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Kapitel V.
Zustände vor und nach der Sintflut


Es gab gewisse Zeiten, da der kleine Hunne gar keinen Anhaltspunkt finden konnte und unstät und flüchtig das Haus durchzog. Niemand wollte ihm auch Bescheid geben, einer schickte ihn zum anderen, und die Mutter meinte, er sollte sich an seinem kleinen Tische beschäftigen, bis sie zu ihm kommen könnte. Aber der Hunne hatte seine unruhigen Stunden gerade dann, wenn er sie am wenigsten haben sollte, und vornehmlich am Samstagmorgen, wo jedermann besonders in Anspruch genommen war. So war es auch am Tage nach diesen Vorgängen, der ein Sonnabend war. Schon längere Zeit wanderte der Hunne rastlos zwischen den Sesseln und Stühlen durch, die draußen auf den Gängen standen, denn drinnen in den Zimmern wurde geputzt. Der ganze Hausrat sah so unstät aus, wie der kleine Hunne selbst.

Erst suchte er die längste Zeit nach der Mutter und fand sie endlich zuoberst im Haus auf dem Estrich; aber sie schickte ihn gleich wieder hinunter, denn sie war sehr mit ihrer Wäsche beschäftigt. »Geh, suche Paula auf, vielleicht ist sie frei jetzt«, hatte die Mutter gesagt. Der Hunne fand Paula am Klavier.

»Geh, geh, Hunne, ich muß noch üben, ich kann keine Rätsel erraten«, denn der Kleine wollte immerfort wieder sein Rätsel vom Nußknacker anbringen; Rolf hatte ihn angesteckt mit seinem Rätselfieber. »Dort kommt Fräulein Hanenwinkel, geh zu ihr!«

»Fräulein Hanenwinkel: Mein erstes kann man nicht trinken, aber essen«, rief der Kleine der Herbeikommenden entgegen.

»Nein, Hunne, verschone mich«, unterbrach ihn eilends das Fräulein. »Wenn nun gar du noch ins Rätselmachen fällst, was soll das geben! Ich habe aber keine Zeit dafür. Sieh, dort steigt der Herr Jul vom Pferde, geh zu ihm damit.«

Der Kleine zog wieder weiter.

»Jul, gar niemand will meine Rätsel erraten und noch am allerwenigsten Fräulein Hanenwinkel«, klagte er dem Eintretenden; »sie hat gesagt, du solltest es thun.«

»So, wie heißt es denn, Hunne, geh los damit«, sagte Jul.

»Mein erstes kann man nicht trinken, aber essen«, begann der Hunne und blieb hier stehen.

»Gut, weiter, Hunne, weiter!«

»Weiter mußt du es machen; siehst du, Jul, dann giebt es ›Nußknacker‹«, berichtete der Hunne.

»Ja, das seh' ich nun ganz deutlich, Hunne; aber komm, weil mir Fräulein Hanenwinkel dein Rätsel zu erraten geschickt hat, so will ich ihr nun auch eins durch dich schicken. Komm, ich sag' es dir vor und du lernst es auswendig; dann gehst du hin und giebst es Fräulein Hanenwinkel zu raten auf.«

Nun setzte sich Jul hin, stellte den Kleinen vor sich auf und sagte ihm langsam und deutlich mehrere Male hinter einander sein Rätsel vor:

»Wenn kleine Hunnen wie die ersten krähn,
Macht sie das Ganze in die zweiten stehn
Und spricht sehr ernst: Auf Wiedersehn!«

Es währte gar nicht lange, so hatte der Kleine die Worte erfaßt und lief eifrig fort damit, um sie dem Fräulein zu überliefern.

Fräulein Hanenwinkel saß mit Wili und Lili im Lehrzimmer und brachte mit Mühe den beiden ein Rechenexempel bei, denn sie waren heute über alle Maßen zerstreut, sie mußten etwas Besonderes im Kopfe haben. Jetzt trat Hunne herein.

»Ein Rätsel, Fräulein Hanenwinkel«, erklärte er kurz.

»Nein, absolut nicht, das ist keine Zeit, deine Rätsel zu bringen, Hunne«, entgegnete ihm das Fräulein sehr bestimmt. Aber der kleine Hunne hatte den großen Jul im Rücken, das machte ihn sehr mutig; ohne zurückzuweichen, zeigte er wiederholt an:

»Der Jul hat's gesagt, der Jul hat's gesagt.«

»So mach und sag schnell dein Rätsel«, sagte etwas nachgiebiger das Fräulein.

