Johanna Spyri
Kornelli wird erzogen
Johanna Spyri

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Eine Mutter

Jeden Morgen, wenn der Direktor sich zu seinem Kaffee hinsetzte, fand er neben seiner Tasse alle Briefe und Zeitungen liegen, die mit der Morgenpost angekommen waren.

»Ei der Tausend!« rief er am Morgen aus, der dem bewegten Tag folgte, »was hast denn du für Bekannte in der Stadt, Kornelli? Hier ist ein Brief für dich.«

Kornelli schaute von ihrer Tasse auf und blickte ungläubig nach dem Brief.

»Es ist wirklich so: Fräulein Kornelli Hellmut in Illerbach, Eisengießerei«, las der Vater. »Da nimm ihn.«

Kornelli öffnete mit Spannung den Brief und las:

»Liebe Kornelli!

Denk doch, ich bin krank geworden und muß im Bett liegen. Der Arzt hat mir sogar das Lesen verboten; schreiben soll ich eigentlich nicht; aber das gibt ja nur einen kurzen Brief. Es ist mir schrecklich langweilig; denn die Schwestern sind den ganzen Tag in der Schule. Mama hat immer soviel zu tun und Mux ist noch ein schrecklich unbrauchbarer kleiner Kerl. Könntest Du mich nicht einmal besuchen? Es würde mich ungeheuer freuen; Du würdest mir soviel von dem lieben Illerbach erzählen können, von der guten Frau Marthe, die mir fast so lieb ist wie eine Großmutter, und von Deinem Geißlein und von Mathis und von den schönen Pferden, und überhaupt von allem und Dir selbst. Es war immer so kurzweilig mit Dir, daß ich Deinen Besuch ungeheuer gern hätte. Komm doch, bitte, und recht bald!

Dein treuer Freund

Dino.«

»Nun«, sagte der Vater, als Kornelli den Brief wieder zusammenfaltete, »darf man auch lesen, was da geschrieben steht?«

Kornelli übergab ihren Brief.

»Was ist denn das für ein Freund, der dich so sehr herbeiwünscht?« fragte der Vater überrascht. »Du wirst aber wohl gleich ein wenig zu heulen beginnen, daß du nach der Stadt kommen sollst.«

»Nein, ich will schon gern zu ihm gehen, Papa«, sagte Kornelli; »es ist der Dino, der bei Marthe war.«

Der Vater legte vor Verwunderung den Löffel aus der Hand und betrachtete seine Tochter mit Erstaunen.

»Wie kommst du mir denn vor, Kornelli«, sagte er endlich. »Du willst in einer ganz fremden Familie, von der du doch keinen Menschen kennst als diesen Jungen, einen Besuch machen, und hast keine Scheu und kein Bedenken, in deinem Zustand da zu erscheinen?«

»Der Dino kennt mich schon, und er weiß wohl, daß ich nur zu ihm komme, und er richtet es schon so ein, daß ich dann seine Mama und seine Schwestern nicht sehen muß; er weiß schon alles ganz gut«, war Kornellis Erläuterung.

»Das ist nichts für dich«, sagte der Vater kurz, packte gleich darauf seine Zeitungen zusammen und ging fort.

Bald nachher trat er bei Marthe ein.

»Ich komme schon wieder, Marthe, was sagen Sie dazu?« rief er der Erstaunten entgegen. »Da ist ein Brief und eine Aufforderung zum Besuch an Kornelli gekommen von einem Jungen, der bei Ihnen war; was ist's mit dem? Wer sind seine Eltern?«

Diese Frage erschloß bei Marthe einen Quell, der völlig überströmte. Nie hatte sie einen Jungen gekannt, der so höflich und freundlich gegen die geringsten Leute war wie dieser Dino, der so fein erzogen, so gut unterrichtet war und doch so einfach und so kindlich anhänglich an eine alte, geringe Marthe sein konnte! Nie hatte sie Briefe gelesen, wie die Briefe der Mutter an diesen Sohn, so schön und liebevoll und erhebend; immer hatte er ihr diese vorgelesen, und jedesmal hatte sie vor Rührung weinen müssen. Nie hatte sie so schön gearbeitetes Zeug gesehen, wie der Junge hatte, und das war die Arbeit der eigenen Schwestern.

»Marthe«, unterbrach sie endlich der Direktor, »nach Ihren Berichten zu schließen, müßte es für meine Tochter ein Glück sein, wenn sie auch nur einen Tag in dieser Familie zubringen könnte.«

»Wenn der Herr Direktor sie hinbringen wollte, eine Freude würde ich haben – ach, ach, ich weiß keine größere.«

Die Marthe mußte sich vor Erregung die Augen wischen.

