Johanna Spyri
Kornelli wird erzogen
Johanna Spyri

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Eine große Veränderung

Mux hatte am andern Morgen kaum seine Augen geöffnet, als er begehrte, sofort mit seinem Buch zu Kornelli zu gehen; so war es gestern abend ausgemacht worden. Aber erst mußte er die gewöhnlichen Morgenschicksale über sich ergehen lassen, bevor er seinen Zweck erreichte. Jetzt lief er, glatt gekämmt und rot gewaschen wie ein frischer Apfel, in die Stube herein. Richtig, da saß Kornelli schon still in einer Ecke und lauschte gespannt den Musikübungen von Agnes zu. Er stürzte auf Kornelli los; das Buch lag schon in ihren Händen.

»So, jetzt wollen wir den ganzen Tag lang lesen und dann erzählen«, rief er erfreut; »die andern müssen gleich in die Schule.«

Erst kam aber noch das Frühstück; das hatte Mux zum erstenmal vergessen. Dann zogen die Mädchen aus; aber nun klopfte Dino und begehrte, daß Kornelli zu ihm komme. Mux erhob ein großes Geschrei und stellte es nicht eher ein, bis Kornelli versprochen hatte, sobald Dino heute schlafen müßte, würde sie sich mit Mux eine ganze Zeit lang abgeben. Er murrte fort, als Kornelli das Zimmer verließ, und sie war immer aufs neue verwundert, daß jemand sie so gern haben konnte; es tat ihr so wohl, wie nichts anderes. Drüben fragte Dino, ob Kornelli ihm nicht auch etwas vorlesen wollte, da sie doch so gern dem Mux aus seinem Bilderbuch vorlas.

»Hast du denn auch so kurzweilige Geschichten?« fragte Kornelli zögernd, indem ihr die Erinnerung an ihre schönen Bücher aufstieg, in denen ihr vieles so unverständlich war, daß sie lieber alle liegen ließ.

»Ja, das mein ich, du sollst einmal sehen«, sagte Dino. »Nimm dort das Buch herunter, auf dem steht: ›Von lustigen Reisen.‹ Da sind auch Bilder drin, nur nicht so große wie im andern, und farbig sind sie auch nicht, aber so komisch, daß man immerfort lachen muß.«

Kornelli holte das Buch herunter, und wirklich, bald nachher erscholl einmal ums andere ihr Lachen so hell ins Zimmer hinüber, daß die Mutter drüben vergnügt lächelte und bei sich sagte: »Nein, nein, da ist noch nicht alles verloren.«

So ging die Woche dahin. Kornelli verbrachte ihre Zeit fast nur mit Vorlesen, einmal bei Dino, und dann wieder bei Mux. Dabei wurde sie selbst immer eifriger in ihrer Tätigkeit, und wollte Mux einmal, nun sollte Soldaten gespielt werden, so sagte Kornelli: »Das kannst du gut allein tun, laß mich nur lesen, dann erzähl ich dir's nachher.«

Bald hatte sie das ganze dicke Buch durchgelesen. Den Mädchen war Kornelli nicht nähergekommen, Nika hatte noch kaum mit ihr gesprochen. Am Sonnabendmorgen trat die Mutter bei Dino ein, eben als Kornelli eine so köstliche Geschichte fertiggelesen hatte, daß alle beide in der Erinnerung noch hell auflachten.

»Wie ist es nun, Kinder?« sagte sie. »Auf morgen erwartet Kornellis Vater Bericht, ob er kommen und sie heimholen, oder ob er sie uns noch für eine Woche lassen soll. Kornelli soll selbst entscheiden; wir wünschen ja alle, sie noch bei uns zu behalten.«

»Geh nicht! Geh nicht! Sag, er soll nicht kommen, noch lang nicht!« drängte Mux, der hinter der Mutter hereingeschlüpft war und nun Kornelli so festhielt, als ob auf der andern Seite der Papa sie schon fortziehen wollte.

»Nein, nein, Kornelli, jetzt gehst du noch nicht fort«, fiel Dino ein, »morgen darf ich ja zum erstenmal aufstehen, da mußt du doch dabei sein und sehen, ob ich auch noch gehen kann. Und nachher bleibst du noch da, bis ich wieder zur Schule gehe, nicht, Kornelli? Du willst doch nicht fort?«

»Ihr müßt Kornelli nicht so drängen«, sagte die Mutter, »vielleicht würde sie gern heimgehen, und euer Drängen hemmt sie, es zu sagen.«

Aber das Drängen der beiden war für Kornelli eine solche Freude, daß sie gar nicht zweifelte, was sie tun wollte.