Sehr fest und deutlich trug nun der Hunne sein erlerntes Rätsel vor.

Fräulein Hanenwinkel ließ nichts auf sich sitzen, sondern war allezeit schlagfertig im Antworten, denn sie war aus Bremen gebürtig. Augenblicklich setzte sie sich an den Tisch, nahm Feder und Papier zur Hand und schrieb auf ihr Blatt:

»Mein drittes wird in den ersten reif,
Und mangelte nicht ein N daran,
So käme mein Ganzes groß und steif
Und fing es gleich zu benagen an.
Die Hüllen kämen dahin, wo mancher erschreckt wird,
Weil er drüber stolpert und zu Boden gestreckt wird.«

»Da, bring dies Herrn Jul«, sagte sie, indem sie dem Kleinen das Blatt übergab; »sag ihm, da er meinen Namen so schön zum Rätsel umgewandelt habe, wolle ich nicht zurückbleiben und einen anderen ebenso gestalten. Aber nun bleib weg, Hunne, und komm nicht wieder, wir wollen durchaus nicht mehr aus unserer Rechnung herauskommen.«

Wili und Lili schienen diese Möglichkeit nicht zu befürchten; man konnte ihnen ansehen, daß sie so ganz aus ihrem Rechnen heraus waren, daß sie kaum mehr hineinkommen würden. Während der ganzen Zeit, da das Fräulein geschrieben und mit dem Kleinen verkehrt hatte, waren die beiden sich immer näher gerückt, hatten die Köpfe ganz nah zusammengesteckt und unverkennbar wichtige Pläne ausgearbeitet. Diese Thätigkeit schien auch so eingreifend in den beiden Köpfen fortzuwirken, daß nicht die einfachsten Zahlen mehr darin haften blieben und Fräulein Hanenwinkel schließlich mit Seufzen und der Bemerkung ihr Buch zumachte: wären ihre Zahlen ebenso viele dumme Streiche, so würden Wili und Lili sie mit der größten Schnelligkeit erfassen. Diese Anschauung des Fräuleins mochte nicht unrichtig sein, denn die beiden Geschwister hatten eine hervorragende Befähigung für diese besondere Art von Streichen. Sie schienen auch jetzt etwas Ähnliches im Plan zu haben. Sobald der Unterricht zu Ende war, stürzten sie voller Unternehmungseifer dem Waschhause zu und hielten hier, angesichts der verschiedenen kleineren und größeren Wasserzuber, eine geheimnisvolle Beratung.

Bei Tisch zog Jul ein Blatt hervor und fragte: »Wer errät ein treffliches Rätsel, das Fräulein Hanenwinkel verfaßt hat?«

Hierauf las er es vor.

Kaum war er damit zu Ende, so rief Rolf: »›Julius‹! Und mit Recht hieße der Name ›Julinuß‹, wenn er dich betrifft.«

Die Lösung war richtig. Fräulein Hanenwinkel las aber ihr Rätsel nicht vor und sagte nichts davon, denn das Spitzeln auf ihre Eigentümlichkeiten wollte sie nicht verbreiten.

Gleich nach Tisch liefen Wili und Lili wieder nach dem Waschhaus. Der Samstagnachmittag war arbeitsfrei; so hatten die beiden eine schöne Zeit für sich. Fräulein Hanenwinkel hatte zwar die Ausgabe, nachzusehen, was unternommen werde. Sie hatte aber die Kinder ins Waschhaus eintreten sehen und nahm an, es sei zu dem Zweck geschehen, eine der Puppenkleider-Waschungen in Gang zu bringen, wie solche öfters vorkamen; sie war sehr froh, daß die beiden für einige Stunden Beschäftigung gefunden hatten.

Aber Wili und Lili hatten heute größere Gedanken, als Puppenwäsche. Sie hatten schon mehrmals mit der schönen Arche Noäh gespielt, die der Vater mitgebracht hatte, und beide hatten sich sehr tief in alle diese Ereignisse, in die ganze wundervolle Existenz einer Arche eingelebt. So kam Lili auf den Gedanken, selbst eine solche Archfahrt auszuführen, und Wili stimmte begeistert bei. Schon hatten sie sich die nötigen Vorbereitungen sehr praktisch und zweckentsprechend ausgedacht, denn Lili hatte ihre Augen überall offen und wußte, wie dies und das gemacht wird.