»Die sollen Sie haben, Marthe, morgen gehen wir; am Abend schon sollen Sie Bericht haben, wie alles abgelaufen ist.«

Damit ergriff der Direktor ihre Hand, schüttelte sie und ging.

»Mach alles bereit, Kornelli, morgen geht's nach der Stadt«, rief er seiner Tochter zu, die noch sinnend auf ihrer Gartenbank saß; »Esther soll dich zur Zeit wecken, früh um sechs Uhr.«

»Wird pünktlich geschehen, Herr Direktor«, ertönte die Stimme von Esther aus irgendeiner Fensteröffnung heraus.

Esther war eine gute Hauswacht; irgendwie hörte sie alles, was im Hause und in der nächsten Umgebung vorging.

In der Frühe des anderen Morgens trabten die glänzenden Braunen das Tal hinaus. Sie hatten vier Stunden so fortzutraben; aber das war wie eine besondere Freude für sie; je länger sie dahinliefen, je mutwilliger wurden sie; Mathis hatte nur immer dem Galopp zu wehren.

Kornelli saß nachdenklich in ihrer Ecke; sie sann sich aus, wie sie bei der Ankunft der Magd sagen wollte, sie wolle nur den Dino besuchen und gleich in sein Zimmer geführt sein; wie sie dann dem Dino verbieten wollte, seine Mutter oder seine Schwestern zu rufen; denn sie wollte nur ihn allein sehen. Dem Dino würde sie einen langen Besuch machen und dann wieder ganz leise fortgehen, ohne daß es jemand merkte. Was sie alles dem Dino zu sagen hatte, mußte sie auch noch überdenken. Vor allem mußte er wissen, daß es heraus war, wer auf dem Sofa gestanden hatte; denn jenen tiefen Groll und Kummer, den sie so lang mit herumgetragen, hatte sie ihm auch mitgeteilt.

So langte man in der Stadt an, viel schneller, als Kornelli sich's gedacht hatte. Schon hielt der Wagen vor dem Gasthof an, wo der Vater abzusteigen pflegte. Kornelli sprang herunter.

»Soll ich in vier Stunden wiederkommen, Papa?« fragte sie; »den Weg finde ich schon, Dino hat ihn mir beschrieben.«

Sie wollte schnell gehen.

»Halt, halt! So geht's nicht, ich komme mit«, sagte der Vater.

Das war nun nicht so, wie Kornelli es sich ausgedacht hatte; aber daran war nichts zu ändern. Dino hatte seine Anschrift im Briefe genau angegeben, und der Direktor wußte gut Bescheid in der Stadt.

So ging die Wanderung rasch vor sich, von Gasse zu Gasse bis in das enge Gäßchen hinein, wo das bezeichnete Haus stand. Vier hohe Treppen waren erstiegen. Der Direktor stand an dem schmalen, steilen Treppchen, an dessen Ende die Tür noch die Hälfte der letzten Stufe einnahm.

»Wenn die Bewohner hier ihrer Wohnung entsprechen, so werden wir nicht lange oben verweilen«, sagte er, mißtrauisch nach dem unbequemen Eingang aufblickend.

»Der Dino entspricht nicht«, sagte Kornelli schnell; denn obgleich sie nicht recht verstand, was der Papa meinte, so fühlte sie seine Worte doch als einen Angriff auf ihren Freund.

»Klettere da hinauf, Kornelli, und zieh die Schnur an, die dort hängt«, gebot der Vater, »ist erst die Tür offen, so werde ich auch Platz zum Auftreten finden.«

Kornelli gehorchte. Ein schlankes Mädchen, ziemlich größer als Kornelli, öffnete die Tür und schaute mit einem Paar dunkler, ernsthafter Augen verwundert auf die Ankommenden. Kornelli fuhr zurück.

»Na, was sich da zeigt, ist nicht so schrecklich«, sagte der Direktor vortretend.

»Grüß dich Gott, mein Kind. Ist deine Mutter da, kann ich einen Augenblick mit ihr sprechen?«

Es war Nika, die geöffnet hatte und nun mit großer Höflichkeit den Herrn nach der Stube führte, wohin sie die Mutter, die bei dem kranken Bruder sei, gleich holen wollte, wie sie berichtete.

Der Direktor ließ sich auf ihre höfliche Aufforderung hin auf den Lehnstuhl nieder und schaute sich verwundert in dem kleinen, aber äußerst geordneten, mit allerlei hübschen Malereien geschmückten Zimmer um.

Als Nika der Tür zuging, sagte Kornelli halblaut zu ihr: »Ich möchte den Dino besuchen.«

»Komm, ich zeig dir den Weg«, ertönte eine kleine Stimme hinter der Tür hervor, wohin Max sich schnell versteckt und mit neugierigen Augen auf die Eintretenden gespäht hatte. Er war hervorgekommen und hatte Kornellis Hand erfaßt; jetzt zog er sie mit sich fort. Die Mutter hatte die fremde Stimme gehört und trat eben aus dem Nebenzimmer in die Stube ein.

