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Kapitel IX.
Was sich schickt, das muß sich finden


Im Hause Birkenfeld sowohl als im kleinen Nebenhaus war auch nicht ein Bewohner, der um diese Zeit nicht hier und da ausgerufen hätte: »Schon wieder eine Woche zu Ende!« oder: »Schon wieder der Sonntagmorgen da!« So rollten jetzt einem jeden die Tage dahin in einer Weise, wie es ihm noch gar nicht vorgekommen war. Vor allen aber war es Dora, der die Tage so kurz vorkamen, als hätten sie nicht einmal mehr halb so viele Stunden, wie sie in Karlsruhe hatten, und jeden Abend, wenn sie zu Bett gehen mußte, reute es sie aufs neue, daß sie einen so großen Teil von der kostbaren Zeit verschlafen sollte, die sie noch hier zuzubringen hatte. Am liebsten wäre sie die ganzen Nächte lang am Klavier gesessen, um ihre Melodieen einzuüben, während die anderen schliefen, denn der schlimme Arm war längst geheilt und der Klavierunterricht hatte begonnen und wurde mit großem Eifer fortgesetzt. Lili war Feuer und Flamme in ihrer Thätigkeit als Lehrerin. Fingerübungen und Tonleitern forderte sie keine, sondern sie führte die Dora gleich mitten in die Stücke ein und wirklich konnte diese jetzt schon mit der rechten Hand spielen: »Freut euch des Lebens.« Mit dem Unterricht für die linke wartete Lili noch, das war zu schwer auf einmal durchzuführen. Durch den Unterricht aber kam die Lehrerin selbst in einen solchen Eifer des Studiums hinein, daß sie die überraschendsten Fortschritte machte, so daß Fräulein Hanenwinkel, die bisher nur Klagen und Mißbilligung über Lilis musikalische Leistungen gehabt hatte, sich des höchsten verwundern mußte über diese plötzlichen Früchte ihrer Bemühungen. Auch die Mutter bemerkte hocherfreut die Veränderung und blieb jetzt oft an der Thür stehen, um mit stillem Wohlgefallen Lilis kräftig und gewandt gespielten Stücken zuzuhören. Das Kind hatte viel musikalisches Talent, und nun der rechte Trieb dazu gekommen war, ging es ganz zum Verwundern vorwärts.

Paula war den ganzen Tag in einer ununterbrochenen, stillen Glückseligkeit; es war ihr ja geworden, was sie so lange ersehnt hatte: eine Freundin und was für eine Freundin! Dora verstand ihre innersten Gedanken und Erlebnisse und lebte sie mit, und hatte Paula jahrelang mit dem größten Verlangen nach einer Freundin ausgesehen, so war es bei Dora gerade so gewesen, und so hatten beide an einander die Erfüllung ihres höchsten Wunsches gefunden. Paula fand selbst die Wirklichkeit dieser Freundschaft noch viel, viel schöner, als alle Vorstellungen, die sie sich davon gemacht hatte; denn ein Wesen, wie Dora war, hatte sie ja nicht selbst erfinden können, und Dora war so, daß jedermann von ihr eingenommen sein mußte. So ging es der Paula ganz, wie es Dora ging. Jeden Abend legte sie sich mit der größten Wehmut nieder, daß sie nun wieder so viel von der schönen Zeit verschlafen sollte, die ihr noch mit Dora zu verleben blieb.

