Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel VI.
Eine That zum Erschrecken


Der Sonntag war schön und sonnig heraufgestiegen. Im Garten war es still und lieblich; man hörte gar nichts, als zuweilen einen der roten Äpfel fallen, denn sie fingen an zu reifen. Die Eltern waren mit Paula und Fräulein Hanenwinkel in die Kirche gegangen. Einträchtig saßen Jul und Hunne in der Wohnstube bei einer großen Schüssel Haselnüsse und besprachen sich über die verschiedene Weise, in welcher der Nußknacker zu beißen verstand. Wili und Lili waren nach der lehrreichen Erfahrung, die sie gemacht hatten, wieder zu der Arche mit den hölzernen Männlein und Fräulein zurückgekehrt und saßen nun im Lehrzimmer, wo sie den ganzen, großen Tisch zu ihren Spielen benutzen konnten. Rolf war früh in den hintersten Winkel des Gartens gerannt, wo ein ganz einsames Sommerhäuschen stand, um dort ungestört allerlei Studien obzuliegen.

Nachdem die Sintflut, die dieses Mal ohne Wasser vor sich gehen mußte, schon eine längere Zeit gedauert hatte und nun auch die Taube mit dem Ölblatt zurückgekehrt war, fingen in Lilis Kopf neue Vorstellungen zu arbeiten an.

»Wili, wir wollen einmal hinuntergehen«, schlug sie vor; »Rolf hat seinen Bogen gestern Abend unten im Hausgang aufgestellt, wir wollen ihn einmal ansehen.«

Wili war sogleich bereit, und eilends liefen die beiden die Treppe hinunter. Lili wußte genau die Ecke, wo Rolf seinen Bogen hingestellt hatte. Richtig, da stand er noch und daneben lag der Köcher mit den zwei befiederten Pfeilen.

»Sieh, wie lustig das zugeht«, sagte Lili; »man zieht so diese Schnur zurück und legt den Pfeil so davor, und dann läßt man die Schnur los und auf einmal schießt der Pfeil furchtbar schnell davon. Ich habe gut gesehen, wie Rolf es gemacht hat; wollen wir es auch probieren, Wili?«

»Wir dürfen ja nicht schießen damit; weißt, Lili, der Papa hat es gesagt«, erwiderte Wili.

»Ich meine ja nicht schießen, nur so probieren«, erklärte Lili; »weißt du, nur so sehen, wie man es macht.«

Die Sache gefiel dem Wili.

»Aber wo können wir das probieren? Hier im Hausgang hat man keinen Platz«, meinte er.

»Nein, nein, ich weiß schon wo, im Garten, komm nur«, und Lili lief mit dem Köcher voraus, Wili mit dem Bogen hinterdrein, einem schönen freien Plätzchen zu in der Nähe der Hecke.

»So, hier«, sagte Lili; »komm, jetzt wollen wir beide zusammen probieren, wie es geht.«

Wili kam heran mit seinem Bogen, den stemmten sie nun in den Boden ein und zogen dann beide aus allen Kräften an der Sehne, und richtig, die sprang ein und saß fest. Lili jauchzte vor Freuden über das Gelingen.

»Jetzt muß der Bogen aufgehoben werden«, ordnete sie an; »so, nun kommt da der Pfeil darauf, Wili, siehst du, und nachher ziehst du unten an dem Ding zurück, dann wirst du sehen, wie lustig es geht; probier jetzt!«

Wili probierte und zog zurück, da – sausend schoß der Pfeil durch die Hecke und im selben Augenblick ertönte ein kläglicher Jammerton auf der anderen Seite, dann war alles still.

Die Kinder schauten erschrocken einander an.

»Glaubst du, es sei ein Kaninchen, das so gejammert hat?« fragte Wili.

»Oder meinst du, es sei etwa ein Huhn?« fragte Lili dagegen.