»Ich will sehr gern noch dableiben«, sagte sie.

»Oh, wie recht!« rief Dino aus. »Und bitte auch gleich noch um vierzehn Tage, Mama, oder um drei Wochen, es ist so gemütlich, Kornelli dazuhaben.«

»Ich bitte den Herrn Papa, uns sein Töchterchen noch länger zu lassen«, sagte die Mutter, »die Zeit darf ich nicht so bestimmen, das wird der Vater tun.«

»Ja, ›länger‹ ist gerade recht, da kann man dann immer noch ein wenig weiter bitten und sagen, wir hätten das unter ›länger‹ verstanden«, meinte Dino.

Als heute Dinos Ruhestunde kam und Kornelli mit Mux zusammensaß, waren alle beide so fröhlich über das neu beschlossene Zusammenbleiben, daß Mux das Klavier aufmachte und Kornelli aufforderte zu spielen, damit sie ein Lied zusammen singen könnten. Spielen konnte sie nun gar nicht; aber ein Lied wollte sie mit ihm singen, sagte Kornelli, er sollte nur eines vorschlagen. Mux wußte keines.

»Sing du eins, dann kann ich es vielleicht«, schlug er vor.

Kornelli war ganz in der Stimmung, einmal wieder zu singen. Sie begann, und mit ihrer hellen, vollen Stimme sang sie Mux, der voller Verwunderung lauschte, ihr Lied vor:

Schnee auf der Wiese
Und Schnee auf der Diel,
Schnee oben und Schnee unten,
Nun wird's mir zuviel.
Hoiheia, juchheia,
Nun wird's mir zuviel.

Oh, Sonne am Himmel,
Oh, Kuckuck im Wald,
Am Bach ihr Ranunkeln,
Oh, kommt und kommt bald!
Hoiheia, juchheia.
Oh, kommt und kommt bald!

Singt der Fink seine Lieder,
Schwirrt die Schwalbe ums Dach,
Schwirr ich mit und singe wieder,
Freu mich hunderttausendfach.
Hoiheia, juchheia,
Freu mich hunderttausendfach.«

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, Agnes stürzte herein.

»Warum sagst du denn nichts?« schrie sie schon auf der Schwelle. »Nein, so etwas! Warum hast du denn nie ein Wort gesagt?«

»Was hätte ich denn sagen müssen?« fragte Kornelli erschrocken.

»Du mußt gar nicht erschrecken«, beruhigte Mux, »ich helfe dir schon, wenn sie dir etwas tun will.«

»Sei nicht so übernatürlich dumm, Mux«, warf ihm die Schwester zu und wollte ins Nebenzimmer hineinrennen; die Mutter stand auf der Schwelle. »Hast du's gehört, Mutter? Komm doch heraus, und laß Kornelli das Lied noch einmal singen!«

»Wohl habe ich es mit Freude und Verwunderung gehört«, sagte die Mutter, zu Kornelli herantretend. »Du hast eine Stimme, liebes Kind, die wir gerne wieder hören möchten. Du hast wohl schon oft gesungen?«

»O ja«, sagte Kornelli, »die Marthe hat mich viele Lieder gelehrt, aber ›«

»Was ›aber‹?« fiel Agnes ein, »nun weiß ich, was du für eine Stimme hast. Jetzt muß ich gleich noch zur Musikstunde; aber heut abend mußt du mit mir singen, und tüchtig; da gilt kein ›Aber‹ mehr.«

Agnes stürzte wieder fort.

»Nicht wahr, Kornelli, heute abend singst du nun mit uns?« sagte die Mutter freundlich. »Nun wissen wir ja gut, wie es klingt; warum solltest du noch ein ›Aber‹ haben?«

»Wenn ich mich fürchte, kann ich nicht recht singen, es klingt dann gewiß gar nicht gut«, erwiderte Kornelli.

