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Kapitel III.
Auf der anderen Seite der Hecke


Weit über die baumreichen Thalgründe und über den schimmernden See schaut eine grüne Höhe, von frischen Wiesen bedeckt, auf denen die roten und blauen und gelben Blumen in der Sonne flimmern und glänzen, vom frühen Frühling bis in den späten Herbst hinein.

Oben auf dem Gipfel stand das große Haus des Herrn Birkenfeld und daneben die geräumige Scheune, ein Stall, wo vier mutige Pferde stampften und glänzende Kühe an den Krippen standen und geruhlich das duftende Gras kauten, das der bedächtige Battist, der langjährige Hausknecht, von Zeit zu Zeit wieder in die Krippen schob. Wenn Hans, der junge Stallknecht, und die übrigen Arbeiter auf dem Gut beschäftigt waren, so machte der Battist etwa die Runde durch die Ställe und sah nach, ob alles stand, wie es sollte; denn der Battist kannte alle Geschäfte und die Behandlung der Tiere von Grund aus, und hatte schon bei Herrn Birkenfelds Vater als junges Knechtlein gedient. Jetzt war er, um seiner reiferen Jahre willen, zum Hausknecht avanciert, aber er hatte immer ein Auge auf die Ställe und die ganze Landwirtschaft offen. Auf dem Heuboden lagen die hohen Haufen von frisch eingesammeltem Heu in prächtig geordneten Reihen, und drüben im Speicher waren die getrennten Felder alle bis oben angehäuft von Korn und Gerste und Hafer, das alles auf dem eigenen Lande gewachsen war, denn die Güter des Herrn Birkenfeld gingen weit über die Höhe hin und bis ins Thal hinab. Auf der anderen Seite des Hauses stand das Waschhaus mit seinen weitläufigen Räumlichkeiten, und nicht weit davon, doch jetzt von einer hohen dichten Hecke vom Haupthaus und Garten getrennt, stand noch ein kleineres Haus, das auch zum Gut gehörte, das Herr Birkenfeld aber schon seit ein paar Jahren der Lehrerwitwe überlassen hatte.

Jetzt lag ein warmer Sommerabend auf der Höhe und fröhlich schauten die roten Margariten und die weißen Gänseblumen auf der Wiese vor dem Hause zur Abendsonne auf. Vor der Hausthür auf dem freien Platz lag ein zottiger Hund und blinzelte von Zeit zu Zeit mit den Augen, um zu sehen, ob etwas Neues vorgehe; aber es war alles still und er schloß sie gleich wieder, um sanft fortzuschlummern in dem milden Abendlicht. Von Zeit zu Zeit erschien eine junge graue Katze unter der Hausthür und guckte mit einem unternehmungslustigen Ausdruck nach dem Schläfer hin, erblickte sie dann den immer noch regungslos daliegenden, so zog sie sich verächtlich wieder zurück. So herrschte eine große Stille vor dem Haus; nur von der Hinterthür her, die in den Garten führte, tönte etwa ein Summen und Hin- und Herfahren, wie von einer großen Thätigkeit herrührend, durch den Hausflur herüber.

Jetzt ertönten Wagenräder, sie nahten heran und hielten vor dem Haus der Lehrerwitwe still. Der Hund machte einen Augenblick die Augen auf und spitzte die Ohren; aber es war ihm offenbar nicht der Mühe wert, auch nur zu knurren: er schlief weiter. Es ging auch sehr still zu drüben beim Absteigen und Ins-Haus-eintreten der Gäste, die der Wagen gebracht hatte. Frau Kurd, die Lehrerwitwe, hatte ihre Gäste höflich empfangen und in ihr Haus eingeführt, wo sie sich gleich nach ihren fortan zu bewohnenden Räumen begaben. Nicht lange nachher stand Tante Ninette im großen Zimmer und räumte den großen Koffer aus, und Dora stand im kleinen und leerte den kleinen Koffer. Onkel Titus aber saß in seiner Stube am viereckigen Tisch und ordnete mit Bedacht seine Schreibereien darauf. Dora lief von Zeit zu Zeit ans Fenster. Da war's so schön, wie sie noch nichts gesehen hatte in ihrem Leben. Weithin lagen die grünen Wiesen mit all den roten und gelben Blumen darauf, und unten sah man den Wald und weiterhin den blauen See, und oben drüber schimmerten schneeweiße Berge, und die Hügel drum herum glänzten jetzt grüngolden in der Abendsonne. Dora konnte fast nicht mehr vom Fenster weg; daß es so schön sein konnte auf der Welt, hatte sie gar nicht gewußt. Jetzt rief die Tante sie in ihr Zimmer hinüber; sie mußte Sachen in Empfang nehmen, die noch ihr gehörten, aber in den Koffer der Tante eingepackt worden waren.

