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Kapitel VII.
Mitten im ersehnten Leben


Am folgenden Morgen ging Frau Birkenfeld beizeiten ins kleine Haus hinüber und wurde von der Lehrerswitwe mit großer Freude empfangen wie immer, denn Frau Birkenfeld war ja noch zu ihrem seligen Mann in die Schule gegangen und war seine Lieblingsschülerin gewesen, nebst ihrer Freundin Lili. Was hatte der eifrige Lehrer doch für Freude erlebt und welchen Erfolg gehabt bei diesen Schülerinnen! Davon konnte er nie genug reden zu seinen Lebzeiten, das konnte auch seine Witwe nie aus dem Gedächtnis verlieren. Frau Birkenfeld wurde in die Stube hineingeführt und zum Sitzen genötigt, denn da war so viel zu erzählen: noch hatte die Lehrersfrau sie ja nie gesehen, seit sie die fremde Familie im Hause hatte. Da war so vieles nachzuholen und mitzuteilen von der Art der Leute und dann vor allem von dem gestrigen Unfall.

Als sich dann die Witwe ein wenig ausgesprochen hatte, begehrte Frau Birkenfeld mit der fremden Dame zu sprechen und das Töchterchen zu sehen, das von dem Pfeil getroffen worden war.

Frau Kurd entfernte sich, die Botschaft an Frau Ehrenreich zu überbringen, und bald erschien diese und hinter ihr her ihre Nichte Dora, die um den Arm einen dicken Verband trug und sehr blaß und zart aussah.

Nach der ersten Begrüßung nahte Frau Birkenfeld sich gleich dem Kinde, nahm es liebevoll bei der Hand und erkundigte sich teilnehmend, wie es mit der Wunde sei. Dann sprach sie, zu Frau Ehrenreich gewandt, ihr tiefes Bedauern über den Vorfall aus und erkundigte sich in freundlichen Worten nach ihrem und ihres Herrn Gemahls Befinden. Da machte ihr dann die Tante Ninette gleich einige Mitteilungen über den Gesundheitszustand ihres Mannes: wie sehr er der frischen Luft bedürftig gewesen sei und sie sich daher mit großer Mühe und Sorgfalt nach einem Orte tiefer, ländlicher Stille erkundigt hätten und so hierher gekommen wären; wie er nun aber genötigt sei, hinter den festgeschlossenen Fenstern zu sitzen, indem er keine lauten Töne ertrage zu seinen Arbeiten; wie er jedoch in dieser Weise ganz von der Luft komme; wie sie selbst daher die große Besorgnis habe, ihr Mann könnte hier, anstatt vom Schwindel geheilt, erst recht davon befallen werden.

»Das thut mir ja ganz außerordentlich leid, wenn Herr Ehrenreich durch den Lärm der Kinder gestört wird«, sagte Frau Birkenfeld, gleich alles wohl verstehend; »wenn aber Herr Ehrenreich nicht ausgeht, sollte er zum Arbeiten doch ein besonders lustiges Lokal haben. Da kommt mir denn ein Gedanke: ganz hinten in unserm Garten, weit vom Wohnhause und allen gewöhnlich belebten Plätzen entfernt, steht ein luftiges Sommerhäuschen mit Tisch und Sesseln; da sollte Herr Ehrenreich sein Arbeitszimmer aufschlagen, und ich würde den Kindern noch besonders einschärfen, daß sie sich niemals dort oder in der Nähe aufhalten sollten.«

Der Vorschlag gefiel der Tante Ninette sehr wohl; sie wollte gern ihrem Mann die Mitteilung machen und das Anerbieten mit Dank annehmen.

»Und du, liebes Kind«, sagte Frau Birkenfeld nun zu Dora gewandt, »kommst mit Erlaubnis deiner Tante heute und täglich zu uns herüber, um dich im Garten recht zu erholen; meine Kinder haben viel gut zu machen bei dir.«

»In den schönen Garten hinüber zu den Kindern?« fragte Dora, die es kaum glauben konnte; und ein solches Freudenleuchten schoß aus ihren Augen, daß die Tante sie verwundert ansah, denn das hatte sie noch nie gesehen. Der Frau Birkenfeld aber ging dieser Ausdruck der Freude so zu Herzen, daß ihr die Thränen in die Augen kamen und sie mit ihrer ganzen Liebe zu dem Kinde hingezogen wurde. Sie wußte gar nicht, warum; aber diese freudeleuchtenden Augen riefen eine ganze Welt von Erinnerungen in ihr wach.

