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Kapitel II.
Lange, lange Tage


Wenige Tage nach diesem Abend saß Dora am Bette ihres Vaters; sie hatte ihren Kopf neben den seinigen gelegt und schluchzte in das Kissen hinein, als wollte ihr das Herz brechen. Der Vater lag still und blaß neben ihr und ein freundliches Lächeln lag auf seinem Angesichte. Dora konnte es nicht fassen, nicht annehmen und doch wußte sie es. Der Vater war der Mutter nachgegangen; er war im Himmel.

Der Vater war heute früh nicht, wie er sonst jeden Morgen that, an Doras Bett gekommen, um sie zu erwecken; als sie dann von selbst aufwachte und den Vater aufsuchte, hatte sie ihn so still daliegend gefunden und sich erst leise neben ihn gesetzt, um ihn nicht zu wecken. Dann war die Hauswirtin mit dem Frühstück heraufgekommen, und nachdem sie vom äußeren Zimmer einen Blick durch die offenstehende Thür in das Schlafgemach hinein gethan hatte, war sie erschrocken zurückgewichen mit dem Rufe: »Ach Gott, er ist tot, ich will deine Tante herüberholen«, und war fortgelaufen.

Das Wort war wie zerschmetternd auf Doras Herz gefallen; sie hatte ihren Kopf auf das Kissen neben ihren Vater niedergelegt; so lag sie seit einer guten Weile und schluchzte in herzbrechendem Schmerze. Jetzt hörte Dora ihre Tante hereintreten. Augenblicklich erhob sie ihren Kopf von dem Kissen und that sich große Gewalt an, ihr Schluchzen zu unterdrücken, denn sie fühlte voraus, daß nun ein ungeheuerer Jammer ausbrechen werde; davor fürchtete sie sich und wollte so wenig als möglich auch noch dazu beitragen. So weinte sie ganz leise fort und drückte den Kopf in ihre Arme hinein, daß das Schluchzen nicht herauskomme. Der große Jammer brach wirklich los; die Tante wehklagte zum Erbarmen, daß alles große Unglück gerade über sie hereinbreche und daß sie gar keinen Weg mehr vor ihren Augen sehe. Wo sollte sie nun zuerst Hand anlegen? In der offenen Schublade des Tischchens, das neben dem Bette des Entschlafenen stand, lagen allerlei Papiere, welche die Tante nun zusammenlegte, um zunächst alles abzuschließen. Da fiel ihr unter den Schriften ein, Briefchen in die Hand, das ihre Aufschrift trug. Sie erbrach es sofort; es lautete:

 

»Liebe Schwester Ninette!

Ich fühle, daß ich Euch bald verlassen werde; ich will nicht mit Dir darüber reden, um Dir nicht früher, als es sein muß, schwere Stunden zu bereiten. Eine Bitte möchte ich Dir noch ans Herz legen: Nimm Dich meines Kindes an, so lange es Deiner Stütze noch bedarf. Ich kann ihm nur wenig hinterlassen, wende dieses wenige dazu an, Dora etwas Nützliches lernen zu lassen, daß sie mit Gottes Hilfe durch eigene Arbeit sich forthelfen kann. Laß Dich nicht zu sehr vom Jammer übernehmen; glaube, wie ich thue, daß der liebe Gott auch das Seinige für die Kinder thut, die wir Ihm übergeben, wenn wir nichts mehr selbst thun können. Nimm meinen Dank für all das Gute, das Du mir und meinem Kinde erwiesen hast. Gott lohn' es Dir!«

 

Der Brief mußte die Tante ein wenig beschwichtigt haben; sie fing nicht neuerdings zu jammern an, sondern wandte sich an Dora, die, den Kopf in ihre Arme gedrückt, immer leise fortweinte.

»Komm mit mir, Dora«, sagte die Tante; »von nun an wirst du bei uns wohnen. Wir müssen daran denken, daß es dem Vater nun wohl ist; sonst müßten wir vor Kummer und Angst verzagen.« Dora stand auf und folgte gehorsam nach, aber es war ihr, als sei alles aus für sie, als könne sie gar nicht mehr weiter leben. Als sie hinter ihrer Tante her die Treppe heraufkam und in die stille Wohnung eintrat, da unterließ die Tante zum erstenmal, Dora zum leisen Eintreten zu ermahnen; es mußte ihr vorkommen, es sei unnötig. Dora trat auch in ihre neue Heimat so still und traurig ein, als könnte überhaupt kein lauter Lebenston mehr von ihr ausgehen.