»O Tante Ninette, wie schön ist's hier!« rief Dora im Eintreten aus; viel lauter, als sie je gesprochen hatte, seit sie im Hause des Onkels lebte, denn die Aufregung hatte ihr ursprüngliches Wesen plötzlich aufgeweckt.

»Bsch! Bsch! Dora, wie kommst du mir denn vor?« sagte die Tante dämpfend; »dein Onkel sitzt da nebenan und ist schon tief in seine Arbeiten versenkt.«

Dora nahm ihre Sachen in Empfang; dann, am Fenster vorbeigehend, fragte sie leise: »Darf ich geschwind sehen, was man aus diesem Fenster sieht, Tante?«

»Einen Augenblick kannst du hinüberschauen, da ist niemand«, entgegnete diese; »es ist ein schöner, stiller Garten hier zu sehen. Am Fenster drüben sieht man auf den großen Platz vor dem Hause; es ist da gar nichts zu sehen, als ein ruhig schlafender Hund; hoffentlich thut er immer so; du darfst auch schnell dahinüber sehen.«

Dora hatte das Fenster nach dem Garten aufgemacht; ein herrlicher Duft von Jasmin und Reseda stieg aus den Blumenbeeten drüben zu ihr herauf. Die hohe grüne Hecke ging weit, weit hin, so groß war der Garten, und drinnen waren grüne Rasenplätze und bunte Blumenbeete und dichtbewachsene Lauben zu sehen; wie schön mußte es dort drinnen sein! Kein Mensch war zu sehen, aber Jemand mußte doch da gewesen sein, denn an der Hausthür war ein merkwürdiger Triumphbogen von zwei hohen Bohnenstangen und obenüber vielen dicht zusammengebundenen Tannenzweigen errichtet. Eine große Kartontafel, die von dem Tannengerüst niederhing, wurde vom Winde hin und her geweht und trug eine lange Inschrift, mit ungeheuren Buchstaben geschrieben. Jetzt auf einmal ertönte von dem Platze drüben ein ziemlicher Lärm; Dora lief ans andere Fenster und schaute hinaus. Es stand ein großer Wagen mitten auf dem Platz, davor stampften die zwei braunen Rosse voller Ungeduld. Aus dem Hause heraus kam es nun gestürzt – eins – zwei – drei – vier, – immer noch – fünf – sechs – Buben und Mägdlein und: »Ich! Ich! Ich auf den Bock!« schrie es von da und von dort, und immer lauter und lauter riefen alle durch einander, und mitten in dem Kinderknäuel drinnen sprang der Hund hoch auf, einmal an den und einmal an jenen und heulte vor Freude: – es war ein Lärm, wie er seit undenklichen Zeiten die Ohren der Tante Ninette nicht getroffen hatte.

»Um 's Himmels willen, was geht denn da vor?« rief sie entsetzt aus; »wohin sind wir geraten?«