»Aber warum solltest du dich denn nur fürchten?« fragte die Mutter. »Du kennst uns doch nun alle ganz gut.«

»Weil ich nicht bin wie Agnes und Nika und nichts so tun kann wie sie und auch nicht so aussehe«, sagte Kornelli, indem sie in ihrer alten Weise die Stirn zusammenzog, daß man es durch die dichten Haarsträhne, die sie bedeckten, sehen konnte.

Die Mutter sagte nichts mehr; sie ging hinaus.

»Bleib du nur immer bei mir, dann mußt du dich gar nie fürchten«, sagte Mux beschützend. »Ich fürchte mich vor gar nichts auf der ganzen Welt – nur im Dunkeln«, setzte er gleich hinzu, als er Kornellis Augen unter den Strähnen hervor forschend auf sich gerichtet sah; er fühlte sich durchschaut. »Nein, auch dann nicht mehr, wenn du dann immer bei mir bleibst«, schloß er gleich darauf zuversichtlich.

Früher als je hatte Agnes heute ihre Schularbeiten beendet.

Sie stürzte zum Klavier: »Komm her, Kornelli!« rief sie dieser zu. »Mux soll sich selber unterhalten, nun wird gesungen.«

Kornelli kam.

»Nun sing ich die erste Strophe dieses Liedes vor, nachher singst du mit.« Agnes begann: »Der Mond ist aufgegangen.«

»Oh, das Lied kenn ich schon lange, soll ich gleich die zweite Stimme singen?« fragte Kornelli.

»Was? Du singst zweite Stimme? Kannst du das wirklich? Das wäre ja über alle Begriffe herrlich! Sing einmal drauf los!« sagte Agnes ganz erregt.

Die beiden sangen allein; denn noch hatte Nika ihre Aufgaben nicht vollendet, auch für die Mutter war die Zeit zum Abendgesang noch nicht da. Agnes wollte nur erst einmal ihre Versuche mit der neuen Stimme machen. Nika saß ganz vertieft in ihre Arbeit; die Mutter kam nur ab und zu ins Zimmer. Agnes sang selbst mit, so hatte Kornelli nicht das Gefühl, daß jemand zuhöre, und sang nun hell und frei heraus mit der ganzen, vollen Stimme. Agnes wurde immer eifriger; es tönte, als sänge ein ganzer Chor da drinnen.

Die Mutter blieb im Zimmer stehen, Nika schaute erstaunt von ihrer Arbeit auf und lauschte. Als das Lied zu Ende war, mußte Agnes vor Freude in die Hände klatschen.

»Du hast eine Stimme wie eine Glocke, Kornelli!« rief sie aus. »Oh, wenn ich eine solche Stimme hätte! Oh, was wollte ich alles singen! Kannst du noch viele Lieder? Nun sag einmal alles heraus!«

Kornelli blätterte in dem Notenbuch. Von den alten Liedern, die da standen, kannte sie noch manches; die hatte sie alle mit der Marthe gesungen.

Agnes frohlockte: »Nun wird unser Abendgesang viel schöner sein; nun kommt alles anders, ganz anders!« rief sie aus und stürzte nach ihrem Schrank; denn schon war ihr ein neuer Gedanke gekommen.

Sie holte andere Musik herbei; es waren ihre zweistimmigen Lieder, die sie nur in der Musikstunde, aber nie zu Hause singen konnte; Nika machte nicht mit.

»Komm, Kornelli, versuch einmal, mir nachzusingen, was du nachher allein singen mußt; ich singe dann meine eigene Stimme. Sieh, da sind die Noten, hier kannst du deine Stimme verfolgen«, belehrte Agnes und begann zu singen.

Kornelli kannte wenig von den Noten; Herr Mälinger hatte zwar mit ihr auch diesen Zweig des Wissens gestreift. Aber sie hatte ein feines Ohr und konnte Melodien augenblicklich nachsingen. Mit dem leichtesten Stücke wurde begonnen; die Töne erfaßte Kornelli sogleich, sie merkte auch alsbald, wo sie einzusetzen und wo zu pausieren hatte. Ein zweites Stück konnte noch vorgenommen werden, noch ein drittes. Man fing von vorn wieder an, alle drei konnten nun wirklich gesungen werden.