»Diese entspricht auch nicht; um mit Kornelli zu sprechen«, sagte der Direktor lächelnd bei sich. Er erhob sich und stellte sich vor. »Der Aufforderung Ihres Sohnes folgend, habe ich meine Tochter hergebracht, Frau Pfarrer«, sagte er; »wenn es Ihnen so recht ist, so bleibt sie einige Stunden bei dem kranken Freunde; dann kehrt sie zu mir nach dem Gasthof zurück.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Freundlichkeit«, erwiderte die Frau; »mein kranker Dino hat sich sehr auf den Besuch gefreut. Kornelli ist uns allen durch ihn schon wohlbekannt und lieb. Sie hat meinem Jungen so viel Freundlichkeit erzeigt und ihn so trefflich unterhalten, wie er so allein in Illerbach war, daß sie ihn und mich zu herzlichem Dank verpflichtet hat. Dürfte ich nicht darum bitten, daß Kornelli ein paar Tage, wenigstens diesen ganzen Tag bei uns bleibt?«

»Sie sind gar zu freundlich, Frau Pfarrer«, entgegnete der Direktor, etwas erstaunt darüber, daß das scheue, unfreundliche Kind dem Jungen soviel Freundlichkeit und Unterhaltung gewährt haben sollte. »Das sind Höflichkeiten«, sagte er bei sich, – »das geht aber nicht«, fuhr er laut fort, »das Kind würde nicht bleiben; es ist sehr scheu und hat allerlei Sonderbarkeiten, wie Sie gleich an seinem Äußeren bemerkt haben müssen; Ihre Tochter sieht anders aus.«

»Gewiß möchte ich Kornelli nicht gegen ihren Wunsch hier behalten; aber darf ich auf des Vaters Erlaubnis hoffen, wenn des Kindes Wunsch mit dem unsern übereinstimmen sollte?«

Die Frau Pfarrer hatte eine Art, fragend zu bitten, daß der Direktor noch ganz andere Wünsche gewährt hätte als diesen, der ihm selbst lieb genug war.

»Gewiß, Frau Pfarrer, unbedingt und mit eigener großer Freude«, versicherte er, »was könnte mir lieber sein für mein Kind, als eine Umgebung wie die Ihrige und die Ihrer Tochter. Ich bin aber überzeugt davon, Kornelli wird mit mir heimkehren wollen. Nehmen Sie aber meinen warmen Dank für Ihre Freundlichkeit; auch nur ein Tag in Ihrem Hause verlebt, wird dem Kinde gut tun.«

Der Direktor empfahl sich und ging. Unter der Haustür kam ein Schulmädchen mit Büchertasche und der ganzen Schulausrüstung so gegen ihn gestürzt, daß ein Zusammenprall stattfinden mußte. Der Direktor öffnete seine Arme, Agnes flog hinein; so ging es noch am gelindesten ab. Agnes kam immer im Sturz daher; sie konnte nicht anders. Nun schlug der Direktor ein herzliches Lachen auf; Agnes mußte mitlachen.

»Du gehörst wohl auch der Frau Pfarrer?« sagte er, mit Wohlgefallen in das frische Gesicht mit den offenen, lebhaften Augen blickend. Wie saß auch alles schmuck und nett an dem Kinde!

»Ja gewiß«, war die rasche Antwort; dann rannte Agnes weiter.

»Die glückliche Mutter! Welch glückliche Frau!« sagte der Direktor bei sich. »Und mein Kind neben solchen! Ja, mein Kind und das Kind einer solchen Mutter!«

Der Direktor lief immer schneller, als wollte er allem entgehen, das quälend auf ihm lag.

Dino, der seiner Mutter alles erzählte, was er erlebte, hatte ihr seinen Aufenthalt in Illerbach und seinen Verkehr mit Kornelli eingehend geschildert. Auch von Kornellis sonderbarem Kummer hatte er der Mutter erzählt; aber sie hatte fest versprechen müssen, dieses Geheimnis ganz für sich zu behalten. Daß es die Mutter nun kannte, kam Dino nicht als ein Unrecht vor, sie wußte ja alles, was er wußte. Nachdem dann die Einladung zum Besuch an Kornelli ergangen war, hatte die Mutter den Kindern ernstlich anbefohlen, wenn das Kind kommen sollte, keine Bemerkungen über seine Haare zu machen, die es vielleicht in etwas seltsamer Weise trug, sie sollten auch keine Verwunderung darüber zeigen, sich gar nicht darum kümmern; so wollte es die Mutter haben.

