heute nun galt es dem Vater, der nichts anderes verlangte, als dieselbe Tochter, die ihn gekränkt hatte, an sein Herz zu schließen, – sie aber weigerte sich zu kommen? Da sprach auch keine Regung des Mitleids in Benjamins Seele für Margrete; ungerührt von ihrer offen hervorbrechenden Herzensnot wog er ihr nur den Unwillen des Kindes gegenüber dem kranken Vater mit schweren Gewichten zu; Lukas dagegen konnte vom Glauben an die einmal Geliebte nicht lassen und sagte:

»Margrete, ich erkenne nicht, was Euch so verstört, aber das weiß ich, daß Ihr von Sinnen redet und gegen ein Unsichtbares ankämpft; wenn Ihr mich dennoch begleiten wollt, so vertraue ich auf die Stille der Nacht, die Eure Ängste beschwichtigen wird, und – haben wir die Schloßvorstadt erreicht – auf den rührenden Anblick Eures alten Vaters –«

Margrete sank in sich zusammen und weinte nunmehr leise vor sich hin; auch schwankte ihr blondes Haupt kaum merklich gegen Benjamin, an dessen Brust sie wohl gern diese Tränen fließen lassen hätte. Doch stand er steif wie ein geschnitztes Bild am Tische und blickte fühllos wie ein solches auf Margrete nieder.

Als sie sich gefaßt hatte, stand sie auf, schlug sich ein wollnes Tuch um Kopf und Schultern, und umfaßte die friedliche Wohnstube mit jenem erloschnen Blick, den Benjamin an ihr kannte, wenn sie sich in ihrer Kraft gebrochen dem Willen Gottes unterwarf.

»Leb wohl, Toni!« sagte sie und ging mit schweren Schritten hinaus. Lukas, der ihr folgte, wandte sich an der Tür noch einmal um und sagte zu Benjamin:

»Ich bin gewiß, Herr Prädikant, daß der Alte auch Euch rufen läßt, sobald das Fieber fällt und der gewonnene Friede nicht länger beweglich, sondern erbaulich wirkt –«

Benjamin nickte düster und Lukas eilte, Margrete in die Nacht nachzugehn.

Niemand achtete indessen auf den kleinen Martin; der hatte mit gleichermaßen angstvollen Augen die Tränen der Mutter, wie die ungewohnt finstere Haltung des Vaters angestarrt, und mochte wohl, als Margrete ging, nicht wissen, ob er ihr folgen oder bei dem Vater zurückbleiben sollte; schienen sie doch beide seiner Zärtlichkeit zu bedürfen!

Sein erster Impuls hatte ihn mit der Mutter in den Garten geführt, doch kehrte er nochmals um, als dürfe er Benjamin nicht verlassen, und sah mit klopfendem Herzen von außen durch die hellen Fensterscheiben; weil aber der Vater sich immer und immer nicht rührte, und auch Ave vor sich hinsah, ohne zu seiner Belebung Worte zu sprechen, oder ihre Glieder zu bewegen, packte das Kind ein Grauen vor der Stille und es beschloß, der Mutter, deren Klagen man hören konnte, nachzueilen.

So blieben Benjamin und Ave allein, und die Einsamkeit zögerte nicht, beider Gefühle aufs neue wach und wichtig zu machen und in der Lautlosigkeit des Schweigens die engen Wände zum Weltall zu weiten, darin es nur zwei fühlende Menschen gäbe – Ave und Benjamin, und nur ein Gesetz, das Anfang und Ende zugleich wäre, – ihre Liebe.

Endlich wagte Benjamin seinen Blick zu Ave zu erheben; doch als auch sie ihr liebegerötetes Antlitz ihm voll zukehrte, litt es ihn nicht länger in ihrer Entfernung, und haltlos sank er zu ihren Füßen.

»Ave,« sagte er aus innerster Seele; da traf zu seinem namenlosen Entzücken ein Hauch, der seinen Namen trug, sein Ohr.

»Toni!« hatte Ave geantwortet.

Selig sah Benjamin zu ihr auf, dann flog ein Schatten über sein Gesicht; und halb mit Vorwurf und ganz in Liebe fragte er:

»Wo warst du nur, als ich das Kloster verließ?«

Ave lachte:

»Da war ich ja noch ein Kind!« antwortete sie, und ihre weißen Zähne blitzten.