Die Tante hatte noch ein Dachkämmerchen, wo sie bis jetzt vielerlei Gegenstände aufbewahrt hatte; das wollte sie nun für Dora zu einem Schlafzimmer einrichten. Sie mußte zwar ein wenig jammern über die Umwälzung, die nun stattfinden sollte, doch wurde diese ausgeführt und für Dora ein Bett in das Kämmerchen gestellt: da sollte sie fortan wohnen. Ihre Sachen mußte das Mädchen noch herüberholen, damit sie gleich ihren kleinen Schrank in der Ecke einräumen könne und alles in Ordnung komme.

Dora befolgte lautlos alle Anordnungen der Tante, kam dann, wie sie geheißen war, herunter zu dem stillen Abendessen, an dem auch Onkel Titus teilnahm, der fast nie redete, denn er war meistens mit seinen Gedanken beschäftigt. Später stieg Dora wieder in ihr Kämmerlein empor, und hier weinte sie in ihre Kissen hinein, bis sie einschlief. – Am folgenden Morgen fragte Dora bittend, ob sie nun wieder zum Vater hinübergehen dürfe, und die Tante schickte sich nach einigen klagenden Worten an, sie hinzubegleiten, und führte es auch aus. Dora sagte ihrem Vater ganz leise Lebewohl; sie weinte still und lautlos. Nur wie sie nachher wieder in ihrem Kämmerlein war, brach sie noch einmal in lautes Schluchzen aus, denn sie wußte, daß man nun bald ihren guten Vater hinaustragen und sie ihn auf der Erde nie mehr sehen werde.

Jetzt wurden Doras Tage auf eine ganz neue Weise geordnet. Für die kurze Zeit, die sie mit ihrem Vater in Karlsruhe gelebt hatte, war sie noch in keine Schule geschickt worden. Ihr Vater ging etwa mit ihr durch, was sie in Hamburg gelernt hatte; es schien, als wolle er nichts Bestimmtes mehr mit ihr beginnen, sondern die Anordnung der Sache dann seiner Schwester überlassen. Tante Ninette hatte eine Bekannte, die war Vorsteherin einer Mädchen-Privatschule. Da sollte Dora nun jeden Morgen zubringen, um sich anzueignen, was da zu erlernen war. Für den Nachmittag wurde eine Nähterin gefragt, ob Dora bei ihr recht gründlich erlernen könnte, wie die verschiedenen Arten von Hemden zurechtgeschnitten und sodann zusammengenäht werden, denn Tante Ninette erachtete das Hemdennähen für eine der nützlichsten Thätigkeiten, und hatte diese für Dora ausgelesen, daß sie sich darin ausbilde, um sich eine selbständige Stellung zu gründen. Denn, sagte die Tante, wie die Bekleidung mit diesem Stücke beginne, so fange hier auch die Kenntnis aller Nähkunst an, und sollte Dora später weitergehen, vielleicht bis zur Herstellung des Kleides, so sei sie es schon zufrieden; aber ohne den richtigen Anfang kein erfolgreicher Fortgang.