Rolf war zu den alten noch in ganz neue Rätselstudien hineingekommen, so daß man ihn jetzt nur noch erblickte, wie er, beide Hände auf den Rücken gelegt, mit erstaunlich großen Schritten im Garten hin- und herlief und in so tiefes Sinnen verloren war, daß man den kleinen Hunnen warnen mußte, nicht dieselben Wege zu wählen, denn er war schon mehrmals von Rolf fast überrannt und ziemlich unsanft umgeworfen worden. Rolf hatte nun täglich mehrere und gute Rätsel zu liefern, denn jeden Abend erwartete Herr Titus seinen Besuch im Sommerhaus und zeigte so großes Interesse und Freude an Rolfs Rätseln und erriet so merkwürdig die unbekanntesten Namen auf der Stelle, ermunterte auch den Rolf so sehr zu immer neuen Leistungen, daß dieser zu einer ganz begeisterten Thätigkeit angespornt wurde. Auch noch auf einem anderen Feld, nicht nur für seine Rätselstudien, erwachte in Rolf ein ganz neuer Arbeitseifer. Herr Titus hatte angefangen, dem Jungen in Erwiderung seiner täglichen Leistungen auch von Zeit zu Zeit ein selbstgemachtes Rätsel zu übergeben, immer schriftlich, weil es mehrmals durchstudiert werden mußte, denn es war in lateinischer Sprache verfaßt. Jedesmal wurde ein solches Rätsel auch dem Vater und Jul von Rolf vorgelesen, aber niemals von ihnen erraten. Der Papa sagte, er habe sein Latein zu sehr vergessen für solche Arbeit, und Jul behauptete, solche unnützen geistigen Anstrengungen dürfe er sich in den Ferien nicht zumuten, da er nachher seine Kräfte zum ernsten Studium wieder ungeschwächt mitbringen müsse. Aber Rolf suchte und forschte in seinem Sinn und in seinem lateinischen Wörterbuch und sann und sann und gab nicht nach, bis er glücklich den Sinn des Rätsels herausgegrübelt hatte, den er dann triumphierend erst vor den Papa und den Jul brachte und dann am Abend Herrn Titus überreichte. Der freundliche Mann bezeugte jedesmal über die richtige Lösung eine Freude, fast größer als Rolfs eigene war, was dann diesen wieder so mächtig anspornte, in seinem Latein vorwärts zu kommen und immer besser zu verstehen und zu raten, daß er jetzt immer schon in den frühesten Morgenstunden mit seinen Lektionen unten im Garten saß und darauf los studierte, als könnte er's nicht genug bekommen.

Der kleine Hunne verlebte die glücklichsten Tage, denn wie oft und wie lang er sich auch an die Dora hing und sie für sich in Anspruch nahm, niemals schob sie ihn von sich, niemals lief sie ihm fort, immer war sie freundlich und immer unterhielt sie den Kleinen so, als hätte sie selbst die größte Freude dabei. Frau Birkenfeld hatte bei der Tante Ninette ausgewirkt, daß Dora den Morgen und Abend frei haben und nur am Nachmittag, in Gesellschaft der ganzen Familie unter dem Apfelbaum sitzend, an ihren Hemden arbeiten sollte, was nun immer geschah. Dabei kam nun Dora mit einemmal zur Erkenntnis, daß das Hemdennähen eine der angenehmsten Beschäftigungen sein könne, daß es nur aus die Umstände ankomme, unter denen es stattfinde.

So hatte der kleine Hunne manche Stunde des Tages seine neue Freundin ganz für sich und niemand machte sie ihm streitig. Dora hatte jetzt ihrem kleinen Freunde ein neues Rätsel gemacht, damit er nicht immer wieder mit dem einen vom Nußknacker herankommen mußte; denn daß auch er Rätsel aufgeben müsse, saß nun einmal fest bei ihm. Zu seinem ungeheuren Vergnügen erlebte der Hunne mit seinem neuen Rätsel einen nie dagewesenen Triumph: kein Mensch im ganzen Haus brachte die Auflösung heraus. So konnte er nun beständig von einem zum anderen laufen und seinen Spruch zu raten geben, und niemand durfte ihn mehr abweisen und sagen: »Du bringst immer dasselbe!« denn niemand hatte ja noch die Auflösung gefunden, und ging einer wieder daran und that einen Fehlschuß, so sprang der Hunne hoch auf vor Freuden, und Dora und er verbanden sich fest darauf, keinem Menschen auf die Spur zu helfen.

Das Rätsel hieß so:

»Bei dem ersten thun alle weinen,
Bei dem zweiten thun's nur die einen,
Beim Ganzen giebt's viel Verneinen.«

Nun hatten schon alle daran herumgeraten und alle vergebens.

Der Jul sagte: »Es ist ›Sintflut‹. Über die Sünde sollen alle weinen. Bei einer Flut kommen viele daran, zu weinen, und zu einer neuen Sintflut wird jeder Nein sagen, sowohl zu einer solchen, die vom Himmel kommt, als zu einer solchen, die von den Zwillingen hervorgebracht wird.«

Aber der Hunne hüpfte umher und rief: »Nicht erraten, nicht erraten!«

Fräulein Hanenwinel sagte: »Es ist ›Musikstunde‹. Musik macht alle weinen; in der Stunde weinen viele, zur Musikstunde giebt's viel Verneinen.«

»Nicht erraten, nicht erraten«, frohlockte der Hunne.