Es wurde festgesetzt, daß Dora gleich nach Tisch im Garten drüben erscheinen und da bis zum späten Abend bleiben sollte. Daraufhin entfernte sich Frau Birkenfeld.

Tante Ninette begab sich sofort in das Zimmer ihres Mannes und teilte ihm den Vorschlag, das abgelegene Sommerhaus betreffend, mit. Herr Titus fand Gefallen daran, denn der Mangel an Luft fing an ihm sehr fühlbar zu werden, und spazieren zu gehen und dabei so viel kostbare Zeit zu verlieren, dazu konnte Herr Titus sich nicht entschließen, das hatte er nie gethan. So kam ihm das Anerbieten sehr erwünscht. Er schlug vor, das Sommerhaus sogleich in Augenschein zu nehmen, und Tante Ninette begleitete ihn sofort. Sie wanderten nun von außen um den ganzen Garten herum, damit sie nicht eintreten und bei so vielen lebendigen Wesen vorbeigehen müßten. Weit hinten, durch eine kleine Gartenthür eintretend, kamen sie direkt auf das einsame Sommerhaus zu, wie Frau Birkenfeld der Tante erklärt hatte.

Bei dem Häuschen standen zwei alte Nußbäume und eine Trauerweide mit dichten, weitherabhängenden Zweigen, und hinten lag weithin die grüne Wiese. Es war vollkommen still ringsum. Herr Titus hatte unter jedem Arm ein paar große Bücher hinausgetragen, denn er gedachte gleich dazubleiben, wenn es ihm gefallen sollte. Tante Ninette trug Papier und Tintenzeug, Dora kam mit Wachsstock und Zigarren hinterdrein. Herrn Titus gefiel die Lokalität; er richtete sich sogleich ein, setzte sich an den Tisch hin, atmete lange Züge von der guten Luft ein, die durch die zwei Fenster und die offene Thür hereindrang und rieb sich die Hände vor Behaglichkeit. Dann fing er an zu schreiben, und Tante Ninette kehrte mit Dora ins Haus zurück, denn sie wußten, nun begehrte der Onkel allein zu sein, da er zu seiner Arbeit eingerichtet war. –

Unterdessen hatte sich die Nachricht von der gestrigen That der Zwillinge über das ganze Haus verbreitet. Rolf war von seinen Morgenlektionen nachhaus' gekommen und hatte gleich nach seinem Bogen gegriffen. Da fehlte einer der Pfeile. In ungeheurem Zorn stürzte Rolf ins Haus hinauf, um herauszubringen, wer die Unthat begangen habe. Er hatte wenig Mühe, ins klare zu kommen, denn die Zwillinge waren von gestern her noch so weich, daß sie sogleich reumütig bekannten, sie seien es gewesen, und dem Rolf auch noch den Schrecken über den Jammerton mitteilten, den sie vernommen, und auch, daß die Mutter eben jetzt drüben sei, um zu erfahren, was sie getroffen hätten. Nun gingen sie mit dem Rolf nach dem Gärtchen der Frau Kurd hinüber und zeigten ihm die Stelle, wo der Pfeil sein könnte, und richtig, da lag er am Boden, und da nun Rolf durch den Fund wieder guter Dinge war, lief er gleich zu Paula und Jul und rief: »Wißt ihr's schon? Sie haben ein Kind geschossen!« Und so kam es, daß auf einmal alle sechse und hinter ihnen noch Fräulein Hanenwinkel draußen auf den Steinstufen standen und in größter Spannung und Aufregung die Mutter erwarteten. Sie war auch kaum sichtbar, so rief der Hunne schon: »Wo ist's geschossen?« Und dann riefen alle durcheinander und jedes etwas anderes: »Ist's ein Kind?« – »Ist's ein Bub?« – »Wie groß ist's?« – »Wie heißt es?« – »Hat's ihm weh gethan?« –