»O komm, Tante, sieh! sieh! sie kommen alle in die Kutsche hinein!« rief Dora dagegen in hellem Entzücken aus; etwas so Lustiges hatte sie in ihrem Leben noch nicht gesehen. Jetzt war ein Junge auf das Rad gesprungen und kletterte behend auf den Bock hinauf, dann bückte er sich wieder weit hinab und streckte seinen Arm dem Hund entgegen, der immerzu mit Freudengeheul hochauf sprang. »Komm, Schnurri! Komm, Schnurri!« rief fortwährend der Junge aus voller Kehle und riß an Pfoten und Ohren und dem Zottelfell des Hundes, bis der Kutscher Hans den Heulenden mit einem Schwung hinaufwarf. Unterdessen hob der hochgewachsene Älteste ein zappelndes Mädchen empor und beförderte es mit nicht weniger Schwung in den Wagen hinein. »Mich auch! Jul, mich auch! Mich noch höher! Mich noch viel höher!« schrieen derweilen zwei Buben auf einmal, ein größerer und der kugelrunde Kleine, und beide sprangen jauchzend vor Erwartung an dem großen Bruder empor. Dann erfolgte zweimal der Schwung und das Jauchzen wurde noch lauter, und nun sprang der Große selbst in den Wagen und zog zuletzt noch die Schwester hinein, die gewartet hatte, bis die Kleinen besorgt waren, und nun fuhr der Schlag mit ungeheurem Knallen ins Schloß, denn der große Jul hatte Kraft in den Muskeln. Die Pferde zogen an; aber nun ging noch ein anderes Geschrei los:

»Wenn der Schnurri mit darf, dann darf auch die Philomele mit!« »Trine, Trine!« schrie das kleine Mädchen aus vollem Hals, »gieb die Philomele! Gieb die Philomele!« Das junge, handfeste Küchenmädchen erschien unter der Thür und erkannte gleich die Situation; sie lachte laut auf, packte die graue Katze, die auf der Steinstufe hockte und sehr gefährliche Blicke nach dem Schnurri oben auf den Bock hin sandte, warf sie mitten in den Wagen hinein, – und nun ein erschrecklicher Peitschenknall und fort war die Gesellschaft.

Im größten Schrecken war Tante Ninette ins Zimmer ihres Mannes hineingeeilt, um zu sehen, welchen Eindruck das eben Erlebte auf ihn gemacht habe. Er saß unentwegt an seinem Tisch, hatte aber alle Fenster fest verriegelt.

»Mein lieber Titus, wer hätte so etwas ahnen können! Was ist da nun zu thun?« rief jammernd die Tante aus.

»Mir scheint das Haus da drüben sehr kinderreich zu sein; das können wir nicht hindern, man muß die Fenster schließen«, erwiderte der Mann gelassen.

»Aber, mein lieber Titus, so bedenke doch, daß du hierher gekommen bist, um frische Bergluft zu schöpfen! Ausgehen thust du nicht, also mußt du die kräftigende Luft im Zimmer genießen. Was soll aber aus allem werden, wenn das so beginnt? Was müssen wir nur machen, wenn es so fortgehen sollte?« jammerte die Tante weiter.

»Wir müssen umziehen«, entgegnete Herr Titus und schrieb weiter.

Dieser Gedanke beruhigte die Tante, sie kehrte in ihr Zimmer zurück.

Unterdessen hatte Dora ganz emsig alles fertig geräumt in ihrem Kämmerchen, denn es war in ihrem Herzen ein großer Wunsch aufgestiegen; sie wußte aber, daß sie zuerst alles in Ordnung gebracht haben mußte! Die vielen Kinder und ihre Freude und ihr Gelächter hatten die Dora so sehr entzückt, daß sie gar nichts Herrlicheres wußte, als wenn sie nun sehen könnte, wie die alle wieder heimkamen und ausstiegen und was dann geschah; ob sie etwa noch in den Garten kamen, wo der Triumphbogen stand, so daß sie alle noch ganz in der Nähe zu sehen wären. Nun hatte sich Dora schon etwas ausgedacht, wie sie dazu gelangen könnte. Sie hatte gesehen, daß unten der kleine Garten, der das Häuschen der Frau Kurd umgab, nur durch die hohe Hecke vom großen drüben getrennt war; da konnte es doch wohl irgendwo in der Hecke ein Loch haben, wo man durchsehen konnte; und so mußte sie dann gewiß alles sehen können, was die Kinder drüben thun würden und wie sie alle aussähen. Die Dora war so von dem Gedanken erfüllt, daß sie bis jetzt gar nicht daran gedacht hatte, was die Tante dazu sagen würde, wenn sie so am Abend noch hinaus wollte. Aber das Verlangen in ihrem Herzen war größer, als die Furcht, abgewiesen zu werden; sie ging gleich noch einmal nach dem Zimmer der Tante hinüber. An der Thür traf sie mit Frau Kurd zusammen, die eben zum Abendessen einladen wollte. Dora brachte schnell noch ihre Bitte an, ein klein wenig in das Gärtchen gehen zu dürfen; aber die Tante erwiderte ihr gleich, nun gehe man zu Tisch und nachher sei es zu spät, es werde bis dahin Nacht werden. Frau Kurd beruhigte die Tante und sagte, hier könnten sie alle in dem Gärtchen herum gehen, so lang' sie wollten, da komme kein Mensch hinein, und Dora könne auch gut ganz allein umhergehen; zuletzt erlaubte denn auch die Tante, daß Dora nach dem Abendessen noch ein wenig in das Gärtchen hinausgehen dürfe. Dora konnte vor Freude und Erwartung fast nicht essen, sie mußte auch immer lauschen, ob der Wagen mit den Kindern nicht etwa schon anlange; noch hörte man aber nichts davon.