Unter den verschiedenen Wasserzubern war ein mittelgroßer von Wili und Lili als Arche ausgewählt worden. Die Tiere hatten noch Platz, wenn sie ordentlich jedes auf seinem Plätzchen stillsitzen würden.

Die Archtiere mußten natürlich der Schnurri und die Philomele sein. Beide wurden nun herbeigerufen und -gelockt. Knurrend folgte der Schnurri dem Ruf, die Philomele aber schmeichelte und streichelte an der Lili herum, wie diese sie auf den Arm nahm, und Lili sagte: »Du bist doch viel artiger, Philomelchen, als der alte Schnurri.«

Es verhielt sich aber mit den beiden so: die Philomele hatte ihren Namen bekommen, weil sie ganz melodisch miaute, und der Schnurri den seinen, weil er fast immer vor sich hin schnurrte und knurrte; das hatte aber auch seinen Grund. Den beiden war befohlen, daß sie auf gutem Fuß mit einander leben und sich nichts zuleid thun sollten, und Schnurri folgte pünktlich seiner Herrschaft und war zu jeder Zeit friedlich und rücksichtsvoll gegen die Philomele. Wenn sie aus derselben Schüssel ihr Mittagsmahl einnahmen, aß er ganz langsam, weil sie mit ihrem kleinen Mäulchen viel weniger auf einmal einführen konnte. Die Philomele dagegen war einen Augenblick ganz freundlich und schmeichelnd gegen den Schnurri, besonders wenn jemand dabei war; aber auf einmal hob sie die kleine Pfote auf, und ehe er sich's versah, hatte sie ihm damit eins hinters Ohr gezwickt. Dann knurrte der Schnurri, und da dies alle Augenblicke geschah, knurrte er fast immer vor sich hin und so hieß er Schnurri, aber ungerechterweise, denn sein Charakter war von Natur menschenfreundlich und friedliebend.

Nun mußte zur Archfahrt vor allem das Wasser herbeigeschafft werden. Lili wußte sehr gut, daß bei der Wäsche eine lange hölzerne Rinne am Brunnen vor dem Waschhaus unter die Röhre gelegt wurde, und dieser Rinne wurde am anderen Ende ein Zuber unterstellt, der durch diese Vorrichtung mit Wasser gefüllt wurde. Nun hatte sie sich ausgedacht, wenn man die Rinne vom Brunnen aus auf den Boden des Waschhauses richten würde, wo der Zuber stand, so müßte nach und nach der Boden mit Wasser bedeckt werden, das immer ein wenig höher stiege, bis es den Zuber vom Boden aufheben würde, und so würde die schwimmende Arche entstehen. Das war nun alles ausgesonnen; aber wie konnte man zu der langen Rinne gelangen, die vor allem nötig war?

Wili und Lili wogen vorsichtig gegen einander ab, was für den Battist und was für die Trine spräche, um eins oder das andere zur Mitwirkung an dem Unternehmen herbeizuziehen.

Zwischen dem alten Battist und der jungen Trine bestand ein ganz ähnliches Verhältnis wie zwischen Schnurri und Philomele. Battist hatte seit langen Jahren im Hause Birkenfeld gedient und hatte überall mitzureden, denn er verstand alle Geschäfte und wußte, wie alles gehen mußte im Haus und im Stall, und kannte die Wirtschaft wie kein anderer. Das Ansehen, das der Battist dadurch genoß, verdroß die Trine ein wenig, denn wenn sie auch noch nicht manches Jahr im Haus war, so war doch ihre Base so lange dagewesen, bis sie zum Arbeiten zu alt geworden war. Nun hatte sie sich zur Ruhe gesetzt und die junge Trine an ihren Platz gestellt. So meinte diese, sie habe auch ein altes Recht an das Haus und der Battist brauchte nicht so den Anführer zu spielen. Vor den Gliedern der Familie war sie zwar manierlich gegen ihn, aber hinterwärts zwickte sie ihn gern, wo sie konnte, so wie die Philomele mit dem Schnurri that.

Die Kinder hatten längst gemerkt, wie die Sachen standen und hatten öfter schon ihre kleinen Vorteile aus den Verhältnissen gezogen. Wili und Lili hätten sich lieber an die Trine gewandt, denn sie hatten mehr Aussicht auf Zustimmung bei ihr, als bei Battist, der nicht viel auf neue und ungewöhnliche Dinge hielt. Aber der Gegenstand, den sie heute brauchten, gehörte unter seine Herrschaft, und so beschloß denn Lili, den Battist um seinen Beistand anzusprechen, während Wili Hund und Katze festhalten sollte, daß sie nicht entsprangen. Battist stand in der Tenne und ordnete allerlei Sämereien. Hier fand ihn Lili und stellte sich vor ihn hin, beide Hände auf dem Rücken, ganz so wie der Papa stand, wenn er Geschäftliches mit seinen Leuten abzuthun hatte.