»Es ist ›Schulstube‹!« behauptete Rolf.

»Oho, Rolf! Nicht erraten, nicht erraten!« jauchzte der Hunne.

»Sollte nicht die Auflösung ›Kinderbetten‹ sein?« meinte die Mutter. »Kinder weinen alle, in den Betten viele; bei den Kinderbetten wird stets verneint, weil man nicht hinein will.«

»Auch die Mama nicht, auch die Mama nicht!« jauchzte der Hunne umherspringend.

»Es ist der ›Abschiedstag‹«, erklärte der Vater. »Ein Abschied macht alle weinen, jeden Tag weinen viele, zum Abschiedstag der Dora sagen alle Nein.«

»Nicht erraten, nicht erraten, Papa, nicht erraten!« jubelte der Hunne und hüpfte in der ganzen Stube herum; denn daß selbst der Papa fehlgeschossen hatte, war eine Hauptfreude. Immer wieder lief der glückliche Besitzer des Geheimnisses vom einen zum anderen und rief: »Rat! rat!«

Und Rolf hatte einen großen Grimm, daß so ein einfältiges Hunnenrätsel so viel zu raten gab und immer noch nicht erraten war. –

Unaufhaltsam gingen unterdessen die Tage dahin.

»Meine liebe Ninette«, sagte eines Morgens Herr Titus am Frühstückstisch, »da liegt ja die letzte Woche unseres Aufenthalts schon vor uns; wie wäre es, wenn wir vierzehn Tage zusetzen würden? Ich fühle mich ungemein wohl hier. Schwindel ganz weg, dagegen eine neue Lebenskraft in den Gebeinen.«

»Das kann man sehen, mein lieber Titus«, entgegnete vergnügt seine Frau; »du siehst gerade zehn Jahre jünger aus, als da wir hier ankamen.«

»Mich bedünket, auch dir bekomme die neue Lebensweise; auch kommt mir vor, ich höre dich nicht mehr jammern, liebe Ninette.«

»Ja, es hat sich alles, auch alles so sehr verändert«, meinte Tante Ninette, »und der Lärm der Kinder ist anders, wenn man so jedes einzeln kennt. Ja, ich muß sagen, ich bin sehr froh, daß wir nicht umgezogen sind, es mangelt mir jetzt immer ordentlich, wenn ich nichts höre von den Kinderstimmen, und es kann mir ganz bange machen, es sei etwas nicht in Ordnung, wenn nicht ein wenig Lärm und Rufen vom Garten herauf ertönt.«

»Gerade so geht es mir auch«, stimmte Onkel Titus ein, »und auf den Abend kann ich mich geradezu freuen, wenn der lebendige Junge heranstürmt und nicht erwarten kann, mir mitzuteilen, was er geschaffen hat und jedes meiner Worte mit den Augen schon herausliest, wenn ich ihm meine Aufgabe stelle. Es ist eine wahre Freude, solchen Jungen um sich zu haben.«

»Mein lieber Titus, du kommst in eine völlige Begeisterung hinein und wirst jünger, als ich dich je gekannt habe. Wir bleiben hier«, schloß Tante Ninette, »so lange es unsere Verhältnisse nur gestatten, denn solchen Erfolg unseres Landaufenthaltes hat selbst unser Doktor nicht voraussehen können; es ist wunderbar!«

Im hellen Entzücken stürzte Dora gleich nachher mit der Nachricht zu Paula hinüber; denn im stillen kam ja der Gedanke der nahen Abreise hie und da über Dora wie ein Schreckbild. Wie sollte sie fortleben, getrennt von allen denen, die sie so sehr liebte und mit denen sie nun so zusammengelebt hatte, als gehörte sie ganz zu ihnen! Es war der Dora nicht anders, als müsse ihr gleich das Herz brechen, wenn der Tag der Trennung da sei. Als die Nachricht vom längeren Aufenthalt der Dora sich im Haus verbreitete, brach ein großer Jubel los, und Dora wurde fast erdrückt an dem Tage, denn jedes der Kinder wollte ihr seine Freude am deutlichsten beweisen.

Am Abend desselben Tages saß Frau Birkenfeld neben ihrem Mann auf dem Sofa; die Kinder waren alle zur Ruhe gegangen, auch Fräulein Hanenwinkel hatte sich zurückgezogen, denn es war die Zeit, da Vater und Mutter immer noch zusammensaßen, um sich ungestört über alle ihre und der Kinder Angelegenheiten besprechen zu können.