Dem kleinen Mux war es sehr erwünscht, eine neue Gefährtin zu haben. Er betrachtete Kornelli als alte Bekannte; Dino hatte ja soviel von ihr gesprochen. Er führte sie nun zuerst nach der Küche.

»Da ist doch gewiß Dino nicht mit seinem Bett«, sagte Kornelli verwundert.

»Nein, das ist die Küche, da stehen keine Betten«, berichtigte Mux; »aber ich will dir zuerst zeigen, warum Agnes heut eine ganze Stunde lang geweint hat, oder vielleicht zwei.« Damit führte der Mux seine neue Gefährtin zu einem großen Haufen Apfelschalen hin, die im Abfallkübel lagen. »Jetzt siehst du, wie dumm die Agnes ist, wenn es nachher Apfelbrot daraus gibt, vorher so zu weinen.«

»Warum hat sie denn so geweint?« fragte Kornelli teilnehmend; sie wußte so gut, wie einem zumute ist, wenn man weinen muß.

»Das weiß man nicht«, erklärte Mux.

»Warum muß denn nicht die Magd die Äpfel schälen?« fragte Kornelli wieder.

»Es gibt keine Magd, nur die vernagelte Trine«, berichtete Mux.

»Wer ist die vernagelte Trine?« wollte dann Kornelli wissen.

»Die muß helfen; sie ist klein und dick«, beschrieb Mux. »Die Mama muß ihr zeigen, wie man kocht, und sie muß holen, was man haben muß, und bringt immer das Verkehrte. Dann sagt Dino: ›Das ist eine vernagelte Trine, man muß sie fortschicken‹ Dann sagt die Mama: ›Trine muß doch auch leben.‹ Dann schickt man sie wieder nicht fort.«

Kornelli empfand eine tiefe Teilnahme für Agnes. Die hatte gewiß auch einen geheimen Kummer wie sie selbst; vor Agnes würde sie sich nicht fürchten müssen wie vor der stolzen Schwester, die sie empfangen hatte.

»Gelt, Mux, deine andere Schwester weint gewiß nie? Fürchtest du dich nicht vor ihr?« fragte Kornelli.

»Nein, kein bißchen, gar kein einziges bißchen«, versicherte Mux. »Aber sie macht immer ein Gesicht, wie wenn sie gleich weinen wollte, und tausend tausendmal fängt sie an zu weinen, wenn kein Mensch weiß warum, und ich auch nicht; sie sagt es nicht.«

Augenblicklich verwandelte sich Kornellis Scheu vor Nika in großes Mitleid. Vielleicht hatte sie noch den allergrößten Kummer, daß sie so weinen mußte und nicht sagen konnte warum.

»Jetzt wollen wir zu Dino gehen«, sagte sie, der Tür zueilend, die ihr der Kleine gezeigt hatte.

»Wart nur, zuerst will ich dir noch das große Bilderbuch zeigen, das gefällt dir schrecklich gut«, versicherte Mux. »Und es ist auch etwas darin, das dir gleichsieht, eine Eule; sie hat Fetzen über die Augen wie du. Aber du mußt davon nicht sprechen, Mama hat es verboten.«

»Nein, ich will das Buch nicht sehen, komm nun einmal zu Dino«, drängte Kornelli.

»Aber später mußt du es sehen«, behauptete Mux, »da sind viele schöne Sachen drin; du wirst schon sehen, du willst das Buch immer wieder haben.«

Mux zog nun Kornelli aus der Küche weg und machte nicht weit davon eine Tür auf.

»Kommst du endlich, Kornelli?« rief ihr Dino entgegen, der drinnen in seinem Bett saß und ganz fröhlich seiner Freundin entgegenschaute. Kornelli empfand eine große Freude, Dino wiederzusehen, mit dem sie die einzigen frohen Stunden zugebracht, die sie den ganzen Sommer durch erlebt hatte. Sie setzte sich schnell an sein Bett und begann ihm von allem zu erzählen, was seit seiner Abreise in Illerbach sich ereignet hatte, und Dino hatte soviele Fragen zu tun und Kornelli zu beantworten, daß die Zeit dahinging, sie merkten gar nicht wie.

Mux war verschwunden; er konnte die neue Freundin nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, so zog er vor auszukundschaften, was wohl für den Besuch auf den Tisch komme.

Jetzt trat die Mutter in Dinos Zimmer.