»Kommt wenigstens ins Haus hinein«, sagte die Mutter abwehrend, und wie sie nun alle drinnen um die Mutter herumstanden, erzählte sie von dem blassen, zarten Mädchen: daß es einen großen, festen Verband um den Arm tragen müsse, so daß es diesen fast nicht bewegen könne; daß das Kind so von Paulas Größe sei und in ihrem Alter sein möge; daß es hochdeutsch spreche und sehr nett und wohlerzogen aussehe; daß es Dora heiße und heute nach Tisch in den Garten herüberkommen werde, wo sie dann gute Bekanntschaft mit ihm schließen könnten.

Nun kam erst recht eine Spannung und Erwartung in die Gemüter: wie das Kind aussehe, wie seine Sprache sein werde, ob es sie wohl verstehen könne; und jedes erwog, in welches besondere Verhältnis das Kind wohl zu ihm treten werde.

Paula stand in stillem Entzücken und sagte nur: »O! o! Wenn es so nett und fein ist, und dazu gerade so alt wie ich, – o Mama, wie freue ich mich!« Und heimlich dachte sie noch viel von einer großen, großen, unauflöslichen Freundschaft, und konnte kaum erwarten, daß es Nachmittag werde. Rolf meinte, Dora wäre gerade im rechten Alter, seine Rätsel auflösen zu können, er wollte sich gleich mit ihr befreunden. Die Zwillinge hatten das Gefühl, als gehöre Dora ganz zu ihnen, weil sie sie geschossen hatten, und sie fanden, das könnte eine herrliche Spielgefährtin für sie werden, denn zur Ausführung ihrer Pläne hatten sie oft ein drittes nötig, das ihnen die Sache recht in Gang bringen sollte, und Paula war nie aufgelegt dazu. Der Hunne sagte befriedigt: »So, jetzt bin ich froh, daß die Dora kommt, so kann ich zu ihr gehen, wenn gar, gar niemand da ist und alle Stühle auf dem Kopf stehen«; denn der ungemütliche Samstagmorgen stand dem kleinen Hunnen immer als eine schwere Zeit vor Augen, da er nie wußte, wohin er sich wenden sollte. Und der Jul sagte: »Hunne, ich will aber auch etwas von der Dora; was kann ich haben?«

»Weißt, Jul«, riet der Hunne nach einigem Nachdenken, »sie kann helfen dir die Reitstiefel ausziehen, weißt, wir waren zu wenige das letzte Mal.«

»Richtig«, bestätigte Jul befriedigt.

Unterdessen stand Dora drüben in zitternder Erwartung. Einen Augenblick wußte sie vor Freude nicht, was sie thun sollte: es war ja wirklich gekommen, das tief ersehnte Glück, sie sollte in den Garten hineinkommen, wo alle die Blumen glänzten und dufteten, und zu all den lustigen Kindern. Aber dann auf einmal kam eine Furcht über sie: sie hatte wohl die Kinder kennen gelernt durch das Loch, sie waren ihr alle bekannt, jedes hatte ein besonderes Interesse in ihr erweckt, aber sie war ihnen ja ganz unbekannt, ein ganz fremdes Kind für sie, und dann sagte sich Dora noch – und das Gefühl drückte sie sehr nieder –, sie sei ja so unwissend und so ungeschickt, und die Kinder drüben konnten und wußten so vieles, das hatte sie wohl bemerkt. Würde sie ihnen nicht ganz verächtlich vorkommen, so, daß sie gar nichts mit ihr zu thun haben wollten? So ging es in der Dora auf und nieder noch während des Mittagessens, von dem sie vor Aufregung fast nichts hinunterbrachte, und nun auf einmal war die Zeit da und Tante Ninette sagte: »Nun kannst du gehen, Dora.«

Dora setzte ihr Hütchen auf den Kopf und zog aus. Drüben trat sie durch die Vorderthür in das Haus ein und durchschritt den langen Hausgang, an dessen Ende die Hinterthür in den Garten offen stand. Sie ging darauf zu und trat hinaus.