Auch sie sprachen jetzt von der Verlängerung des Aufenthaltes ihrer Nachbarn, und die Mutter schloß ihre Freudenbezeugungen mit den Worten: »Daß der Tag aber doch bald kommen wird, da wir das Kind verlieren werden, ist mir ein so schwerer Gedanke, daß ich mich völlig davor fürchte. Was für ein Segen diese Dora in unser Haus gebracht hat, ist nicht zu sagen, aber man spürt ihn auf jedem Schritt. Jeden Tag entdecke ich wieder neue Spuren ihres wohlthuenden Einflusses. Dazu ist mir das Kind so sympathisch und anziehend, ich begreife selbst nicht, warum in diesem Grade, und auch nicht warum mir immer ist, wenn ich in ihre Augen schaue, als seien sie mir längst bekannt, als hätten sie mich angeschaut bei einer Menge von Erlebnissen; eine ganze reiche Welt von Erinnerungen steigt in mir auf, wenn ich in des Kindes Augen schaue.«

»Ach was, liebe Frau, das meinst du immer, wenn du jemand lieb bekommst«, warf Herr Birkenfeld ein. »Ich kann mich gut erinnern, nachdem du mich eine Weile gekannt hattest, kam es dir auch so vor, als hätten wir schon ehedem in unerforschlichen Beziehungen gestanden.«

»Wie dem auch sei, spottvoller Mann«, gab Frau Birkenfeld zurück, »das Sichtbare und Greifbare wirst du mir nicht abstreiten und das ist genug, um uns diese Dora so wert und anziehend zu machen, wie sie es ist für mich. Ich weiß, was alles in unserem Hause anders geworden, seit sie darin erschienen ist. Paula geht umher wie der helle Sonnenschein – keine Spur mehr von der gewohnten Verstimmung; Jul zieht seine Reitstiefel selbst aus, ohne zuvor das ganze Haus in Alarm gebracht zu haben; Rolf ist in einem Studieneifer, daß er nicht eine Minute des Tages unnütz verwendet; Lili entfaltet auf einmal einen Fleiß und ein Geschick bei ihrem Klavierspiel, die ihr nie ein Mensch zugetraut hätte, und der kleine Hunne ist immer so nett beschäftigt und ist so urvergnügt dabei, daß man ganz froh wird, wenn man ihn nur ansieht.«

»Am Ende hängt es auch mit der Dora zusammen, daß so lange keine Schreckensthat der Zwillinge mehr das Haus beunruhigt hat«, bemerkte Herr Birkenfeld.

»Ganz unzweifelhaft«, versicherte seine Frau. »Dora hat irgendwie gewußt, in Lili einen Enthusiasmus für das Klavierspiel anzufachen; darauf ist nun alles Sinnen und Denken des allzu lebendigen Kindes gerichtet. Wili macht mit, und so fällt den beiden gar nicht mehr ein, abenteuerliches Zeug zu unternehmen.«

»Merkwürdiges Wesen, diese Dora! Schade, daß sie fortgeht!« – sagte Herr Birkenfeld mit Bedauern.

»Das ist ja eben mein großes Leid«, fuhr seine Frau fort, »und ich sinne hin und her, wie ich es machen könnte, um den Aufenthalt noch etwas zu verlängern.«

»Nein, nein«, fiel ihr Mann ein, »das geht nicht, dazu kennen wir die Leute noch viel zu wenig. Jetzt muß man sie ziehen lassen, vielleicht kann man nächstes Jahr so 'was machen, wenn sie wiederkommen.«

Frau Birkenfeld seufzte; sie dachte an den langen Winter und wie wenig sicher es sei, daß die Leute überhaupt wiederkämen. –

Unaufhaltsam gingen die Tage dahin und die letzte Woche war gekommen, Auf den nahenden Montag war die Abreise festgesetzt. Am Sonntag sollte ein großes Abschiedsfest stattfinden, obschon kein einziger der Teilnehmenden in einer Feststimmung war. Nur Rolf war für die Vorbereitungen in reger Thätigkeit. Vom Sommerhaus sollten zu Ehren seines Gönners am Festabend, von farbigen Lichtern umgeben, mehrere auserlesene Rätsel als Transparente herniederhängen.