»Mein Kind, mein Kind!« sagte Benjamin innig, hob sich auf die Füße und küßte sanft Aves Mund.

Wie sie nun in mädchenhafter Verwirrung zu weinen anfing und von Sünde stammelte, jagten Benjamin die Freiheiten eines Christenmenschen wie das wilde Heer durch die Seele, alles, was er gelesen und gepredigt hatte, – daß die menschliche Begierde unüberwindlich, die Sünde aber und ihr Sold durch Christus überwunden sei, weshalb der Mensch wieder und wieder alle Sünden bestehn könne – und in abgerissnen sinnlosen Sätzen ergoß sich seltsam evangelisches Christentum über Ave, deren Tränen freilich nur um so reichlicher fluteten.

Da begriff Benjamin, daß keine Predigt, sei sie vernünftig oder unvernünftig, im Augenblick der Liebe eines Mädchens Tränen trocknen würde; deshalb riß er Ave an sich und überdeckte ihr Gesicht mit Küssen als wie mit einem Schleier. Aber noch einmal wehrte sie ihn mit beiden Händen ab und sagte, indem ihr Atem flog:

»Ich will hinauf – in meine Kammer!«

»Ja, ja, geh jetzt hinauf – in deine Kammer …« antwortete Benjamin, haschte aber die Hand der Geliebten und ließ sie nicht wieder, bis sein Haupt schwer von ungeheurer Wonnelast in Aves Kissen versank.

*

Indessen kniete Margrete am Bette ihres Vaters.

Lukas hatte recht getan, seine Hoffnung auf die Feierlichkeit von Nacht und Sternen zu setzen, daß sie Margretes aufgeregte Sinne besänftigen würde; kaum war die Stadt erreicht, als Margrete begann, mit liebevoller Sorge nach der Krankheit des Vaters zu fragen, nach dem Zustand seiner Seele, und ob diese willig oder unwillig nach Versöhnung verlange.

Darauf erzählte Lukas, was er wußte, nämlich, daß der alte Tischler durch alle seit Margretens Flucht dahingegangenen Jahre seinen Groll gegen die Tochter genährt, daß aber diese plötzliche Krankheit seinen Sinn gewandelt habe, und er erkenne, daß keiner auf Erden zum unversöhnlichen Richter über den andern berufen sei, weil ja ein jeder das Seine vor dem Throne des Höchsten empfangen würde; auch sei ihm mit dieser Einsicht die väterliche Liebe aufs neue erwacht, so daß er nunmehr von Herzen begehre seines Kindes Antlitz zu schauen.

Eben schritten sie über den Marktplatz von Wittenberg, an der Apotheke des Lukas Cranach vorbei, als der kleine Martin sie mit eiligem Laufen einholte.

»Mutter,« rief er Margrete schon an, bevor er sie noch erreicht hatte, »nimm mich mit zum Großvater!«

Nach einigem Erstaunen und Erwägen entschied Lukas, daß der Knabe mitgehn dürfe, wenn er sich mit ihm in der Wohnstube zurückhalten wolle und auf der Ofenbank nächtigen, sofern der Großvater zu krank sei, ihn noch an diesem Abend zu sehen. Martin versprach, ein folgsames Kind zu sein, und als Margrete das kleine Händchen in ihrem Arm ruhen fühlte, glaubte sie dem entfremdeten Vaterhause minder verlassen entgegen zu gehn, sondern vielmehr ihre Heimat mit sich dahin zu führen.

Nachdem Lukas die Gartentür geöffnet hatte und Margrete im Schein der Handlaterne die Schwelle erblickte, auf der stehend sie Benjamin zum erstenmal gesehen, und die sie im Dunkel der Nacht überschritten hatte, als sie sein Weib geworden war, überdrangen sie namenlose Gefühle von Sehnsucht, Reue und Kindesliebe, und mit plötzlicher Heftigkeit ließ sie Martins Hand fahren, warf ihr Umschlagtuch ab und eilte in die Kammer zu ihrem Vater.

Der saß aufrecht im Bett mit gefalteten Händen, die auf der Decke zitterten, und hielt die Augen unverwandt auf die Tür gerichtet, durch die sein Kind eintreten mußte.

