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Sechstes Kapitel.

P Prior Balthasar, der die wißbegierigen Triebe seiner Natur in der Stille der rinnenden Jahre und im einfältigen Verkehr mit Gott überwunden, getilgt und erloschen geglaubt hatte, durchlebte nach Benjamins Heimkehr schwere Tage.

Während Benjamin eingezogen in seiner Zelle und in sanftem Schweigen verharrte, plagte den Prior die alte Lust, Neuigkeiten aus Deutschland im allgemeinen und die Schicksale seines geliebten Sohnes im besonderen zu erfahren, scheuchte ihn aus dem Gebet, aus der Arbeit, aus dem Schlafe empor, trieb ihn bis vor Benjamins Tür, wo ihn dann freilich die Scheu vor dem Friedesuchenden davon abhielt, mit menschlicher Gegenwart und Geister beschwörenden Fragen in dessen Einsamkeit einzudringen, so daß er gesenkten Hauptes in die Prioratszelle zurückschlich.

Da kam der Heftigkeit seiner Begierde, die wunderbaren und sehr dunklen Wege Gottes auf dem taghellen Lebensweg Benjamins im Geiste nachzuwandeln, das verstörte Wesen etlicher Brüder und endlich die offne Bitterkeit ihrer Vorwürfe zu Hilfe.

Mit finstren Mienen und verzweifelt flackernden Blicken erschienen ihrer drei vor dem Prior, und einer begann zu sprechen:

»Würdiger Vater, befreie unsren Wohnplatz der Reinen von der Gemeinschaft des Gefallnen, der sich bisher durch keinerlei Buße aus der Tiefe seines Sündenpfuhls erhoben hat; unsre Nächte werden beunruhigt; die greulichsten Bilder von der Schändung des gottgeweihten Leibes gehen von Benjamins Nähe aus und versuchen unsren arglosen Geist bis hinein in seine Träume. Würdiger Vater, – ein Mensch, der in fremdem Lande Weib und Kind wohnen hat, schläft unter unsrem Dach, kniet in unsrem Luftkreis vor dem Allerheiligsten.«

Der Prior, dessen liebevolles Empfinden ganz Vergebung, ganz Menschlichkeit war, und dem jeder Stachel im Gemüt fehlte, erschrak über die dunklen Anfechtungen, die da durch des Sünders Rückkehr wie Wölfe in seiner anvertrauten Herde herumfuhren. Entschlossen versprach er den bleichen, übernächtigen Mönchen:

»Ich werde euch euren Frieden zurückgeben,« und nötigte noch am selben Abend Benjamin, ihm in die Prioratszelle nachzufolgen, wo er ihn väterlich anredete:

»Mein Benjamin, es sei ferne von mir, deine Seele, die der Rast bedarf, mit dem Gedächtnis vergangner oder zukünftiger Unrast zu schrecken –«

» Zukünftiger Unrast …« stotterte Benjamin entsetzt.

»Auch zukünftiger,« entgegnete Prior Balthasar, »denn wie du weißt, bist du zur Stunde nur Gast in diesem Hause; doch wird dich bald genug verlangen, dir den Sohnestitel von neuem zu erwerben, und du selbst, mein Benjamin, wirst, uneingedenk der Beschwerden der Wanderschaft, begehren, dahin zu pilgern, wo dir einzig Absolution und Frieden gespendet werden kann, – nach Rom.

Was aber das Vergangne anbetrifft, welches du, wie ich deiner Schweigsamkeit entnehme, zu vergessen wünschest, so bitte ich dich nur dieses, gönne mir, der ich wie einst eine Mutter um die Bekehrung ihres Sohnes sieben Jahre um die deine gebetet habe, – gönne mir einen einzigen Blick auf das Werkzeug, dessen sich der Herr bedient hat, dein Herz umzukehren.«

Jetzt erst setzte sich der Prior an seinem Tische nieder, während Benjamin stehen blieb und, die Augen schließend, in seinen Gedanken vom Kloster zu Voghera bis auf die Schwelle des Giebelhäuschens vor dem Wittenberger Elstertor rückwärts wanderte, wo angekommen er zögernd antwortete:

»Es kam in meiner höchsten Not ein welscher Priester zu mir, – Pater Juan, der nach seiner eignen Aussage zuvor ein minneseliger Abenteurer gewesen, nachmals aber durch einen Mönch zur Gottesminne gerettet worden war, – durch einen Mann, von dem er schwärmerisch wie von einem Heiligen sprach, und der sich Michele Ghislieri nannte …«

»O mein Gott,« rief der Prior und schlug die Hände vor das Gesicht, »ich eitel elender Narr! Wie konnte ich einen Augenblick meiner eignen Gebete als der himmlischen Erhörung nicht unwürdig gedenken, während allein Bruder Michele deine schon verlorne Seele dem ewigen Erbarmen zurückgefunden hat!

Herr, Herr, vergib! Denn du weißt, daß Irrtum und Menschlichkeit über meine Lippen fließen, daß aber er dein Gerechter und Auserwählter ist …«

Als Benjamin Prior Balthasars Selbstanklagen und eigne Erniedrigungen mit Ergriffenheit anhörte, ohne doch deren Zusammenhang zu begreifen, warf er sich dem Prior zu Füßen und sagte:

»Mein Vater! Wer auch immer jener Bruder Michele sein möge, und wie angenehm sein Gebet und Wandel vor Gott, so bin ich doch Eurer Liebe entgegengeeilt und habe mich in der äußersten Verwirrung nicht der Gebete eines Heiligen, sondern Eures väterlichen Herzens getröstet …«

»Gemach,« sagte der Prior, indem er zärtlich über Benjamins Locken strich und auch ein glückliches Lächeln nicht zurückhalten konnte, »gemach, mein Benjamin, damit du deinen närrischen Vater nicht aufs neue zur Anmaßung verleitest …!«

Es war nun der Bannkreis des Stillschweigens durchbrochen, den Benjamin ängstlich um sich gezogen, und den der Prior so gut und so lange er vermocht, geehrt hatte, und Benjamin zögerte nicht länger, seinem bang aufhorchenden Oberen von dem langsamen Trott der Wittenberger Jahre zu erzählen, wie ihm daselbst aus Abend und Morgen ein Tag nach dem anderen unbeseelt und arm an Liebesglut entschwunden wäre, wie er sich Margretes Zuneigung immer hoffnungsloser entfremdet habe, und wie der kleine Martin seines Daseins hellster Stern gewesen sei; er erzählte von Aves Lieblichkeit, und wie ihm der Genuß irdischer Wonne zur lebendigen Quelle der Sehnsucht nach unsterblichem Entzücken geworden wäre – ein Bekenntnis, dem der Prior, dessen Gottesliebe wie die weiße Blüte am Lilienstengel der Keuschheit sproßte, demütig entgegnete:

»Gottes Wege sind vielerlei – seine Barmherzigkeit sei gepriesen!«

Als dann Benjamin seine Wanderschaft mit Pater Juan schilderte, auf der er gelernt habe, die Lehren Luthers von einer anderen als der wittenbergischen Seite zu betrachten, begriff der Prior, daß Benjamins Bekehrung sich wie einst sein Abfall zuvor in seinem Blute vollzogen hatte, und daß die Einsicht dem Zuge des Herzens nachgefolgt war.

Zitternd, als stehe heute noch sein geliebter Sohn auf allen thüringischen, fränkischen und schweizerischen Straßen am Scheidewege, wanderte er in Benjamins Erzählung und also auf dem Wege von Wittenberg nach Voghera von Station zu Station; nur in Genf ging der leidenschaftliche Anteil seines Herzens von Benjamins Schicksal auf das des unglücklichen Servet über; denn der Prior hatte diesem Ketzer vor allen anderen ein sympathisches Andenken bewahrt.

Benjamin mußte sich unterbrechen und Prior Balthasar Raum zu einer beredten Trauer gönnen, die in den aus ehrlichem Herzen aufsteigenden Seufzer ausklang:

»O daß doch Friede auf Erden würde, – Friede auf Erden!«

Erst als Benjamin nach vollbrachtem Gedächtnis an den Scheiterhaufen von Champel den Schluß seiner Erzählung vorgetragen hatte, ergriff Prior Balthasar seinerseits die Rede, um dem Heimgekehrten zu erklären, daß Bruder Michele Ghislieri einst mit ihm zugleich in das Kloster zu Voghera eingetreten sei, und daß dessen geheimnisvolle Gaben des Geistes ihm auch nach seinem Abgang von Voghera einen so unauslöschlichen Glauben an seine Gottgefälligkeit hinterlassen hätten, daß er in seiner Not um Benjamin sich keinen besseren Rat gewußt habe, als zwei Brüder an Fra Michele zu entsenden, diesen um seine unablässigen Gebete für den Abtrünnigen anzuflehn:

»Die Brüder fanden ihn in Rom,« sagte der Prior, »wo er, wenn ich recht unterrichtet bin, auch heute noch als Freund und Ratgeber des Kardinals Caraffa weilt, der ihn somit seiner Lust an der Einsamkeit entzogen und ihn dem Dienst für die Gemeinsamkeit hingegeben hat. Er ist es, mein Benjamin, zu dem auch du, wenn du in Rom anlangst, unverzüglich deine Schritte hinlenken mußt, damit du wie der Reingewordne dich dem Priester zeigest.«

Benjamin, der während Rede und Gegenrede einem Bedürfnis seines Herzens folgend in kniender Stellung vor dem Prior verblieben war, hob sich auf die Füße, und indem sein aufgeregtes Gefühl mit Ungestüm hervorbrach, sagte er:

»Gibt es etwas Wunderbareres als die Wandlung eines Menschenherzens! Eben noch in den Banden aller Begierden des Fleisches, fühlt es sich plötzlich und fast gegen seinen Willen befreit, – ja die Sünde selbst verkehrt sich in einen unwiderstehlichen Drang, ihr abzusagen und dieses zeitliche Leben an das ewige anzuknüpfen …«

»Nenne, was du schilderst, nicht Wunder und ereifere dich nicht, Benjamin,« sagte der Prior leise, »nenne es aber Gnade und bete an!«

»Mein Vater,« rief Benjamin in die sanfte Stille, die des Priors Worten folgte, »gebt mir Urlaub, – nach Rom.«

»Urlaub und Begleitung,« entgegnete der Prior; »du sollst nun wieder als mein Schützling reisen, und Bruder Felice wird dir ein treuer Geselle sein.«

Es fand sich, daß Bruder Felice des Priors Ansinnen, Benjamin nach Rom zu begleiten, einigen Widerstand entgegensetzte.

Felice, dessen weiches, empfindsames Gemüt auch mit wachsenden Jahren sich nicht verhärten wollte, hatte seine erste Romreise in verwirrendem Andenken behalten. Wohl war durch die geschauten Kunstwerke der Wunsch in ihm aufgewacht, das Malen und Modellieren, das er in Voghera wie ein Kinderspiel geübt hatte, bei einem Meister zu erlernen, und im Mittelpunkt der Welt zu verbleiben; aber die religiösen Versuchungen, von denen er in der ewigen Stadt befallen worden war, überwucherten und erstickten diesen Trieb seines Wesens so sehr, daß er bei sich selbst die Flucht vor den leuchtenden Bildern Roms in die farblose Zelle zu Voghera hatte ergreifen müssen. Dort malte er nunmehr – seiner Zeit um ein Jahrhundert zurück – zierliche Madonnen in blumenreichen Gärten, und liebe Engel zur Erbauung der Brüder, und schmückte stillehin die Decke der Klosterkirche mit bescheidenen Ornamenten. So lebte er in Frieden mit seiner Natur und in Frieden mit Gott, und war entschlossen, nur auf einen unausweichlichen Befehl des Priors von neuem seine Seelenruhe zu gefährden. Der Prior aber, wenn es sich nicht um religiöse und sittliche Disziplin handelte, forderte ungern strengen Gehorsam von seinen Klosterbrüdern, sondern liebte es vielmehr, ihren innerlichen Pfaden väterlich nachzugehen. Auch Felices Vorstellungen lieh er ein williges Ohr, wiewohl er nicht begriff, daß das heilige Rom einem katholischen Christen Schaden der Seele bereiten könnte, und erwählte Ambrogio, Benjamin auf seiner Wanderschaft zu geleiten; denn einen Romkundigen wollte er dem Sohne seines Herzens beigesellen.

Indessen wählte aller Ordensoberen Höchster Bruder Ambrogio zu einer anderen Reise aus und vernichtete somit Felices und des Priors Erwägungen.