»So geh' noch ein wenig, aber nicht vom Hause weg!« sagte endlich die Tante, und Dora versprach, keinen Schritt aus dem Gärtchen zu thun. Eilends lief sie nun hinaus und gleich zu der Hecke hin, um zu untersuchen, ob da nicht irgendwo eine Öffnung zu finden sei, wo man durchblicken könnte. Es war eine Weißdornhecke und so hoch und dicht gewachsen, daß Dora durchaus weder durch, noch oben über sehen konnte; aber unten, ganz tief unten, da war hier und da eine Öffnung, da konnte man wirklich ganz deutlich in den Garten hinüber sehen, aber man mußte sich fast bis auf den Boden bücken. Das war kein Hindernis für Dora; sie verlangte zu sehr danach, die Kinder zu sehen und zu hören. Noch nie hatte sie eine solche Familie gekannt, die so viele Glieder zählte: Große und Kleine, Buben und Mädchen und alle so lustig und so glücklich aussehend; noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas gesehen, daß so viele Kinder zusammen in eine Kutsche steigen und mit einander ausfahren, das mußte ja so köstlich sein! Dora duckte sich nun ganz zusammen und schaute erwartungsvoll durch das Loch. Es war kein Ton zu hören; ganz still lag der Garten drüben in der Dämmerung und die Blumen dufteten herüber so würzig und lieblich, daß Dora gar nicht genug davon einatmen konnte. Wie mußte es erst drüben sein, wenn man so zwischen den Blumenbeeten hin und her ging! Und wie wunderschön mußte es sein, unter jenem Baum zu sitzen, von dem die roten Äpfel herüberglänzten und unter dessen tiefhängenden Zweigen halb verdeckt ein Tisch stand, mit vielen Gegenständen darauf, die nicht mehr recht zu erkennen waren, aber schneeweiß herüberschimmerten. Dora war ganz versunken in den Anblick; einen so schönen Garten hatte sie noch nie gesehn. Aber jetzt – jetzt – das war der Wagen und alle die fröhlichen Stimmen durch einander. Die Kinder waren angekommen, Dora hörte es ganz deutlich. Eine Weile wurde es wieder still, sie waren im Hause drinnen; aber jetzt wurde es wieder laut, sie kamen alle nach dem Garten.

Herr Birkenfeld war von einer größeren Reise zurückgekehrt. Mit dem Wagen waren seine Kinder zum See hinuntergefahren, um ihn am Landungsplatz abzuholen, wohin ihn das Dampfboot gebracht hatte. Derweilen hatte die Mutter zuhaus' die letzten Zubereitungen zum festlichen Empfang angeordnet und das Festmahl draußen im Garten unter dem großen Apfelbaum gerüstet. Der Vater war mehrere Wochen lang fort gewesen, und seine Heimkehr war ein großes, freudiges Ereignis in der Familie und mußte auf alle Weise gefeiert werden. Wie nun der zurückkehrende Wagen vor dem Hause angekommen war, kam die Mutter herausgelaufen, um den Vater zu begrüßen; dann sprang eins nach dem anderen der Kinder heraus und herunter, und Schnurri und Philomele sprangen nach, und endlich unter dem Freudengebell des ersteren stiegen alle hinter einander die Treppe hinauf und traten in die große Wohnstube ein, wo nun die Begrüßungen und das Willkommenheißen erst recht und so stürmisch von allen Seiten anfingen, daß der Vater sich fast nicht zu helfen wußte vor den vielen Händen und Stimmen, die alle zusammen auf ihn eindrangen.