»Vater!« rief Margrete leidenschaftlich, als sie dem Alten an die Brust sank; der strich nur immer das verworrene Blondhaar seiner Tochter zurecht und sagte einmal über das andere:

»Still, still, still, still!«

Drin in der Wohnstube hatte Lukas den müden Knaben nicht auf die Ofenbank, sondern weicher und zärtlicher in seine Arme gebettet, und das schlaftrunkne Haupt an seine Brust; so hielt er mit innigem Genügen im Herzen Margretes Kind umschlungen, dessen friedlichen Atemzügen er noch immer aufmerksam lauschte, als es schon längst fest und vertrauensvoll entschlummert war.

Pater Juan, der welsche Priester, ging währenddessen mit umgehängter Stola im Zimmer auf und ab; er hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Augen mit einem weltentrückten Ausdruck als wie auf das Innere gerichtet und erwartete so sinnend oder betend den Ruf des Kranken, der sich erst mit den Menschen und dann mit Gott versöhnen wollte.

Die Stunde neigte sich gegen Mitternacht, als Margrete im Rahmen der Tür erschien; ihr Blick schweifte suchend durch den spärlich erhellten Raum und fand mit einem flüchtigen Aufleuchten Ruhe, als sie Martin in den Armen ihres einstigen Freiers gewahrte; sie winkte, und Lukas trug den schlafenden Knaben an das Bett des Alten; aber nur kurze Frist vermochte dieser den lieblichen Anblick zu ertragen, dann umdüsterte die gemeinsame Nähe von Lukas und Margrete sein Gemüt, – Lukas und Margrete, die, zur Ehe verbunden und mit blühenden Kindern gesegnet, seines Herzens Freude gewesen wären. Heftig zuckte die aufwallende Erregung in dem alten Gesicht, und wortlos, aber lebhaft mit beiden Händen bedeutete er Lukas, den Knaben hinauszutragen. Auch Margrete verließ gesenkten Hauptes die Kammer, und Pater Juan nahm stillschweigend den Platz am Krankenlager ein.

*

Als der graue Morgen über die Felder kroch, schauerten unter seiner Berührung die kahlen Weidenbäume am Elbufer, deren Nacktheit er unbarmherzig entblößte; es schauerten auch die offnen Erdfurchen, wie er schamlos mit kaltem Zwielicht die linde Dunkelheit aufwühlte, die die Nacht sorgsam über ihr Verlangen nach dem Samen des Brotes gebreitet hatte; dazu rieselte vom Himmel ein dünner Regen, und zwischen den beim letzten Tauwind überschwemmten Wiesen saßen auf schmaler Landzunge Hunderte von Raben, einer schwarz neben dem andern; über sie hinweg zog der Morgen in die Straßen von Wittenberg ein, und tastete sich an den Mauern der Häuser hinauf bis vor die Fenster, hinter denen schuldige Menschen in erborgtem Frieden schliefen. Noch genossen sie für einen Atemzug die Wohltaten der in Finsternis gehüllten Welt; bald aber schreckte auch sie der fahle Streifen, der unsicher über ihre Lagerstätten irrte, aus dem Schutze der Nacht empor.

»Das ist nicht der Mond – das ist der Morgen!« empfand Benjamin mit Grauen, als die schweren Formen von Schrank und Truhe deutlich aus dem Dunkel des Zimmers traten.

Ave an seiner Seite schlummerte wie ein Kind. Ihre junge Seele wäre wohl gestorben, hätte sie das gleiche Übermaß des Gefühls tragen sollen, das Benjamin in dieser Nacht überwältigt hatte; darum konnte sie liegen und schlafen; ihn aber ließ die fremde Wonne nicht ruhn, die in Aves Armen mit der Wucht einer Offenbarung über ihn gekommen war, – ihn nicht!

Wohl mündet alle irdische Lust in verschlafne Träume, – wie auch himmlische Lust, die Lust an Gott, in den Tod eingeht; aber Genüge findet sie da nicht, sondern zersprengt das Grab und muß in Ewigkeit ihr eignes Sein empfinden; so treibt die Liebe, wenn sie selig ist, den Schläfer auf, zu wissen, daß er selig sei, zu schwören, daß ewig, ewig solche Lust dauern solle.