Da auf einmal stand sie im Angesicht der ganzen Familie; gerade vor ihr unter dem Apfelbaum saßen Herr Birkenfeld und seine Frau und rings um sie herum alle sechs Kinder. Darauf war Dora nicht gefaßt gewesen, sie glaubte nur die Kinder zu finden. Unschlüssig blieb sie stehen und blickte scheu auf die Gesellschaft hin. Aber der kleine Hunne hatte jetzt lang genug auf Dora gewartet; so wie er sie erblickte, sprang er von seinem Sessel herunter ihr entgegen und rief, seine Hand ausstreckend: »Komm du nur, Dora, du hast schon noch Platz auf meinem Sessel, komm! komm!« Er war jetzt bei ihr angelangt, faßte sie gleich fest bei der Hand und zog sie mit sich. Gleich kamen auch die anderen Kinder auf Dora zugelaufen und es war eine Freude und ein Begrüßen, als käme die älteste Freundin des Hauses an; und so kam Dora unter Fragen und Begrüßungen unvermerkt zu den Eltern heran und wurde so freundlich von ihnen bewillkommt, daß ihr gleich alle beängstigende Scheu verging, und wenige Minuten nachher saß sie mitten im Kreis auf einem Sessel mit dem kleinen Hunnen, so vertraulich, als hätte sie schon lange zu der Familie gehört. Vater und Mutter waren aufgestanden und gingen ein wenig hin und her im Garten, und immer näher drängte sich nun eins ums andere der Kinder an Dora heran, und jedes hatte ihr etwas Besonderes zu sagen. Paula sagte am wenigsten, sie schaute aber die Dora immer an, so, als machte sie im stillen ihre Beobachtungen. Rolf, Wili und Lili standen so nah als möglich an Doras Sessel, um sich ihr verständlich zu machen, und der Hunne hielt sie ganz fest, damit sie ihm nicht etwa wieder entwische.

»Wenn ihr das erste Mal die Dora zusammendrückt, so kann sie nicht zum zweitenmal wieder kommen«, bemerkte jetzt Jul, der langausgestreckt auf seinem Gartenlehnstuhl saß; »so laßt ihr doch Platz zum Atemholen!«

»Wie alt bist du, Dora? Nicht wahr, nicht viel älter, als ich?« fragte jetzt Lili erwartungsvoll.

»Ich bin eben zwölf Jahr alt geworden«, antwortete Dora.

»O wie schade, dann bist du so alt wie Paula«, klagte Lili, die gehofft hatte, Dora würde besonders zu ihr gehören, auch dem Alter nach.

»Nein, nein«, warf Rolf ein, »Dora ist so alt wie ich; wenn sie zwölf ist, so ist sie mir näher, als der Paula.« Rolf sah in dem Umstand ein sehr günstiges Zeichen für seine Aussichten, denn so gehörte Dora schon von vornherein am nächsten zu ihm. »Kannst du gut Rätsel auflösen und thust du's gern?«

»Ja, ja, ich habe auch ein Rätsel gemacht«, fiel der Hunne dazwischen; »rat einmal, Dora: ›Mein erstes kann man nicht trinken, aber –‹«

Sehr entrüstet schnitt Rolf des Hunnen Rätsel mitten durch: »Komm doch nicht immer mit dem abscheulichen Rätsel, das gar keins ist, Hunne!« rief er verweisend. »Aber gieb nun acht, Dora: ›Mein erstes schmeckt –‹«

Aber auch Rolf drang nicht durch mit seinem Rätsel. Lili hatte Doras Hand erfaßt und zog mächtig daran und drängte mit Ungestüm: »So komm, Dora, so komm! Ich will alles spielen.« Denn Dora hatte Lili gefragt, ob sie Klavier gespielt habe, und Lili fand den Umstand günstig, die Dora für sich in Anspruch zu nehmen. Lili siegte, denn sie zog unnachgiebig die Dora von ihrem Sitz auf, und Dora wollte ja auch gern das Spiel hören, nur wollte sie nicht gern den Rolf beleidigen.