So saß nun Dora den Morgen durch auf der Schulbank und lernte fleißig, und den Nachmittag auf ihrem kleinen Stuhle neben der Nähterin und nähte an einem großen Hemd, das ihr sehr heiß machte. Am Morgen waren auch noch andere Kinder da und arbeiteten mit, und Dora wollte auch sehr gern etwas erlernen. So ging die Zeit gut dahin und Dora konnte weniger dem traurigen Gedanken nachhängen, daß der gute Vater nicht mehr da war und nie, nie mehr kommen werde. Aber am Nachmittag war es anders: da saß sie in dem schmalen Stübchen gegenüber der Arbeitslehrerin und strebte, ihr großes Hemd zu bewältigen, und dabei wurde ihr manchmal ganz angst und bang, denn nun waren die langen, heißen Sommernachmittage gekommen, und oft konnte sie auch mit aller Anstrengung ihre Nadel fast nicht mehr vorwärts bringen, so feucht und schwer war der Baumwollstoff und so stumpf die Nadel vor großer Hitze geworden. Schaute dann Dora etwa einmal nach der alten Wanduhr auf, deren Ticktack durch die Stille immer regelmäßig fortging, so war es immer noch halb vier, und es schien, als ob der Zeiger nicht über diese Zeit wegwollte. Wie lang und wie heiß und lautlos waren diese Nachmittage! Nur zuweilen kam von fern der Ton eines Klaviers herüber; da mußte ein glückliches Kind an dem Instrumente sitzen und seine Übungen spielen, dachte Dora; denn sie konnte sich nichts Herrlicheres vorstellen, als so am Klavier zu sitzen und nach und nach alle möglichen Lieder und Melodieen spielen zu können. So lauschte sie mit wahrem Hunger und Durst diesem einzigen Tone, der zu ihr drang, denn in das Nebengäßchen kamen keine Fuhrwerke, und die wenigen Menschenstimmen tönten nicht so hoch hinauf. So war es für Dora ein rechtes Labsal, diese Tonleitern und Übungsstücke herüberklingen zu hören, und kam dann schließlich gar ein schönes Stückchen von einer Melodie, dann wurde sie ganz hingerissen und verlor kein Tönchen, und im stillen dachte sie immerzu: »O wie glücklich muß doch das Kind sein, das dort am Klavier sitzt und so Schönes lernen kann.« In den langen, langen Nachmittagsstunden kamen der Dora auch viele traurige Gedanken; sie erinnerte sich daran, wie sie um diese Zeit draußen unter den kühlen Linden mit ihrem guten Vater umhergegangen war, und daß das nie mehr sein würde und sie ihn nie mehr sehen und hören könnte. Dann kam ihr wohl ein Trost, den ihr der Vater noch selbst gegeben hatte, daß sie einmal mit ihm und der Mutter in so goldenem Glanze zusammensein werde, wie er an jenem schönen Abend um den Vater geleuchtet hatte; aber das konnte freilich noch lange währen, wenn nicht etwas ganz Besonderes geschehen würde, etwa daß sie sehr krank und sterben würde von dem schweren Hemdennähen. Aber zuletzt kam Dora immer noch ein Gedanke, der gab ihr den besten Trost, wie ihr Vater so bestimmt gesagt hatte:

»Gott sitzt im Regimente
Und führet alles wohl.«

Das wollte sie auch wieder ganz bestimmt glauben, und so wurde ihr wieder viel Wohler im Herzen, und selbst die Nadel lief dann wieder leichter und schneller, wie von fröhlichem Vertrauen getrieben. Aber lang waren die Tage immer. Wenn dann am Abend Dora nachhause zu Onkel Titus und Tante Ninette kam, da war es wieder sehr, sehr still um sie. Erst ging es dann zum Abendessen; da nahm Onkel Titus immer ein ungeheueres Zeitungsblatt vor das Gesicht und las und aß dahinter, und die Tante sprach nur leise während der ganzen Zeit und nur das Notwendigste, damit es keine Störung gebe. Dora sagte gar nichts und sagte überhaupt sehr wenig mehr, denn sie hatte sich nun daran gewöhnt, daß es so still zugehen müsse. Auch in der übrigen Zeit, die Dora zwischen den Unterrichtsstunden zuhause zubrachte, war die Tante nie mehr genötigt, Dora zu ermahnen, leise zu thun, denn nach und nach wurde Dora mit jedem Wort und jeder Bewegung so leise und matt, als ob sie alles thäte, ohne daß sie dabei noch recht am Leben wäre. Doch war Dora von Natur kein besonders stilles und ruhiges Kind gewesen, sondern hatte im Gegenteil schon früh eine so große Lebendigkeit und ein unermüdliches Ergreifen aller Dinge, die ihr vor Augen kamen, gezeigt, daß der Vater oft mit sichtlichem Wohlgefallen ausgerufen hatte: »Das Kind ist das Ebenbild seiner Mutter! Dieselbe Beweglichkeit, dieselbe unversiegbare Munterkeit und Lebensfrische!« Das war jetzt alles wie ausgelöscht. Auch zum Jammern gab Dora der Tante jetzt sehr selten mehr eine Veranlassung, denn sie fürchtete sich vor diesen Ausbrüchen und hielt sorgfältig alles zurück, was diese hervorrufen konnte. Nur zuweilen noch brachen sie doch in ganz unerwarteten Fällen hervor und schreckten dann für lange die Äußerung jedes Wunsches, fast jeder Lebensregung tief ins Innere des Kindes zurück. So war es, als Dora eines Abends von ihrer Arbeit heimkehrte, noch ganz erfüllt von der Begeisterung, die sie am heutigen Nachmittage erfaßt hatte, denn da hatte die Klavierspielerin drüben ganz deutlich das Lied gespielt:

»Freut euch des Lebens,
Weil noch das Lämpchen glüht;
Pflücket die Rose,
Eh' sie verblüht.«

Das kannte Dora ja so gut und konnte es singen, und nun zu denken, daß man das Lied so auf dem Klavier spielen konnte, und wie das wundervoll tönte, das brachte die Dora in helle Begeisterung und sie sagte gleich beim Eintritt ins Zimmer am Abend:

»O, Tante Ninette, es ist gewiß das höchste Glück, wenn man Klavier spielen lernen darf! Glaubst du, daß ich nie, nie in meinem ganzen Leben das thun kann?«

»Ach, um 's Himmels willen, wie kommst du mir mit solchen Sachen?« jammerte die Tante auf. »Wie kannst du mir solche Angst bereiten! Wie könnte nur je so etwas geschehen bei uns! Denk dir den schrecklichen Lärm, den ein Klavier im Hause macht: und wo wäre denn eine Möglichkeit! Wo sollten die Mittel, wo sollte die Zeit herkommen! Ach, Dora, wie kannst du nur auf so unglückliche Gedanken kommen; es ist ja doch an allem Übel, das schon da ist, genug zu tragen, mach mir nur nicht noch mit solchen Plänen angst und bange!«

Dora sagte, sie wollte gewiß keine Pläne machen, und von da an sprach sie nie ein Wörtchen mehr vom Klavierspielen, wie sehr sie auch danach lauschte, wenn es in ihr Nähterstübchen herübertönte.

Am späteren Abend, nachdem Dora noch ihre Schulaufgaben vollendet hatte, während die Tante in aller Stille flickte, strickte, oder auch einnickte, stieg dann Dora nach ihrem Dachkämmerchen hinauf, und bevor sie das kleine Fenster schloß, guckte sie jedesmal noch hinaus, besonders wenn die Sterne droben so hell flimmerten und zu ihr niederschauten. Da waren denn immer fünf, gerade über ihrem Kopfe, die standen immer ganz gleich zusammen, und Dora kannte sie nach und nach so gut, daß es ihr vorkam, als seien es ihre eigenen Sterne, die jede Nacht expreß zu ihr kämen wie Freunde, die ihr tröstlich zuwinken wollten und ihr zeigen, daß sie nicht allein sei, und auf einmal dachte Dora, die Sterne kommen gewiß vor ihr Fensterchen vom Vater und von der Mutter geschickt und bringen ihr ihre Grüße. Das war ihr nun für jeden Abend ein lieber Trost, wenn sie so allein in ihr dunkles Dachkämmerchen eintrat, das von dem Wachskerzchen in ihrer Hand nur sehr spärlich erleuchtet wurde. Sie schickte auch jeden Abend am Fenster ihr Nachtgebet in den Himmel hinauf, und dann kam wieder das volle Vertrauen in ihr Herz, daß der liebe Gott auch auf sie niedersehe und sie nicht allein lassen wolle. Ihr Vater hatte ihr ja auch gesagt, wer sich zum lieben Gott hält und bittet um seinen Schutz, der hat nichts zu fürchten, denn zu dem hält auch der liebe Gott sich und beschützt ihn.

So ging der lange, heiße Sommer hin, dann kamen die Herbsttage und daraus folgte ein langer, langer Winter, der war so kalt und die Tage oft so dunkel und schaurig, daß Dora manchmal dachte, viel lieber möchte sie wieder die langen, heißen Tage ertragen, als diese dunkeln, kalten, da sie in ihrem Kämmerchen nie mehr die Fenster aufmachen und nie mehr ihre Sterne sehen konnte und oft so sehr fror, daß sie kaum einschlafen konnte, denn es war sehr kalt so weit oben unter dem Dach. Als dann der Frühling und wieder der Sommer kam, da war wieder alles gut, wie es im Vorjahr gewesen war, denn in dem stillen Hause ging alles immer ganz so zu, wie es seit vielen Jahren zugegangen war. Dora arbeitete noch immerfort an ihren großen Hemden und nun noch mehr als vorher, denn jetzt konnte sie's schon besser und mußte ernstlich der Nähterin helfen.