»Mein liebes Kind«, sagte sie, Kornelli bei der Hand nehmend, »noch habe ich dich gar nicht recht gesehen; aber ich dachte, ihr bleibt erst gern ein wenig ungestört beisammen, du und Dino, und sprecht von euern Erlebnissen und euern Freunden in Illerbach. Dino hat sich ja so sehr auf deinen Besuch gefreut. Nun komm mit mir zu unserm Mittagstisch. Dann soll Dino erst ein wenig schlafen, und nachher wünscht er dich wohl wieder an sein Bett.«

Das war für Kornelli ein schwerer Augenblick. Sie hatte gehofft, den ganzen Tag mit Dino allein zubringen zu können, niemand würde sich weiter um sie bekümmern. Nun sollte sie mit der Mutter und beiden Schwestern Dinos zu Tisch sitzen. Mux war noch ihr Trost; der war so zutraulich. Aber sie hatte so empfindlich gefühlt, wie anders als die Kinder hier und wie schrecklich sie aussähe, als sie vor der schmucken Nika stand, und wenn diese auch keinen Abscheu gezeigt hatte, sie mußte doch einen solchen im stillen haben. Mux hatte es ja auch gesehen und gleich deutlich gesagt, wie sie aussah. Und nun kam noch Agnes dazu. Daß diese auch einen Kummer hatte und die stolz aussehende Nika ja auch, das fühlte Kornelli doch so wie eine Verwandtschaft zwischen ihnen. Es gab ihr einen leisen Mut, der Mutter zu folgen, die wartend schon an der Tür stand. Agnes stand erwartungsvoll mitten in der Stube, als Kornelli eintrat. Sie kam dem Gaste entgegen und schüttelte ihm die Hand.

»Es ist gut, daß du gekommen bist, Kornelli«, sagte sie lebhaft; »Dino hat schon längst davon gesprochen, und wir wollen dich auch gern kennen lernen.«

»Ich will neben dir sitzen«, sagte Mux und schleppte seinen Stuhl an Kornellis Seite hin.

»Bleib du nur, das ist mein Platz«, bedeutete ihm Agnes nicht unverständlich, indem sie den Stuhl samt dem Mux kräftig zurückschob.

Die Mutter war in die Küche hinausgegangen, so konnte Mux nicht bei ihr Hilfe suchen; das erhöhte seinen Zorn.

»Ja, ja, du willst nur immer über alle Meister sein«, rief er grimmig aus, »und du hast auch einmal einen gerädert.«

Die Mutter trat eben ein.

»Mama, Mux spricht so gräßliches Zeug«, rief ihr Agnes entgegen, »soll er nicht ins Bett?«

Mux nahm eben einen gewaltigen Anlauf, um diesen Strafantrag zu beantworten; aber die Mutter schnitt das Weitere ab.

»Nein, nein, heut ist Kornelli zum erstenmal bei uns, das ist ein Festtag«, sagte sie mit großer Freundlichkeit; »da soll Mux nicht ins Bett geschickt werden; aber er wird gleich ganz friedlich auf seinem Sessel sitzen und uns das Tischgebet sprechen, dann ist alles gut.«

Wirklich wurde Mux von den besänftigenden Worten und dem guten Geruch der Suppe, der ihm eben in die Nase stieg, so friedlich gestimmt, daß er in ganz angemessener Weise sein Tischgebet sprechen konnte. Daß er durchaus hatte erzwingen wollen, neben Kornelli zu sitzen, hatte diese so gefreut und gerührt, daß sie jetzt nur darauf sann, was sie dem kleinen Mux auch zuliebe tun konnte.

Sobald das Essen zu Ende war, hatten Nika und Agnes gleich nach ihrer Schule zu eilen; die Mutter hatte nach der Arbeit der Trine zu sehen, wie sie sagte, und Mux sollte Kornelli einen Augenblick zu unterhalten suchen. Das war dem Mux gerade recht.

»Jetzt will ich dir's zeigen, daß Agnes einen gerädert hat«, sagte er triumphierend.

»Nein, das glaube ich nicht, Mux; warum hätte der auch still gehalten?« sagte Kornelli.

»Das kannst du dann alles lesen; es steht daneben, da, jetzt siehst du's.« Mux drückte sein großes Bilderbuch auf Kornellis Schoß und wies auf das prächtige gemalte Bild hin, das er aufgeschlagen hatte. »Lies, was da steht«, wies er Kornelli an, »Dino hat es einmal laut gelesen, dann habe ich es gewußt.«

Kornelli las laut: »Agnes läßt Rudolf von Warth auf das Rad binden.«

»Jetzt siehst du's«, sagte Mux befriedigt.

Kornelli wußte nicht recht, was das Bild bedeuten sollte; sie fing die erklärende Geschichte an zu lesen. Immer eifriger las sie weiter und weiter; das war alles so lebendig geschildert; sie verschlang eine Seite nach der andern.

»Nun weißt du's«, sagte Mux ein wenig ungeduldig; »sieh jetzt den Geißenwagen an.«

»Oh, ich möchte noch fertig lesen, es ist so traurig; aber ich will noch alles wissen, wie es dann kam.«

Mux hatte schon umgeschlagen; der Geißenwagen war zu sehen.