»Kann einer die Verheißung ewiger Seligkeit ermessen, der niemals zeitlich selig war?« meditierte Benjamin in der Verwirrung seines sündekranken Gefühls, »der allezeit beschränkt war in das dürftige Vergnügen, das ein geschaffnes Wesen für sich selbst, von seiner Leiblichkeit umschlossen, auszumessen vermag?«

Und immer kecker verstieg er sich in die dunklen, zur Tiefe lockenden und leitenden Gänge irdischer Geheimnisse und vermaß sich, das Himmlische in ihnen zu suchen:

»O, der ist wahrhaft verflucht, der allezeit in einzelne, einsame, grenzenumschränkte Menschlichkeit gebannt ist, – der ist wahrhaft erlöst, der einer ist und doch zwei werden kann, der seines Leibes Glieder an sich fühlt und sprechen kann: Ich bin du geworden, der Benjamin heißt mit Namen und Ave ist im Quell seines Wesens, der aus sich fähret durch die Liebe und Wohnung nimmt am Herzen der Welt.«

»Nur ewig, nur ewig,« murmelte Benjamin, wenn immer die Fülle des Glückes ihm den Schlummer verscheuchte, »ewig diese Nacht und ewig diese Liebe!«

Aber die Erdenmächte vergehen alle, und ihren Wonnen bringt der Morgen den Tod.

Fröstelnd erhob sich Benjamin im Schein der Dämmerung vom Lager und ging ans Fenster; da sah er, noch fast von der Nacht verschlungen, eine schwarze Gestalt auf sein Haus zukommen, deren Kleid er bald richtig als das eines Priesters erkannte, doch deren Antlitz ihm fremd blieb. Es war Pater Juan, der Margretes Vater im Austausch von Beichte und Rat auch das letzte Opfer des Herzens, das dieser sich noch zurückbehalten wollte, abgewonnen hatte – nämlich Benjamin in Vergebung die Hand zu reichen, und der die erste Stunde des Tages benützte, um den gewißlich Wachenden und Harrenden an das Lager des Kranken zu rufen.

Pater Juan erstaunte also nicht, daß Benjamin ihm mit übernächtigem Gesicht die Türe öffnete, noch bevor er geklopft hatte, – hätte doch jeglicher Gatte in solcher Nacht die Schritte seines Weibes im Geiste geleitet, wenn es ihm in der Tat versagt war! Er erstaunte aber über die seltsam unwirkliche Art, auf die ihm Benjamin fast schwebend und jedenfalls schweigend in die Wohnstube voranschritt, und den traumhaft abwesenden Blick, mit dem er auf eine Anrede zu warten schien, ohne indessen für die mögliche Mitteilung auch nur den geringsten Anteil zu bekunden. Doch drängte Pater Juan seine Befremdung hinter die natürlicherweise gebotne Form zurück und sagte:

»Lieber Herr Eichler, Eures Weibes Vater will Euch nicht länger seine Liebe und seinen Segen entziehn. Seid Ihr bereit, mit mir zu kommen, so wollen wir nicht säumen, die schöne Stunde christlicher Eintracht herbeizuführen.«

Helle Röte flog in Benjamins bleiche Wangen, woran Pater Juan erkannte, daß jener seine Rede gehört hatte; denn eine Antwort kam nicht über Benjamins Lippen, und der Pater fragte nach kurzer Stille noch einmal:

»Seid Ihr bereit, unverzüglich mit mir zu kommen?«

Da entgegnete Benjamin ohne Zucken der Wimper:

»Was ist mir dieser alte Tischler?«

Pater Juan reckte sich in die Höhe, tat einen Schritt auf Benjamin zu und sah ihm scharf ins Gesicht; jetzt erst heftete dieser einen bewußten Blick auf seinen Gast, und sah, daß hier mehr als ein zufällig Geschorener vor ihm stand; der herrische, unschöne Mund hätte eher auf einen Krieger gedeutet, aber die Augen, in denen Trotz und Milde wechselten wie Sonne und Mond, konnten dem Priester wie dem Weltkind angehören und nur die olympische Stirn schien aller niederen Leidenschaften zu spotten und von Anfang zur Erhabenheit bestimmt zu sein.

»Was geht hier vor?« fragte Pater Juan.

Damit überdrang Benjamin von neuem ein Nachgefühl aller nächtlichen Wonne, so daß er die Augen schließen mußte und haltlos seufzte.