»Noch einmal! Noch einmal!« drängte Agnes immer wieder, es ging jedesmal noch ein wenig besser, zuletzt ging es vortrefflich. Agnes sprang vor Freude vom Stuhl auf: »Du bist ein ganz herrliches Kornelli«, rief sie aus, »wer hätte das gedacht! Geh nur noch nicht heim! Bleib doch noch bei uns, nun singen wir jeden Tag! Hast du es gehört, Mama?«

Die Mutter bejahte es und sagte, sie hätte mit Dino sich an dem Gesang erfreut; er hatte verlangt, daß seine Tür offen bleibe; denn er hatte den Gesang gehört.

»Weißt du was, Kornelli, morgen früh studieren wir schnell ein Festduett miteinander ein, um Dino damit zu begrüßen, wenn er zum erstenmal wieder ins Zimmer kommt.«

Kornelli war ganz einverstanden.

Die Mutter mahnte nun, daß, wie immer am Schluß des Tages, das Abendlied gesungen werde. Sie hatte um der Gesangübungen willen diesen Schluß schon sehr weit über die gewohnte Zeit hinausgeschoben.

Agnes behauptete, den heutigen Tag könnte man nicht mit einem sanften Abendlied beendigen, man müßte ein lautes Lob- und Danklied singen, und stimmte gleich ihren Lobgesang an, in den auch die anderen mit Freuden einstimmten.

Kornelli war über die unerwartete Freude und große Freundlichkeit von Agnes so erfreut und verwundert, daß sie in ihrem Stübchen noch lange auf dem Bett sitzen und nachsinnen mußte, warum sie doch nie recht froh sein konnte, obschon doch nun fast alle im Hause sie so liebevoll behandelten. Aber sie wußte es bald wieder. Die Angst war ja immer da, daß sie aussähe wie sonst niemand, und daß es noch immer ärger werden würde, bis sie es nicht mehr verbergen könnte; dann würden sie doch alle denken wie Mux, wenn sie es auch nicht sagen würden.

Am andern Morgen, als Kornelli eben aufgestanden war, trat die Mutter in ihr Stübchen. »Kornelli«, sagte sie, das Kind bei der Hand nehmend, »du machst uns allen soviele Freude, du hast meinem kranken Dino manche frohe Stunde gemacht und den kleinen, unruhigen Mux so gut unterhalten, daß er fast nicht mehr ohne dich sein kann. Ich möchte dir auch einmal etwas Gutes tun; ich möchte dich heute ganz festlich machen und was dich entstellt, für immer fortbannen.«

Schon hatte die Mutter begonnen, des Kindes Haar zu ordnen.

»O nein, nein, nur das nicht!« schrie es auf. »Dann ist alles aus. Ich muß heim, ich will heim! Sie lachen mich alle aus und können mich nicht mehr leiden. Oh, Sie wissen nicht, wie es ist.«

»Ich weiß alles, liebes Kind«, sagte ruhig die Mutter. »Dino hat mir alles erzählt. Du weißt doch, daß ich dich lieb habe, Kornelli, nicht wahr? Du weißt, daß ich dir nichts zufügen würde, das dir weh- und nicht wohltun könnte. Du bist in einem Irrtum, von dem ich dich heilen möchte.«

»Nein, nein, es ist kein Irrtum, gewiß nicht«, rief Kornelli angstvoll, »die Base hat es gesagt und Fräulein Grideelen auch; sie haben es gesehen, ich weiß es. Oh, streichen Sie nur die Haare nicht weg!«

»Kornelli«, fuhr die Mutter ruhig fort, »die Damen haben dir gesagt, sie sähen Hörnchen auf deiner Stirne, und die würden immer größer, wenn du in so finsterer Weise deine Stirn zusammenziehst. Das ist deine Angst, daß es so sei und nun immer ärger werde. Das hast du in einer Weise verstanden, wie sie es nicht meinten. Sie wollten dir sagen, wenn du so deine Stirn runzelst, so siehst du aus, als hättest du Hörnchen. Sie wollten dich dadurch abhalten, so zu tun. Sie meinten es gut mit dir; du hast es nicht recht verstanden. Aber mich verstehst du nun und weißt, daß ich es nur gut mit dir meine. Laß mich nun gern machen, was dir wohltun wird. Du hast doch Vertrauen zu mir? Würde ich etwas tun, was dich in den Augen der Menschen abschreckend erscheinen ließe? Das kannst du nicht glauben, liebes Kind!«

Kornelli stöhnte nur noch leise.