»Nun der Reihe nach, Kinder, der Reihe nach, so kann ich auch jedes recht grüßen«, rief er endlich laut in den Wirrwarr hinein; »erst kommt der Kleinste und so in aufsteigender Linie. Voran denn, mein kleiner Hunne, was hat mir der zu sagen?«

Damit zog der Vater den runden, noch nicht fünfjährigen Jüngsten heran, der ursprünglich Huldreich hieß; da er aber als ganz kleines Bübchen, wenn er nach seinem Namen gefragt wurde, sich selbst Hunne nannte, so war ihm der Name geblieben, denn die älteren Geschwister hatten diesen mit solcher Vorliebe fortgepflanzt, daß auch Vater und Mutter und das ganze Haus in die Gewohnheit hineingezogen wurden. Jul, der große Älteste, stellte auch die Behauptung auf, daß das Plattnäschen des kleinen Hunnen ganz bedenklich an die asiatischen Brüder erinnere, was aber die Mutter nicht gelten ließ.

Der Kleine hatte dem Vater so viel zu berichten, daß dieser lang vor dem Schluß der Mitteilungen in seiner Begrüßung weiter gehen mußte.

»Nachher, kleiner Hunne, nachher erzählen wir weiter; jetzt muß ich Wili und Lili grüßen. Nun, immer munter und fröhlich? Und auch recht gehorsam gewesen, die ganze Zeit?«

»Meistens«, antwortete Wili etwas zaghaft, und Lili, eingedenk der verschiedenen Abweichungen vom Wege des Gehorsams, die während des Vaters Abwesenheit stattgefunden hatten, fand am geratensten, sich bei der Besprechung nicht zu beteiligen; sie hüpfte höchst erfreut ein Mal ums andere am Vater empor. Wili und Lili, die ins achte Jahr eingetretenen Zwillinge, wurden immer zusammen genannt, lebten und strebten auch unzertrennlich zusammen und führten öfter allerlei Dinge aus, von denen sie nicht selten eine deutliche Ahnung hatten, daß sie nicht ausgeführt werden sollten.

»Und du, Rolf, wie steht's mit dir?« wandte sich jetzt der Vater an den bald zwölfjährigen Jungen mit der breiten Stirn und dem festen Nacken. »Nu, brav Latein gelernt und schöne Rätsel gemacht?«

»Beides, Papa, aber die anderen wollen nie recht raten; sie sind denkfaul und die Mutter hat keine Zeit.«

»So, das ist schlimm, und du, Paula?« fuhr der Vater fort, indem er sein ältestes Töchterchen, die bald dreizehnjährige Paula, an sich zog, »immer noch so allein im Garten herumgehend? Immer noch keine Freundin?«

»Nein, gewiß nicht, Papa, aber es ist schön, daß du wieder da bist«, versicherte Paula, den Papa umarmend.

»Und der große Jul bringt wohl seine Ferien auf sehr nützliche Weise zu«, sagte der Vater, seinem Ältesten die Hand bietend.

»Das Nützliche mit dem Angenehmen wohlthuend verbindend«, entgegnete Jul, des Vaters Gruß erwidernd. »Du weißt, Vater, eben sind die Haselnüsse reif und ich überwache eine sorgsame Ernte und reite daneben den jungen Castor, daß er nicht faul wird.«

Der siebzehnjährige Julius war seit mehreren Jahren auf dem Gymnasium der ziemlich entfernten Stadt und brachte eben jetzt seine Ferienzeit im Vaterhause zu. Da er sehr schnell gewachsen und früh ein hoch aufgeschossener Junge war, so war er von jeher »der große Jul« genannt worden.