So gering allezeit die Zurichtungen gewesen waren, die Bruder Ambrogio zu seinen Reisen gemacht hatte, so sah er sich genötigt, diese letzte mit seltner Muße und Sorgfalt vorzubereiten. Eines Abends kehrte er fiebernd von einem Samaritergang heim, legte sich fast ohne Besinnung nieder und blieb von jener Stunde an teils an das Bett, immer aber an das Haus gebannt, ein unheilbar Erkrankter, dessen verborgnes Leiden langsam Blut und Leben der Auflösung entgegenführte.

Oftmals täuschten sich die Brüder und vertrauten den guten Augenblicken sowie der ansteigenden Jahreszeit, worüber denn die Monde wechselten, ohne daß Bruder Ambrogio genas, noch auch Felice an der Hoffnung verzweifeln konnte, dennoch jenen an seiner Stelle mit Benjamin nach Rom pilgern zu sehen.

Schon färbten sich die Blätter, als Ambrogios Zustand sich verschlimmerte, und der vorausfallende Schatten des nahen Todes das Kloster zu Voghera überbreitete. Lautloser noch als gewöhnlich schlichen die Mönche über den Flur, huschten sie die schmale Wendeltreppe in das Refektorium hinunter und wandelten sie in den Erholungsstunden im Kreuzgang.

Ambrogio lag immer ohne Klage und vielleicht auch ohne Schmerzen mit weitgeöffneten Augen im Bette; auf seiner Stirn wohnten erdferne Gedanken über die durch Christus geschehne Erlösung des Menschengeschlechtes von der Bitterkeit des Todes, und während die Brüder sich an dem Anblick des für den Augenschein schon Verklärten erbauten, erbaute er sich an den christlichen Worten des Priors, die ihm dieser um die Zeit der Abenddämmerung tröstlich vorzusprechen pflegte. Einige der Brüder knieten dann betend und betrachtend dem Lager zur Seite, und am Fußende des Bettes stand der Prior, den Blick auf Ambrogio oder auf die sinkende Sonne, die ins Fenster grüßte, gerichtet.

Ein ahnungsvoller Vorwintertag versank hinter Pappeln und Maulbeerbäumen, als der Prior zu dem entrückt aufschauenden Ambrogio sprach:

»Wie recht hattest du doch, Bruder Ambrogio, die irdischen Dinge für nichts zu erachten; sie sind vergänglich; sie sind schon vergangen.

Und wie wohl tatest du doch daran, dir, als Bedrängnis dich noch treffen konnte, den großen Arzt für alle deine Gebresten zu rufen, der dich allein vor dem Tode bewahrt.

Siehe, wie hat Gott dich so sanft geführt, Bruder Ambrogio; er schenkte dir frühzeitig den Glauben als eine Wissenschaft des Herzens; so warst du denn glücklich und sonder Dialektik völlig überzeugt. Er verlieh dir aus Gnade den Gehorsam gegen die Erkenntnisse der Kirche, – ein Gut, das große Heilige erst im Abgrund der Verzweiflung ergreifen konnten, nachdem der Zusammenbruch ihrer Lehrgebäude sie zu dem Bekenntnis zwang: ›Niemals würde die Vernunft sich unterwerfen, wenn nicht sie selbst urteilte, daß Unterwerfung in göttlichen Dingen Notwendigkeit, Pflicht und Trost sei.‹«

Unter den in der Zelle knienden Mönchen befand sich auch Benjamin, der mit bewegter Seele die Worte seines Priors und die kampflose Feierlichkeit dieser Sterbestunde in sich aufnahm.

»So hast du denn, Bruder Ambrogio,« fuhr der Prior zu sprechen fort, »schon mit dem Anfang deines Lebens dessen Fortgang und Ausgang an Gott hingegeben; bisher trennte deine Leiblichkeit dich von dem äußersten Genuß der Vereinigung des Menschen mit seinem Schöpfer; nun aber bereitest du dich, den letzten Aufschwung zu nehmen, und, ach, wenn du auch wolltest, so wird deine unsterbliche Seele, deren Flügel schon das Tor der Ewigkeit streifen, nicht aufs neue in die sterbliche Hülle zurückkehren mögen; sie wird, mein Ambrogio, die da ist ein lauterer, gottförmiger Geist, nur im Schoße des dreieinigen Gottes Ruhe und Seligkeit finden können.«

Hiermit wandte Prior Balthasar sein Gesicht von dem untergehenden Gestirn zu dem sterbenden Mönch, und als er bemerkte, daß auch dessen Tag sich geneigt hatte, trat er an das Kopfende des Bettes und drückte Ambrogio liebevoll die Augen zu.

*

Als die Brüder von Voghera den hageren Leichnam der Erde zurückgaben und die ersten Schollen auf das bedeckende Leintuch niederfielen, riß Benjamins Geduld, die er während Ambrogios Krankheit wie ein Netz um sein ungestümes Herz gesponnen hatte, mitten entzwei, und gebieterisch forderte er Felice auf, sich unverzüglich zur Romreise zu rüsten.

So väterlich dann der Prior seine geistlichen Söhne entließ, so unbrüderlich wanderten Felice und Benjamin miteinander.

Während Felice den Schritt mit Lässigkeit verlangsamte und von Herberge zu Herberge neue Gründe zum Aufschub fand, kostete Benjamin die Pein des innerlich Getriebnen, der mit einem Trägen an den gleichen Karren gespannt ist, und erinnerte sich oft mit Rührung an Pater Juans unveränderliche Freundlichkeit auf der Wanderschaft von Wittenberg nach Genf, auf welcher er der Zögernde, der andere der Strebende gewesen war. Aber wie konnte Benjamin seinem Gefährten die gleiche Sanftmut beweisen, die Pater Juan ihm selbst gespendet hatte? Tat er doch nicht wie jener einen begreifenden und duldenden Blick in die stumme Seele des Begleiters, und wollte er doch Anteil an der Kirche und ihren Verdiensten erst erringen, bevor er deren zarteste Tugenden: Geduld, Gütigkeit, Freundlichkeit auch gegen Widerstrebende auszuüben vermochte.

Blind für ihre Wonnen durchzogen die beiden Wanderer Italiens selige Gefilde, – Felice mit dem verzweifelten Entschluß, sich inmitten von Glanz und Schimmer durch Abkehr von der Welt und unverwandtes Hinblicken auf das Gesetz Christi die Frömmigkeit des Herzens zu bewahren; Benjamin mit dem einen täglich aufs neue unsichtbaren Ziel vor Augen: Rom, mit der Musik der Worte in den begierigen Ohren: ego te absolvo.

Wie sie denn beide nur nach dem Leibe in der gegenwärtigen Welt wohnten, der Geist aber in Fernen schweifte, mieden sie unterwegs die großen Städte, die durchaus die Aufmerksamkeit an sich reißen, und umschlichen, wo sie sich in ihre Straße legten, ängstlich die unscheinbar verrinnende Peripherie, deren dürftigste Herberge sie wählten. In diesen armseligen Quartieren, die in aller ihrer Niedrigkeit doch heimlich an Pracht und Erhabenheit grenzten, war es Felice, der vor Tagesgrauen zum Aufbruch mahnte, während Benjamin, minder von glanzvollen Vorstellungen beunruhigt, die städtischen wie die feldeinsamen Nachtlager ohne Unterschied als lästige Versäumnisse empfand.

Hätte er in Felice einen frischeren Gesellen gefunden, der mit ihm in Eilmärschen das italienische Land genommen haben würde, bis die Müdigkeit der Glieder den heißen Drang des Wesens kühlte, dann – nach tatenreichen Tagen – hätten die Nächte schweren, traumlosen Schlaf beschert! Aber auf schlecht genützte Tage folgten fieberhafte Nächte, in denen Benjamin oftmals zum Stein des heiligen Hieronymus griff und sich wütend die nackte Brust zerriß, um durch leiblichen Schmerz den Affekt der drängenden Seele zu überbieten.

Dann entsetzte sich Felice und glaubte, den Sünder plage sein Dämon, das blonde Weib jenseits der Alpen, und versuche den reuigen Rompilger mit Satanskünsten; Benjamin indessen war sich bewußt, daß das Feuer, das ihn innerlich brannte, von keiner süßen Frauenliebe würde gelöscht werden können, daß es ihn vielmehr unter Qualen verzehren müßte, wenn nicht der Tau des Himmels darauf niederfiele.

Über Felices Rückhaltung und Benjamins Ungeduld war die Osterwoche des Jahres 1555 herangekommen, als die Mönche von Voghera von der Höhe der via Cassia Rom zu ihren Füßen liegen sahen.

Zum erstenmal auf langer Reise war es Benjamin, der innehielt. Mit dem Anblick der gnadenreichen Stadt verwandelte sich seine Angst und Unrast in lauter glücklich machende Stille; ihm war, als könne ihm niemand mehr entreißen, was zu besitzen er begehrte; tief aufatmend lagerte er sich am Rande der Straße hin, um die Erde, die Rom trägt, und den Himmel, der es überspannt, zu beschauen.

Da schlug auch Felice zum erstenmal seit Jahren selbstgewählter Blindheit die Augen zur Schönheit der Welt auf, und auch ihm verwandelte der Anblick Roms das Herz und die Zunge; er, der in sich Gekehrte, Menschen Abgewandte, setzte sich vertraulich zu Benjamin ins Gras, deutete mit der Hand über die Campagna zur Linken und sagte lebhaft zu Benjamin:

»Sieh, Bruder, wie der Dunst des Frühlings farbenverwirrend über dem Tiber liegt; ist es Blau, ist es Weiß, ist es Silber, was so sanft über die Böschungen dahinzieht und über jene Pinie, die uns den Himmel in zwei Hälften schneidet? Ach, wer das mischen könnte, Benjamin, wer die Geheimnisse der großen Meister teilen dürfte …«

Wiewohl Benjamins Seele zur Stunde weit andere Dinge bewegten, als die Felice ausdrückte, so erinnerte er sich doch zu deutlich der Freude am Formalen, die er selbst bei seinen Reden über katholischen und lutherischen Glauben gehabt, und die gar die Wichtigkeit des Inhalts verdrängt hatte, erinnerte er sich bei Felices Worten gern der eignen Jugend, und antwortete freundlich:

»Prior Balthasar freut sich aller Gaben, die wir von Gott empfangen haben; was hindert dich, in Rom bei einem Meister in die Lehre zu gehen?«

»Ja, ich will,« antwortete Felice strahlend, sprang auf und breitete die Arme gegen Rom aus; auch wollte er Benjamin veranlassen, keine weitere Minute zu säumen, der aber zog Felice nochmals zu sich nieder und sagte:

»Verweile mit mir, Felice; es erquickt mich, die Stätte vor mir zu sehen, von der sich Ströme der Vergebung zu allen Geschlechtern auf Erden ergießen, und wo auch meine Schuld abgewaschen werden soll.«

Benjamin stockte; dann hob er den Blick zu dem überragenden Vatikan und fuhr fort:

»Habe ich recht, hinter jener Stadt von Palästen den Felsen zu suchen, der aus der Ewigkeit in die Zeit hineinragt?«

»Bruder,« entgegnete Felice, so hell von Begeisterung erglühend, daß es nicht der kirchliche Fels, sondern irgendein Ideal seiner Träume sein mußte, das ihm die Flamme ins Angesicht trieb, »Bruder, die zukünftigen Geschlechter, die von Morgen oder Abend, von Mittag oder Mitternacht in den Gesichtskreis Roms eintreten, werden nicht zweifeln, wo sie das Grab des heiligen Petrus zu suchen haben; denn über ihm und in der Höhe des Himmels, die noch kein Baumeister erreichte, schwebt frei und doch sicher getragen, – gewaltig und doch von engelhafter Grazie, – schwebt in den Maßen der Vollkommenheit die Kuppel …«

»Du träumst, Felice,« sagte Benjamin dazwischen.

»Ja, ich träume,« antwortete Felice, »und wenn ich erwache, so ist es nichts; aber Michel Angelo träumt, und seine Träume adeln das Jahrhundert!«

Felice wurde nicht müde, Benjamin von den Plänen des Meisters zur Vollendung der Peterskirche zu erzählen, und brüderlich einträchtig saßen die beiden Pilger in der Betrachtung Roms, bis die Sonne hinter dem Janikulus verschwand, und ein kühler Hauch die hereinbrechende Nacht anzeigte.

Fröstelnd standen sie auf und beschleunigten nunmehr den Abstieg.