»Es darf dir nicht leid sein, Rolf«, sagte sie zu ihm zurückgewandt; »ich könnte deine Rätsel gewiß nicht gut erraten, dann wäre es ja nur langweilig für dich.«

»Willst du's denn nicht einmal probieren?« fragte Rolf, etwas enttäuscht.

»Doch, wenn du's gern willst, so will ich's wohl probieren, nachher«, rief Dora zurück, denn Lili hatte sie schon bis zum Haus hingezogen. Der Hunne hatte nicht losgelassen; er hing fest an der Dora und wurde mitgezogen. Jetzt rief er immer zu: »Und meines auch, Dora, und meines auch!« Und sie versprach mit großer Freundlichkeit, daß sie das seinige auch auflösen wolle.

Nun war die Gesellschaft beim Klavier angelangt. Wili war auch mit dabei, er spielte ja auch Klavier, die Zwillinge hatten den Unterricht bei Fräulein Hanenwinkel schon vor dem Jahr mit einander begonnen, und die Eltern hatten dabei einen dreifachen Gewinn im Auge: sie dachten, die Unterhaltung sei für die Kinder ein Vergnügen, die Macht der Töne könne besänftigend auf sie einwirken, und jedenfalls würden sie während der Zeit, die der Unterricht und die Übungen dafür erforderten, keine Schrecken verbreitenden Streiche erfinden.

Lili hatte Dora ans Klavier gezogen; hier trat nun aber der Standpunkt, den sie selbst zu der Sache einnahm, auf einmal wieder klar vor ihre Augen, und sie sagte: »Weißt, Dora, Klavierspielen ist eigentlich furchtbar langweilig; siehst du, wenn man sich üben muß, wollte man manchmal lieber sterben, nicht wahr, Wili?«

Wili bejahte den Ausspruch.

»Ach nein, Lili, wie kannst du so reden!« sagte Dora, indem sie mit verlangenden Blicken das Klavier betrachtete. »O, wenn ich da hinsitzen und so ein Liedchen spielen könnte, wie du es kannst, das wäre meine allergrößte Freude.«

»Meinst du?« fragte Lili erstaunt und schaute nachdenklich die Dora an, und der verlangende Ausdruck ihrer Augen mußte etwas Ansteckendes für Lili haben. Sie öffnete schnell das Klavier und fing an ihr Liedchen zu spielen. Und Dora saß daneben und zog die Töne durstig ein und sah so entzückt aus, als biete ihr Lili das herrlichste Gut.

Das sah Lili wohl und wurde selbst ganz begeistert und spielte immer eifriger und immer schöner. Wili sah aber auch den Eindruck, den das Spiel machte, und er sagte: »Lili, laß mich auch einmal!« denn er wollte auch einen solchen Effekt hervorbringen; aber jetzt war Lili zu sehr im Feuer, sie wich keinen Augenblick, und mit erneuter Begeisterung fing sie immer wieder von vorn an.

»Kannst du noch ein Liedchen?« fragte jetzt Dora.

»Nein, Fräulein Hanenwinkel will mir keins geben, bis ich die Übungen recht spielen will«, gab Lili zur Antwort; »aber ich weiß schon, was ich jetzt thue, wart nur bis morgen, Dora. Und jetzt weiß ich noch etwas«, fuhr Lili fort, sich auf dem Klavierstuhl umdrehend, »ich will dir Klavierstunden geben, daß du das Lied auch spielen kannst, und dann lernen wir noch mehr, willst du?«

»O, kannst du das, Lili?« fragte Dora und sah so überglücklich aus, daß Lilis Entschluß feststand, gleich morgen sollten die Stunden beginnen.

»Aber mein Arm, Lili?« sagte Dora plötzlich sehr entmutigt.

Aber Lili ließ sich nicht so bald in ihren Plänen stören. »Das wird schon bald besser sein, und bis dahin kann ich viel lernen und das ist dann gut für dich«, erklärte sie der lauschenden Dora.