»Jetzt aber, Papa, muß ich dich dringend bitten, deine Begrüßungen im Garten fortzusetzen, denn da warten deiner nicht unerhebliche Überraschungen«, begann Jul wieder, dem Vater sich nähernd, der unterdessen sich zur Lehrerin der Kinder und Mitbewohnerin des Hauses, Fräulein Hanenwinkel, gewandt hatte und sie sehr freundlich begrüßte. Aber die letztere Bemerkung kam den Jul teuer zu stehen. Augenblicklich schossen Wili und Lili hinter ihn und zupften und rupften und kneiften ihn, damit er doch begreife, daß er von den Überraschungen schweigen sollte. Er wehrte sich, so gut er konnte.

»Lili, du kleine Bremse, laß los! Ich will ja einlenken!« Und lauter rief er, zum Vater gewandt: »Ich meine im Garten, wo die Mutter allerlei gar nicht zu verachtende Dinge hat hintragen lassen zur Erhöhung der Feier und zur Stärkung der Festgäste.«

»Das ist ja herrlich; am Ende finden wir gar einen gedeckten Tisch im Garten, gewiß unter meinem Apfelbaum, das nenn' ich eine Überraschung!« rief der Vater erfreut aus; »nun, so kommt alle!«

Und er gab der Mutter den Arm und zog voraus und der ganze Schwarm hinterdrein, Wili und Lili im höchsten Vergnügen, daß der Vater meinte, das sei die einzige Überraschung, die seiner harrte.

Jetzt traten Vater und Mutter aus der Hausthür und kamen unmittelbar unter einen hohen Triumphbogen zu stehen, zu dessen beiden Seiten rotschimmernde Laternchen hingen, welche eine niederhängende große Tafel beleuchteten, worauf mit sehr deutlichen Buchstaben eine Inschrift stand.

»Ah! Ah!« sagte der Vater mit Erstaunen, »ein herrlicher Triumphbogen und ein Gedicht zum Willkomm; laßt uns doch 'mal lesen!« Und er las laut vor:

»Wir stehn auch hier zum Gruß bereit
Beim Hinterthor am Garten;
Dein Kommen hat uns sehr gefreut,
Wir mußten lange warten.
Doch heut' ist Freude überall,
Weil man die That vernommen,
Daß du ganz ohne Unglücksfall
Bist wieder heimgekommen!«

»Sehr schön! Da ist wohl Rolf der Verfasser, nicht wahr?« und Wili und Lili schossen nun hervor und riefen: »Ja, ja, Rolf hat's gemacht, aber wir haben es erfunden, und dann hat er das Gedicht gemacht und der Jul hat die Stangen aufgestellt und wir haben die Tannenzweige geholt.«

»Das ist ja ein prächtiger Empfang, Kinder!« rief der erfreute Vater wieder aus. »Und was habt ihr nur überall für rote und blaue und gelbe Lichtlein angebracht, daß es ganz aussieht, als wären wir in einem Zaubergarten? Und nun gar mein Apfelbaum! Da muß ich näher heran!«

Wirklich sah der ganze Garten zauberisch aus. Lange vorher waren die papiernen Laternchen von allen Farben verfertigt und heute früh von Jul an allen Bäumen und hohen Sträuchern des Gartens befestigt worden, und während nun oben im Haus die Begrüßungen stattfanden, hatten der alte Battist und die junge Küchen-Trine die Lichter alle angezündet, und oben am Apfelbaum hingen deren an allen Ästen, so daß er aussah wie ein ganz ungeheurer Christbaum; und zwischen all den Lichtern durch schimmerten die roten Äpfel so wunderschön, daß man den Baum gar in keiner Weise hätte schöner schmücken können. Und alle die hellen Lichtlein strahlten auf den weißgedeckten Tisch nieder, auf dem die Mutter den großen Braten und den Festwein und die hoch aufgeschichteten Apfelkuchen in schöner Ordnung aufgestellt hatte, so daß das Festmahl unwiderstehlich einladend aussah.