Am Samstag setzte sich Dora noch, wie gewohnt, mit den Kindern zum Mittagstisch; der Appetit schien aber schon jetzt im Hinblick auf das nahende Ereignis allgemein gesunken zu sein, denn schon als die Mutter die Suppe austeilte, erhoben sich von allen Seiten die Stimmen zur Abwehr: »Wenig!« »Bitte, bitte, recht wenig!« »Bitte nur ganz wenig!« »Mir lieber gar keine heut'!« »Mir noch weniger, bitte!«

»Ich möchte nur wissen«, warf hier der Vater zwischen die Bitten hinein, »ob die allgemeine Verneinung mehr dem Schmerz des nahen Abschiedes oder dem Charakter der Zwiebelsuppe zuzuschreiben ist.«

»›Zwiebelsuppe! Zwiebelsuppe!‹ das ist die Auflösung«, schrie Rolf auf, und es tönte wie ein wahres Siegesgeschrei, denn Rolf hatte die Schmach des ungelösten Hunnenrätsels fast nicht ertragen können.

Die Lösung war richtig.

Der kleine Hunne saß niedergeschlagen da und sagte etwas kläglich:

»Ja, ja, Papa, wenn du nur nicht ›Verneinen‹ gesagt hättest zur Zwiebelsuppe, dann hätte nie, nie ein Mensch mein Rätsel erraten; jetzt ist alles aus.«

Aber Dora hatte für den Kleinen immer einen Trost bereit; sie saß neben ihm wie immer, seit er zuerst seinen Stuhl mit ihr geteilt hatte, und flüsterte ihm jetzt zu: »Nein, nein, Hunne, es ist gar nicht alles aus. Weißt du, heut' Nachmittag führ' ich dir die Hand und du schreibst dein Rätsel in mein Album ein und dann geb' ich es noch vielen Leuten in Karlsruhe auf, die wissen alle nichts davon.«

Das war tröstlich. Der Hunne konnte ohne weitere Störung sein Mittagsmahl beenden. Aber draußen unter dem Apfelbaum, wo man sich nachher versammelte, herrschte heut' eine ganz gestörte Stimmung. Es war ja das letzte Mal, vielleicht für lange, lange Zeit, vielleicht für immer, daß Dora hier mit den Kindern zusammensaß, denn morgen sollte sie drüben bei der Tante bleiben und ihr behilflich sein bei allerlei letzten Vorbereitungen zur Reise und erst am Abend mit Onkel und Tante zum Abschiedsfest noch herüberkommen.

Paula saß da mit großen Thränen in den Augen und sagte kein einziges Wort. Lili hatte schon mehrmals ihren großen Verdruß durch allerlei rasselnde und klirrende Bewegungen kundgegeben; jetzt erklärte sie auf einmal: »Mama, da will ich auch lieber gar nie mehr Klavier spielen, jetzt wird's nun wieder furchtbar langweilig, wenn Dora nicht mehr da ist, und dann sagt Fräulein Hanenwinkel wieder, ich thue nichts, und ich mag auch gar nichts mehr thun, es ist alles nicht mehr lustig.«

»Ach! ach!« seufzte Jul, »wir gehen schweren, eigentlich lebensgefährlichen Zeiten entgegen, wenn es den Zwillingen wieder langweilig wird. Es ist aber auch eine unbegründete Abreise«, fuhr er in wirklichem Ärger fort; »es thäte doch Dora gut, bis zum Winter hier zu bleiben, Onkel und Tante könnten ja ihre stille Friedensstätte in Karlsruhe doch aufsuchen.«

Die Mutter entgegnete gleich, daß sie für ein nächstes Jahr ein solches Versprechen von Onkel und Tante erbitten wolle, daß sich aber diesmal alle in die Trennung schicken müßten, sie werde ihr selbst auch nicht leicht.

Nur der Hunne beschäftigte sich mehr mit der Gegenwart, als mit dem Kommenden, und blieb daher getrost; er zupfte Dora unausgesetzt am Schürzchen und sagte: »Hol jetzt das Buch! hol jetzt das Buch!«

Dora hatte ihr Album herübergebracht, denn nach guter, alter Sitte wünschte sie, daß jeder der neuen Freunde ihr einen Spruch hineinschreibe. Sie holte das Buch drinnen im Haus und brachte es dem Kleinen. Es war nicht ein neues, elegantes Album, das besaß Dora nicht. Es war ein altes Buch mit oft vergilbten Blättern, von denen die meisten überschrieben waren mit ganz verblichener Tinte. Hier und da waren Sträußchen von Blumen aufgeklebt, die waren alle entfärbt und halb abgefallen. Das Buch hatte Doras Mutter gehört und sie hatte es schon als Kind besessen, denn die Sprüche und Lieder waren alle von Kinderhand geschrieben. Da waren auch einige Zeichnungen; ein kleines Haus und ein Männlein dabei am Brunnen, das zog die Aufmerksamkeit des kleinen Hunnen sehr auf sich, er nahm das Buch zuhanden. Nun blätterte er weiter.