Als sie, schon völlig von Dunkelheit verschlungen, der Vigna di Papa Giulio entgegenschritten, sahen sie von weitem die Fenster des linken Flügels im Kasino milde erleuchtet, und fanden – nahe herzugekommen – einen Schweizer am Portal des Gartens damit beschäftigt, zwei Pechfackeln zu entzünden.

Schon war Felice, der die Villa nicht kannte, im Begriff, nach ihrem Eigentümer, der zur Nachtzeit über einen päpstlichen Diener verfügte, zu fragen, als von der gegenüberliegenden Straßenmauer her eine menschliche Gestalt aus der Finsternis in den Schein der Fackeln trat und die glühenden Augen auf die Pilger heftete.

Felice, von dem wilden Ausdruck des Jünglings betroffen, wollte auf die Antwort seiner nur innerlich gesprochenen Frage verzichten und schritt kräftiger aus, um die Nachtgestalt hinter sich zu lassen; die aber wich nicht von der Seite der Brüder und flüsterte dicht bei Benjamins Ohr:

»Wißt Ihr, daß ein sterbender Papst hinter jenen Fenstern schlummert?«

Benjamin blieb stehen und sah dem Unbekannten in das fahle Gesicht, das wie verwesendes Holz im Dunkel leuchtete.

»Der Papst im Sterben?« wiederholte Benjamin erschrocken, und auch Felice drängte nunmehr den Jüngling, zu reden, was er wisse.

Dieser sagte: »Freuet euch mit mir, Brüder in Christo, – Gott wird den edlen Leib seiner geliebten Braut von dem unwürdigen Haupte befreien. Ehe der Mond wechselt, reißt der Tod dem lässigen Hirten Giulio terzo den Krummstab aus der schwammigen Hand, – ihr aber, katholische Christen, betet, betet, fastet, wachet und betet, daß kein anderer als der Erwählte Gottes, der Heilige, der da kommen wird, den Stab aufnehme.«

Felice entrüstete sich. Noch hatte er die Porta del Popolo nicht durchschritten, als schon irgendein Rasender ihn zwang, ebensosehr von der Ruhe des Gemütes wie von entzückenden Vorstellungen im Reich der Künste abzulassen und die Seele religiösen Leidenschaften zuzuwenden. Er erinnerte sich an die Prophezeiungen jenes verwachsenen Sterndeuters im Palast der Colonnas, – Prophezeiungen eines heiligen Papstes, die also nicht aufgehört hatten, im römischen Volke teils Heil, teils Unheil zu stiften; Unheil nannte er ohne Zögern das geringschätzige Urteil über das Oberhaupt der Christenheit im Munde eines Knaben.

»Wenn ihr Freunde der einigen Kirche seid,« begann der Fremde, dessen Rede von unangenehmen Zischlauten begleitet war, aufs neue, »so lade ich euch zu den Versammlungen der ›Felswächter‹, die allezeit vor Gott stehen und den Papst erbitten, der die Griechen und Ketzer zur Rückkehr zwingen wird, – nicht durch Feuer und Schwert, sondern durch den Glanz seines Wandels.

Dieser Julius, der die Gastmähler mit Zoten würzt, kann wohl seine Freunde erröten, aber nicht seine Feinde erbleichen machen.

Brüder, ich heiße Benedetto Accolti. Gott hat mir Verborgnes offenbart und die Sorge um den heiligen Papst auf meine begnadete Seele gebunden; doch kann nicht einer allein den Felsen bewachen, und nicht eines einzigen Gebet Gott seinen Heiligen abgewinnen. Wollt ihr euch meinen und meiner Freunde Gebeten vereinigen, so erkennt ihr das Haus unserer Andacht an einem in die Tür geschnitzten Felsen, in der Gasse, die um den Inquisitionspalast führt.«

Die drei Wanderer hatten sich mittlerweile der Stadt genähert, aber ehe die ersten Lichter des Augustinerklosters von Santa Maria del Popolo sie beschien, hielt Benedetto inne, rief: »Wachet und betet, wenn Julius abgefahren und die Stunde des Herrn nahe ist!« und verschwand in der Richtung der päpstlichen Villa.

Als die Brüder von Voghera das Tor durchschritten, seufzte Felice unwillig: »Rom, Rom!« während Benjamin der bevorstehende Tod des Papstes, Accoltis Ideen und das eigne Schicksal im Herzen bewegten.

Nachdem sie vor Santa Maria sopra Minerva angekommen waren und Felice den Bruder Pförtner um Obdach gebeten hatte, führte dieser seine Ordensbrüder vor den neuen Prior, der seit dem Tode von Ambrogios Oheim – und nunmehr seit Jahresfrist – das Kloster regierte.

Es war ein leutseliger Herr, kunst- und menschenliebend, und vertrat die strenge, dominikanische Richtung nur, soweit es für einen Prior von Santa Maria sopra Minerva durchaus erforderlich war. Auch mied er in seinen Beziehungen zum heiligen Kollegium den Umgang mit dem finsteren Caraffa, dessen Ketzergerichte er nicht zu billigen vermochte; zugleich mit Caraffa entzog er sich unter immer neuen Ausflüchten den Nachforschungen des Kommissarius der Inquisition Michele Ghislieri; denn strenger als Caraffa war sein Beichtvater Fra Michele, und um das unerbittlicher, was er heiliger und erhabner war als jener.

Der Prior war ein Freund des heitren Kardinals Medici, der es liebte, sich mit Künstlern und Kavalieren zu umgeben, und dem er auch die Brüder von Voghera zuschickte, als er Felices Talente und Neigungen entdeckt hatte.

Während Julius III. in seinem Landhaus zu Tode krank lag, feierte man in Rom die Osterwoche. Noch hatte Benjamin, erschreckt durch die Charakterisierung des Priors, Michele Ghislieri nicht aufgesucht, sich vielmehr, als sei er als ein Schuldloser zur ewigen Stadt gepilgert, Felices Führung und der des freundlichen Kardinals überlassen. Da stand er am Abend des Gründonnerstages in der Sixtinischen Kapelle an die linke Wand unter dem von Signorelli gemalten Berg Nebo gelehnt, und wurde von Gott und der Kirche auf die lieblichste und zugleich erschütterndste Weise gelockt, zu vollenden, was er begonnen, sich für Leben und Sterben auszuliefern.

Als die Lamentationen beendet waren, während deren Benjamin voll Scheu und Ehrfurcht den gewaltigen Christus über dem Altar betrachtet hatte, den Christus, der da richtet die Lebendigen und die Toten, fühlte er plötzlich seine Seele von der Bindung des Körpers befreit und auf weiße Wolken gehoben, die sie mitten in die Harmonie der Sphären hineintrugen:

Das Miserere schwebte, in einer neuen, sechsstimmigen Komposition Palestrinas und von den päpstlichen Sängern gesungen, auf großen Fittichen feierlich über den Köpfen der Menge.

Benjamin, dem in den Ohren noch die wittenbergischen Gemeindestimmen nachklingen mochten, in deren rauhem Chore er sonst »Ein feste Burg ist unser Gott« mitgesungen hatte, glaubte den Chor der Engel und Erzengel zu hören, der Gott um Erbarmen für das Menschengeschlecht anfleht: miserere, – miserere.

Er war verzückt, und sah und hörte, was allen Zungen unaussprechlich ist; es war formlos und weiselos und hatte doch aller Formen und Weisen freudenreichste Lust in sich. Das Herz war gierig und doch gesättigt, das Gemüt wohlgestimmt; denn ihm war Wünschen gestillt und Begehren vergangen. Benjamin gewann seiner selbst und aller Dinge ein Vergessen. War es Tag oder Nacht? Es war des ewigen Lebens eine ausbrechende Süßigkeit, also daß er bei sich sprach: »Ist dies nicht Himmelreich, so weiß ich nicht, was Himmelreich ist.«

Als er im Zwielicht der Abenddämmerung die Kapelle verließ, blieb doch, wiewohl er irdischerweise wandelte, das himmlische Wunder in seiner Seele zurück, und mit ihm die Sehnsucht, in Gott einzukehren.

Die Nacht verbrachte er in Schlummer und Träumen und schritt in der Frühe des Morgens mit süßem Getön in der Seele zu Michele Ghislieri.

Benjamin fand, wie der Prior es ihm verheißen hatte, Ghislieris Haus wie ein Kloster hergerichtet; kein Schmuck bekleidete die kahlen Wände, kein gepolsterter Sessel lud zu bescheidenem Behagen ein. Ein einziger Diener, der wie ein Mönch arm, keusch und gehorsam leben mußte, verrichtete die häuslichen Geschäfte, öffnete auch Benjamin, als er mit dem eisernen Ring anklopfte, die Tür und hieß ihn im Vorzimmer geduldig warten, – denn sein Herr bete.

Eine Stunde tiefer Stille verging. Selbst der Gesang der Vögel schien in dieses Hauses Umkreis verstummen zu müssen, aus Ehrfurcht vor dem heiligmäßigen Beter. Nur ein Seufzer, ein unterdrücktes Schluchzen drang hin und wieder aus Ghislieris Kammer zu Benjamin hinüber.

Als endlich Fra Michele in die Tür trat, trocknete er sich den Schweiß von der Stirn und die Tränen aus den Augen und bedeutete – wie nach übergroßer Anstrengung nicht der Sprache mächtig – durch eine Geste der Hand den Harrenden, zu ihm hereinzukommen. Benjamin aber, überwältigt von Ghislieris Inbrunst, stürzte ihm noch auf der Schwelle zu Füßen und stammelte:

»Hier bin ich!«

Michele legte seine Hand auf Benjamins Scheitel, sah, während Tränen aufs neue aus seinen Augen stürzten, zum Himmel und seufzte aus bewegter Brust.

»Ich wußte, daß Gott mich erhört hatte!« flüsterte er.

Danach nahm er Benjamin mit sich in sein Arbeitszimmer, setzte sich, hieß auch Benjamin sitzen und fragte ihn mit unwiderstehlicher Milde in dem strengen, abgezehrten Gesicht:

»Hast du viel Liebes in Deutschland zurücklassen müssen?«

Als Benjamin, durch die Güte Micheles verwirrt, keine Antwort fand, fuhr dieser fort:

»So wirst du dich nun mit Gott entschädigen, mein Sohn!«

Bei diesen Worten gedachte Benjamin des Vorgeschmacks himmlischer Seligkeit, den er in der Sixtinischen Kapelle gekostet hatte, und auch Michele schloß die Augen, um für einen Augenblick Gott anzuschauen. Dann führte er Benjamin freundlich zur Erde zurück, indem er ihm erzählte:

»Nachdem Prior Balthasar mir durch eine besondere Sendung das Heil deiner Seele befohlen hatte, habe ich jahraus, jahrein darum gerungen, – nicht, wie ich dir bekennen muß, – mit der Lust der Hoffnung, sondern mit Verzweiflung; denn wie sollte ein Abtrünniger sich von Wittenberg nach Rom kehren?

Da verwandelte Gott an einem Frühlingsmorgen meinen Kleinmut in Zuversicht. Während ich betete, wurde mein Herz leicht, meiner Seele wuchsen Flügel, – mein Gebet war aufgestiegen bis vor das Gehör Gottes. Als ich mich von den Knien aufhob, glaubte ich einen Boten an dich entsendet zu haben und erwartete dich von Stund an.«

»Herr, Ihr hattet einen Boten an mich entsendet!« rief Benjamin, »Pater Juan hat mich in Eurem Geist und Namen aus Wittenberg hinausgeführt.«

Michele Ghislieri senkte gedankenschwer das Haupt, indessen Benjamins Geständnisse, durch das erste entbunden, unaufhaltsam von den Lippen flossen.

Plötzlich aber unterbrach ein dröhnendes Glockengeläute den Austausch der Rede in den Straßen Roms und in den Palästen, bis hinein in ihre verschwiegensten Kammern, – ein Geläute, das dumpf und klagend einsetzte, und darein sich bald neue und immer neue Glocken mit schallendem Munde mischten, bis auch die letzte Glocke Roms Klang und Stimme hergegeben hatte.

Ghislieri stieß das Fenster auf und ließ den mächtigen Strom der Töne über sich hinwegfluten.

»Was bedeutet das?« fragte Benjamin furchtsam.

»Es bedeutet,« antwortete Michele, »daß in dieser Stunde die Christenheit ihren Vater verloren hat.«

Durch den Tod des Papstes war Benjamin genötigt, seine Sehnsucht nach Absolution noch ein letztes Mal mit Geduld zu beschwichtigen und den Gang der Weltgeschichte abzuwarten, bevor er hoffen durfte, in den Frieden, den er suchte, einzugehn.