Aber sie hatten beide ein sehr schlechtes Gewissen und einen großen Schrecken im Herzen, denn sie wußten wohl, daß sie ungehorsamerweise mit dem Bogen geschossen hatten, und sie hatten auch beide den Eindruck, der Jammerton sei von einer Kinderstimme gekommen; aber jedes hoffte, das andere habe es vielleicht anders gehört und dann könne es doch ein Tierlein gewesen sein. Ganz still und ohne ein Wort zu sagen trugen sie den Bogen an seinen Platz zurück. Aber nun kam eine neue Angst über sie, es fehlte ja ein Pfeil in dem Köcher; wenn nun Rolf diesen Verlust entdeckte! Und nun hörten sie noch zu ihrem Schrecken, daß die andern alle eben aus der Kirche zurückkamen; so konnten sie ja nicht einmal mehr gehen und den Pfeil suchen, sonst käme ihre That gleich aus. Rolf wußte ja auch nicht, daß sie geschossen hatten; aber wenn er sie nun fragen würde? Sie wußten sich gar nicht mehr zu helfen, so hatten sie sich nun verwickelt durch ihren Ungehorsam, denn sie fühlten wohl, daß sie nicht die Wahrheit sagen durften, wenn dem Pfeil nachgefragt wurde.

Stillschweigend und gedrückt vom Schuldbewußtsein schlichen Wili und Lili nach dem Lehrzimmer zurück und saßen ganz regungslos und ohne einen Ton von sich hören zu lassen da, bis sie zum Mittagessen gerufen wurden. Sie kamen herangeschlichen und schauten gar nicht mit fröhlicher Erwartung auf den Sonntagstisch, sondern setzten sich mit niedergeschlagenen Augen hin, und beide schluckten und würgten an ihrer Suppe, als wären große Kieselsteine drin, die man nur mit der äußersten Anstrengung bewältigen könnte. Nicht ein einziges Mal vermochten die beiden ihre Augen aufzuschlagen während des ganzen Mittagsmahles, obschon der Vater sie ein paarmal anredete; kaum brachten sie ein lautes Wort heraus als Antwort.

»Was ist denn wieder los mit den beiden?« fragte er endlich; denn daß die Niedergeschlagenheit nicht mehr mit dem gestrigen Vorfall zusammenhing, wußte er schon, – so lange hielt die Büßermiene nicht an bei den Zwillingen. Er bekam aber keine Antwort. Wie festgenagelt vor Angst saßen die beiden auf ihren Sesseln und starrten in ihre Teller hinein. Die Mutter schüttelte bedenklich den Kopf. Der kleine Hunne hielt ein wachsames Auge auf die Zwillinge, denn er hatte von Anfang an gemerkt, daß da etwas nicht in Richtigkeit war.

Jetzt kam der schöne Pudding mit der Weinsauce, und auf jeden Teller wurde von der Mutter ein prächtiges Stück hingelegt. In dem Augenblick fuhr der Vater auf: »Was ist denn das? Kann ein Schwerkranker hier nebenan sein? Der Doktor kommt ja gelaufen, als gälte es der größten Gefahr zu wehren.«

»Ich weiß von keinem Kranken«, sagte die Mutter. »Die Lehrerswitwe hat ihre Zimmer an Fremde vermietet; es müßte jemand von diesen Leuten sein.«

Die Zwillinge waren feuerrot und dann kreideweiß geworden vor Schrecken. Beiden rief inwendig eine drohende Stimme immerfort zu: »Jetzt kommt's! Jetzt kommt's!« Sie konnten kein Glied mehr bewegen vor Angst; unberührt lagen die schönen Puddingstücke da, obschon die einladendsten Rosinen daraus hervorglänzten. Aber auch der Hunne, der unermüdliche Puddingvertilger, ließ sein Stück unberührt, sprang mit einemmale ganz aufgeregt von seinem Sessel herunter, schrie wie ein Rasender: »Mama! Papa! Kommt! Es fällt alles zusammen!« riß den Jul fast vom Stuhl herunter, damit er fliehe, und rannte der Thür zu. Noch hörte man ihn draußen mit der höchsten Anstrengung schreien: »Kommt! Kommt! Es fällt zusammen! Der Jul hat's gesagt!«

»Es muß ein böser Geist in die Kinder gefahren sein«, sagte der Vater mit Erstaunen; »die Zwillinge sehen aus, als säßen sie auf der Marterbank, und der kleine Hunne gebärdet sich wie ein völlig Toller.«