»Aber Mux«, fuhr Kornelli mit Eifer fort, »es ist ja eine ganz andere Agnes, eine Königin; du mußt doch nie mehr glauben, daß eure Agnes so etwas Schreckliches getan hat.«

»So, sieh jetzt den Geißenwagen an«, forderte Mux, ein wenig enttäuscht.

»Warum weint das Kind dort am Wege so? Sieh, wie es die Hände in die Augen drückt!. Oh, es tut ihm so weh! Weißt du warum?«

Mux schüttelte den Kopf.

»Dann muß ich es schnell lesen«, sagte Kornelli, begann und vertiefte sich so in die Erzählung, daß sie gar nicht bemerkte, wie Mux sie zupfte und drängte und dann am Buch rüttelte, damit sie zu lesen aufhöre.

Jetzt trat die Mutter wieder ein.

»Dino hat seine Ruhezeit ein wenig abgekürzt«, sagte sie; »er verlangt sehr nach dir, Kornelli; willst du kommen?«

Augenblicklich schlug Kornelli das Buch zu; sie wollte ja so gern mit Dino zusammensein; aber sie sah doch mit Bedauern auf die Erzählung zurück; sie hätte so gern gewußt, wie es weiter ging.

»So gefällt dir das Buch? Es war auch die Freude aller meiner Kinder, vom ältesten bis zum jüngsten«, sagte die Mutter, der Kornellis Blick auf das Buch zurück nicht entgangen war. »Du kannst es wohl nachher noch ansehen; da bleibt noch viel Zeit.«

Aber mit Dino hatte Kornelli soviel zu verhandeln, daß die Zeit um und alles zu Ende war, ehe sie sich's versah.

Mux kam gelaufen mit der Botschaft, Kornelli soll zum Abendessen herüberkommen, man müßte so früh essen heute, weil sie nachher abreisen müsse.

»Oh, wie schade!« sagte Kornelli aufspringend; denn sie wußte, daß der Vater nicht gern wartete.

»Hol die Mutter herüber, Mux«, sagte Dino.

Der Kleine lief.

»Wolltest du nicht bei uns bleiben, Kornelli, wenigstens ein paar Tage? Es wäre doch so nett. Wolltest du nicht? Nicht wahr, du willst?« fragte Dino drängend.

Kornelli war es ganz seltsam zumute. Sie traute sich gar nicht ja zu sagen. Es war ihr ganz unbegreiflich, daß alle Menschen in diesem Hause so freundlich zu ihr waren und daß man sie gern dabehalten würde. Das würde vielleicht nicht so bleiben, wenn sie dabliebe und man sie dann recht kennen würde. Die Mutter kam schnell mit Mux herein, der schon verkündet hatte, Kornelli bleibe da, Dino lasse sie nicht abreisen; denn er hatte die Worte Dinos noch erlauscht.

»So bleibst du bei uns, Kornelli, ihr seid schon einig geworden, wie ich höre«, sagte die Mutter voller Freude. »Ich wollte es dir noch vorschlagen; nun Dino schon alles mit dir ausgemacht hat, freue ich mich darüber; denn dein Vater hat die Erlaubnis zu deinem Bleiben schon gegeben, ich habe ihm nur schnell ein Wort zu schreiben. Nun könnt ihr noch ruhig beisammen bleiben, das Abendessen hat keine Eile.«

Die Mutter ging, ihr Wort an den Direktor zu schreiben; nachher lief die kleine dicke Trine damit dem Gasthof zu.

Kornelli hatte sich mit einem wundersamen Gefühl, halb von Wohlsein, halb von Angst, wieder zu Dino hingesetzt. Er bemerkte die schwankende Stimmung sofort.

»Du bleibst doch gern bei uns?« sagte er. »Du solltest nur wissen, wie froh ich darüber bin. Nun kommst du immer zu mir, wenn sie alle zu tun haben.«

»Ja, gewiß, Dino, bei dir bleib ich so gerne«, versicherte Kornelli, »und auch bei Mux, und die Mutter ist auch so gut zu mir; ich fürchte mich nur vor deinen Schwestern; sie sind ja ganz anders als ich. Und jetzt muß ich auch noch denken, wie schrecklich es der vernagelten Trine ist, wenn sie alles verkehrt macht und doch nicht anders kann, und dann wird sie so verachtet, und sie kann doch nicht anders; ich weiß wohl, wie es ist, wenn man vernagelt ist.«

Dino mußte ein wenig lachen.