In dieser Zeit erinnerte er sich eines Tages der Begegnung mit Benedetto Accolti, und dessen Einladung, an den Gebeten der »Felswächter« für die Wahl eines Papstes, der ein Heiliger wäre, teilzunehmen. Auch forderte er Felice auf, ihn dahin zu begleiten; dieser aber wandelte bereits selig in der Gunst des Kardinals Medici, der Gefallen an seinem zierlichen Talent sowohl als an seinem bescheidenen Wesen gefunden hatte und entschlossen war, ihn für seine Dienste heranbilden zu lassen; die großen Meister waren dem Kardinal ihres unleidlichen Dünkels halber wenig genehm.

Felice also fühlte sich der Erfüllung seiner kühnsten Träume greifbar nahe und lehnte Benjamins Zumutung, das Gemüt in überhitzte, vielleicht sogar frevelhafte Exaltationen zu stürzen, mit Widerwillen ab. Als ein guter Katholik sprach er täglich sein Gebet um einen gottgefälligen Oberhirten, schlug das Kreuz dazu und riet Benjamin ein Gleiches zu tun und sich damit zu begnügen.

Benjamin dagegen war begierig, alle Frömmigkeit Roms, wo auch immer sie sich ihm darbot, in sich aufzunehmen.

Um die Stunde des Aveläutens stand er vor dem Inquisitionspalast und betrachtete die trotzig drohende Feste mit beklommenen Empfindungen. Er, der Reuige, durfte im Lichte der Freiheit atmen, aber hinter diesen Gittern saßen die Verstockten, hinter jenen stöhnte ein Gefolterter, ächzte ein vielleicht durch Michele Ghislieri Inquirierter und Gerichteter seinem Armsündertode entgegen.

Schaudernd wandte sich Benjamin vom Platz in die Gasse und suchte das mit dem Felsen bezeichnete Haus. Auf sein Klopfen öffnete Benedetto vorsichtig einen Spalt und fragte nach dem Begehr.

»Es war Nacht, als du mich vor der Porta del Popolo zu deinen Gebeten ludest«, antwortete Benjamin, von der heimlichen Art betroffen, und betroffen auch von dem unsteten Blick und den welken, greisenhaften Zügen seines Gastgebers, der dennoch ein Jüngling war. Doch belebte sich bald Benedettos Gesicht, die Augen sammelten sich mit Glanz und Freude auf den neuen Ankömmling, die Tür wurde kräftig aufgestoßen, und Benedetto führte Benjamin durch einen dunklen Gang in den »Betsaal«, der gleichfalls vom Außenlichte abgeschnitten war und den vier brennende Pechfackeln beleuchteten und erwärmten.

Als Benedetto mit dem Fremden eintrat, hoben sich sechs oder acht blasse Knabengesichter in die Höhe, während die Lippen nicht aufhörten zu murmeln und die Knie fest am Erdboden hafteten.

Benjamins Blicke schweiften von einem zum anderen und erkannten in allen die gleiche Überschwänglichkeit des Ausdrucks, ohne zu unterscheiden, ob der Finger Gottes oder irgendein inneres Gebresten ihnen das seltsame Siegel auf die jungen Stirnen gedrückt hatte.

Indem er noch die »Gemeinde« betrachtete, wurden seine Augen von zwei fremden, adlerscharfen angezogen, die einem verwachsenen Männchen zugehörten, das seitlich in einem prunkhaften Sessel thronte und von da aus mit aufrechter Würde die Versammlung beherrschte. Wäre Felice zugegen gewesen, er würde in ihm Don Niccolò, den Sterndeuter, erkannt und damit begriffen haben, daß, mochte auch Accolti Seele, Glut und Rede leihen, doch jener der heimliche Erzeuger dieser Heiligenbeschwörung war.

Benedetto Accolti bestieg, nachdem er Benjamin einen Betschemel angewiesen hatte, die Rednerbühne, warf sich dort mit großer Gebärde auf die Knie und begann mit geschlossenen Augen und erhobenen Händen zu beten:

»Herr, wer sind wir, daß wir vor dich kommen dürfen mit unsren Klagen, daß wir unser Elend ausbreiten dürfen vor deinem Angesicht! Der du alle Dinge kennst und unsre Schmach mit ihnen, willst dennoch, daß wir unser Herz ängstigen, unsern Mund auftun und unsre Stimme mit Flehn zu dir erheben:

Siehe, Herr, sie sind versammelt, die der Christenheit den Vater, die deiner Herde den Hirten bescheren sollen. Zeichne du selbst den Heiligen unter ihnen, daß er gewählt aus ihrer Mitte in die Helle des Tages hervortrete.

Umschließt aber ein ferner Palast, eine einsame Hütte, die Höhle eines verborgnen Felsens deinen Heiligen und Erwählten, so sende einen Engel nieder, daß er die Väter belehre. Herr, gedenke deiner Verheißungen, die du mir geoffenbart hast; die Zeit ist gekommen, in der Griechen und Türken, Heiden und Ketzer von ihrer Blindheit befreit werden sollen: Der Heiligenschein, der vom Stuhle Petri ausstrahlt, wird ihre Nacht erhellen, wird die Verirrten locken, zu ihrem Vater zurückzukehren.

Heiliger Petrus, bitte für uns, heiliger Petrus, bitte für uns, heiliger Petrus, bitte für uns!«

Als Benedetto an dieser Stelle das Gebet unterbrach, hob sich Don Niccolò in seinem Sessel in die Höhe und sprach, wie er pflegte, ein wenig heiser, aber durchdringend:

»Brüder, irgendein Brausen wie das des Meeres oder das einer bewegten Volksmenge ist vom Petersplatz zu meinen Ohren gedrungen. Gehe einer hinaus und sehe zu, ob sich, während wir beteten, das Wunder vollzogen hat.«

Ein schöner, schwärmerischer Jüngling, der Don Niccolò zunächst kniete, erhob sich und verließ den Betsaal; schon nach wenigen Augenblicken kehrte er mit geröteten Wangen und wogender Brust zurück.

Strahlend verkündete er:

Habemus papam!

Sofort sah sich der Bringer der Neuigkeit von einer Schar Atemloser umringt:

»Wer ist es? Wer ist es!?«

Nur Don Niccolò blieb an seinem Platze, auf die Sessellehnen gestützt, stehen, sah aber unverwandt, und blaß wie der Tod dem Jüngling auf die Lippen.

»Es ist der Kardinal Cervini«, sagte dieser.

Don Niccolò ließ sich in den Stuhl zurückfallen und zog aus seiner Tasche eine zusammengefaltete Sternkarte hervor, die er selbst nach seinen Entdeckungen gefertigt hatte und die er jetzt vor sich auf dem Schoße ausbreitete und eifrig studierte.

Benedetto Accolti näherte sich ihm und sagte bescheiden, nachdem er lange gewartet hatte:

»Der Cardinal Cervini ist ein edler, vielleicht ein heiliger Mann; ist er es, der da kommen sollte?«

Don Niccolò hob den Kopf, hielt den Finger auf die Sphäre der Venus und antwortete ohne Zweifel:

»Er ist es nicht. Er leuchtet milde wie der Abendstern, aber die Erde ist seines himmlischen Glanzes unwürdig. Indem sie zu ihm aufblickt, entschwebt er in die Sphäre der reinen Geister!«

»Ein Heiliger, und dennoch nicht für uns?« stammelte Accolti entsetzt.

Niccolò faltete die Sternkarte wieder zusammen, verbarg sie in seiner Brusttasche, stand auf und antwortete:

»Rot wie das Licht des Jupiter und wie die Farbe von Blut und Feuer wird der Heiligenschein glänzen, dem die Türken nicht widerstehen und die Ketzer nicht widersprechen können!«

Damit schritt der kleine Prophet der Gemeinde der Felswächter sowie dem Neuling Benjamin voraus auf die Gasse und durch die Menge der knienden Menschen bis vor die ersten Treppenstufen der Peterskirche, wo sie in grenzenloser Devotion herab von der Höhe der Loggia den Segen Marcellus II. empfingen.

Don Niccolò, der Sterndeuter, hatte wahr gesprochen. Der neue Papst hatte eben erst sein Pontifikat mit segensreichen Erlässen und nur im Himmel gezählten guten Werken begonnen, als der Tod seine schöne Seele zur Ewigkeit befreite.

Bestürzt sahen sich die Genossen seiner Zeit aufs neue ihres Vaters und Führers beraubt, und aufs neue beteten alle Christgläubigen um eine gute Wahl, während die Kardinäle sich im Vatikan verbargen.

Auch die Felswächter fanden sich wieder allabendlich in ihrem Betsaal zusammen, wo sie mit glühender Hingabe den Heiligen mit dem blutroten Scheine vom Himmel erflehten.

Benjamin besuchte sie von Zeit zu Zeit, teils durch die Katholizität ihres Strebens angezogen, teils durch die Maßlosigkeit ihrer Geste abgestoßen.

Als die Wahl des Kardinals Caraffa bekannt geworden war, saß Don Niccolò wie wenige Wochen früher bei der Verkündigung Marcellus II. tief über seiner Sternkarte gebeugt und war wie damals von Benjamin und der Gemeinde in um so fieberhafterer Spannung umstanden, je länger und scheinbar ratloser er über der Konstellation des neuen Papstes brütete. Der Schweiß brach dem unglücklichen Propheten aus den Poren, sein Finger fuhr planlos von einer Sphäre in die andere, bis sich Niccolò erschöpft im Sessel zurücklehnte und – sei es um zu ruhen, sei es, um Accoltis wild fragende Blicke für die Dauer eines tiefen Atemzuges los zu sein – die Augen schloß. Aber Benedettos Begierde, zu erfahren, ob Paul IV. der Rechte sei, der Gesandte des Herrn in der Fülle der Zeit, war zu groß, als daß er noch durch Gebärden gefragt hätte, nachdem Don Niccolò sich einfältig – listig den Eindrücken des Gesichtes entzogen hatte. Sah er nicht länger Benedettos Qual, so sollte er sie denn hören:

»Der Cardinal Caraffa ist ein heiliger Mann,« schrie Accolti.

Don Niccolò öffnete die Augen zur Hälfte und antwortete mit matter Stimme:

»Caraffa ist ein heiliger Mann, und sein Stern leuchtet rot wie das Licht des Jupiter und wie die Farbe von Blut und Feuer –«

»Barmherziger Gott, er ist der Rechte!« schluchzte Accolti und sank in die Knie.

Aber Niccolò wehrte mit zitternden Händen und fuhr zu sprechen fort:

»Irgendein besudelter Teufel reißt Caraffa, dem Papste, den Strahlenkranz der Heiligkeit, der Caraffa, den Cardinal, düster aber lauter umlohte, vom Haupt.

Sein Stern irrt ab von der glanzvollen Bahn, auf der er bis über das Grab Petri gestiegen ist.

Sein Stern sinkt in Dampf und Chaos, denn nicht das Blut gerechter Kriege gegen Türken oder Ketzer färbt sein Licht, sondern – o Schmach und Ungerechtigkeit – das Blut seiner Söhne!«

Mit hängenden Köpfen, ein jeder die wiederum vernichtete Hoffnung im Herzen begrabend, schlichen die Felswächter auf ihre Plätze im Betsaal; Benjamin indessen fühlte sich von einer plötzlichen Sehnsucht nach Tageslicht und Wirklichkeit ergriffen, tastete eilig durch den dunklen Hausflur, und erging sich auf dem Petersplatz und im warmen Schein der Maisonne.

Dort begann er sein eigenes Schicksal, das wie das Schicksal der gesamten Christenheit auf Erden nunmehr in Caraffas Hände gegeben war, zu überdenken.

Bereit, jede Buße, die der Papst ihm auferlegen würde, demütig zu erfüllen, bebte Benjamin doch vor nichts so heftig zurück als vor dem Urteil, dem nach der Regel die entlaufenen Mönche verfielen: lebenslängliche Gefangenschaft in den Mauern des Klosters. Lieber wollte er die Füße blutig pilgern, den Rücken zergeißeln, fasten bis zur Ohnmacht und wachen bis zur Qual, – aber in der Hoffnung wollte er leiden, daß er noch einmal im Leben wirken dürfte, Zeugnis ablegen und Taten vollbringen für die katholische Wahrheit, die er verleugnet und verraten hatte.