Jul war in ein endloses Gelächter ausgebrochen, denn es war ihm klar geworden, daß dem kleinen Hunnen der Gedanke gekommen war, die unerklärlich scheue und schweigsame Haltung der Zwillinge rühre daher, daß sie im geheimen ihr Zerstörungswerk begonnen haben und daß nun gleich das Haus über den Köpfen der versammelten Familie zusammenbrechen werde. Jul erklärte jetzt unter wiederholten Ausbrüchen großen Gelächters, was des kleinen Hunnen Schreckensrufe bedeuteten. Aber umsonst rief die Mutter nun mit beruhigenden Worten den Kleinen wieder herein; er sprang hin und her vor der Hausthür, zappelte und schrie, Mama und Papa sollten schnell kommen und der Jul und alle. Nun befahl der Papa, daß die Thür geschlossen und das Mittagessen in Ruhe beendet werde. Dann wanderten alle hinter einander nach dem Garten hinaus, und hierhin kam denn auch der Hunne gerannt. Wie er nun alle unter dem Apfelbaum in Sicherheit sah, sagte er seufzend: »Wenn mir jetzt nur jemand noch meinen Pudding herausholte, eh's zusammenfällt.«

Die Mutter zog ihn zu sich hin und erklärte ihm, wie ganz thöricht der große Jul und der kleine Hunne gewesen seien: der erste, eine so unsinnige Geschichte zu erfinden; der zweite, sie zu glauben. Sie gab ihm zu bedenken, wie völlig unmöglich es doch sei, daß zwei kleine Wesen wie Wili und Lili ein großes, steinernes Haus umreißen könnten; aber es währte noch längere Zeit, bevor die Vorstellung vom Hauseinreißen sich gänzlich aus dem Gehirn des kleinen Hunnen verlor.

Dora hatte an der Hecke gestanden und gelauscht, ob die Kinder nicht nach dem Garten kämen, eben als Wili und Lili mit ihrem Geschoß sich näherten. Mit großer Spannung hatte sie den Fortgang des Unternehmens durch das Loch verfolgt; der Pfeil schoß ab und die scharfe Spitze fuhr direkt in Doras bloßen Arm hinein. Dora stöhnte laut vor Schmerz. Der Pfeil war gleich wieder abgefallen, er war nicht bis zum Festsitzen hineingedrungen; aber jetzt strömte das Blut über Arm und Hand und Kleid hinunter, so daß Dora vor Schrecken den Schmerz vergaß. Ihr erster Gedanke war: »Wie furchtbar wird die Tante jammern!« In der Angst davor suchte sie nach einem Mittel, die Sache zu verbergen. Sie riß ihr Taschentuch hervor, wickelte es so fest als möglich um die Wunde und lief zum Brunnen vor dem Hause, um die Spuren des Blutes zu vertilgen. Aber es lief unter dem Verband hervor, es strömte völlig heraus; Dora war überall schon von oben bis unten mit Blutflecken bedeckt.

Da rief es von oben: »Dora! Dora!«

Es war die Tante. Nun mußte es sein, Dora mußte vor sie treten. Mit Zittern und Zagen ging sie die Treppe hinauf und stand vor ihrer Tante, den verbundenen Arm von sich streckend, weil er immerfort tropfte. Das helle Sonntagskleidchen war mit großen Blutflecken bedeckt, Blutstriemen waren an Stirn und Wange und überall zu sehen, denn im Eifer, sich zu reinigen, hatte Dora mit dem fortwährend rinnenden Blute sich überall gefärbt.

»Himmels Barmherzigkeit!« schrie die Tante bei dem Anblick auf. »Dora, was ist denn mit dir? Sprich doch! Bist du gestürzt? Wie siehst du aus! Du bist ja totenblaß unter den roten Blutstreifen! Dora, um 's Himmels willen, so sprich doch!«

Dora hatte schon mehrmals etwas sagen wollen, aber sie war nicht durchgedrungen mit ihren Worten. Jetzt sagte sie zaghaft:

»Es war ein Pfeil.«

Aber nun kam ein Jammersturm wie noch nie. Die Tante rang die Hände und lief hin und her. »Ein Pfeil! ein Pfeil!« rief sie ein Mal ums andere. »Also geschossen! In den Arm geschossen! Du wirst lahm werden! Dein Arm wird steif bleiben; du wirst ein Krüppel werden für dein ganzes Leben! Nähen kannst du nicht mehr, anderes thun noch weniger, du wirst ins Elend kommen! Wir werden alle darunter leiden; über uns bricht alles Unglück herein! Wie sollen wir fortleben? Wie sollen wir uns helfen, wenn du lahm bist?«

»Ach, Tante«, schluchzte jetzt Dora, »vielleicht kommt ja nicht gar alles so schrecklich; der Papa hat ja doch immer gesagt:

›Gott sitzt im Regiments
Und führet alles wohl.‹«

»Ach ja, das ist ja wohl wahr; aber wenn du einmal lahm bist, so bist du eben lahm«, jammerte Tante Ninette weiter; »es ist geradezu zum Verzweifeln. Aber komm, geh; nein, komm hierher zum Wasser! Wo ist nur Frau Kurd? Man muß sofort nach dem Arzt!«

Dora ging zu ihrem Waschbecken, während die Tante nach der Frau Kurd lief und sie drängte, sofort nach dem Arzt zu schicken, der ohne Verzug erscheinen müsse, es handle sich um einen Schuß; was für Gefahr dabei sei, könne niemand wissen.