Jetzt ertönte die große Glocke, die zum Abendessen rief. Eiligst erfaßte der Hunne Doras Hand und zeigte ihr, daß da keine Zeit zu verlieren sei; denn der Papa erschien immer sehr präcis zu den Mahlzeiten, und der Hunne stimmte darin völlig überein mit ihm.

Unter dem Apfelbaum war der Tisch gedeckt und mit mannigfaltigen schönen Dingen beladen. Mitten unter den Kindern saß Dora, und wenn sie so um sich blickte und die Blumen ringsum und den Apfelbaum über sich und alle die freundlichen Gesichter um sich anschaute, die ihr schon alle wie alte, nahe Freunde vorkamen, so war es ihr, als müsse sie träumen, denn alles war so wundervoll und so viel schöner noch, als sie sich's vorgestellt hatte, daß sie es fast nicht fassen konnte, daß es in Wirklichkeit so sei, und es stieg wie eine Angst auf in ihr, wenn sie auf einmal erwachen würde und alles wäre vorbei. Aber Dora erwachte nicht, sondern während ihres Staunens und stillen Entzückens hatten sich auf ihrem Teller eine solche Menge wirklicher greifbarer Dinge angesammelt, daß ihr darüber wieder ein Gefühl der Zuversicht aufstieg, sie sitze doch mitten im wahren, wirklichen Leben.

»Iß deinen Kuchen, Dora, sonst kommst du ganz hintennach«, mahnte nun der Hunne. »Sieh, Jul und ich haben schon vier gegessen. Aber Jul und ich können alles ganz gut machen, nur nicht die Reitstiefel ausziehen; aber du hilfst uns dann schon, gelt, Dora?«

»Hunne, bleib bei deinen Kuchen«, ermahnte Jul, und Dora konnte keine Antwort mehr geben, denn der Papa hatte sich in ein Gespräch mit ihr eingelassen; sie mußte ihm von ihrem Vater und ihrem Leben in Hamburg und Karlsruhe erzählen.

Bis hierher hatte Paula sich der Dora noch gar nicht genähert. Als nun aber das Mahl zu Ende war, kam die erstere leise an den Sessel der letzteren heran und sagte: »Komm ein wenig mit mir, Dora.«

Mit großer Freude folgte Dora der Aufforderung, denn im stillen hatte sie befürchtet, Paula wolle gar nichts von ihr wissen, und doch hätte sie sich ihr so gern genähert, denn Paula zog sie sehr an in ihrer stillen und ganz eigenen Weise. Paula hatte aber zuerst sehen wollen, wie das Wesen der Dora sei; es mußte ihr aber gut gefallen haben, denn nun nahm sie Dora an den Arm und verschwand mit ihr hinten im Garten, und wie nun auch nachher die Zwillinge und der Hunne und dann auch noch Rolf hin und her suchten und nach Dora riefen – denn sie wollten alle noch mit ihr sein; Dora blieb verschwunden –: Paula hatte sie nämlich um den Garten herum und hinauf in ihr Zimmer geführt. Da saßen die beiden zusammen und erzählten sich so lang und so viel, wie sie noch nie zuvor zu keinem Menschen hatten thun können, denn keines von beiden hatte je eine Freundin im gleichen Alter gehabt, und zum erstenmal erfuhr jedes, wie das ist, wenn jemand gleich denkt und gleich fühlt, wie man selbst thut und an denselben Dingen Freude hat und dieselben Pläne und Wünsche und Ideale in sich trägt. Paula und Dora schlossen einen innigen Freundschaftsbund zusammen und waren so beglückt, daß sie sich gefunden hatten, daß sie ganz alles andere darüber vergaßen und nicht bemerkten, daß schon lange die Sterne am Himmel standen über ihnen und es um sie her ganz dunkel geworden war.

Jetzt trat die Mutter ins Zimmer; ihr war endlich eingefallen, wo die Mädchen sein möchten. Dora sprang auf, denn nun bemerkte sie, daß die Nacht eingebrochen war, und die Tante hatte sie wohl lange schon zuhause erwartet.