Als die heißen Tage wieder da waren, trat etwas Ungewöhnliches ein, was bei der Tante Ninette einen ganz erschrecklichen Jammer hervorbrachte. Onkel Titus hatte einen Schwindelanfall. Der Arzt wurde gerufen.

»Wahrscheinlich dreißig Jahre nie mehr über die Grenzen der Stadt Karlsruhe hinausgekommen und während der ganzen Zeit nur zum Essen und Schlafen vom Schreibtisch weg?« fragte er, nachdem er den Onkel Titus fixiert und hie und da ein wenig an ihm geklopft hatte.

Die Frage mußte bejaht werden, denn es war so.

»Gut«, fuhr der Doktor fort, »nun fort, hinaus, aber sogleich, lieber heut', als morgen. Nach der Schweiz hin, in gute, frische Bergluft, nicht zu hoch hinauf; brauchen keine andere Medizin, aber fort bleiben, sechs Wochen zum wenigsten! Haben Sie einen Wunsch, wohin? Nicht? Können sich noch besinnen, will's auch thun, komme morgen noch einmal und finde Sie reisefertig.«

Der Doktor war zur Thür hinaus, Tante Ninette hinter ihm drein, denn jetzt erst schwammen Scharen von Fragen vor ihren Augen, die sie an den Doktor zu richten hatte, der sie mit seinem ungeahnten Entscheid starr gemacht vor Schrecken und völlig um die Sprache gebracht hatte. So war all das Wichtige, was sie zu erwidern und zu fragen und wieder zu erwägen und durchzusprechen hatte, noch gar nicht vorgebracht worden, und das mußte doch sein. Es half dem Herrn Doktor nichts, daß er kurz angebunden sein wollte; draußen vor der Thür wurde er dreimal länger aufgehalten, als drinnen geschehen war. Als die Tante nach einiger Zeit wieder zurückkehrte, fand sie den Herrn Titus ganz vertieft in seine Schriften, an seinem Pulte sitzend, wie immer.

»Mein lieber Titus«, rief sie im höchsten Erstaunen aus, »solltest du wirklich überhört haben, was uns bevorsteht? Sofort aufzubrechen, alles liegen zu lassen und abzureisen und nicht zu wissen, wohin! Und so lange fort zu bleiben, sechs Wochen, oder noch mehr, und nicht zu wissen, wo und wie und bei wem und in welcher Nachbarschaft! Es ist ja ein schrecklicher Gedanke, und nun sitzest du da und schreibst, als stünde uns nichts bevor!«

»Meine Liebe, gerade weil uns das Fortgehen bevorsteht, will ich noch meine Zeit benutzen«, antwortete Herr Titus, fleißig weiter schreibend.

»Mein lieber Titus, wie schnell du dich in unerwarteten Lagen zu fassen weißt, ist bewundernswürdig; aber diese Sache muß besprochen sein, sie kann zu tief eingreifende Folgen haben«, sagte jetzt Tante Ninette sehr eindringlich. »Bedenke nur, wo wir hinkommen könnten!«

»Das ist ganz einerlei, wenn's nur still ist; und so ist's auf dem Lande«, bemerkte Herr Titus fortarbeitend.