»Aha«, sagte er auf einmal mit kundiger Miene, indem er ein kleines Blatt herauszog, das zwischen den großen lag, »das hat die Mama auch, es ist von der Lili, die muß ich dann in Amerika holen.«

Jul lachte auf: »Was faselst du denn der Dora wieder vor, Hunne?«

Die Mutter warf einen schnellen Blick auf den Kleinen, sie nahm das Blättchen aus seiner Hand und las.

Große Thränen fielen ihr dabei aus den Augen. Die Erinnerungen an alte, längst vergangne Tage und an jenes immer frohe liebe Kindergesicht stiegen in voller Lebendigkeit vor ihr auf und überwältigten sie, denn wie vieles stieg da mit empor! Die liebevolle Erscheinung der eignen Mutter, die längst im Grabe lag; alle die frohen Tage der Kindheit; die ganze alte, entschwundene Zeit.

Es war die Hälfte ihres Blättchens, das der geliebten Freundin Lili angehört hatte. Die Mutter legte das Blättchen in die Hand des Vaters, sie konnte es nicht vorlesen. Die Hälfte dazu zog sie aus ihrem Notizbuch hervor, wo sie dieselbe eingelegt und bei sich getragen hatte, seit sie wieder zum Vorschein gekommen war. Die Kinder hatten die Köpfe zusammengesteckt und schauten in höchster Spannung auf den Vater, wie er die zwei schmalen Streifen zusammenfügte, die ganz dieselbe, vor Alter graugelbe Farbe hatten und nun einen Briefbogen von gewohntem Format bildeten. Von derselben Kinderhand waren die beiden Streifen überschrieben, und nun zusammengehalten kam auch der Sinn heraus. Nachdem der Vater die Worte überschaut hatte, las er sie vor, sie lauteten:

»Deine Hand und meine Hand
Lagen feste in einand;
Wollten sein vereinet.
Aber anders kommt es, seht!
Eines bleibt, das andre geht,
Und ein jedes weinet.
Und jetzt wird entzweigeschnitten
Dieses Blättlein in der Mitten.
Kommt die Zeit, die uns freut.
Da die Stücke ohne Lücke
Passen in einander;
Dann freu'n wir uns inniglich,
Und wir gehen, du und ich,
Nimmer von einander.«

Die Mutter hatte Dora bei der Hand genommen. »Woher hast du das Blättchen, liebes Kind?« fragte sie bewegt.

»Es ist das Album meiner Mutter, das Blättchen lag immer drin«, antwortete die verwunderte Dora.

»Du bist meiner Lili Kind!« rief die Mutter aus. »Nicht umsonst hat dein Blick alle lieblichen Erinnerungen der vergangenen Tage in mir wachgerufen!« Und in großer Bewegung schloß sie die Dora in ihre Arme.

Die Kinder kamen in eine ungewöhnliche Aufregung durch den Vorfall. Da sie aber die Mutter so bewegt sahen, hielten sie zurück mit ihren Ausbrüchen und saßen schweigend da, die Blicke in höchster Spannung auf Dora und die Mutter gerichtet. Der kleine Hunne aber durchbrach das Schweigen:

»Muß ich nun nicht nach Amerika, Mama?« fragte er, sichtlich erfreut über die Aussicht, daheim bleiben zu können, denn sobald er sein mutiges Versprechen abgegeben hatte, war es ihm gleich ein wenig unheimlich geworden, bei dem Gedanken, so ganz allein nach Amerika zu gehen.