»Battist«, fing sie sehr entschlossen an, »wo ist die Rinne, die man braucht, wenn man vom Brunnen will Wasser in einen Zuber fließen lassen?«

Battist sah auf von seinen Sämereien und betrachtete die Lili ein wenig, so wie wenn er die Frage noch einmal von ihr ablesen wollte, denn der Battist war immer bedächtig. Dann fragte er seinerseits:

»Hat dich die Frau Mama geschickt?«

»Nein, ich komme aus mir selbst«, erklärte Lili.

»So, dann weiß ich nicht, wo die Rinne ist«, gab der Battist zurück.

»Aber, Battist«, begann Lili wieder, »ich will ja nur ein wenig Wasser vom Brunnen; warum kann ich denn das nicht haben?«

»Ich kenne die Vögelchen«, brummte Battist; »einmal ein wenig Feuer und einmal ein wenig Wasser und immer ein Unheil. Wird nichts draus, sag' ich, wird nichts draus.«

»So ist es mir gleich«, trotzte Lili und ging davon und geraden Weges der Küche zu, wo die Trine stand und scheuerte.

»Trine«, sagte Lili schmeichelnd, »komm doch und gieb uns die Wasserrinne, der Battist will sie uns keinen Augenblick hergeben; gelt, du giebst sie uns schon?«

»Ja natürlich«, bestätigte die Trine; »ein wenig Wasser werdet ihr wohl haben dürfen; aber du mußt warten, bis der alte Bär herauskommt, dann komm' ich mit dir.«

Nach einer Weile sah Trine den Battist über den Platz kommen; er ging am Haus vorbei und die Wiesen hinunter.

»So, jetzt komm nur«, sagte sie, nahm Lili an der Hand und lief mit ihr nach dem Waschhaus, zog hier mit kräftigen Armen die Rinne aus ihrem Versteck hervor, legte sie unter die Röhre und richtete das andere Ende in einen kleinen Zuber hinein. Dann erklärte sie der Lili, wenn nun genug Wasser darin sei, könne sie mit Wili zusammen ganz gut die Rinne auf die Seite schieben, und wenn sie sie wieder brauche, von neuem unter die Röhre legen; sie selbst müsse nun an ihre Arbeit zurück.

Die Trine ging, und nun endlich konnte die Fahrt beginnen. Die Rinne wurde vom Zuber weg auf den Boden gelegt, und nun stieg zuerst Lili ein, dann folgte Wili, dann wurde die Philomele heraufgehoben und endlich noch der Schnurri hereingezogen.

Nun war alles in Sicherheit in der herrlich gebauten Arche. Da saßen nun der Noah und seine Frau und freuten sich sehr über ihre Rettung und die schöne Fahrt auf dem steigenden Wasser; denn fleißig floß vom Brunnen der Bach herein. Schon stand das Wasser ziemlich hoch vom Boden aus, und jetzt – wahrhaftig – jetzt wurde die Arche emporgehoben und fing zu schwimmen an. Der Noah und seine Frau drinnen jauchzten vor Freuden; es war wirklich erreicht, die Arche schwamm hin und her auf den wirklichen Wasserfluten!

Vom Boden draußen mußte man mehrere hohe, steinerne Stufen heruntersteigen, um ins Waschhaus einzutreten, so daß eine hohe Wassermasse da drinnen Platz hatte. Das Wasser stieg nun auch höher und höher; es fing an, den Kindern ein wenig unheimlich zu werden.

»Sieh, sieh, Wili, wir können ja gar nicht mehr aussteigen«, sagte Lili, »und es wird immer noch höher.«

Wili schaute sehr bedenklich über den Rand des Zubers hinaus und sagte: »Wenn es doch nur nicht immer höher würde, wir müssen sonst ertrinken.«

Aber es wurde immer höher, immer höher.