»Das ist ja gerade, was ich überlege«, fuhr seine Frau fort; »wie wir uns nur sicher stellen, daß wir nicht in ein bevölkertes Haus oder in eine lärmende Nachbarschaft geraten. Da könnte ja eine Schule in der Nähe sein, oder eine Mühle, oder gar ein Wasserfall, da giebt es deren ja so schrecklich viele in der Schweiz; oder es kann ja auch ein lärmendes Gewerbe getrieben werden; oder es könnte in der Nähe der Platz sein, wo so eine Landesgemeinde stattfindet, wo ja die Menschen eines ganzen Kantons zusammenkommen, was doch einen unerhörten Tumult verursachen muß. Aber ich habe einen Gedanken, lieber Titus, es giebt einen Weg, alle dem ausweichen zu können. Ich schreibe nach Hamburg, da lebt der alte Onkel der Frau meines seligen Bruders. Du weißt, die Familie lebte einmal in der Schweiz, da kann ich genaue Erkundigungen einziehen.«

»Es scheint mir, der Weg sei ziemlich weitläufig«, entgegnete Onkel Titus, »und so viel ich weiß, hat die Familie Unangenehmes in der Schweiz erlebt und wird kaum Beziehungen dorthin unterhalten haben.«

»Laß mich dafür sorgen, ich werde alles in Ordnung bringen, mein lieber Titus«, schloß Tante Ninette. Sie ging auch sogleich hin und schrieb einen Brief nach Hamburg, dann begab sie sich zu Doras Arbeitslehrerin, der Nähterin, hin, die eine sehr ordentliche Frau war, und besprach mit ihr Doras vereinsamte Lage während der Zeit ihrer Abwesenheit, und es wurde nach mancherlei Erwägungen von den zwei Frauen beschlossen, den Tag durch sollte Dora alle freie Zeit, die ihr neben der Schule blieb, bei der Nähterin zubringen. Am Abend käme diese mit dem Kinde nachhause und würde die Nacht da bleiben, damit es nicht allein in der Wohnung sei. Der Beschluß wurde Dora noch am Abend mitgeteilt; sie nahm ihn stillschweigend hin und ging dann in ihr einsames Dachkämmerchen hinauf. Hier setzte sie sich erst noch ein wenig auf ihr Bett, und es stiegen so viele Gedanken und Erinnerungen in ihrem Herzen auf an jene Zeit, da sie jeden Tag mit ihrem Vater zusammen war und er zu ihr redete mit so viel Liebe, und wie sie am Abend bei ihm saß, oft noch auf seinem Bette, wenn er müde war und sich früh hinlegen mußte. Dann stieg in ihr das Bewußtsein davon auf, wie so allein sie jetzt schon war, und wenn nun Onkel und Tante auch noch gingen, wie es dann noch einsamer um sie sein würde und sie gar niemand mehr hätte, den sie lieb haben könnte und der sie lieb haben würde. Und nach und nach wurde es der Dora so traurig zumute, daß sie den Kopf in die Hände legte und bitterlich zu weinen anfing. So saß sie lange Zeit und immer mehr kam es ihr in den Sinn, wie verlassen sie sei; und wenn nun der Onkel und die Tante sterben würden, dann werde sie es noch mehr sein und keinen Menschen auf der Welt mehr haben, zu dem sie gehörte, und dann werde sie vom Morgen bis zum Abend an den großen Hemden nähen müssen, so viel sie nur vermöchte, denn die Tante hatte ihr gesagt, sie müsse einmal ihr Leben mit ihrer Hände Arbeit erhalten; das wollte sie ja auch schon thun, wenn sie nur nicht so verlassen sein würde. Und der Gedanke, daß sie dann Tag für Tag mutterseelenallein da sitzen und gar kein einziger Mensch mehr sich um sie kümmern werde, viele, viele Jahre hindurch, bis sie sterben konnte, kam der Dora immer schrecklicher vor, so daß sie so lange da saß und fort weinte, bis vom nahen Turm so mancher Schlag herüberschallte, daß sie aufschreckte. Als sie die Hände von ihren Augen aufhob, war es völlig finster um sie; denn längst war ihr kleines Licht ausgebrannt, und auch von dem Gäßchen her drang kein Schein von einer Laterne mehr zu ihr herauf. Aber durch das kleine Fenster leuchteten jetzt ihre fünf Sterne, so fröhlich strahlend, daß es der Dora auf einmal war, als schaue ihr Vater mit seinen liebevollen Augen von dort auf sie hernieder und sage vertrauensvoll, wie an jenem Abend:

»Gott sitzt im Regimente
Und führet alles wohl.«

Da drang der funkelnde Sternenschimmer tief in ihr Herz hinein und machte wieder heller drinnen, denn was der Vater gesagt hatte, mußte ja so sein, und dann durfte sie auch vertrauen und brauchte nicht so große Angst zu haben vor dem, was kommen würde. Jetzt konnte Dora sich beruhigt niederlegen; aber bis ihre Augen sich schlossen, schaute sie unverwandt nach ihren schönen Sternen hinauf, sie waren ihr zu so großem Troste geworden. Am Abend des folgenden Tages erschien der Doktor noch einmal, wie er verheißen hatte, und machte dem Herrn Ehrenreich allerlei Vorschläge, wohin er sich zu seinem Aufenthalt begeben könnte. Aber die Tante Ninette trat sogleich herzu und erklärte, sie sei dem geeigneten Orte eben auf der Spur; da müßten so viele Bedingungen erfüllt werden, wenn ihr Mann dieses ungewöhnliche Ereignis ohne Nachteil über sich ergehen lassen sollte, daß man mit der eingehendsten Sorgfalt zuwerke gehen müsse, was sie eben thue. Wenn sie dann alles besorgt habe, werde sie das Gutachten des Herrn Doktors noch einholen.

»Nur nicht zu lang hinziehen, bald reisen! bald reisen!« mahnte der Doktor und wollte sich rasch entfernen, fiel aber dabei fast über die Dora hin, die so leise eingetreten war, daß er keine Ahnung davon gehabt hatte.

»Na na, 's hat doch nicht weh gethan?« sagte er, der erschrockenen Dora auf die Achsel klopfend. »Dem mageren Ding wird die Reise auch gut bekommen, nur viel Milch trinken in der Schweiz, immer Milch trinken!«

»Wir haben beschlossen, Dora hier zu lassen, Herr Doktor«, bemerkte Tante Ninette.

»Gut, gut, das ist Ihre Sache, Frau Ehrenreich! Nur müssen Sie aufpassen, sonst erwächst Ihnen von dieser Seite her Schlimmeres, als vom Herrn Gemahl; empfehle mich bestens!«

Damit war der Doktor zur Thür hinaus.

»Herr Doktor! Herr Doktor! Wie meinen Sie das? Wie meinen Sie das?« rief Tante Ninette jammernd aus und rannte hinter ihm drein die Treppe hinunter.

»Ich meine«, rief der Doktor zurück, »daß das Persönchen zu wenig Blut hat und daß es nicht leben kann, wenn es nicht welches bekommt.«

»Ach, du mein lieber Himmel, soll denn nun alles Unglück über uns hereinbrechen!« rief die Tante Ninette händeringend aus, indem sie in das Zimmer ihres Mannes zurücktrat. »Mein lieber Titus, nur eine Sekunde lege deine Feder auf die Seite! Du hast nicht gehört, welch ein schreckliches Wort mir der Doktor ausgesprochen hat, wenn Dora nicht zu Blut kommt.«

»Nimm sie mit nach der Schweiz, sie macht keinen Lärm«, entschied Herr Titus und schrieb weiter.

»Aber, mein lieber Titus, solche Entschlüsse fassen in einer halben Sekunde! Lärm macht sie nicht, ja, das ist eine Hauptsache; aber da bleibt so vieles zu überlegen und abzuwägen und durchzudenken – ach – ach –«; aber Tante Ninette bemerkte, daß ihr Mann so vertieft in seine Arbeit war, daß weitere Mitteilungen von keinem Nutzen sein könnten. Sie ging in ihre Stube zurück, setzte sich hin und wog reiflich alles ab, das Für und das Wider, und dachte jedes Bedenken dreimal durch, bis sie endlich zu dem Schluß gelangte, das Beste sei, den Rat des Doktors zu befolgen und Dora mitzunehmen. Einige Tage nachher langte die Antwort aus Hamburg an; sie war kurz gefaßt. Der alte Onkel kannte gar keine von den Beziehungen, die sein Bruder einst, es seien nun mehr als dreißig Jahre her, bei seinem Aufenthalt in der Schweiz gehabt hatte. Tannenberg, der kleine Ort, den der Bruder bewohnt hatte, sei jedenfalls still und abgelegen, denn dieser habe sich immer über den Mangel an Gesellschaft beklagt, so lang' er dort gelebt habe. Das war alles.