Benjamin beschloß, Michele Ghislieri sein Inneres zu offenbaren; dieser, der Vertraute des neuen Papstes, der ihn zur Strenge beraten durfte, würde auch Gnade von ihm erwirken, wenn er darum flehte.

Mit der Wahl Pauls IV. und durch die Fürsprache Micheles neigte sich Benjamins Wartezeit bald ihrem Ende zu, und der Tag kam, an dem er in die Lorenzokapelle vor den Papst beschieden wurde; Caraffa, der alte Kardinal des heiligen Offiziums, ließ es sich auch als Papst nicht nehmen, selbst das Bekenntnis eines heimkehrenden Ketzers anzuhören.

Als Benjamin eintrat, stand der greise Papst gesenkten Hauptes am Altar, das er aber sogleich mit Schwung aufhob und Blicke, in denen das Feuer der Jugend sprühte, auf den Bußfertigen ausgehen ließ.

Wie ein König in seiner Erhabenheit, wie ein Prophet in der Ehrfurcht seines Alters und wie ein Priester, wie ein rechter pontifex maximus in seiner Feierlichkeit war Paul IV. anzusehn. Er erschien Benjamin als die heilige Macht selber, gegen die er sich empört und die hier Gestalt angenommen hatte.

Der letzte Wunsch und Eigenwille entfloh aus seiner Seele. Während er mit stotternder Zunge seine Beichte ablegte, sprach das Herz in lauten Schlägen:

»Mache mich zum armseligsten Gefangenen meines Klosters, Vater der Christenheit, nur laß mich teilhaben am Reiche Gottes auf Erden!«

Als der Papst ihm eine Wallfahrt nach San Jago di Compostella auferlegte mit nachmaliger zehnjähriger Klosterhaft, schien ihm die Gnade zu groß, die Milde über die Maßen.

Demütig küßte er den Saum des weißen Papstgewandes, das vor seinen tränenfeuchten Augen wie das Meer der göttlichen Vergebung schimmerte, und empfing den Nachlaß seiner Sünden.

Schon am nächsten Morgen nahm Benjamin Urlaub von Michele Ghislieri, Urlaub von dem freundlichen Prior von Santa Maria sopra Minerva sowie auch von Felice, in dem er den glücklichsten Sterblichen unter der Sonne zurückließ.

Wie er so losgebunden von der Schwere der Vergangenheit und immer im Tempo des eignen Herzschlages nordwärts wanderte, brachte er – wiewohl jetzt die Sonne sengte, wo sie im Winter und Vorfrühling sanft gewärmt hatte – die Städte und Dörfer Italiens schneller hinter sich als vormals in Felices Begleitung.

Seine Weggesellen auf der Pilgerfahrt waren ferne Erinnerungen – fern nicht durch die Zeit, wohl aber durch die stachelüberwindenden Ereignisse und durch die Stimmung der Seele, – waren feierliche Bilder aus den Kirchen Roms, waren endlich unruhige Vorstellungen, die der Klärung bedurften und die sich bei Tage als Mißvergnügen, bei Nacht als Versuchung einfanden.

Durch die Gnade Gottes oder durch die Härte der Buße vor fleischlichen Versuchungen bewahrt, durch seine vollzogne Konversion der Qual einer äußeren Entscheidung überhoben, lernte er jetzt die Notwendigkeit begreifen, sich alle Tage aufs neue mit dem ersten Aveläuten nach dem Geist und dem Herzen zu entscheiden und der geistlichen Versuchungen täglich aufs neue im Gebet Herr zu werden.

Benjamin bemerkte zuerst mit Verwunderung und dann mit Seufzen, daß er auch nach der bis zur himmlischen Seligkeit deutlich empfundenen Wiedergeburt auf der Erde verblieben war.

Und eben die Süßigkeit des Gefühls, die in lichten Stunden seine Wonne war, wurde in dunklen seine Versuchung. Schloß er die Augen, und stieg, von wunderbarem Gesang getragen, von Licht und Farben übergossen, von Marmorbildern edel umrahmt, der Weihrauch der Anbetung vor seiner Seele auf, und glühte sie inbrünstig der keuschen Hostie im Golde der Monstranz entgegen, so hörten plötzlich seine Ohren Bibelworte, die Calvins schmale Lippen sprachen und die in Genfs schmucklosen, nur in strenge Einfachheit gekleideten Kirchen widerhallten: »Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten!«

Dann riß Benjamin angstvoll die Augen auf und stöhnte aus Herzensgrunde über die Schwere des furchtbaren Buches, in dem Gott sich den Menschen geoffenbart hatte.

Als er die Pyrenäen durchschritt, und der nämliche Wind, der über den Montsalvatsch dahinfährt, auch seine Stirne umkühlte, brachte ein Traumgesicht seiner Seele Linderung.

Er stand auf dem Kalvarienberge, der indessen einem jener kahlen, eisgrauen Riesen glich, an denen vorbei sein Paß ihn am Tage führte und über deren flachen Gipfeln die Adler ruhevoll kreisten.

Da hing, während der Himmel in schwermütigem Lichte trauerte, der Gottmensch am Kreuze, und, wiewohl er schon gestorben war, denn der Kriegsknecht öffnete eben seine Seite, – blickte er doch mit Heilandsaugen auf die ungleichen Gestalten nieder, die sich ihm näherten, um sein heiliges Blut aufzufangen.

Ein glänzender, in Stahl gekleideter Ritter, dem vom Haupte der Helmbusch wehte und dessen wallender, schön gestickter Mantel von zwei Knappen getragen wurde, – der aber die Stirne in Demut senkte, und dem nur Schauer der Ehrfurcht die beklommne Brust aufhoben, trat zögernd zum Kreuz. In seinen Händen hielt er – in zitternden Händen, als fürchte er, das Kostbare, das er tragen sollte, könne ihn zu Boden drücken – eine Onyxschale, die aus einem lieblich schimmernden Stein gebildet war, und die auf Erden kein gleiches hatte.

Langsam hob der Ritter die Schale unter das rinnende Heilandsblut und schritt, als er es aufgefangen hatte, von den Knappen gefolgt, feierlich über den Kamm des Gebirges.

Inzwischen war auch ein Wanderer in schwarzem Talar unter das Kreuz getreten und hielt mit seiner freimütigen Stirn zugleich eine zinnerne Schale empor. Der Heiland in seiner unendlichen Güte ließ ihn nicht vergeblich zum lebendigen Quell seines Blutes kommen, achtete auch der dürftigen Schale nicht, sondern ergoß in sie wie in die kostbare von seinem wunderbaren Leiden und Sterben.

Als aber der schlichte Wanderer dem prunkenden Ritter böse Blicke nachsandte und danach vorwurfsvoll zum Heiland aufsah, lächelte der Erlöser der Welt und sagte entschuldigend: »Ich bin es nicht, der meine Ehre sucht, – ein anderer ist's, der sucht meine Ehre –«

Da ging der schlicht Gekleidete, von dem anderen, der des Heilands Ehre sucht, nicht Überschattete, hin und trug sein zinnernes Gefäß mit dem göttlichen Blute darin zur Erde, unter die Menschen, – und Benjamin – wenn der Traum ihn nicht hilflos gemacht hätte – wollte rufen und schreien, denn die Angst würgte ihn, unter allerlei menschlicher Hantierung möchte der kostbare Inhalt in der schmucklosen Schale verkannt, – für irdisch wie sein Behältnis genommen und mit fremden Inhalten untermischt werden, aber zu seiner Befreiung sah er aufwärts, wo die Onyxschale in den Wolken schwebte, und Ritter in stählernen Rüstungen bereitstanden, um sie zu verteidigen.

Als Benjamin bei Tagesanbruch im nächsten kleinen Gebirgsdorfe die Messe hörte – eine bescheidne Messe, der außer den Engeln des Himmels nur ein paar uralte Leute beiwohnten – blieben seine Augen in vollkommner Verklärung auf den heiligen Gral gerichtet. Sein Gemüt war leicht und fröhlich; denn der Grund, auf den er sich gestellt hatte, offenbarte sich als unverrückbar, das katholische Ideal als unveränderlich; er aber – Benjamin – schwur sich aufs neue, daß er sich dessen von nun an in jeder Anfechtung getrösten wollte.

Wirklich glich er bei seiner Ankunft vor San Jago mehr einem frohgemuten Wanderburschen als einem Pilger und Büßer, so daß die strengen Väter, die dort den Pfarrdienst verrichteten, sich erst seines Eifers und der Aufrichtigkeit seiner Reue vergewissern mußten, bevor sie ihn mit dem Segen Gottes entließen.

Somit hatte Benjamin den wie ihn dünkte leichteren Teil seiner Buße vollbracht und konnte nach Voghera zurückkehren, um dort in der Enge der Zelle und in der Ruhe in Gott still und fest zu werden; denn so mißmutig er zu Zeiten auf seiner Wanderschaft des nachfolgenden Jahrzehnts in Klostermauern gedacht hatte, so begriff er, in Voghera angekommen, doch bald, daß er eben dieser Abgeschlossenheit bedürfen würde, um die Früchte seiner Heimkehr reifen zu lassen.

Auch fiel die Freundlichkeit des Priors und die der Brüder wie Tau auf seine Seele, die nach Bruderschaft verlangte; die Brüder, die den Anblick des Sünders nicht hatten dulden wollen, reichten dem im Feuer der Buße Bewährten gern die Hand, ohne länger vor seiner Berührung zu erbeben; Prior Balthasar aber schloß den nun erst völlig wiedergeschenkten Sohn mit überströmender Liebe an sein Herz.

So genoß Benjamin das Glück des Friedens mit Gott und der Welt ungetrübt, genoß des Priors väterliche Zuneigung unbeneidet, und sah ohne Ungeduld, indem er die Zukunft für das ihre sorgen ließ, die gegenwärtigen Jahre in Saat und Ernte werden und vergehen.

Dennoch blieb der Wunsch in seiner Seele lebendig und wuchs in der Stille mit Benjamins Kraft und Treue zugleich, der Wunsch, eines Tages als Mann zu vollbringen, was der Jüngling unterlassen hatte, nämlich im Herzen Deutschlands und mit der ihm von Gott anvertrauten Gabe der Beredsamkeit den katholischen Glauben zu predigen, dafür zu leiden, oder – und das dachte Benjamin mit geschlossenen Augen und der Demut halber mit wehrender Geste – den Purpur des Blutes zu empfangen.

Als Benjamin im milden Schein der Öllampe und in der Lautlosigkeit eines sinkenden Abends solche Gespräche mit Prior Balthasar führte – von seiner zukünftigen Reise nach Deutschland, von seiner Predigt auf dem Marktplatz von Wittenberg über die Rechtfertigung des Menschen, fügte er lächelnd der Rede hinzu: » Predigen will ich, wenn nicht, wie ich bisweilen fürchten muß, meine Zunge über dem langen Schweigen schwer und stockend geworden ist, – aber Gott, der sie jetzt bindet, vermag sie nachmals, wenn es Seine Ehre gilt, auch wieder zu lösen.«

»Aber ich werde deine Füße binden, dann sieh du zu, was die lose Zunge ausrichtet!« erwiderte ungehalten der Prior, der durchaus nichts von einer deutschen Reise hören wollte. Aber Benjamin warf sich dem Prior zu Füßen und flehte:

»Vater, wenn Gott die Seelen derer von mir fordert, die ich ihm geraubt habe, – wie willst du, daß ich bestehn soll?«

Da strich Prior Balthasar seinem immer geliebten Sohn über das ergrauende Haar, seufzte, ergab sich darein und sagte:

»Ich weiß nicht, welche Seelen Gott dereinst von dir fordern wird; aber das weiß ich, daß er deine Seele von mir fordert. Weder meine noch des Provinzials Kühnheit wird groß genug sein, dich noch einmal ins feindliche Lager zu schicken. Diese Gnade erbitte dir in Rom. Der heilige Vater mag wissen, ob Deutschland rechte Weide für sein Schäflein ist.«

Und bei dieser ersten Entscheidung des Priors blieb es bis zum Ablauf der zehn eingezogenen Klosterjahre Benjamins.

So tief er mit Hilfe der Zeit und mit der der Liebe begriff, was Benjamin jetzt im Stande seiner Bekehrung und eben in diesem nach Wittenberg zog – hatte er selbst doch auch die Fahrt wagen müssen, um den Sohn zu rufen und zu locken, – so hielt er doch an seiner Forderung fest, daß der Papst seinen Segen zu dieser Unternehmung spenden müsse; nicht weil er sich feige der Verantwortung zu entziehen gedachte, sondern weil es die aufrichtige Überzeugung seines Herzens war, daß der Statthalter Christi im Gebet um Erleuchtung nicht vom Heiligen Geiste verlassen sein würde und also urteilen müßte, wie es Gott gefiel.