Mit gewandter Hand hatte unterdessen die Mutter weitergearbeitet, das dichte Haar war nun schön gescheitelt. Zu beiden Seiten der sauberen weißen Straße in der Mitte lagen die Wellen des braunen Haares und umrahmten die schneeweiße Stirn, die kein Sonnenstrahl den ganzen Sommer durch getroffen hatte, so dicht war sie bedeckt gewesen. Zwei dicke braune Flechten, die eben fertig geflochten waren, wand die Mutter um den Kopf herum; sie machten eine ganze Krone aus. Lächelnd schaute jetzt die Mutter in Kornellis Gesicht. Die veränderte Erscheinung erfreute ihr Herz.

»Komm nun mit mir hinüber; wir wollen sehen, ob die Kinder die Veränderung bemerken«, sagte sie und nahm Kornelli an der Hand, um sie hinüberzuführen.

Kornelli war froh, mit der Mutter ins Zimmer zu treten; allein hätte sie es kaum gewagt. Auch so noch schaute sie scheu zu Boden, als die Tür aufging.

Mux hatte schon auf seine Freundin gewartet; er lief ihr entgegen. »Was hast du gemacht, Kornelli?« sagte er plötzlich verwundert; »du bist ganz sauber und schön um die Stirn und hast glänzende Augen wie ein Kanarienvogel, und du siehst nicht mehr der Eule gleich.«

»Nein, aber Kornelli, du bist ja ganz verwandelt«, rief nun Agnes aus, »laß mich sehen! Mach ein wenig Platz, Mux! Nein, dich kennt man gar nicht mehr! Es ist ein wahres Glück, daß du das getan hast; jetzt ist es eine rechte Freude, dich anzusehen.«

»Die Mutter hat es getan«, sagte Kornelli, wie verwirrt über diese Freudenbezeigungen.

Auch Nika hatte ihre Augen auf Kornelli gerichtet. »Du bist ein ganz anderes Kind als vorher«, sagte sie; »wie hast du nur so werden können?«

Es war ein so einnehmender Ton, mit dem diese Worte gesprochen wurden, daß Kornelli mehr und mehr ein tief wohltuendes Gefühl durchdrang, das sie aber immer wieder mit Scheu zurückdrängte. Es konnte ja fast nicht möglich sein, konnte sie denn wirklich mit einemmal von ihrer schrecklichen Angst für immer befreit sein?

Nun drängte Agnes, Kornelli sollte mit ihr zu der Gesangsübung kommen, damit dem aufstehenden Dino ein festlicher Empfang bereitet werden könnte. Kornelli war ganz einverstanden, und die Übungen begannen und setzten sich fort und fort; denn Agnes konnte nicht satt werden, mit der neu entdeckten Stimme alle möglichen zweistimmigen Gesänge durchzunehmen, die sie bisher aus Mangel an einer zweiten Stimme niemals hatte ausführen können.

Erst zum Mittagessen erschien Dino, noch blaß, aber sehr lebendig. »Hurra, Kornelli«, rief er aus, nachdem er ins Wohnzimmer eingetreten war, »nun siehst du wieder aus wie in Illerbach, wenn du vergaßest, daß du die Vorhänge über deine Stirn ziehen mußtest, und noch viel besser! Wie siehst du gut aus. Kornelli! Noch einmal Hurra und Freude ohnegleichen.«

Aber was jetzt kam, hatte Dino nicht erwartet: plötzlich ertönte der Festgesang, und so voll und rein klang Kornellis Stimme heraus, daß Dino nur immer wieder Nika anstieß und leise sagtet »Hörst du's jetzt? Siehst du's jetzt? Merkst du's bald?«

Man konnte wohl bemerken, die beiden waren bis jetzt nicht derselben Meinung über Kornelli gewesen.