Daraufhin kam der Arzt, sobald er konnte. Er untersuchte die Wunde, stillte das Blut, machte einen festen Verband, alles ohne ein Wort zu sagen, obschon Tante Ninette schon mehrere Versuche gemacht hatte, ihn zu einigen Erklärungen zu bringen. Jetzt nahm er seinen Hut und war schon unter der Thür.

»Aber, Herr Doktor, sagen Sie mir« – und Tante Ninette begleitete ihn immer weiter –, »sagen Sie mir, Herr Doktor, wird der Arm lahm werden? Steif für immer?«

»Wollen's nicht hoffen, komme morgen wieder«, war die Antwort, und fort war der Doktor.

»›Wollen's nicht hoffen‹«, wiederholte Tante Ninette mit verzweiflungsvollem Ton, »das heißt bei einem Arzte so viel als: ›Ja natürlich‹; das versteh' ich wohl. Ach, was wird noch alles über uns kommen! Was soll aus uns werden! Wie werden wir durchkommen!«

Bis zum späten Abend konnte heute die Tante nicht zu jammern aufhören. –

Als die Mutter am Abend in Wilis Zimmer eintrat, um mit ihm zu beten, fand sie ihn nicht, wie sonst, wohlgemut auf seinem Bette sitzend und bereit, gleich noch ein gemütliches Plauderstündchen mit ihr anzubahnen. Ganz zusammengeduckt saß er da und schaute nicht zu der Mutter auf, sagte auch kein Wort, wie sie sich zu ihm hinsetzte.

»Wili, was ist mit dir?« fragte die Mutter; »es ist dir nicht wohl im Herzen; habt ihr etwas angestellt?«

Wili gab einen unverständlichen Laut von sich, es war nicht Ja und nicht Nein.

»Komm, sag mir dein Abendlied, Wili, vielleicht geht dir das Herz auf dabei«, sagte die Mutter wieder.

Wili begann:

»Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar –«

und weiter betete Wili, aber er war nicht bei seinem Lied wie gewöhnlich; er lauschte nach jedem leisen Ton, der draußen gehört wurde, und blickte jedesmal scheu nach der Thür, so, als ob etwas Schreckliches eintreten könnte, und in seinen ruhelosen Blicken konnte man lesen, welche Angst er ausstehe. So kam er zum Schluß seines Liedes:

»Verschon uns, Gott, mit Strafen
Und laß uns ruhig schlafen
Und unsern kranken Nachbar auch.«

Jetzt mit einemmal brach Wili in ein überlautes Weinen aus; er klammerte sich fest an die Mutter an und stieß schluchzend heraus:

»Das Kind kann nie mehr schlafen und der liebe Gott wird uns furchtbar strafen.«

»Was meinst du damit, Wili?« fragte die Mutter sanft. »Komm, sag mir, was geschehen ist. Ich wußte den ganzen Tag, daß ihr etwas angestellt habt; was habt ihr gethan?«

»Wir haben – wir haben – wir haben vielleicht ein Kind erschossen«, kam endlich heraus.

»Wili, was sagst du?« rief die Mutter mit Schrecken, denn augenblicklich kam ihr in den Sinn, wie um die Mittagszeit der Doktor am Haus vorbeigelaufen war. »Aber es ist nicht möglich! Erzähle mir alles klar, was begegnet ist.«

Nun berichtete Wili von Anfang an, was sie gethan hatten zusammen, Lili und er, und wie sie den Jammerton gehört und dann fortgelaufen seien, und wie sie vor Furcht beide fast nicht mehr leben könnten und lieber gleich sterben wollten.