»Wie kommt dir denn auf einmal die Trine in den Sinn?« fragte er. »Sei du nur unbekümmert um die; Mama ist ja so gut zu ihr. Sei nun wieder lustig, Kornelli, und denk dir nicht solche Sachen aus über die vernagelte Trine.«

Kornelli sagte nichts mehr; aber daß sie sich immer noch etwas ausdachte, konnte Dino wohl merken. Nach einiger Zeit hatte die Mutter anzuzeigen, daß für Dino nun die Zeit zur Ruhe gekommen sei; er habe ja die erfreuende Aussicht, seine Freundin morgen wiederzusehen. Als Kornelli mit der Mutter in die Stube trat, wo die Schwestern an ihren Schularbeiten saßen und Mux, über sein Bilderbuch gebeugt, neue Ideen ausbrütete, kam eben die erst halb erwachsene Trine hinterher mit einem Korb am Arm. Am Sessel der Nika vorbeigehend, hakte sich ihr Korb an; sie zog so kräftig daran, daß der Stuhl einen starken Ruck auf die Seite bekam und Nika mit herumdrehte.

»Du wirst immer viereckiger, Trine«, sagte Nika unwillig.

Kornelli wurde ganz rot; es war ihr gerade, als gelte das auch für sie; sie war gewiß in Nikas Augen auch ebenso viereckig wie diese Trine. Diese brachte keine Entschuldigung vor, sie machte nachher noch ein wenig ungeschicktere Bewegungen als vorher. Das verstand Kornelli ganz gut; so machte sie es auch; sie wußte es.

»Nun setzen wir uns zu Tisch«, sagte die Mutter, »und wenn nachher die Kinder ihre Arbeiten beendet haben, so singen wir noch zusammen. Du singst doch auch, Kornelli?«

»Ich kann gewiß die Lieder nicht, so kann ich auch nicht mitsingen«, antwortete sie scheu.

Als das Nachtessen beendet war, stürzte Mux nach seinem Buch und damit zu Kornelli. Er wollte gleich und mit neuem Anlauf seine Unterhaltung mit ihr fortsetzen; aber die Mutter hatte es anders im Sinn.

»Nun gibst du das Buch an Kornelli ab, für dich ist die Zeit zum Rückzug da«, sagte sie, »morgen machst du wieder mit.«

Mux ging mit Widerstreben.

»Aber geh nicht fort, bis ich wiederkomme«, schärfte er Kornelli noch ein, da die Mutter ihn nun fest fortführte.

Es war Kornelli ganz unheimlich, als der zutrauliche Mux verschwunden war; nun war sie zum erstenmal allein mit den zwei Schwestern. Was würde nun geschehen? Es geschah aber gar nichts. Die beiden waren so in ihre Arbeiten vertieft, daß keine von ihnen auch nur den Kopf aufhob. Kornelli nahm ihr Buch vor, da waren ja die schönen Geschichten darin. Sie hatte ja auch schon eine zu lesen angefangen, von dieser mußte sie das Ende wissen. Sie begann zu lesen und las weiter und weiter; da kam immer wieder ein anderes Bild und eine neue, wunderbar schöne Geschichte dazu.

Plötzlich ertönte laute Musik ganz nah an ihren Ohren. Kornelli fuhr auf. Vor ihr am Klavier saß Agnes und spielte. Kornelli konnte nicht mehr lesen. Eine schöne Weise nach der andern spielte Agnes herunter, so rasch und so leicht, als ob es sie gar keine Mühe kostete, und sie war nur wenig mehr als ein Jahr älter als Kornelli, das wußte diese von Dino. Voll großer Bewunderung saß Kornelli da und lauschte regungslos den wundervollen Melodien, die eine nach der andern über die Saiten rauschten. Die Mutter, die noch ihren Abendbesuch bei Dino gemacht und eine Weile mit ihm zu sprechen gehabt hatte, kehrte endlich in die Stube zurück.

»Mama«, rief ihr Agnes lebhaft entgegen, »aus Freude, daß ich mit meinem großen Aufsatz zu Ende bin, spiele ich alle fröhlichen Stücke, die ich kenne.«

»Da hast du recht; wie ist's mit deiner Malerei, Nika?« fragte die Mutter.

Nika erwiderte klagend, sie hätte wohl gehofft, fertig zu werden; aber die Tage seien immer zu kurz, und bei Licht könnte sie ja nichts machen. Die Mutter sollte nur sehen, wie wenig ihrer Arbeit noch fehle.