Es war ein rechter Festtag heute. In Kornellis Herzen begann das Gefühl von wonnigem Wohlsein alle anderen Empfindungen zu verdrängen. Ihre natürliche Heiterkeit brach, wie von Banden befreit, hervor und regte alle anderen zu solcher Heiterkeit und solchem Festjubel an, daß die Mutter selbst mit einstimmen und nur immer wieder mit Staunen und Freude auf ihre Mädchen schauen mußte, die sonst so wenig ungetrübte Freude zeigten, und auf ihren Dino, der mit seinem glückstrahlenden Ausdruck so frisch und wohl aussah. Aber heimlich mußte sie auch wieder seufzen und sich fragen: »Wie lange wird diese Freude bei uns anhalten? Vor uns liegen ja doch für uns alle schwere Zeiten.«

»Habe ich nun recht gehabt?« mußte Dino noch seinen Schwestern zurufen, als man sich zum Schlafengehen trennte und Kornelli schon verschwunden war. Wie manchesmal hatte die eine oder die andere seit Kornellis Ankunft heimlich zu ihm gesagt: »Was du an deiner Freundin so anziehend und so kurzweilig findest, begreifen wir nicht.«

Kornelli stand wie im Traum, als sie nun allein war. Was war nur mit ihr vorgegangen? War es wirklich wahr, daß der große Kummer, der so lange sie gedrückt und ihr alle Freude genommen hatte, auf einmal ganz verschwunden war und für immer? Aber die Mutter hatte ihr ja fest gesagt, es sei alles ein Irrtum gewesen, und die Kinder hatten alle bewiesen, daß es so sei. So war sie wieder wie vorher und konnte wieder fröhlich sein ohne Angst im Hintergrund. Kornelli war so voller Freude und Dank.

»Oh, wie hat der liebe Gott alles so gut für mich gemacht!« sagte sie in ihrem Herzen und erinnerte sich daran, wie angstvoll sie gebetet hatte, er solle doch verhüten, daß sie nach der Stadt müsse, und nun hatte er sie wohl nach der Stadt gehen lassen, aber so anders, als sie gefürchtet hatte. Gerade durch das Fortgehen war ihr der große Kummer weggenommen worden. Ja, die Marthe hatte wohl recht gehabt; Kornelli wollte es nicht mehr vergessen; sie wollte nie mehr etwas erzwingen wollen, nur bitten, der liebe Gott solle doch alles gut machen nach seinem Willen. Jetzt hatte sie ihm so herzlich und innig zu danken, daß sie erst ganz spät sich zum Schlaf niederlegen konnte, und dann erst noch lange wach blieb; aber es war nur aus übergroßer Freude.

»Heute habe ich dir etwas Besonderes mitzuteilen, Kornelli«, sagte die Mutter, als die Familie am andern Tag nach dem Abendessen friedlich beisammen saß. »Du weißt, ich habe deinem Vater geschrieben, wir bitten alle darum, daß er dich noch einige Zeit bei uns lasse. Er hat mir geantwortet, ihm wäre es am liebsten, wenn sein Töchterchen gleich ein ganzes Jahr lang bei uns bliebe und allen Unterricht mitnähme, den ich meinen Töchtern erteilen lasse. Du solltest aber die Freiheit haben, Kornelli, deinem Vater selbst zu schreiben, wie dich dieser Vorschlag berühre.«

»Du bleibst doch bei uns, Kornelli, gelt, du bleibst bei uns?« rief Dino gleich aus; »du bleibst da bis zum Sommer, dann geh ich mit dir heim nach Illerbach. Ich komme dann ja doch wieder zu der guten Frau Marthe; das ist schon bestimmt.«

»Und ich auch«, sagte Mux entschlossen, »und weißt du, Kornelli«, flüsterte er ihr dann ins Ohr, »ich bleibe dann immer bei dir in deinem Haus, und Dino kann dann ganz allein zu der alten Marthe gehen.«

Agnes war entzückt über diese Aussicht. »Oh, wie herrlich! Wie herrlich!« rief sie einmal ums andere aus. »Nun nehmen wir Singstunden zusammen und lernen vorweg die gleichen Gesänge und singen alles zusammen wieder daheim. Oh, das ist ganz unsäglich erfreulich!«

Sogar Nika sagte zustimmend: »Du wirst doch deinem Vater schreiben, du wollest bei uns bleiben, Kornelli, wir fangen eigentlich doch erst jetzt an, dich kennenzulernen.«

Kornellis Augen erglänzten in immer größerer Freude. Alle wollten sie gern behalten, alle! Und noch ein Gedanke war in ihr aufgestiegen: wenn der Vater sie ein Jahr lang dalassen wollte, dann war es wohl die Institutszeit, die er für sie im Sinn hatte. Oh, wie war das so anders, als was sie sich gedacht und so gefürchtet hatte! »Oh, ich will ja so gern dableiben, so gern!« sagte sie plötzlich in warmer Erregung. »Darf ich gleich an Papa schreiben?«

Das war der Mutter gerade recht. Sie setzte sich neben Kornelli hin; auch sie wollte an den Vater schreiben, die Briefe sollten zusammen abgehen.