Als Benjamin im Spätsommer des Jahres 1565 von seinem geistlichen Vater Abschied nahm, entließ ihn der Prior mit dem zuversichtlichen Gefühl, daß diese Seele nun in Ewigkeit nicht mehr verloren gehen könne, – mochten die Glieder des Leibes innerhalb der schützenden Klostermauern von Voghera oder mitten in der Höhle des Drachen sich regen.

»Gehe hin in Frieden,« sagte er bewegt, und zog schnell die Türe seiner Prioratszelle hinter sich ins Schloß, um die aufquellende Rührung vor Benjamin zu verbergen.

Der stieg indessen trennungsschwer aber unbeirrt die Wendeltreppe herunter und begab sich auf den Weg nach Rom.

In Rom hatten zehn Jahre dieses und jenes verwandelt.

Paul IV. war nach einem unglücklichen und ungerechten Krieg gegen Spanien, zu dem er sich durch seinen Neffen Carlo Caraffa, der mehr ein beutegieriger Soldat als ein priesterlicher Kardinal war, hatte verleiten lassen, in Bitterkeit gestorben; die höchste Würde auf Erden, die bestimmt schien, sein langes, heiligmäßiges Leben zu bekrönen, konnte dem Greis noch am Rande des Grabes die große Seele mit Ehrgeiz und Habsucht verwirren.

Gehaßt von der römischen Bevölkerung, die seinen Feldzug hatte bezahlen müssen, war er im Schutze der Nacht zu Grabe getragen worden; man hatte seine Büste zerschlagen, seine Nepoten, die guten mit den schlimmen vertrieben und das Haus seines gefürchteten Kardinal Großinquisitors Michele Ghislieri geplündert.

Die strenge Richtung auf dem päpstlichen Stuhl hatte sich in Paul IV. als wenig fruchtbar für die Christenheit erwiesen, – was Wunder, wenn die neue Wahl auf einen umgänglicheren Herrn fiel, als es Caraffa gewesen war:

Cardinal Medici ging als Pius IV. aus dem Konklave hervor.

Somit war Benjamin der Weg zum Oberhaupte der Christenheit wie dazumal durch Ghislieri nunmehr durch Felice geebnet; denn Pius IV. hatte seine Neigung zu dem liebenswürdigen Mönch aus Voghera keineswegs gewechselt, verwandte vielmehr dessen Talente teils zum persönlichen Dienst, teils zum Schmuck des in den Vatikanischen Gärten aufgeführten Kasinos, das er fast wie einen Teil seiner Person betrachtete und liebte.

Felice hatte längst seine Gastzelle in Santa Maria sopra Minerva mit einer Kammer des Vatikans vertauschen müssen, um von früh bis spät und nicht selten auch bei Nacht zur Verfügung des Papstes und dessen Architekten Pirro Ligorio zu sein. Bei dieser unaufhörlichen menschlichen wie künstlerischen Dienstbarkeit hatten zwar Felices Kräfte nicht zu eigner Meisterschaft wachsen können, doch war jene offenbar der Bescheidenheit seiner Natur gemäß, denn kein Stachel reizte ihn zu kühneren Taten auf und vergällte ihm die anmutigen, die das Geschick ihm gönnte. Wenn er Genien und Grazien zu den Reliefs des Kasinos modellieren durfte, wenn er dem gutgelaunten Papst beim Nachtmahl die kostbare Schüssel reichte, so erschien ihm die ganze Welt als von Frieden und Schönheit übergossen, der Felsen Petri aber war der Hort der Musen mehr als der Frömmigkeit.

Wie sein Herr beruhigte er etwa aufsteigende Skrupel, ob die Christenheit von ihrem Vater nicht größere Heiligkeit bei geringerer Ästhetik verlangen könne damit, daß ja Carlo Borromeo, des Papstes frommer und gerechter Neffe, die zum Troste der Völker notwendige Erhabenheit im Vatikan repräsentiere, und daß zudem die Geschäfte mit den Fürsten, die Verhandlungen mit den Ketzern durch Pius IV. geschickter erledigt wurden als durch seinen unbeugsamen Vorgänger.

Nur die hochfliegenden Pläne des Papstes, die dieser zu Zeiten, wenn der Wein und die Süßigkeit der Nächte ihn erhitzten, entwickelte, – Pläne, wie er die ganze Christenheit zum Kriege gegen die Türken sammeln und ihr voran auf einem blütenweißen Hengste reiten werde, hatten Felice anfangs mit peinlichem Unbehagen erfüllt, bis er bemerkte, daß solchen Reden keine Taten folgten, daß sie vielmehr als ephemere, glänzende Dekorationen der rinnenden Stunde zu betrachten seien.

Als Benjamin mit klopfendem Herzen – denn er erinnerte sich des Augenblicks, als er in der Lorenzo-Kapelle vor Paul IV. gestanden hatte – Felice um Vermittlung einer Audienz beim Papste bat, antwortete Felice:

»Keine feierliche Audienz, Benjamin! Die haßt der heilige Vater wie das Gebaren des spanischen Gesandten. Aber wenn er, wie er in diesen gesegneten Herbsttagen pflegt, nach vollendetem Rosenkranz mit einigen Gelehrten und Freunden im Pavillon beim Becher Weines sitzt, werde ich dich vor ihn bringen, und deine Sache entscheidet sich von einem Schluck zum nächsten.«

So schritt Benjamin bei Anbruch der Nacht in Felices Begleitung durch die Vatikanischen Gärten, dem Kasino entgegen, – leichten Herzens, denn einen Papst, der zwischen den wichtigen Beratungen über die Wahl eines Marmors oder über den Verlauf eines Ornamentes gelegentlich die Völker regiert, brauchte man nicht zu fürchten; auch wuchs seine Zuversicht bis zur Gewißheit, als er die Treppen zu der kleinen vor den Innenhof des Kasinos gebauten Tempelhalle hinanstieg und des Papstes ansichtig wurde, der, wie Felice es verheißen hatte, dort auf einer steinernen Bank saß und mit Pirro Ligorio über die ästhetische Barbarei der Strenggesinnten spottete; die kleinen, lustigen Äuglein blitzten, der wohlgepflegte Bauch wackelte gemütlich, von Gelächter geschwungen, hin und her, und die Stimme meckerte nicht eben klangschön durch die abendliche Luft.

Felice näherte sich dem Papst mit einem flüchtigen Kniefall und sagte:

»Heiliger Vater, ein Mönch aus Voghera und Bruder meines Ordens begehrt von Eurer Heiligkeit eine Gnade!«

»Er rede, Felice, er rede!« antwortete der Papst und winkte den zurückstehenden Benjamin lebhaft zu sich heran.

Benjamin kniete nieder und trug seine, wie ihn dünkte, fromme und darum gewißlich zu gewährende Bitte, eine Missionsreise nach Deutschland unternehmen zu dürfen, dem aufhorchenden Papste ohne Scheu vor.

Um so bestürzter sprang er auf seine Füße, als er Pius IV. mit großer Entschiedenheit antworten hörte:

»Keineswegs, mein Sohn. Das kann nicht sein. Wir brauchen den Frieden. Wie siehst du uns leben und regieren? Die Ketzer in ihren Ländern verfolgen? Die Staaten untereinander entzweien? Mit nichten! Das Konzil ist höchst glücklich beendet, Kaiser und Könige sind uns wohlgesonnen, die schönen Künste dürfen blühen und gedeihen. Wohlan! Jeder Gläubige richte sich nach uns und halte Frieden in diesen verwickelten Zeiten!«

Der Papst unterbrach sich, und eine Blutwelle aufrichtiger Empörung rötete ihm Wangen und Stirn.

»Was willst du?« rief er unwillig aus. »Auf den öffentlichen Plätzen in Deutschland stehen und ehrliche Leute zum Bruderkrieg aufreizen? Damit ist uns nicht gedient! Hätte doch Papst Paul dich zu lebenslänglicher Klosterhaft verurteilt! Man verwahrt die Aufwiegler wie die reißenden Bestien am sichersten hinter Riegeln und Mauern.«

Dann, als der Papst den entsetzten Gesichtsausdruck seines Bittstellers sah, milderte er den Ton und fügte seiner strengen Abweisung eine fromme Ermahnung hinzu.

»Besuche«, sagte er, »die Armen und Kranken in Voghera, mein Sohn, tröste die Gefangenen und bedenke das Heil deiner armen Seele, – so wirst du einen gnädigen Vater in mir finden.«

Taumelnd kniete Benjamin noch einmal nieder, taumelnd erhob er sich und wankte die gewundne Treppe herab, auf deren unterster Stufe er zusammenbrach.

Des Papstes Mißstimmung wurde mittlerweile durch das Erscheinen seines Gärtners vertrieben, der ihm die ersten auf italienischem Boden und im päpstlichen Garten gereiften Zitronen überbrachte.

Noch bevor der Papst den Inhalt des Fruchtkorbes im sinkenden Tage erkannte – nur der starke Duft der Blüten, mit denen das Körbchen zierlich umsteckt war, kündete von weitem fremdländische Kostbarkeit, – hörte Benjamin in der von der Windung der doppelseitigen Treppe umschlossenen Grotte, die somit unter dem Pavillon gelegen war, zwei Stimmen miteinander flüstern, die er zu kennen glaubte.

»Hast du gehört, Benedetto,« sagte heiser die eine, »wie er feigen Frieden mit den Feinden der Kirche halten will? Er schämt sich nicht, das Pontifikat seines erhabenen Vorgängers zu lästern und die Mission zu verbieten, die allein Deutschland zurückgewinnen könnte.« –

»Warum straft uns Gott mit solch schändlichem Oberhaupt?« zischte die zweite Stimme dagegen.

»Weil er unsre Treue prüfen will,« antwortete die erste, »weil er die Wächter versuchen will, ob sie wachen. Benedetto, sollen wir die Kirche gefährden, um den Papst zu schonen; er falle, Benedetto, damit sie lebe.« –

Die andere Stimme, die Benedetto zugehörte, verhauchte in einem qualvollen Seufzer.

Oben im Pavillon hörte man den Gärtner sprechen:

»Heiliger Vater, die asiatischen Früchte sind in unsrer Sonne gereift.« –

»Ah!« rief der Papst, »zur guten Stunde! denn mein assyrischer Gastfreund, der sie mir geschenkt hat, pries ihren Saft als das erfreulichste Heilmittel gegen die Beschwerden eines überlasteten Magens …«

Der Papst lachte in sich hinein und sagte weiter:

»Wahrhaftig, die Kochkunst des Herrn Gerardi hat in diesem letzten Mond Vorzüglicheres geleistet, als uns heilsam war; aber sofern Gott uns gnädig ist, wird der Saft dieser reizenden, goldgelben Früchte mit frischer acqua acetosa untermischt uns in die glückliche Lage versetzen, ohne nachfolgendes Mißbehagen das abendliche Mahl nach seiner ganzen Länge und Würzigkeit genießen zu können.«

»Höre,« sagte Don Niccolò, der Sterndeuter unten in der Grotte zu Benedetto, – »höre und verzweifle an der Würde dieses Papstes, Petrus, der Fels zu sein. Benedetto! Du bist jung, du bist stark und von Gott erleuchtet. Laß deine Verzweiflung nicht müßig sein. Mach den Stuhl frei für den Heiligen des Herrn, dessen Taten schon in den Sternen geschrieben stehen …« –

Ächzend antwortete Accolti:

»Herr, sei der Medici Fluch oder Segen für die Christenheit, – so ist er doch der rechtmäßig gewählte Papst …«

»Wer kann wissen, ob seine Wahl eine rechtmäßige war,« antwortete Don Niccolò, »ob nicht vielmehr Satan das Skrutinium verwirrt und sich ihn gewählt hat, um die glorreichen Begebenheiten, die die Vorsehung schon beschlossen hatte, und die ich dir aus den Sternen verkündete, zu verhindern …«

»Zu verhindern?« lallte Accolti. »O Gott, hast du keinen Blitz, der den Teufelspapst vernichte?«

»O Gott, hast du keinen Diener, der dir seinen Arm leihen möchte?« flüsterte Niccolò leidenschaftlich.

Dann sagte er ruhiger: »Benedetto, ich werde ihn reizen; ich werde ihm die Zukunft verkünden, als wäre er der Held, auf den sie zielt; dann sollst du hören, wie er sich bläht, – wie er gierig den Ruhm einschlürft, den in Wahrheit zu erringen er auch nicht einen Fuß vorwärts setzt.