»Siehst du, Wili, was alles aus dem Ungehorsam kommen kann«, sagte die Mutter ernsthaft. »Ihr meintet, es sei nichts dabei, nur ein wenig mit dem Bogen zu spielen, aber der Vater wußte wohl, warum er es euch streng untersagte, er kannte die große Gefahr. Was nun Trauriges aus euerem Ungehorsam entstanden ist, wissen wir nicht; wir wollen nur jetzt den lieben Gott herzlich bitten, daß Er doch noch zum Guten wende, was ihr Böses gethan habt.

Und die Mutter fing so zu beten an und Wili fuhr fort, und in seinem Leben hatte er noch nie so herzlich zu Gott gebetet, wie er es jetzt in der Angst that; und er konnte fast nicht mehr aufhören, denn es machte ihm so wohl, daß ihm der Weg geöffnet war und er nun alle seine Furcht und Angst vor den lieben Gott bringen und ihn um Verzeihung und um seine Hilfe bitten konnte.

Nun konnte Wili der Mutter auch wieder in die Augen sehen und mit erleichtertem Herzen gute Nacht sagen.

Drüben im anderen Zimmer erwartete auch Lili die Mutter. Sie trat an des Kindes Bett und sagte ernsthaft:

»Willst du beten, Lili?« Lili fing an, dann hörte sie auf; dann fing sie noch einmal an, dann stockte sie wieder mittendrin. Beklemmt sagte sie jetzt:

»Mama, ich kann nicht beten, der liebe Gott ist bös' mit mir.«

»Was hast du gethan, Lili, daß du so gut weißt, der liebe Gott könne nicht mit dir zufrieden sein?«

Lili schwieg und rupfte am Leintuch, denn sie hatte ein hartes Köpfchen.

»Wenn der liebe Gott nicht mit dir zufrieden ist, so bin ich es auch nicht, und nun schlaf wohl, wenn du kannst«, sagte die Mutter und wollte gehen.

»Mama«, schrie nun Lili auf, »geh nicht fort, ich will alles sagen.«

Die Mutter kehrte wieder um.

»Wir haben doch mit dem Bogen geschossen, wenn wir schon nicht durften, und dann haben wir etwas getroffen, das jammerte, und dann ist es uns sehr angst geworden, und dann haben wir uns immer gefürchtet, und dann konnten wir gar nicht mehr fröhlich sein«, berichtete Lili mit Beklemmung.

»Gewiß konntet ihr nicht und könnt es auch jetzt nicht«, bestätigte die Mutter. »Bedenke nur: weil ihr nicht gehorchen konntet, liegt nun wohl drüben ein armes Kind an großen Schmerzen, vielleicht noch ohne die Mutter, denn es muß ein fremdes Kind sein. Da liegt es nun in dem fremden Haus und weint die Nacht durch.«

»Ich will zu ihm hinübergehen und bei ihm bleiben«, sagte Lili kläglich und fing auch zu weinen an. »Ich kann auch nicht schlafen, Mama, es ist mir so angst.«

»Sieh, Lili, so wird es uns immer, wenn wir ein Unrecht gethan haben. Dem armen Kinde will ich nachgehen, du bitte jetzt den lieben Gott um ein folgsames Herz und daß dein böses Thun nicht einem unschuldigen Kinde schwere Leiden bringen möge.«

Lili gehorchte. Sie konnte jetzt wieder beten, denn nun hatte sie bekannt, was sie verschuldet hatte, und so war es ihr nicht mehr, als ob der liebe Gott böse sei mit ihr. Sie konnte nun recht von Herzen zu ihm beten, daß er doch das verwundete Kind bald heilen und ihr selbst helfen wolle, daß sie gut und gehorsam werden könne.

Gleich nachher schickte die Mutter die Trine zu der Lehrerswitwe hinüber und ließ sich erkundigen, ob wirklich ein Kind von dem Schuß getroffen worden sei und wie es sich damit verhalte; ob man darum nach dem Doktor geschickt habe.

Frau Kurd erzählte der Trine weitläufig, wie sich alles zugetragen hatte mit der Schußwunde und auch was der Herr Doktor gesagt habe, nämlich: »Wir wollen's nicht hoffen«, und daß er morgen wieder komme.

So berichtete die Trine wieder zuhaus', und Frau Birkenfeld hatte die Beruhigung, daß es sich nicht um eine lebensgefährliche Wunde, auch nicht um ein verletztes Auge handle, welcher Gedanke ihr aufgestiegen war und ihr große Sorgen gemacht hatte.



 << zurück weiter >>