Als der Direktor in Illerbach zwei Tage nachher bei seinem Morgenkaffee saß, öffnete er vor allen anderen Sendungen, die dalagen, den dicken Brief, der aus der Stadt kam. Es waren deren zwei in der Umhüllung. Mit Verwunderung las er den einen wie den anderen. Die Frau Pfarrer schrieb, alle Glieder ihrer Familie hätten mit Jubel seinen Vorschlag für Kornellis längeren Aufenthalt in ihrem Hause aufgenommen; denn sie alle hätten Kornelli recht von Herzen liebgewonnen. Die liebe neue Hausgenossin hätte eine recht wehtuende Lücke in ihrer Familie zurückgelassen.

Kornellis Brief lautete:

»Lieber Papa!

Ich will so gern hier bleiben; die Mutter und alle Kinder sind mir so lieb, wie ich gar nicht sagen kann. Ich möchte auch gern viel, viel lernen; Nika und Agnes wissen soviel und sind so geschickt; ich wollte so gern auch alles lernen, was sie können. Wenn Du mir das erlaubst, bin ich ganz ungeheuer froh! Grüße mir vielmals die Marthe und Esther und Mathis.

Dein Kornelli.«

Der Direktor schüttelte den Kopf, als er die Briefe durchgelesen hatte. »Wenn das nur mit rechten Dingen zugeht!« sagte er bei sich. »Kaum ein paar Wochen, seit sie mir gesagt haben, daß dieses Kind nicht zurechtgebracht werden könne, seit ich das störrische, unbegreiflich verkehrte Wesen des Kindes ja selbst gesehen habe. Und nun! Freilich, man darf ja wohl nicht so buchstäblich nehmen, was vielleicht in einem Augenblick der Erregung geschrieben worden ist.«

Aber der Direktor war doch sehr froh über die Nachrichten. Seine größte Sorge war ihm ja zunächst abgenommen. Jemand wollte sich seines Kindes annehmen, und es war eine Frau, die ihm samt ihren Kindern den günstigsten Eindruck gemacht hatte. Wie lange es mit dem störrischen Kinde bei ihr gehen würde, wollte er eben abwarten.

Die Mutter hatte für Kornelli bald alles vorbereitet, so daß sie nun einen richtig geordneten Schulunterricht beginnen konnte. Agnes trieb mit Feuereifer, daß auch sogleich Musikstunden genommen würden; das war doch die Hauptsache, meinte sie. Kornelli wünschte es auch selbst; am liebsten wollte sie gleich alles lernen, was Nika und Agnes erlernten, und mit voller Lust und ganz frischen Kräften stürzte sie sich auf jedes Gebiet, das vor ihr aufgetan wurde.

Dino war nun wieder genesen; auch für ihn hatte der Schulbesuch wieder begonnen. So zog jeden Morgen das Trüppchen der vier Kinder im lebhaften Gespräch die Straße hinunter, den verschiedenen Schulen zu. Trafen sie im Heimweg wieder zusammen, so war die Unterhaltung noch viel lebendiger; denn dann hatte man sich gegenseitig die mannigfaltigen eben erlebten Schulereignisse mitzuteilen. Darin war dann Kornelli immer allen voran; sie konnte alles so komisch schildern und den andern vor die Augen führen, daß meist alle vier in hellem Gelächter die Treppen heraufkamen. So war für alle der jetzige Zustand der Dinge ein ganz erfreulicher, nur für Mux nicht; seine Freundin Kornelli war ihm ja ganz entzogen. In seinem großen Zorn rief er den vier lachenden Schulgenossen zu, die eben hintereinander das Treppchen heraufkamen: »Alle Schulen würde ich verbrennen, wenn ich sie nur hätte.«

»Nur nicht gleich alle Lehrer mit, Mux«, sagte Dino, »sonst hätte man von dir noch ganz anderes zu berichten, als du von Agnes erzählst.«

Die Tür zwischen Kornellis Stübchen und dem Schlafgemach der Schwestern war geöffnet worden und stand nun immer offen; alle drei hatten es so gewünscht. Da war ja kein Abend mehr, an dem man sich nicht soviele Dinge mitzuteilen hatte, daß der letzte Augenblick noch dazu benutzt werden mußte.