Jetzt fing auch der Schnurri an unruhig zu werden und sprang auf, und dadurch machte der Zuber so schreckliche Schwankungen, daß er umzukippen drohte. Das Wasser war aber schon so tief, daß die Kinder gar nicht mehr hinaus springen konnten, und jetzt kam ein furchtbarer Schrecken über sie, und beide fingen aus Leibeskräften zu schreien an: »Wir ertrinken! Wir ertrinken! Mama! Mama! Battist! Trine! Wir ertrinken!« Und endlich schrieen sie vor Entsetzen noch ganz ohne Worte und stießen die fürchterlichsten Schreie aus. Der Schnurri bellte und heulte vor Teilnahme mit, die Philomele aber biß und kratzte um sich und miaute ganz wütend, denn jetzt zeigte sich der wahre Charakter der beiden. Die Philomele wollte nicht ins Wasser hinaus und wollte auch nicht im Zuber bleiben und so gebärdete sie sich wie eine Wilde und schneuzte und zwickte und kratzte, wo sie hin traf. Als aber der treue Schnurri sah, daß auf all sein Geheul keine Hilfe kam, nahm er auf einmal einen großen Satz ins Wasser und schwamm der Thür zu, schüttelte sich tüchtig und lief davon. Die Kinder aber schrieen immer ärger, denn der Schnurri hatte dem Zuber im Herausspringen noch den gefährlichsten Stoß versetzt.

Dora war längst heruntergerannt und hatte durch das Loch geguckt, was zu sehen sei drüben von der Ursache des Wehegeschreis.

Das Waschhaus stand nah an der Hecke; sehen konnte sie nichts als eine stille Wasserrinne, die das klare Bächlein ins Waschhaus hineinleitete. Aber sie hörte den Ruf vom Ertrinken. Sie rannte zurück und die Treppe hinauf. »Tante! Tante!« rief sie atemlos vor Schrecken, »drüben ertrinken zwei Kinder, hörst du? hörst du?«

Die Tante hatte alle Fenster fest zugemacht, aber das Geschrei drang durch.

»Ach Gott, was soll das?« rief die Tante zum höchsten erschrocken. »Das Zetergeschrei hört' ich ja wohl, aber wer denkt denn an Ertrinken! Frau Kurd! Frau Kurd! Frau Kurd!« –

Unterdessen lief der nasse Schnurri in hohen Sprüngen zum Wagenschopf hin, wo der Battist Bohnenstangen glatt schnitt. Der Schnurri sprang auf ihn los, riß an seinen Beinkleidern, bellte in ganz ungestümer Weise, zog wieder am Battist und riß und bellte ohne Aufhören.

»Da hat's was gegeben«, sagte der Battist, nahm eine der Bohnenstangen auf die Schulter, denn er dachte: »man kann nie wissen, was man braucht«, und folgte dem Schnurri, der jetzt fröhlich vor ihm her sprang, dem Waschhaus zu. Hier war soeben alles zusammengerannt, die Mutter, das Fräulein, Jul, Paula, Rolf und der Hunne und zuletzt noch die Trine, denn jetzt war der ungeheure Lärm in alle Winkel des Gartens und bis in die Küche gedrungen. Der Battist streckte sogleich seine lange, lange Stange über die Fluten hin bis zum schwimmenden Zuber.

»Jetzt packt sie und haltet fest, gut fest«, rief er den Kindern zu und so zog er die ganze Arche an sich und hob nun die Insassen heraus aufs Trockene; Wili und Lili waren kreideweiß von dem ausgestandenen Schrecken. Man konnte sie nicht gleich zur Rede stellen über ihre neue Unthat; die Mutter führte jedes an einer Hand zu den Sitzen hin unter den Apfelbaum und ließ sie vor allem ein wenig zu sich kommen. Jul folgte nach mit dem kleinen Hunnen an der Hand und sagte mahnend: »O, ihr schrecklichen Zwillinge, ihr werdet noch einmal ein Ende mit Schrecken nehmen!«

Der alte Battist war unterdessen mit aufgestülpten Hosen in das hohe Wasser eingetreten und hatte alle Abzugslöcher aufgemacht, daß die Sintflut sich wieder verlaufen konnte. Zur Trine, die dabei stand, sagte er mitleidig: »Du bist eben nicht gescheiter, als die Siebenjährigen, drum ging's so«; denn er hatte gleich gemerkt, wer die Rinne hervorgeholt hatte. Die Trine durfte nichts antworten in diesem Augenblick des Überführtseins, aber im stillen machte sie die Pfote zum Zwicken parat, so wie die Philomele.