In diesem Augenblick sah der Pater ein buntes Seidenband an der Erde liegen, wie solches gern zur Schäferstunde aus den Haaren der Mädchen fällt, – ein Seidenband, das den ersten Lichtstrahl benützte, um rot und gelb und verräterisch hinaufzuleuchten; Pater Juan schoß eine Erzählung des Lukas durch den Kopf und mit ihr ein unbestimmter Verdacht, so daß er fragte:

»Wo habt Ihr die junge Nonne, die Philipp Melanchthon in Euer Haus gegeben hat?«

»Sie schläft,« antwortete Benjamin mit einem so selig wissenden Lächeln, daß Pater Juan nicht zweifelte, Margretes Gatte selber habe Aves Schlaf behütet; er begann nach seiner Gewohnheit im Zimmer auf und ab zu gehen, was je nach dem, ob es galt zu denken, zu beten oder zu handeln, in einem mehr oder minder schnellen Tempo zu geschehn pflegte; in dieser Stunde sah Pater Juan nur die einzige Notwendigkeit, zu handeln, und verlor keinen Augenblick mit moralischen Betrachtungen, die sich sonst wohl an das vorliegende Ereignis hätten anknüpfen lassen. Nach kurzer Wanderung blieb er vor Benjamin stehn und sagte entschlossen:

»Entweder Ihr gebt das fremde Fräulein sofort an denjenigen zurück, der sie Euch ausgeliefert hat und ruft Margrete in Euer Haus, oder –«

Benjamin fühlte sich durch diese scharfe Anrede wie mit einem Schlage aus seiner tatenlosen Träumerei gerissen, in der er sonst hätte verbleiben müssen, bis die gesamte Stadt mit Skandal vor sein Haus gezogen wäre; jetzt standen die Begriffe von Ehe, Kampf und Wirklichkeit plötzlich drohend vor ihm, – dahinter Ave, die sehnsüchtig lockte; und Ave sollte er fortschicken?

»Oder?« fragte er den Priester, der die Vollendung seines Satzes, die durchaus nichts anderes als die Rettung, die Benjamin ergreifen würde, enthalten mußte, schuldig geblieben war. Aber Pater Juan sah finster zu Boden und fragte hart dagegen:

»Was gedenkt Ihr also zu tun?«

Wieder fühlte sich Benjamin seinem blind wählenden Gefühl preisgegeben, seufzte und antwortete:

»Ich kann nur mehr in Ave atmen und sein.«

Pater Juan machte einen geringen Versuch, Vernunft zu predigen.

»Ihr habt Weib und Kind, die werdet Ihr nicht ohne Brot zurücklassen wollen?«

»Der Alte mag sich ihrer annehmen,« sagte Benjamin dumpf, – »ich habe ihnen nichts zu geben.«

»Und Ihr glaubt, Herr Eichler,« fragte Pater Juan, »daß einer Eurer Prädikanten Euch und das Fräulein zur Ehe verbinden wird?«

Benjamin sah hilflos und gepeinigt auf den Pater.

»Ich weiß von mehrerlei Beichträten,« antwortete er, »die Luther und Melanchthon erteilt haben, wenn einer die Ehe, die ein schweres Gelübde ist, nicht zu halten vermochte –«

»Kennst du ein leichtes Gelübde, Bruder Benjamin?«

Helltönend rief der Pater dem Abtrünnigen seinen einstigen Ehrentitel entgegen.

Benjamin zuckte wie unter einem Hieb zusammen, denn das gebrochne Klostergelübde war seine verwundbare Stelle geblieben. Aber Pater Juan wollte nicht den Schuldigen beschämen, sondern den Willenlosen zu einer Entscheidung drängen, weshalb er seinen Zorn mäßigte und weiterredete:

»Sei es schwer oder leicht, dem angetrauten Weibe die Treue zu halten, so vergeßt Ihr, daß auch in Wittenberg der erste Rausch der Freiheit verflogen ist, und daß der Kaiser und sein Regiment sich mit Nachdruck in die Ehehändel gemischt haben, damit nicht am Ende das türkische Ärgernis allgemein werde und ein Mann mehrere Weiber zugleich habe.

Margrete ist Euch eine rechtschaffne Gefährtin gewesen, was wollt Ihr wider sie vorbringen?«

Benjamin stöhnte, von Gefühlen übermannt und von Gedanken verlassen.