Nun beschloß Tante Ninette, sich an das Pfarramt von Tannenberg zu wenden und einem geeigneten Hause nachzufragen, denn das wenige, was der alte Onkel berichtet hatte, gefiel ihr wie auch ihrem Manne sehr gut; solche Stille und Einsamkeit war ja, was sie nur wünschen konnten. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten; sie lautete erfreulich. Tannenberg sei ein kleiner, aus zerstreuten Häusern und Häuschen bestehender Ort, berichtete der Pfarrherr. Die fragliche Wohnung sei ganz zufällig, aber, wie er glaubte, wirklich ganz nach Wunsch zu haben bei einer Lehrerwitwe, einer älteren, sehr achtbaren Frau, die zwei gute Stuben und ein Kämmerchen anbieten könne. Zu weiteren Erkundigungen, wenn solche nötig wären, legte der Herr Pfarrer die Adresse der Witwe bei. Allerdings waren solche Erkundigungen der Tante Ninette notwendig und zwar in sehr eingehender Weise. Sie schrieb gleich an die Witwe und sprach ihre Freude darüber aus, daß die Häuser in Tannenberg so zerstreut gelegen seien. Nun könnte es aber doch zufällig sein, daß das Haus der Witwe sich gerade in einer Umgebung befände, die für den betreffenden Kranken durchaus als Nachbarschaft vermieden werden müßte. Sie müsse daher fragen, ob auch kein Schmied, kein Schlosser, kein Wagner, kein Steinhauer und auch besonders kein Schlächter anstoßend wohne; ob keine Schule, keine Mühle, besonders auch kein Wasserfall in der Nähe sei. Die Lehrerwitwe schrieb einen sehr netten Brief und konnte alle die Fragen in der beruhigendsten Weise beantworten. Von all den Gewerbetreibenden sei weit und breit keiner zu finden; die Schule und die Mühle so weit entfernt, daß kein Ton davon zu hören sei, und Wasserfälle gebe es keine in der Gegend. Weiter konnte die Witwe berichten, sie wohne in der angenehmsten Nachbarschaft, weit und breit keine Behausung als das große Haus des Herrn Birkenfeld, mit dem prächtigen Garten und den schönen Feldern und Wiesen ringsum. Das sei auch die geachtetste Familie im ganzen Bezirk, und Herr Birkenfeld sitze in jedem Rat und sei ein Wohlthäter des ganzen Umkreises, und so sei auch seine Frau. Sie selbst, die Witwe, habe dieser Familie auch sehr viel zu verdanken, vor allem, daß sie so gut wohne, denn ihr Häuschen gehöre zum Gut des Herrn Birkenfeld, und er selbst habe es ihr anerboten nach dem Tode ihres Mannes, und sei ein Hausherr wie wenige.

So war denn alles aufs beste eingeleitet, für alle erdenklichen Fälle von störendem Gelärme vorgesorgt, und der Tag der Abreise konnte festgesetzt werden. Dora hörte mit großem Erstaunen, daß sie mitreisen werde, und packte voller Wonne den schweren Zeug ihrer sechs großen Hemden zusammen, die sie als Arbeit mitzunehmen hatte. Die Aussicht, die Hemden an einem ganz neuen Orte und unter so veränderten Verhältnissen zu verarbeiten, begeisterte sie so sehr, daß ihr alles wie ein Fest vorkam, sogar diese langen Nähte fertig zu bringen. Endlich, nach vielen mühevollen Tagen, standen Kisten und Koffer bereit unten im Hausflur, und das Mädchen wurde nach dem Mietwagen ausgeschickt. Dora stand schon lange fix und fertig oben an der Treppe und ihr Herz klopfte vor Erwartung der Reise und alles Neuen, das sie nun sehen würde volle sechs Wochen lang. Das kam Dora als eine unabsehbare Herrlichkeit vor nach all den langen, langen Tagen im Nähterinnenstübchen.

Endlich traten auch Onkel Titus und Tante Ninette mit zahlreichen Schirmen und Schachteln aus dem Zimmer, stiegen mit vielen Hindernissen die Treppe hinunter und in den harrenden Wagen hinein. Hier hatte endlich jedes Ding seinen Platz gefunden, und Onkel und Tante lehnten sich, etwas erschöpft von der Anstrengung, in den Wagen zurück, und fuhren nun erwartungsvoll dem ländlichen Stillleben entgegen.



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