Du sollst urteilen, Benedetto, ob es ein Anderes ist, mit spitzer Nadel in eine Luftblase hineinzustechen, daß sie platzt, und jedermann ihre Leere erkennt, oder …«

»Herr, ich beschwöre Euch,« stöhnte Accolti.

»Gut, gut, Benedetto,« entgegnete Don Niccolò, »gönne mir einen Augenblick, mein Gesicht in seine sympathischen Falten zu legen, dann steige ich die Treppenstufen zu seiner Heiligkeit hinan und überlasse dich der göttlichen Inspiration.«

Schon fröstelte der Papst, denn die Herbstnacht sank mit empfindlicher Kühle und mahnte zum Aufbruch in den Vatikan, als Don Niccolò verheißungsvoll lächelnd zu ihm emporstieg.

Benjamin, der im tiefsten Schatten gekauert hatte und von Don Niccolò ungesehen geblieben war, hob sich jetzt auf die Füße und lehnte, um den Papst und seinen vermeintlichen Freund und Wahrsager betrachten zu können, an die Brüstung des Geländers, wo sie sich in das zur Bildung der Grotte aufgetürmte Gestein und in überhängende Agaven verliert.

Auch Benedetto wechselte seinen Standort und wagte sich aus dem Dunkel seiner Höhle in das Dunkel der Nacht unter die schirmenden Zweige einer riesenhaften Zeder, von wo aus er die schlanken Säulen des Pavillons im Schein der Fackeln und in dem der Sterne ihr leichtes Dach mit Gefälligkeit tragen sah, und auch den Papst im weißen Gewande und Don Niccolò im schwarzen erkannte.

»Heil dir, Vater der Christenheit!« begann der verwachsne Sterndeuter, indem er das Knie bog.

»Bist du es, Niccolò?« entgegnete der Papst, »was du bringst, muß den Vorzug der Neuigkeit und Seltsamkeit an sich tragen; denn wahrlich, seit geraumer Zeit sparst du deine Glücksverheißungen an unsrer Regierung!«

»Heiligkeit,« antwortete Niccolò mit angenommener Sanftmut, »diese schwachen Hände können nicht Euren Planeten die Straße des Sieges führen. Nur die blöden Augen vermögen ihm zu folgen, wie er wandelt, schwankt, … wandelt … fällt, – wandelt … steigt, – steigt, Heiligkeit …«

Niccolò streckte die Hand aus und folgte mit visionärem Blick ihrer zur Höhe deutenden Gebärde.

Indessen kam ein wildes, gieriges Flackern in die sonst milde dreinschauenden Augen des Papstes.

»Freunde!« rief der Papst erregt, »was haben wir Euch vorausgesagt, und Ihr habt uns nicht glauben wollen! O Ihr feigen, niedrig geborenen Seelen, wir haben nur zu wohl bemerkt, daß Ihr uns nicht glaubtet, wenn auch Eure Lippen nicht wagten, uns öffentlich zu widersprechen!

Aber jetzt rede du, Niccolò! Dir wird man Glauben schenken! Wir haben geredet, solange wir auf dem Stuhl Petri mit Glorie sitzen …«

Don Niccolò lächelte spöttisch, und auch der Papst bemerkte zu seinem Ärger die zweideutige Wendung, in die er unversehens hineingeraten war.

Aber der kleine Astrolog verbarg schnell sein unhöfliches Lächeln unter der Maske prophetischen Ernstes und sagte mit Würde:

»Ein ungeheurer Sieg des Kreuzes über den Halbmond steht in den Sternen; nicht in sagenhafter Zukunft, nicht von unsren Kindern und Enkeln erfochten; dies ist das Geschlecht, die große Tat zu tun. Ein Papst, der die Christenheit sammelt, ein Held, der sie zum Siege leitet, ein Gott, der ihre Herzen mit Mut ausrüstet und ihre Schwerter stählt …«

»Ein Papst!« unterbrach Pius ungeduldig die auf Gott hinauslaufende Rede Don Niccolòs; »sprich weiter, was du von dem Papst auszusagen hast!«

»Heiligkeit,« entgegnete Niccolò tückisch, »es gibt nur einen Papst auf Erden, – was bedürfen wir weiter Zeugnis?«

»Du hast recht, mein Sohn,« sagte der Papst huldvoll und stand von seinem Sitze auf, »niemand anders als wir selbst werden die Völker aufrufen und an der Spitze der Christenheit den Gläubigen zum Trost, den Ungläubigen zum Schrecken durch die Lande reiten, – auf schneeweißem Hengst, die Fahne Christi in der Rechten, das Schwert der Wahrheit in der Linken …«

Der Papst berauschte sich an seinem eigenen, glanzvollen Bilde; seine Lippen zuckten, Tränen der Rührung traten ihm in die Augen.

»Die Engel des Himmels«, fuhr er mit erstickter Stimme fort, »werden sich niederlassen und unsren Pfad mit Palmen bestreuen …«

Pius mußte sich von neuem unterbrechen, – keine Brust wagte zu atmen, und nur durch das Gezweig der Zeder im Garten zischte einer Schlange gleich ein gewisperter Fluch.

»Freunde,« fuhr der Papst gefaßter fort, »laßt uns gehn und diese Nacht das Antlitz der Erde studieren, denn die Wege zum Reiche der Türken sind vielerlei, zu Wasser und zu Lande.

Morgen aber mit dem Aufgang der Sonne befehlen wir einen feierlichen Bittgang zur Mutter Gottes von Santa Maria Maggiore. Ach, was vermag der Mensch ohne den Beistand der Himmlischen, die schon manches Gelübde ihres unwürdigen Liebhabers Pio Quarto in Gnaden angenommen hat.«

Während vor wenigen Augenblicken den Papst die Höhe seiner eigenen Erhabenheit gerührt hatte, rührte ihn nun die Tiefe seiner Demut, und schämig verhüllte er sein bewegtes Gesicht.

Dann, als er es wieder entblößt hatte, setzte er den Fuß auf die oberste Treppenstufe und winkte seinen Freunden, ihm zu folgen, von denen er nur Don Niccolò entließ, indem er sagte:

»Du, Niccolò, dienst uns am besten mit zum Himmel verrenktem Halse. Befrage deine leuchtenden Lehrmeister um Ort und Zeit unsres Sieges, – befrage sie auch – für alle Fälle – um die Zahl der Jahre, die unsrer Herrschaft noch vergönnt ist.«

Niccolò, dem der Papst mit dieser Anrede die Bitte um Urlaub erspart hatte, verbeugte sich tief und ließ lautlos den Papst mit Felice und dem Architekten in den Garten niedersteigen und dem Vatikan entgegenschreiten.

Als die drei Gestalten im Dunkel verschwunden waren, schwang er sich elastisch wie ein Jüngling die Treppe hinunter, rief dem heiter in Ruhm und Nachruhm lustwandelnden Papst die Antwort auf seine Frage nach den noch für ihn bereiteten Erdenjahren nach:

»Keines! spaccone!« und eilte auf Benedetto zu, der sich ihm aufgelöst in die Arme warf.

»O Schmach, Schmach!« flüsterte Benedetto. Don Niccolò vermutete kein menschliches Ohr mehr in Hörweite und antwortete laut und hart:

»Gut, gut, Knabe; seufze, schluchze, sei auch du geschwätzig, ganz nach dem bewunderungswürdigen Vorbild, das der Vater der Christenheit uns darbietet –«

Aber schon riß sich Benedetto von Don Niccolòs Halse los, und Benjamin sah seine grünschillernden Augen wie Sterne der Hölle in der Finsternis funkeln.

»Er sterbe! Ich hab' es geschworen!« rief Benedetto Accolti mit heller Stimme.

Da wandte sich Benjamin und jagte wie von Furien gehetzt dem Papst und seinen Begleitern nach.

»Mord, – Papstmord, – Jesus Maria! Vatermord!« kreiste es wild durch Benjamins Gehirn, das erst bei Accoltis wahnwitzigem Schrei »Er sterbe!« die Untat recht begriffen hatte, die hier im Schatten des Felsens gezeugt und geboren worden war.

An der Schwelle des Vatikans erreichte er den Papst und warf sich auf die Erde, diesem den Weg zu sperren, bis er selbst Atem gefunden haben würde, seine Warnung und Wissenschaft auszusprechen.

Papst Pius erkannte in Benjamin den abgewiesenen Bittsteller und war wenig geneigt, sich durch ihn im süßen Genuß seiner Siegesträume stören zu lassen.

»Unverschämter!« schalt er zornig, »glaubst du, wir seien gewöhnt, zweimal zu antworten?«

Ein flehentlicher Blick Benjamins traf Felice, der sich auch erbarmte und dem hilflosen Ordensbruder freundlich die Hand reichte.

»Steh' auf, Benjamin!« sagte Felice und fügte, als jener in seiner Stellung verharrte, sanft vorwurfsvoll hinzu:

»Was wagst du für unmögliche Dinge, Bruder?«

Schon wollte der Papst entschlossen über Benjamin hinwegschreiten, als dieser sich aufraffte und mit inbrünstiger Angst dem Papst entgegenrief:

»Herr, der Euch die Zukunft log, ist Euer Feind und trachtet nach Eurem geheiligten Leben!«

Aber Pio Quarto gefiel es besser, in Benjamin einen Kranken, Irregeleiteten zu erblicken, als in Don Niccolò, der ihm so reizende Triumphe prophezeit hatte, einen Bösewicht; war der Sterndeuter wirklich ein solcher, wo blieb dann der Sieg über die Türken? wo der schneeweiße Hengst und die begeistert nachfolgende Christenheit?

Mit wiedergewonnener Freundlichkeit, aber bestimmt befahl der Papst Benjamin, unverzüglich nach Hause, in sein gastliches Kloster zurückzugehen und sich still zu verhalten; auch schlug er Felice, der Benjamins Meldung keineswegs ohne Besorgnis angehört hatte, die Bitte, den Bruder nach Santa Maria sopra Minerva begleiten zu dürfen, mit den Worten ab:

»Du bleibst, Felice; ich habe mit dir über die Ausschmückung der Stadt für die Siegesfeier zu reden!«

Schweigend und sorgenvoll gehorchten Benjamin und Felice.

Im Kloster angekommen und vom Prior seines bleichen, gequälten Gesichtes halber befragt, erleichterte sich Benjamin das Gemüt, indem er in aller Heimlichkeit und Verschwiegenheit erzählte, was im Vatikanischen Garten zwischen Don Niccolò und Benedetto verhandelt worden war.

»Benjamin,« tröstete ihn der im Römischen groß und weise gewordene Prior, nachdem er lange in sich versunken dagesessen hatte, »Benjamin, solange nicht irgendein ehrgeiziger und vermögender Kardinal Wein und Wasser im Becher des Papstes nach seinem besonderen Rezepte mischen heißt, ist, dünkt mich, keine Gefahr. Wer ist dieser Benedetto Accolti, und wer dieser hündische Niccolò? Sie haben kein Geld, sich den Zugang zur päpstlichen Küche und zum Herzen des Herrn Gerardi zu bahnen; ihnen bleibt nur der Dolch, – die offene Gewalt. Sie müßten die eigene Hand gegen den Nachfolger Christi aufheben. Das wagt kein Katholik; Benjamin, schlafe in Frieden, – das wagt kein Katholik.«

Wirklich verließ Benjamin mit beruhigter Seele die Prioratszelle und bedachte, bis der Schlaf ihn überkam, mehr die eigene, fehlgeschlagene Reisehoffnung als das Leben und die Sicherheit des Papstes.

Da schreckte lange vor Sonnenaufgang ein päpstlicher Bote ihn, Santa Maria sopra Minerva und alle schlummernden Mönchsklöster Roms aus ihrem nächtlichen Frieden auf und entbot sie zur Teilnahme an dem Bittgang zur Mutter Gottes von Santa Maria Maggiore; er also, – Papst Pius – hatte nicht minder als der Prior oder Benjamin dem Gedanken einer dem Haupte der Christenheit drohenden Gefahr Raum gegeben, sondern, als sei er ungewarnt, die ersten Zurüstungen für die große, anbrechende Zukunft mit erstaunlicher Emsigkeit getroffen.