Unten standen die anderen Kinder alle und waren ein wenig unzufrieden, daß Dora so verschwunden war, denn jedes hatte noch so viel mit ihr vorgehabt. Rolf hauptsächlich war ungehalten. »Weißt du, Dora«, sagte er, »du wolltest ja mein Rätsel erraten, oder willst du jetzt noch?«

Aber Dora war jetzt ängstlich, nachhause zu kommen. Die Mutter sagte, morgen sollte mit allem fortgefahren werden, denn Dora müßte wiederkommen und schon des Morgens, sie könne ja doch nun nicht arbeiten. Die Kinder stimmten mit lautem Jubel ein und setzten fest, Dora sollte in aller Frühe des Morgens wiederkommen am folgenden Tag und so jeden Tag, unausgesetzt, so lange sie dableibe, denn da war nun so viel mit einander zu verhandeln und zu besprechen und zu erleben, daß man jede Minute benutzen müsse. Der Abschied wollte kein Ende nehmen, denn jedes hatte der Dora noch etwas Besonderes zu sagen; aber endlich schnitt Rolf den Faden ab, denn er hatte die Aussicht, der letzte auf dem Platz zu bleiben: er sollte Dora hinüber begleiten. Als die beiden über den Platz dem kleinen Hause zugingen, leuchteten die Sterne so hell über ihnen, daß Dora stillstehen mußte.

»Sieh, Rolf«, sagte sie zum Himmel zeigend, »siehst du dort die fünf glänzenden Sterne? Die kenne ich schon so lange; immer schienen sie in meine Kammer hinein in Karlsruhe, und hier sind sie wieder.«

»O, die kenne ich gut«, versetzte Rolf sogleich, »die sind auch auf meiner Karte; weißt du, wie sie heißen?«

»O nein. Weißt du auch die Namen der Sterne, Rolf? Du weißt so viel!« sagte Dora bewundernd. »Nicht wahr, die fünf gehören zusammen und haben zusammen einen Namen? Es giebt gewiß noch mehr, die zusammen gehören; ich habe noch mehr so gesehen, von denen ich's dachte; kennst du sie alle? O, wenn ich sie doch von dir kennen lernen könnte!«

Rolf war sehr erfreut über den neuen Zweig der Wissenschaft, den er mit der lernbegierigen Dora behandeln könnte.

»Komm nur gleich, Dora«, sagte er mit Feuereifer, »jetzt fangen wir auf der Stelle an und ich zeige dir alle hinter einander, und wenn es gerade zwölf Uhr würde darüber.«

Der Ausspruch erinnerte Dora daran, daß es jetzt schon spät sei.

»Nein, nein, Rolf«, sagte sie eilend, »heute nicht mehr, ich danke dir vielmals; aber morgen, willst du morgen?«

»Also sicher, Dora, auf morgen, denk dran! Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Rolf!« gab Dora zurück und eilte ins Haus hinein, so übervoll von ihrem Glück und dem ganzen Reichtum des Tages, den sie erlebt hatte, daß sie gleich auf die harrende Tante Ninette zusprang und von allem mit einander zu erzählen anfing mit einer ganz überraschenden Lebhaftigkeit, so daß die Tante ziemlich erschrocken abwehrte: »Dora, Dora! Bedenk doch, – die Aufregung könnte dir ja in den kranken Arm fahren! Geh jetzt schlafen, das wird das Beste sein.«

Dora ging gleich in ihr Zimmerchen, aber schlafen konnte sie unmöglich jetzt schon. Sie mußte an ihrem Bette niederknieen und dem lieben Gott recht mit dem ganzen Herzen danken, daß Er ihr solche Freude hatte zuteil werden lassen und ihr noch mehr davon schenken wolle; nachher wolle sie dann ja auch so gern wieder an ihre Arbeit gehen und die langen Tage ohne Klagen verleben und nie mehr vergessen, welche Tage des großen Glückes ihr der liebe Gott geschenkt hatte. Und noch lange, lange konnte Dora vor Dank und Freude ihre Augen nicht zuschließen.



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