»Nur eine Stunde länger noch das Tageslicht«, seufzte sie, »und alles wäre fertig.«

Nika stellte unter die brennende Lampe ein großes Bild, das den schönen farbigen Bildern ähnlich war, die ringsum das Zimmer schmückten. Aber ein so farbenprächtiges Bild hatte Kornelli noch gar nicht gesehen. Dunkelrote funkelnde Rosen hingen über ein altes Gemäuer nieder. Der dichte Efeu schlang seine glänzend grünen Ranken zwischendurch bis hoch hinauf. Ein alter Eichbaum streckte dichte buschige Äste über die verfallenen Mauern, und unten floß friedlich ein klarer Bach vom alten Gestein der Wiese zu, wo leuchtende blaue und rote Blumen standen und ihn wie in Freude begrüßten. Kornelli starrte auf das wundervolle Bild. Solche gemalte Blumen und Bäume hatte sie noch nie gesehen, und der schimmernde Bach! Man hörte ihn fast weithin durch die Wiese rauschen; es war alles wie lebendig. Und das hatte Nika gemacht! Es war Kornelli, als liege zwischen ihr und den zwei Schwestern, die vor ihr standen, eine große, große Kluft, die sie trennte für immer und immer.

Drüben standen die zwei, wie zwei große, herrliche Wesen voller Schönheit und Gaben, und da stand sie, eine viereckige, vernagelte Trine, die nie ein Mensch lieb haben konnte. Die Mutter ermunterte Nika, morgen nur frisch ihre Arbeit wieder zur Hand zu nehmen, sie hatte selbst ihre große Freude daran. Dann setzte sie sich zum Klavier, das Abendlied sollte gesungen werden.

Kornelli blieb stumm, wie auch die Frau Pfarrer sie zum Mitsingen ermunterte. Sie hätte wohl auch mittun können; denn das alte Abendlied hatte die Marthe sie schon frühe gelehrt, sie hatten es oft zusammen gesungen. Aber Kornellis Eindrücke schnürten sie so zusammen, daß sie keinen Ton hervorgebracht hätte. Als das Lied zu Ende war, fuhr Agnes auf, als wäre sie gestochen worden.

»Nein, Mama«, rief sie aus, »das ist gar nichts; wenn du heiser bist und Dino im Bett liegt, so ist unser Gesang scheußlich. Nika piepst nur so wie ein Hühnchen, das man in den Hals gestochen hat.«

»Dann muß man eben zu singen aufhören«, sagte Nika, ein wenig vornehm die Achseln zuckend.

»Nein, in einer Haushaltung muß gesungen werden, sonst hat sie keinen Wert mehr«, erklärte Agnes; »daß aber auch gerade so etwas Schönes so selten vorkommt!«

Die Mutter nahm jetzt Kornelli freundlich bei der Hand.

»Du bist müde, liebes Kind, ich kann es sehen«, sagte sie. »Ich führe dich nun in ein ganz kleines Schlafstübchen; ich habe kein größeres. Die Tür hier geht ins Schlafzimmer von Nika und Agnes«, fuhr sie fort, als sie nun mit Kornelli in dem kleinen Raum stand; »du kannst sie aufmachen, wenn du willst, dann seid ihr alle drei wie in einem Zimmer.«

Dann nahm sie herzlich Abschied für den Tag und wünschte, Kornelli möchte zum erstenmal unter ihrem Dach recht wohl schlafen.

Nika und Agnes sagten kurz: »Gute Nacht«; dann war Kornelli allein in ihrem Stübchen.

Sie hatte keine Lust, die Tür aufzumachen; ihre Scheu vor den Schwestern war noch viel größer geworden, als sie bei der Ankunft gewesen war. Wie schrecklich hoch standen auch die beiden über ihr! Kornelli hatte gar keinen Schlaf; sie mußte soviel ausdenken, was ihr heute vor Augen gekommen war.

Was hatte Agnes gemeint, was das Schönste auf der Welt sei? Vielleicht singen, aber das war doch lange nicht das Schönste. Das Allerschönste war doch ein solches Gemälde, wie Nika sie machen konnte, solche Rosen und Bäume und die Wiese mit dem klaren Wasser. Jetzt schlossen sich Kornellis Augen; sie sah immer noch die Rosen vor sich, und dann schaute sie voller Verehrung zu Nika auf, die neben ihr stand und aussah wie eine Königin, so groß und schön, und Kornelli dachte: »Wenn sie nur ein einziges freundliches Wort zu mir sagen wollte!« Da kehrte sich Nika zu ihr um und sagte: »Du bist ein viereckiges und vernageltes Kornelli.« Das sah und hörte Kornelli aber alles nur im Traum.

Drüben sagte Agnes zu ihrer Schwester: »Wenn doch Kornelli etwas sagen wollte! Man weiß ja gar nicht, was in ihr ist! Wie konnte nur Dino sie so kurzweilig finden und solche Freundschaft mit ihr schließen! Sie sitzt ja nur da und spricht kein Wort.«

»Das ist noch das wenigste«, entgegnete Nika; »aber daß sie durchaus aussehen will wie eine wilde Insulanerin, ist scheußlich. Ich begreife gar nicht, daß ihr unsere Mama nicht auf der Stelle alle Strähnen aus dem Gesicht gestrichen hat.«


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