Wie nun wieder alle ruhig und sicher unter dem Apfelbaum saßen, kam die Philomele herangeschwänzelt und schmeichelte und miaute hofmachend um die Lili herum. Aber diese stieß sie weg und streichelte sehr zärtlich den nassen Schnurri, der am Boden lag, und Wili that ganz ebenso und sagte leise zu Lili, heute wollten sie dem Schnurri ihr ganzes Abendessen geben, und Lili war einverstanden, denn jetzt, in der großen Not, hatten sie den wahren Charakter der beiden kennen gelernt.

Der Hunne hatte sich erst nachdenklich die beiden Geretteten angesehen. Jetzt ging er zu Jul hin, der auf dem Kiesweg hin und her wanderte.

»Jul«, sagte der Kleine ernsthaft, »sag, wie können die schrecklichen Zwillinge ein Ende mit Schrecken nehmen?«

»Das können sie auf mannigfaltige Weise, Hunne«, entgegnete Jul, sich vor den Kleinen hinstellend. »Siehst du, Feuer und Wasser haben sie nun probiert, demnächst werden sie uns einmal bei angeregter Stimmung das Haus über den Köpfen zusammenreißen; dann liegen wir alle drunter und es ist alles aus.«

»Können wir nicht noch schnell fortspringen?« fragte der Hunne angelegentlich.

»Wenn den Zwillingen nicht etwa der große Gedanke mitten in der Nacht einfällt, Hunne.«

»Weck mich dann«, empfahl der Hunne dem Bruder. –

Frau Kurd war auf den dreifachen Angstruf herbeigeeilt, in demselben Augenblick, als Battist drüben die Arche ans Land zog, so daß alles Geschrei verhallt war.

»Haben Sie's gehört, Frau Kurd? Es war schrecklich! Aber jetzt ist alles still; ob sie wohl gerettet sind?«

»Ach ja wohl«, sagte Frau Kurd beruhigend; »das waren nur die Kleinen, die ein wenig schrieen, da ist keine Gefahr dabei.«

»Nein, aber so etwas von Kindergeschrei! Ich zittere an allen Gliedern. Wie wird es deinem Onkel ergangen sein! Nein, nun ist's genug, Frau Kurd, nun ziehen wir um; das war das letzte.«

Damit trat Tante Ninette ins Zimmer ihres Mannes ein, um zu sehen, wie er den Vorgang aufgenommen habe. Herr Titus hörte nichts von seiner Frau, als sie eintrat, denn er hatte die Ohren ganz fest mit Baumwolle verstopft. Dies hatte er beim Ausbruch des Lärms gethan, der auch durch die verschlossenen Fenster gedrungen war; nachher hatte er ruhig fortgeschrieben.

»Um's Himmels willen, das ist ja furchtbar ungesund und erhitzt dir den Kopf«, rief jammernd seine Frau, als sie näher getreten war und die Ursache des Überhörens vonseiten ihres Mannes entdeckt hatte; und schnell befreite sie die Ohren des Herrn Titus von dem warmen Schutz und teilte ihm nun den Plan mit, den sie eben fest gefaßt hatte: morgen, nach dem Gottesdienst, wenn der Herr Pfarrer frei wäre, wollte sie zu ihm hingehen und mit ihm beraten, wohin sie ziehen könnten, denn da wollten sie nicht länger bleiben, das hatte sie fest beschlossen.

Herr Titus war mit allem einverstanden, und die Tante ging, ihren Plan ausspinnend, nach ihrem Zimmer zurück.

Dora stand, ihrer harrend, draußen im Gang.

»Gehen wir wirklich fort, Tante?« fragte sie ängstlich, als die Thür vom Zimmer des Onkels sich schloß.

»Ganz sicher«, entgegnete die Tante; »am Montag werden wir das Haus verlassen.«

Dora schlich sich in ihr Zimmerchen und setzte sich ganz niedergeschlagen auf ihr Bett. Es kam ihr zu traurig vor, daß sie nun doch von hier fort sollte, ohne ein einziges Mal mit den Kindern drüben in ihrem schönen Garten zusammengekommen zu sein, und nun dachte sie sich aus, wie sie dann wieder nach Karlsruhe zurückkehren und Hemden nähen müßte, und nie, nie mehr wiederkommen und das lustige Leben der Kinder unter einander sehen würde. Dora guckte vor großem Leid so in den Boden hinein, daß sie gar nicht sehen konnte, wie von oben ihre fünf lichten Sterne fröhlich auf sie nieder funkelten, so als wollten sie ihr zurufen: »Dora, Dora! hast du denn das Sprüchlein deines Vaters ganz vergessen?«



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