»Eure geistlichen und weltlichen Richter,« fuhr der Pater fort, »werden Euch ermahnen, zu Eurem Weibe zurückzukehren –«

»Niemals, niemals!« flüsterte Benjamin und fragte nach einem schweren Seufzer, der dem Gedächtnis seiner freudelosen Ehe gelten mochte:

»Warum kann ich nicht Hand in Hand mit Ave in die Fremde wandern?«

»Weil Ihr nicht zugleich Hand in Hand mit Gott geht,« antwortete der Priester ohne Zögern. Da lästerte Benjamin in seinem Verlangen nach Erneuerung und Ewigkeit der gekosteten Lust:

»Mit oder ohne Gott, – wo Ave ist, wird meine Wonne sein.«

»Nicht immer,« entgegnete Pater Juan unbeirrt. »Was Euch heute sättigt, wird Euch morgen hungrig lassen; seht, der Garten der Ehe ist Euch versperrt, in dem einige glückliche Menschen ihre Liebe von der Treue gehegt und von der Keuschheit überschattet, bis ans Ende bewahren dürfen –«

»O Ave, – Ave,« unterbrach Benjamin den Priester.

»Verlaßt Eure Geliebte –« sagte Pater Juan. Da griff Benjamin nach seinem Herzen und entgegnete:

»Wie könnte ich Ave verlassen.«

»Es ist minder schwer, als es Euch erscheinen mag,« antwortete Pater Juan, »gedenkt der Stunde, in der Ihr Eurem mütterlichen Kloster abgesagt habt, – und Margrete ihrem Vaterhaus abgesagt hat, was tatet Ihr anderes, als Euch der Kutte entledigen und die Schwelle überschreiten? Auf! nehmt Euren Mantel und Hut und überschreitet die Schwelle, – der betretne Weg selber leitet nachmals den einen zum Frieden, den andern zum Gericht; darum verlaßt Eure Geliebte …«

»So redet ein Priester,« sagte Benjamin bitter, »wäret Ihr ein Mann, Ihr wüßtet, was ich leide –«

»Ich weiß es,« antwortete Pater Juan, weicher als er bisher gesprochen hatte, so daß Benjamin einen plötzlichen Anteil an dem Schicksal des Fremden fühlte und fragte:

»Wer seid Ihr?«

»Ich bin Pater Juan,« antwortete der Priester, seinen Namen, als er ihn aussprach, sorgfältig wägend; »Juan,« sagte er noch einmal und fuhr nach kurzem Schweigen fort: »den Namen wählte ich mir zum Memento; ich könnte mir sonst wohl glauben machen, daß ich allezeit Gottes Wege gewandelt wäre und mich über dich oder einen andern Ehebrecher erheben; nun aber, wenn einer meiner Brüder zu mir spricht: Pater Juan, – so ruft er mir entgegen, er mag wollen oder nicht: Gedenke, wer du warst, – gedenke, wer du warst! –«

Benjamin wurde unruhig und fragte:

»Wer wart Ihr also?«

»Kennt Ihr die Sage vom Ritter Juan aus dem Geschlechte der Tenorio?« fragte der Priester dagegen, – »der die Länder Europas nach den Abenteuern der Liebe durchzog und immer begehrte und immer genoß und doch niemals satt wurde?«

Pater Juan unterbrach sich, von der Kraft der Erinnerung geschüttelt; dann redete er weiter:

»Meine Heimat ist die welsche Schweiz, doch zog es mich oft über die deutschen und italienischen Grenzen, wie weiland Don Juan – hier von der Glut der schwarzen, dort von der Milde der blonden Mädchen Linderung für meine sehnsüchtigen Qualen erhoffend; da geriet ich eines Tages einem strengen Richter in die Sphäre seiner Macht und wäre meines ärgerlichen Wandels halber gewiß erbarmungslos geköpft worden, hätte mich nicht mein Mädchen liebevoll gewarnt, so daß ich meinen Feind stellen konnte, bevor er mir seine Häscher in die Herberge sandte; denn weil er ein seltner Mann war und ebensosehr im Geruch der Heiligkeit wie in dem der Tapferkeit stand, wollte ich ihm nicht feig entfliehn, sondern mich vielmehr vor ihm rechtfertigen.