»Das heiß' ich einen Festsaal!« rief der Vater ganz beglückt aus, als er nun unter dem funkelnden Apfelbaum stand; »da wird's herrlich schmecken! Aber wie, da ist ja noch eine Inschrift!«

Wirklich noch eine weiße, groß überschriebene Tafel hing an zwei Schnüren von den hohen Sträuchern hinter dem Apfelbaum nieder, darauf stand geschrieben:

»Im ersten ist es jedem wohl,
Wenn er es hat.
Das zweite macht, wenn er fliehen soll,
Stets der Soldat.
Beim Ganzen wird ein Fest gestift't,
Weil es den Papa selbst betrifft.«

»Ein Rätsel; das hat mir Rolf gewidmet!« sagte der Vater, dem Rolf freundlich auf die Achsel klopfend; »da werde ich mich gleich an die Arbeit des Ratens machen. Jetzt setzen wir uns aber an unseren Festtisch und freuen uns des Zusammenseins! Wer aber zuerst das Festrätsel errät, der soll auch zuerst mit mir anstoßen.«

Nun saßen sie alle unter dem Apfelbaum und jetzt ging es an ein Erzählen von allem, was jeder erlebt hatte während der Zeit der Trennung, und vom großen Jul bis hinunter zum kleinen Hunnen wußten sie alle so viel, daß da kein Ende der Mitteilungen abzusehen war.

Doch jetzt trat eine große Pause ein, denn auf einmal zog der Vater ein ungeheures Paket unter seinem Sessel hervor und fing an auszupacken, und die Kinder schauten in höchster Spannung seinen Bewegungen zu, denn sie wußten alle wohl, daß da für jedes ein Geschenk von der Reise herauskommen würde. Erst kamen die glänzenden Sporen für den großen Jul, dann ein schönes blaues Buch für die Paula. Dann kam etwas ganz Seltsames: ein großer Bogen mit einem Köcher und zwei befiederten Pfeilen darin; das war für den Rolf, und wie der Vater die schönen Pfeile herausnahm, zeigte er die scharfen Eisenspitzen daran und sagte ernsthaft:

»Diese Waffe ist nur für den Rolf, der sie zu führen weiß; sie ist kein Spielzeug. Wili und Lili sollen sich nie einfallen lassen, damit zu spielen, sie könnten sich und anderen wehe thun bei dem Anlaß.«

Nun kam für Wili und Lili eine prachtvolle Arche Noäh zum Vorschein mit allerlei Tieren, von jeder Art ein Pärchen, und mit der ganzen Familie Noäh, alle Männer mit Stöcken in den Händen für die lange Reise, die Frauen aber mit Schirmen, die sie zum Einsteigen auch sehr nötig hatten. Endlich kam für den kleinen Hunnen ein wundervoll gebauter Nußknacker heraus; er machte zwar ein Gesicht, als ob ihm obliege, alle Gebrechen der Welt zu beklagen, denn er riß unausgesetzt den Mund wie zu jammervollem Geheul weit auf; wurde er aber zugeschraubt, so biß er wie in Verzweiflung mit seinen großen Zähnen die Nüsse so scharf von einander, daß man gleich den ganzen Kern reinlich in der Hand hatte. Da gab es nun ein Zeigen und Kreuzen der Geschenke, hinüber und herüber, und ein Bewundern und immer neue Entdeckungen, die zu immer neuen Freudenausbrüchen führten.

Aber endlich stand die Mutter auf und mahnte zum allgemeinen Aufbruch, da die gewöhnliche Zeit des Rückzugs für die Kinder längst überschritten sei. Da stand denn auch der Vater auf und fragte mit lauter Stimme:

»Wer hat aber das Festrätsel erraten?«

Das hatte keiner, denn keiner von allen hatte mehr daran gedacht, als nur Rolf selbst.

»So habe ich es selbst erraten«, fuhr der Vater fort, da keine Antwort erfolgte; »es wird wohl die ›Heimkehr‹ sein, nicht wahr, Rolf? Und nun stoß' ich mit dir an und bringe dir meinen Dank für dein Rätsel.«

Während nun Rolf sich hocherfreut dem Vater näherte, ertönte plötzlich der Schreckensruf: »Es brennt! Es brennt!« Alle sprangen vom Tisch auf; der Battist und die Trine stürzten herbei mit Kübeln und Flaschen, der Hans vom Stall her mit einem großen Eimer; alles lief und schrie durcheinander: »Der Strauch brennt! Die Hecke brennt!« Es war ein ganz erschrecklicher, unerhörter Lärm. –

»Dora! Dora!« ertönte eine jammernde Stimme in das Gärtchen am kleinen Hause hinunter, und voller Schrecken eilte Dora von ihrem Platz an der Hecke weg und ins Haus hinauf. Sie war so vertieft gewesen in alles, was sie sah und teilweise hörte, daß sie alles andere vergessen hatte und wohl zwei Stunden lang an der Öffnung hingekauert geblieben war. Oben lief die Tante mit Jammer und Schrecken im Zimmer hin und her und hatte schon ganze Haufen der eben eingeräumten Sachen wieder aus den Schränken und Truhen herausgerissen und aufeinandergeschichtet, um sie zu flüchten.

