Johanna Spyri
Kornelli wird erzogen
Johanna Spyri

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Neue Erscheinungen in Illerbach

Im Hause des Direktors in Illerbach war große Aufregung. Der Tag war gekommen, da die beiden Damen aus der Stadt zu längerem Aufenthalt in Illerbach erwartet wurden. Der Herr hatte angeordnet, daß für die Ankunft seiner beiden Gäste, die er auf den Mittag erwartete, alles hübsch bereit sein und ein festliches Mahl hergerichtet werden sollte. Er war in der besten Stimmung; denn schon seit einigen Tagen hatte er der Ankunft seiner Base sehnlich entgegengesehen. Er sollte durchaus seine Reise antreten, und doch fand er es nicht angemessen, das Haus zu verlassen, bevor er seine Gäste noch empfangen und nach dem ausgesprochenen Wunsch der Base ihr selbst das Haus übergeben hatte. Den Tag nach ihrer Ankunft wollte sie ihn dann gern zur Reise freigeben; diese war denn auch auf den folgenden Tag festgesetzt.

Kornelli empfand die Vorbereitungen in einer Weise, die ihr die Ankunft der Gäste nicht sehr wünschbar erscheinen ließ. Wenn sonst Besuch für den Tag zu erwarten war, so hatte sie immer die erfreulichsten Aussichten vor sich. Erst lief sie nach der Küche; dort wurde geknetet und gebacken, und kaum war sie auf der Schwelle erschienen, so rief Esther schon: »Komm, versuch's, was ist besser? Sie werden wohl beide nicht so übel sein.« Ein kleiner goldgelber Apfelkuchen und ein rötliches rundes Pflaumentörtchen lagen schon auf dem Tellerchen für sie bereit; denn ihr Besuch war erwartet. Wirklich konnte Kornelli jedesmal bezeugen, die Apfelkuchen seien vorzüglich geraten und die Pflaumentörtchen noch viel besser. Darauf ging sie nach der Vorratskammer hinüber. Hier stand die Jungfer Mine und rüstete den Nachtisch auf die Kristalltellerchen. Dann fielen von den blauen getrockneten Malagatrauben immer einzelne Beeren neben den Teller und von den hochaufgeschichteten Schalenmandeln rollten immer wieder einige herunter, und die einen wie die andern verschwanden schnell in Kornellis Taschen. Einen solchen kleinen Vorrat mit fortzutragen und im geeigneten Augenblick herauszuholen, war für Kornelli immer eine sehr angenehme Aussicht. Jungfer Mine ließ auch ganz absichtlich Mandeln und Beeren in reichem Maße von den Tellern gleiten; sie wollte nicht weniger gern aufgesucht werden, als Esther, und sie wußte wohl, warum Kornelli so gern nach der Küche lief.

Heute schoß Esther mit Schüsseln und Pfannen in ihrer Küche herum, daß alles klapperte. »Fort! Fort! Heut ist's nichts!« rief sie Kornelli zu, die eben eintrat, um nachzusehen, was etwa gebacken werde. »Die Damen aus der Stadt müssen nicht meinen, daß sie unsereinem etwa zeigen müssen, wie man ein gutes Mittagessen kocht; das sollen sie schon erfahren. Mach Platz, Kornelli, mach Platz; hier muß ich das Gemüse anrichten.«

Kornelli rannte nach der Vorratskammer hinüber.

Jungfer Mine errichtete eben einen kunstvollen Aufbau von Brezeln und Mandelringen. »Stürz nur nicht so herein, sonst fällt ja alles zusammen!« rief sie dem Kinde entgegen. »Komm nicht so nah an den Tisch heran; sieh, dort ist schon ein Teller aufgestellt. Es darf nichts daran fehlen; ich will nicht, daß die Damen sagen, man sähe wohl, daß keine Frau im Hause sei, hier könne man nicht einmal einen Tisch richten.«

»Wenn es heute so schäbig in diesem Hause zugeht, so will ich nichts davon«, sagte Kornelli, machte kehrt und schritt mit Entrüstung der Tür zu.

Eben wurde draußen das Herannahen eines Wagens hörbar. Kornelli schritt über den freien Platz vor dem Hause bis an den Weg hin und schaute hinaus. Richtig, da kam der erwartete Wagen angefahren; zwei Damen saßen darin. Das Kind rannte zurück. »Mathis, Mathis!« rief sie nach dem Gebäude hinüber, das in kleiner Entfernung vom Hause hinter den Bäumen lag. Dort war die Scheune und die großen Stallungen. »Kommt herüber, der Wagen ist gleich da!«

Mathis, der die Pferde besorgte und den jungen Knecht Hans und alle Arbeiten in Stall und Garten zu beaufsichtigen hatte, war Kornellis besonderer Freund, den sie schon zu aller Zeit gekannt hatte; denn er war im Hause gewesen lange bevor sie kam; er hatte schon im Dienste ihres Großvaters gestanden.

Mathis kam unter die Stalltüre, er winkte geheimnisvoll: »Komm hierher, Kornelli, komm schnell, recht schnell; wir kommen doch noch zum Wagen.«

Kornelli rannte hinüber. In der Ecke des Stalles, schön auf Heu gebettet, lag ein kleines schneeweißes Zicklein, wie das niedlichste Spielzeug anzusehen; aber es war wirklich lebendig.