Für Nika und alles, was sie tat, hatte Kornelli nur Bewunderung. Daß eine solche Nika, an der alles schön war und die alles machen konnte, was schön war, einen Kummer haben sollte, hatte Kornelli nie begriffen, aber immer wieder daran denken müssen; denn oft sah Nika so aus, daß man es sehen konnte, sie mußte heimlich an einem Kummer leiden. Agnes mußte den ihren auch noch mit herumtragen; denn manchmal, mitten im vergnügtesten Lachen, konnte sie plötzlich abbrechen und sagen: »Ja, du kannst wohl lustig sein, Kornelli, du hast es gut, aber wir, ja wir!« Dann zog Agnes ihre Stirn auch so in Runzeln, daß Kornelli denken mußte, ihr Kummer tue recht weh. Sie hätte ihr so gern geholfen; aber sie fragte nie danach, was ihr wehe tue. Kornelli wußte ja wohl, wie froh sie selbst gewesen war, wenn kein Mensch danach gefragt hatte, was ihr fehle. Heute kam Agnes aus der Musikstunde heimgerannt, rot und aufgeregt wie noch nie. »Mama«, rief sie schon unter der Tür, »der Lehrer hat uns die Stücke ausgeteilt, die wir in der Prüfung zu spielen haben. Meines ist das schwerste von allen, und zu mir hat er gesagt, wie er mir's übergab: ›Aus dir mach ich noch was Rechtes.‹«

Jetzt ergriff Agnes ihre Hefte, warf sie von sich, als wären es ihre ärgsten Feinde, und lief weg. Kornelli lief ihr voller Teilnahme nach.

Agnes stürzte nach ihrem Zimmer, warf sich auf einen Sessel und schluchzte laut. Mit dem herzlichsten Mitleiden faßte Kornelli sie um den Hals: »Oh, ich weiß wohl, wie es ist, Agnes, wenn man so weinen muß«, sagte sie; »aber warum mußt du jetzt so weinen? Dein Lehrer hat dich ja gerade so gelobt!«

Jetzt brach Agnes los: »Ja, was nützt mir das? Und was nützt es mir, wenn ich noch so gut spiele und noch so gern üben wollte Tag und Nacht! Das nützt alles nichts. Noch ein Jahr dürfen wir fortfahren, Nika und ich, dann ist alles aus. Sie darf nicht mehr malen, und ich nicht mehr Musikstunden nehmen. Wir müssen Schneiderinnen werden, und ich darf nicht einmal mehr die höheren Klassen an der Schule durchmachen, dazu ist dann keine Zeit mehr. Tausendmal lieber will ich durch die Welt ziehen und für etwas Geld ein Lied vor den Häusern singen – ja, das will ich!«

»Kann denn die Mutter nichts machen, daß ihr das nicht müßt?« fragte Kornelli, der die Hilfe der Mutter gegen ihren großen Kummer noch so gut in der Erinnerung war.

»Nein, das kann sie nicht, es tut ihr selbst leid genug. Da ist gar kein Mensch, der uns helfen kann, wenn der Vormund es will«, rief Agnes aus, »und er sagt, es gehe nicht anders.«

Diese Erklärung drückte Kornelli sehr danieder. So war denn gar nichts zu machen. Nun begriff sie, daß Nika oft so traurige Augen hatte. Das war nun wirklich ein großer Kummer; er ging auch Kornelli tief zu Herzen. Wenn Agnes einen ihrer Verzweiflungsanfälle gehabt hatte, kam sie einige Tage lang nicht mehr zurecht. Dann sagte auch Nika kein Wort mehr, und die Mutter schaute immer wieder still und betrübt auf ihre Kinder.

Dino wurde dann auch schweigsam; er wußte wohl, was die Mutter und die Schwestern quälte. Er hätte auch so gern den Schwestern geholfen; aber er wußte keinen Weg. Dann konnte Kornelli gar nicht mehr lachen und lustig erzählen; sie wußte wohl, wie es tut, einen Kummer mit herumzutragen.


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