»Nein, nein, wir bleiben alle hier«, beruhigte die Mutter, indem sie sich, Dora an der Hand, wieder zu den Kindern kehrte. »Dora ist uns nun die Lili, die du holen wolltest.«

»O Mama«, rief jetzt Paula mit ungewohnter Lebendigkeit, laß uns nun die zwei sein, Dora und mich, die alles fortsetzen, was du mit der Lili begonnen hattest, dann können wir beide gleich so sagen:

›Kommt die Zeit, die uns freut,
Da die Stücke ohne Lücke
Passen in einander,
Dann freu'n wir uns inniglich
Und wir gehen, du und ich,
Nimmer von einander.‹«

»O ja und wir« – »und ich« – »und wir wollen« – »und ich will auch«: – so ertönten nun mit einemmal die Rufe der Zwillinge, und Rolfs Stimme und die des kleinen Hunne und endlich noch die Baßstimme des großen Jul durch einander. Aber die Mutter hatte schon des Vaters Arm ergriffen und war mit ihm unter den Bäumen verschwunden.

»Mir ist alles recht, ganz recht, ganz recht«, hatte der Vater mehrmals wiederholt, während die Mutter mit großem Eifer zu ihm redete. Jetzt trennten sie sich und die Mutter ging nach dem kleinen Haus hinüber. Hier ließ sie sich gleich bei der Tante Ninette melden; und als sie nun neben ihr am Fenster saß, erzählte Frau Birkenfeld mit warmen Worten, welche Entdeckung sie zu ihrer großen Freude soeben gemacht habe, daß Dora das Kind ihrer ersten, liebsten Jugendfreundin sei, der sie so viele Jahre nachgeweint und die sie nie vergessen hatte. Sie wußte nun, daß diese Freundin schon lange tot sei; aber Näheres über ihr Leben wollte sie noch so gern hören und dann auch die näheren Verhältnisse der Dora, über welche sie bis jetzt nie viele Fragen an Tante Ninette gestellt hatte, denn diese schien ebenso gern sich nicht darüber auszusprechen. Frau Birkenfeld konnte von ihrer Freundin Lili nicht so viel vernehmen, als sie gewünscht hatte. Tante Ninette hatte sie nie gekannt; ihr Bruder, der einige Jahre in Amerika zugebracht, hatte sie dort kennen gelernt, war dann mit ihr nach Hamburg zurückgekehrt, wo er sie bald durch den Tod verlor, als Dora noch ganz klein war. Nun ging Frau Birkenfeld ganz direkt auf ihr Ziel los, teilte der Tante Ninette mit, wie viel Gutes und Herrliches sie im Vaterhaus ihrer Freundin genossen habe und welchen Dank sie dieser Familie schulde, die in wohlthuendster Weise in ihr Leben eingegriffen und für ihre ganze Zukunft bestimmend auf sie eingewirkt hatte, und daß sie gern von diesem Dank etwas an Dora abtragen möchte. Am liebsten, wenn Onkel und Tante es zugeben könnten, würde sie Dora gleich ganz behalten und als ihr eigenes Kind betrachten.

Frau Birkenfeld stieß nicht auf den Widerstand, den sie befürchtet hatte. Die Tante Ninette teilte ihr nun ganz offen mit, daß Dora kein Erbteil besitze, daß sie nun gleich hätte anfangen müssen mit Nähen ihr Brot zu verdienen, denn auch sie selbst, Onkel und Tante, seien nicht in der Lage, ihr eine weitere Ausbildung zukommen zu lassen. So sehe sie es als ein rechtes Glück für das Kind an, daß es solche Freunde gefunden habe, und sie selbst könne sich dessen nur freuen, was auch bei ihrem Mann der Fall sein werde. – So drückte Frau Birkenfeld der Tante Ninette nur noch mit großer Herzlichkeit die Hand und eilte fort, denn es verlangte sie, den Kindern die große Nachricht mitzuteilen; sie wußte ja, welchen Jubel sie erwecken werde.

Noch traf sie alle beisammen unter dem Apfelbaum, aller Augen in der höchsten Spannung auf die zurückkehrende Mutter gerichtet, denn die Kinder hatten ja wohl gemerkt, daß sie eine That auszuführen im Sinne hatte; sie glaubten aber alle, es gelte den Aufenthalt der Dora zu verlängern, und harrten mit Ungeduld auf den Entscheid. Als nun aber die Mutter anzeigte, von heute an gehöre Dora ganz und gar zu ihnen, für immerdar, als Schwester und völliges Kind des Hauses, da erhoben die Kinder ein so ungeheuerliches Freudengeschrei, daß es durch den ganzen Garten schallte bis zu allerhinterst. Da trat Herr Titus aus der Thür des Sommerhauses und horchte mit wohlgefälligem Lächeln nach dem Jubelgeschrei hin, und halblaut sagte er dabei: »Schade, daß es zu Ende geht.«