Er hatte die Gewohnheit, sich für ganze Tageslängen in eine unwirtliche Gegend des Landes zu geistlichen Übungen zurückzuziehn; dort, im Angesichte der Dreifaltigkeit und einiger immergrüner Bäume wollte ich den strengen Wächter der Sitte und des Glaubens, Pater Michele Ghislieri beschleichen und ihm entgegenrufen, daß ich mich keines anderen Verbrechens zu zeihen vermöchte, als auf geraden und krummen Wegen des Herzens Sättigung mit unaussprechlicher Wonne gesucht zu haben; mein gutes Schwert sollte mich schützen, wenn er etwa Gewalt gegen mich hätte gebrauchen wollen.

Ich fand ihn mit erhobenen Händen am Stamme eines kahlen Holzkreuzes stehen, das er sich wohl selbst gefertigt hatte, und betrachtete meinen Feind, der weder mich noch irgend etwas um ihn her bemerkte, mit Muße.

Es gibt Stunden, in denen wir glauben, unseres Lebens Ziel und Sehnsucht mit Händen greifen zu können; sieh, Bruder Benjamin, solche Stunde war mir jene; was ich gesucht hatte und niemals gefunden, dem ich nachgejagt war mit der Gier des Steppenwolfes, und das ich mir niemals erbeutet hatte, für das ich wie ein Glücksritter früher Tage alle Kämpfe der Erde bestanden hätte, – das lag da ausgebreitet auf dem hageren Antlitz meines Widersachers – nämlich unaussprechliche Wonne, davon das Herz gesättigt war.«

Pater Juan schloß die Augen und atmete schwer; dann sagte er resigniert:

»Ich kann Euch nicht beschreiben, wie jener Mensch ausgesehen hat, während er stand und betete; das aber mögt Ihr wissen, daß ich mich nicht vor einer Bluttat gescheut haben würde, wenn ich ihm damit sein überschwängliches Glück hätte entreißen können.

Schritt für Schritt ging ich näher auf Bruder Michele zu, um auch seine Seligkeit näher und immer näher anzuschauen; da spiegelten mir meine getäuschten Augen vor, es sammle sich irgend ein Leuchten, das nicht von der Sonne herrührte, um den Beter, als sei der Leib, der ihm zugehörte, nicht Fleisch, sondern Licht. Außer mir rief ich ihn an:

›Wo hast du die Wonne hergenommen, Bruder Michele?‹ und stürzte ihm zu Füßen.

Da löste er langsam seine in eine andere Sphäre festgesaugten Sinne, wandte sie der Welt und meiner Niedrigkeit zu und sprach mit den Worten des Propheten:

›Mache dich auf, – werde Licht!‹«

Pater Juan schwieg, und auch Benjamin konnte lange kein Wort für sein erschüttertes Gefühl finden.

Endlich kam es von seinen Lippen: »Ihr habt den Sprung – hinüber – gewagt!«

Der Priester begann von neuem eilig im Zimmer auf- und abzugehen; seine entschlossne Art, die, wo es Zeit zur Tat war, die Meditation nicht unnötig lange ausdehnte, gebot ihm, Benjamin zur Entscheidung anzutreiben; Antwort heischend stellte er sich vor ihn und sagte:

»Entweder Ihr gebt das fremde Fräulein sofort an Philipp Melanchthon zurück und ruft Margrete in Euer Haus,« – und diesmal zögerte Pater Juan nicht, seinen Satz zu vollenden, – »oder aber Ihr nehmt Hut und Mantel, wandert bis vor die Pforte Eures Klosters und sprecht: Vater, ich habe gesündigt im Himmel und vor dir.«

Benjamin wurde fahl wie das graue Licht des Morgens, das durch die Fenster drang, doch griff er lautlos nach seinem Mantel und ließ sich von Pater Juan bis an die Schwelle seines Hauses führen; auf der blieb er noch einmal stehen und stammelte verzweifelt:

»Laßt mich nur von der Schlafenden Abschied nehmen.«

Aber der Priester antwortete gebieterisch: »Wer den Pflug anfaßt und sieht hinter sich, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes.«

Da schritt Benjamin ohne Lebewohl an die Geliebte mit Pater Juan in den rieselnden Regen hinein.



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