Der junge Tag versprach Glanz und Herrlichkeit, als sein Gestirn dem Papst zum Gruße in eben dem Augenblick über Rom heraufzog, in dem Papst Pius wunderlich hergerichtet mit Abzeichen von Kriegen und Siegen und mit feucht schimmernden Augen – ein trunkner Alter, den der Rausch in die Sphäre der Seligkeit und ewiger Jugend versetzt hat – aus dem Portal der Peterskirche, von den Kardinälen gefolgt, auf den Platz hinaustrat.

Dort harrte schon seiner das vollzählige Peterskapitel, harrten Hunderte von Mönchen, Hunderte von Soldaten, die der Papst mit zärtlichen Blicken umfaßte und willkommen hieß zu dieser, wie er sich ausdrückte, »frommen, aber höchst kriegerischen Prozession«.

Wahrlich, es war ein glänzender Zug, der sich da durch das Borgo und über die Engelsbrücke dem schlichten Marienbildnis in Santa Maria Maggiore entgegenwälzte, – dem Bilde, das einst der heilige Lukas in apostolischer Innigkeit gemalt hat und dessen Anmut die Opferkerzen der Gläubigen in jahrhundertelanger Verehrung geschwärzt haben.

Indessen prangte die Bittprozession Pius IV. in aller Pracht der Färbkunst eines verwöhnten Jahrhunderts; das heilige Kollegium flammte in glühendem Rot, das Peterskapitel leuchtete tief in wundervollem Violett, die Soldaten blitzten in Gelb und Rot, und inmitten aller Üppigkeit blinkte tröstlich das Kleid der Unschuld, das zu tragen dem Vater der Christenheit vorbehalten war.

Auch fehlte es dem schönen Aufzug nicht an teilnehmenden Beschauern; denn die Nachricht von einem großen, unvergleichlichen Siege über die Türken, den, obwohl er dem Papst prophezeit und sozusagen geschenkt war, dieser dennoch zuvor demütig von der heiligen Jungfrau erbitten wollte, hatte sich schnell im römischen Volke verbreitet und die Menge aus den Häusern auf die Gasse getrieben, um zu sehen, zu hören und dem frommen Landesvater, der bald ein Held sein würde, zuzujubeln.

Lächelnd duldete der Papst die Huldigungen, die über ihn hinwegrieselten wie Mairegen über willige Erde, – lächelnd erreichte er umgeben von seinen Streitern die Piazza Navona, als ein wachsbleicher Jüngling, dem das Feuer des Wahnsinns aus den Augen loderte, sich in seine Nähe drängte; und während noch die Zunächststehenden einen verzweifelten Büßer in ihm vermuteten, zückte der Rasende einen kleinen geschliffenen Dolch durch die Luft, – erkannte den Papst, – taumelte, – kehrte den Dolch gegen die eigene Brust und stürzte blutend zu Boden.

Eine ungeheure Verwirrung ergriff die Wallenden mit den Schauenden zugleich; »der Papst ist ermordet, – der Papst blutet, – der Papst lebt –« schwirrte es in wildem Gemenge über die Köpfe der Menschen hinweg und reizte die Zurückstehenden, sich – um der Wahrheit teilhaftig zu werden – in das Angesicht des Papstes zu drängen.

Der stand völlig gebrochen und ratlos im Kranz seiner aufdringlich sich blähenden Hoffnungen vor der trostlosen Wirklichkeit, daß man ihn verachtet, seiner gespottet und ihm den Mörder gedungen hatte.

Währenddessen trieben Benjamin und Felice das Volk mit flammenden Worten zur Gefangennahme Don Niccolòs an, dessen Spur sie in Accoltis Umkreis gesucht und gefunden hatten, und der, ganz gegen seine Gewohnheit, mit den adlerscharfen Augen seine Umgebung herauszufordern, sich eben bescheiden im Gewühl gering zu machen suchte.

Der Papst freilich bedurfte Niccolòs Gefangennahme nicht; – er wußte, als der Dolch vor ihm aufblitzte, daß Benjamins mißachtete Warnung vor den Prophezeiungen des Sterndeuters lautere Wahrheit gewesen war, daß der Sieg über die Türken, der Rausch der vergangenen Nacht, die gegenwärtige Prozession eine Schmach und ein Gelächter waren im Angesichte Gottes und des Weltkreises.

Wiewohl Accolti den Stoß nicht hatte führen können, fühlte sich der Papst zu Tode getroffen. Nach diesem letzten, himmelhohen Aufschwung seiner Träume kam das Bewußtsein seines erschlafften Willens, seines tatenleeren Lebens und seines ruhmlosen Endes mit so furchtbarer Deutlichkeit über ihn, daß er zitternd den Leibarzt zu sich heranwinkte und sich – um ein Lustrum gealtert – mit kleinen, greisenhaften Schritten in den Vatikan zurückführen ließ.

Wie denn die heitere Quelle seiner Lebensfreudigkeit – das unschuldige Schwelgen in Ruhmestaten, die er niemals tun würde – vergiftet war, verfielen die Kräfte des Papstes von einem Tage zum andern, und sein entwurzelter Geist beschäftigte sich nur mehr mit dem Gedanken an seinen Nachfolger im Pontifikat, auf dessen Wahl er – wenn denn die eigene Zeit abgelaufen war – noch seinen letzten Einfluß ausüben wollte. Aber auch dies war ihm nicht beschieden. Die ungleichen Wünsche Spaniens, Frankreichs und des Kaisers stellten seiner ausgleichenden Seele, die alle Fürsten und Völker befriedigen wollte, eine verwickelte Aufgabe, über deren Lösung er kummervoll in den Armen Carlo Borromeos starb.

Es war am 9. Dezember 1565.

Schon waren seine Verschwörer – der eine allein von Gott, der andere zuvor von Michele Ghislieri gerichtet – ihm zur Vergeltung vorausgegangen; Benedetto Accolti hatte die Tage nach der Tat, von Wundfieber geschüttelt und von wilder Reue gepeitscht, in verzweifelten Selbstanklagen durchtobt, bis die priesterliche Absolution Ghislieris und die erflehte und gespendete Vergebung des Papstes seiner sehnsüchtig scheidenden Seele Frieden schenkte.

So hatte er der Sünde Sold in inbrünstiger Hingabe empfangen, während sein Mitschuldiger im dunkelsten Verließ des Inquisitionspalastes unablässig das Schicksal anklagte, das ihn gefangen hielt, das ihn zum Tode führte, zu scheußlichem Tode am Galgen.

Vergebens bemühte sich sein Beichtvater, ihm das irdische Gericht als Gnade vorzustellen, als einen Loskauf, dem ewigen Gerichte zu entgehen; kein sittliches, kein religiöses Bewußtsein, kein Trost der Sterne war stark genug, die feige Todesfurcht Don Niccolòs zu überwinden. Größer als alle himmlischen Mächte, die sonst Menschenherzen über die Dunkelheiten des letzten Ganges hinausheben, war die Erbärmlichkeit seiner Seele.

Erbärmlich schloß der Sterndeuter seine Rechnung mit dem Himmel ab, auf der er zwar keinen Schuldposten vergaß, denn Peinlichkeit schien ihm geraten, deren Summe aber seiner Brust keinen aufrichtigen Seufzer zu entlocken vermochte.

Erbärmlich schritt er zur Richtstätte und ließ sich recht wie ein Ehrloser, der seine Taten weder bereuen noch verteidigen kann, der nur ihre Folgen bedauert, hängen.

Pünktlich nach der gebotenen zehntägigen Frist traten die Kardinäle zum Konklave zusammen; am Abend des 20. Dezember fand die Schließung statt, und beschwuren die Häupter der Christenheit die Bulle Pius IV., die ihnen anempfahl, keinen anderen als den Frömmsten aus dem heiligen Kollegium zu wählen.

Konnte einer zweifeln, wer der Frömmste sei? Konnte irgend einer bedenklich erwägen, welcher unter ihnen mit keinem an Heiligkeit wetteifere? Jeder wußte, daß ein Unvergleichlicher, daß ein über alle Erhabener in ihrer Mitte weilte; der aber – wer hätte seinen Namen auch nur vorschlagen mögen? – er war ein Mönch, – war im Kardinalspurpur ein Mönch geblieben, und weder der Kaiser noch die Franzosen, noch das römische Volk, noch auch die Mehrheit der Kardinäle mochten die finsteren Frati auf dem päpstlichen Stuhl leiden, waren vielmehr unter sich einig, daß es sich besser mit den heiteren Preti leben lasse.

So war es also nutzlos, den Frömmsten, wenn man ihn auch kannte, als Kandidaten aufzustellen; denn unmöglich würde Michele Ghislieri gewählt werden; keine politische Partei hätte sich einen Vorteil davon versprechen können.

Man versuchte, den Kardinal Morone durchzubringen; Morone, ein edler Charakter und leuchtender Geist, genoß die unbegrenzte Verehrung aller liberal Gesinnten; aber die leidenschaftliche Erbitterung seiner strengen Gegner, der Kreaturen Pauls IV., verzehrte die stillere Flamme seiner Freunde; sie verlöschte bei dem ersten Hauch aus des Großinquisitors Munde.

Sollte ein halber Ketzer die Christenheit regieren? Kardinal Morone hatte unter Paul IV. in der Engelsburg gefangen gesessen, und man erzählte, Pius IV. habe ihn mehr aus Gnade als aus bewiesenem Recht vom Verdachte der Ketzerei gereinigt. Morone mußte auf den herrlichsten Traum seines Lebens verzichten, und er tat es mit Würde.

Was war zu tun? Die Franzosen, die den Kardinal Ferrara hätten stützen können, waren noch nicht eingetroffen, der Kardinal Farnese war von den Florentinern exkludiert. In der Verlegenheit sah man sich nach einem unbedeutenden Kardinal, namens Ferrerio, um, den man als äußerst umgänglich in Erinnerung hatte und von dessen lockeren Sitten man wohl hoffen durfte, daß sie im langen Fluß der Jahre notwendig einige Gebundenheit angenommen haben müßten. Da fand es sich, als Ferrerio in Rom eintraf, daß ihm mit der Untugend auch die Liebenswürdigkeit abhanden gekommen war, so daß nicht einer unter den Kardinälen dem grämlichen Alten seine Stimme gab.

Wer nun hatte am 7. Januar 1565 aller Aussichtslosigkeit zum Trotz Michele Ghislieris Namen zum erstenmal ausgesprochen? War es Carlo Borromeo gewesen, der einzige, nicht im Geiste, wohl aber in der Lauterkeit des Gemütes dem Heiligen Gleichgeniale? Hatte der Name des von Gott Erwählten so mächtig in Borromeos Seele gebrannt, daß er die Verschwiegenheit des Busens sprengen und Schall und Gestalt annehmen mußte? Michele Ghislieri! Michele Ghislieri! Wie hatte man suchen können, da doch der einzige längst gefunden war?

Ein Rausch, eine Verwirrung erfaßte die Kardinäle; es blieb keine Besonnenheit, um ordnungsmäßig zum Skrutinium schreiten zu können. Die Strenggesinnten triumphierten, die Skrupulösen ließen alle Ängste hinter sich, und auch Morone war großmütig genug, seinen Gegner rückhaltlos zu verehren.

Eben kniete Ghislieri still betend in seiner Zelle, als die Kardinäle mit Heftigkeit Einlaß begehrten, Morone sich als Erster lang zur Erde vor ihm niederwarf, nach ihm Borromeo, nach diesem die stattliche Reihe der heiligen Väter, und also die Wahl Fra Micheles durch Adoration erfolgte.

Nachmals im Skrutinium fehlte dem Kardinal Großinquisitor nicht eine Stimme des Kollegiums.

Nur die Stimme Roms, die Stimme der Welt – mit Ausnahme Spaniens – fehlte dem neuen Papste Pio Quinto.

Der Schrecken vor seiner Strenge, die Furcht vor seiner Rache an jenen, die ihm bei Pauls IV. Tode nach dem Leben getrachtet hatten, lähmte die Gemüter.

Bald aber, als die persönlichen Feinde ungekränkt dahinlebten, als nur die Feinde der Kirche von Entsetzen gejagt in alle Winde entflohen, als die Hungrigen gespeist und die Schwelgerischen verachtet, als Kranke geheilt und Sünder gerettet wurden, als der Papst, anzusehn wie der Prophet Jeremias, von dem Jehova gesprochen hat: »Siehe, ich mache dich zu einer eisernen Säule!« an der Spitze der Prozessionen einherschritt, als Hunderte von Protestanten sich bei seinem bloßen Anblick bekehrten, da wußte Rom: nie hat ein heiligerer Mann auf dem Stuhle Petri gesessen.



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