Zu gleicher Zeit stand drüben Tante Ninette am offenen Fenster und schaute in den Garten hinab und hörte mit sichtlichem Vergnügen den nicht endenden Freudenausbrüchen der Kinder zu, und leise sagte sie vor sich hin: »Es wird uns mangeln, wenn wir's nicht mehr hören.«

Den Kindern allen aber war nun mit einemmal eine Feststimmung gekommen, wie sie noch niemals da gewesen war, und eins überbot das andere in Vorschlägen zu großartigen Feierlichkeiten; denn jetzt sollte für Onkel Titus und Tante Ninette ein Abschiedsfest eingerichtet werden, wie der Garten, so lange er stand, noch keins gesehen hatte.

Zum letztenmal trat Dora heute in ihr Kämmerlein ein, denn schon morgen sollte sie als Kind des Hauses drüben einziehen. Die glücklichen Kinder drüben, nach denen sie zuerst mit so scheuem Verlangen ausgeschaut hatte, sollten ihre Geschwister werden; der schöne Garten, nach dem ihre ganze Sehnsucht gestanden, sollte ihre Heimat sein; sie sollte wieder Vater und Mutter haben, die sie mit sorgender Liebe umgeben würden, und alles, was die Kinder drüben erlernten, sollte sie mit erlernen, ja nun sogar allen Ernstes auch Musikunterricht erhalten, wie Lili ihr schon verkündigt hatte. Alle diese Gedanken wogten im Herzen der Dora hin und her und erfüllten sie mit einem solchen Glück, daß sie es kaum zu fassen vermochte. Jetzt mußte ja gewiß ihr Vater auf sie niedersehen und sich mit ihr freuen. Sie stand an ihrem Fenster und schaute zum leuchtenden Sternenhimmel auf, dort standen ja auch noch ihre fünf Sterne und schauten hernieder; und der Dora stiegen die Stunden auf in ihrem Herzen, da sie ihre Sterne so traurig und verzagt gesehen hatten, als wüßte sie gar nichts mehr von einem lieben Vater im Himmel, der doch alles zum besten lenkt. Und Dora mußte auf ihre Kniee niederfallen und dem lieben Gott mit ihrem ganzen Herzen danken für seine Führung, und fest und innig nahm sie sich im Herzen vor, nie, nie mehr, was ihr auch begegnen möge in ihrem Leben, das Sprüchlein des Vaters zu vergessen, sondern in jeder Angst und Sorge mit festem Vertrauen sich sagen zu wollen:

»Gott sitzt im Regimente
Und führet alles wohl.«

Onkel Titus und Tante Ninette bestellten gleich bei Frau Kurd ihre Wohnung für den nächsten Sommer, denn sie freuten sich schon jetzt, im nächsten Jahr wiederzukommen; ja, Herr Titus ging noch weiter; er empfahl der Frau Kurd dringend, niemals, für keinen künftigen Sommer mehr, ihre Wohnung an jemand anderes zu versprechen, denn er hatte sich so wohl da befunden und verließ so ungern die Stätte, daß er sich ihrer für alle Zeit versichern wollte.

Vor dem Hause des Herrn Birkenfeld stand am Montag Morgen die ganze Familie um den gepackten Reisewagen versammelt und es folgte nun ein herzlicher Abschied von allen Seiten. Rolf suchte im letzten Augenblick den Onkel Titus ein wenig auf die Seite zu bekommen und fragte ihn da angelegentlich, ob er ihm nicht von Zeit zu Zeit ein Rätsel nach Karlsruhe schicken dürfe, worauf Herr Titus mit der größten Freundlichkeit versicherte, das werde ihm jederzeit eine große Freude machen, die Lösungen werde er ihm zur Zeit einsenden.

Der pfiffige Hunne aber, dem dies Gespräch nicht entgangen war, erklärte gleich: »Dann will ich meines auch schicken«, denn er zweifelte nicht, daß die Freude des Herrn Titus dadurch sehr viel größer sein würde, und dachte auch im stillen, die Karlsruher würden seine Rätsel in ihrem Leben nie erraten, was ihm eine ungemeine Befriedigung gewährte.

Dora und Paula kehrten Arm in Arm nach dem Garten zurück und sangen fröhlich:

»Und wir gehen, du und ich,
Nimmer von einander.«


Druck von Friedr. Andr. Perthes in Gotha.

 


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