»Tante Ninette« – sagte Dora mit Zagen, denn sie fühlte, daß sie zu lange ausgeblieben war –, »du mußt dich gewiß nicht mehr fürchten; sieh, es ist schon ganz dunkel drüben im Garten, alles ausgelöscht.«

Die Tante warf einen schnellen Blick hinüber, es war so; alles war völlig dunkel, auch das letzte Lichtlein ausgelöscht. Eine ganz gedämpfte Laterne kam jetzt gegen den Apfelbaum hin; da wurde wohl bei dem blassen Schimmer dieses Lichtes noch aufgeräumt.

»Es ist zu schrecklich! Wer hätte eine Ahnung von solchen Dingen haben können!« jammerte die Tante. »Geh jetzt schlafen, Dora; morgen wird sich's zeigen, ob ausziehen oder abreisen.«

Dora zog sich schnell in ihr Kämmerchen zurück; aber lange, lange fand sie heute keinen Schlaf. Sie sah immerfort den Garten und die Lichter und den funkelnden Apfelbaum vor den Augen und hörte die Kinder so fröhlich reden und lachen und dem Papa erzählen und seine freundlichen Worte der Erwiderung, und dann dachte sie an ihren Papa, und wie es war, da auch sie ihm erzählen und bei ihm sein konnte, und sie fühlte doppelt in der Erinnerung, wie gut es die Kinder drüben hatten. Es hatte sie aber so zu den Kindern und zu dem guten Papa und der Mama hingezogen, daß es ihr war, als müßte sie sich von jemand trennen, den sie lieb hatte, wenn nun Onkel und Tante wieder fortziehen würden, und der Gedanke machte ihr so schwer, daß sie nun erst gar nicht einschlafen konnte. Und wieder standen dann die Kinder drüben vor ihr mit ihrem freundlichen Papa, und mit ihm stand ihr eigener Vater vor ihren Augen und sie hörte ihn; wie er sie trösten und zu ihr sagen würde:

»Gott sitzt im Regimente
Und führet alles wohl.«

Dann legte sie sich hin und schlief ein, aber noch in ihren Traum hinein spielten die Lichter und der funkelnde Baum und die fröhlichen Kinder drüben im Garten. –

Als nach dem schnell gelöschten Feuer drüben sofort eine Untersuchung der Ursache angestellt wurde, ergab es sich, daß Wili und Lili den Gedanken gehabt hatten, das Rätsel des Rolf in ein Transparent zu verwandeln, damit plötzlich der Gesellschaft die Buchstaben so schön rot und durchsichtig leuchtend erscheinen würden, wie zu Weihnachten der Spruch hinter dem Baum erschienen war: »Ehre sei Gott in der Höhe.« Sie hatten sich darum leise davongemacht, hatten zwei Lichter geholt und sich auf den hohen Tritt gestellt, der gebraucht worden war, die Inschrift aufzuhängen. Nun hielten sie von hinten die Lichter hoch empor, ziemlich nahe an die Inschrift heran. Als immer noch kein freudiges Erstaunen sich auf den Gesichtern der Anwesenden zeigen wollte, streckten sie die Lichter immer näher an das Papier hin, bis es in Flammen aufging und so das Feuer bald die nahen Zweige erfaßte. Sie gestanden dann gleich ihre mißglückte Unternehmung ein und wurden heute, um des Festes willen, mit gelinder Ermahnung zur Ruhe geschickt, doch nicht ohne das ernstliche Verbot, je wieder mit Feuer das geringste Experiment vorzunehmen.

Bald darauf war auch im großen Hause alles still, und friedlich zog oben über der Mond und schaute auf die Bäume und die schlafenden Blumen und den stillen Garten hinunter.



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