»Oh! Woher hast du's, Mathis? Oh, wie niedlich es ist! Das weiße Pelzchen ist ganz wie von Seide! Kann es schon allein gehen? Kann es aufstehen, wenn es will? Oh, sieh, wie freundlich es sein Köpfchen an mich legt!«

»Komm nun, komm, der Wagen fährt vor, du kannst es ja alle Tage besuchen«, mahnte Mathis. »Komm schnell! Es ist erst heut auf die Welt gekommen, denk!«

Es war wirklich so; der Wagen war in den Hof eingefahren. Mathis war pünktlich zur Stelle, als die Pferde anhielten. Der Direktor war in derselben Minute auf dem Hof erschienen. Er verlor keine Zeit; aber Unhöflichkeit war auch nicht seine Sache. So hatte er eine Wache aufgestellt, die mußte ihn in dem Augenblick rufen, da der Wagen sich dem Hause näherte. Der Direktor hob seine Base aus dem Wagen und begrüßte sie herzlich. Dann half er Fräulein Grideelen hinuntersteigen und sprach ihr seinen warmen Dank aus, daß sie so freundlich sein wolle, seiner Base in die Einsamkeit zu folgen. Für ihn sei es eine wahre Wohltat; denn seine opferwillige Base zu lange allein zu lassen, hätte ihn beunruhigen müssen, und doch könnten ihn dringende Geschäfte länger von Hause fernhalten, als er voraussehe.

»Wo hast du deine Tochter, Friedrich?« fragte die Base jetzt.

Der Direktor schaute sich um. »Ich sah sie eben irgendwo da herum; wo bist du denn, Kornelli?« rief er gegen das Haus hin.

»Da bin ich«, ertönte es aus seiner nächsten Nähe.

Kornelli hatte sich hinter dem Vater aufgestellt, um ungesehen von da aus die Angekommenen betrachten zu können.

»Komm doch hervor und begrüße deine BaseDie Verwandtschaftsbezeichnung wird vom Vater auf die Tochter übertragen. und Fräulein Grideelen«, befahl der Vater.

Kornelli reichte ihre Hand erst der Verwandten, dann dem andern Fräulein.

»Guten Tag«, sagte sie beide Male.

»Mich kannst du Base nennen; diese Dame heißt Fräulein Grideelen«, sagte die Base, erwartend, daß das Kind den Gruß gleich noch einmal mit der richtigen Anrede wiederholen werde. Es sagte nichts mehr.

Der Direktor hatte sich nach dem Wagen umgewandt; er gab dem Mathis Anordnungen für die Pferde. Man trat nun ins Haus ein, und bald darauf saß die Gesellschaft an dem reichbeladenen Mittagstisch, und Jungfer Mine erntete allerlei Lobsprüche über die wohldurchdachte Tafelordnung. Am Nachmittag führte der Direktor die Damen in seinem Gut herum; die Base wünschte so recht alles kennen zu lernen, was sie nun zu überwachen hatte.

»Welcher Obstreichtum!« rief Fräulein Grideelen einmal ums andere aus, »welche Fülle von Kirschbäumen! Und diese ungeheuren Apfelbäume! Und jene Reihen von Birnbäumen! Wirklich, Herr Direktor, Sie müssen im Herbst ganze Kammern mit Früchten füllen können! Wo Sie nur Platz für alle haben?«

»Ja, das weiß ich selbst nicht, das besorgen die Leute; ich habe keine Zeit.«

»Es ist wirklich schade, Friedrich, daß du nicht ein halbes Dutzend Kinder hast; die würden dir schon die Sache besorgen helfen«, fiel die Base ein. »Wo ist übrigens das eine, das du hast, schon wieder hingekommen? Es scheint nicht sehr gesellschaftlich zu sein.«

»Wo Kornelli ist, weiß ich nicht«, sagte der Direktor; »um diese Zeit bin ich gewöhnlich bei meiner Arbeit drüben. Jungfer Mine muß wissen, was das Kind tun soll; vielleicht ist sein Lehrer da. Gesellschaftlich konnte das Kind nicht werden, da es immer allein war. Ich bin ja gerade um seinetwillen so glücklich und den Damen so dankbar, daß sie gekommen sind; so ist das Kind doch endlich in einer Umgebung, wie ich sie längst für Kornelli gewünscht hätte. Was konnte ich machen? Zweimal hatte ich Erzieherinnen ins Haus genommen, um dem Kinde den geeigneten Umgang und Unterricht zukommen zu lassen. Die erste ist mir fortgelaufen, weil sie es in dem einsamen Hause nicht aushalten konnte, und die zweite wollte alles aus dem Hause forthaben, was vor ihr dagewesen war. Esther sollte Platz machen, Mathis sollte fort, und wie ich keine Miene machte, die beiden zu entlassen, stellte sie mich vor die Wahl, entweder sie oder die alten Hausratten, jemand müsse aus dem Hause. Ich sagte: ›Lieber Sie; denn wenn die beiden fort wären, so wäre ich die älteste der Hausratten, dann käme es wohl an mich, Platz zu machen.‹ Dann reiste sie ab. Nun hatte ich zu dieser Art von Hausgenossen keinen Mut mehr, obschon die Zeit da ist, da es wohl für Kornelli nötiger als je wäre, eine Frau von Bildung und guter Erziehung um sich zu haben. Du weißt dann vielleicht einen guten Rat, Base, wenn du das Kind erst recht kennen gelernt hast.«

»Ich möchte wissen, wem dein Kind gleichsieht«, sagte Fräulein Dorner; »es hat keinen Zug von dir und keinen von deiner seligen Frau.«

»Findest du das?« fragte der Direktor schnell, »findest du das wirklich? Mir braucht das Kind nicht zu gleichen; aber ich hatte immer gehofft, es habe einen Zug von der Mutter, der dann später immer mehr hervortreten und mir ihr Bild vor die Augen bringen würde? Findest du nicht, das Kind habe die Augen der Kornelia? Und ihre schönen braunen Haare könnten vielleicht doch später des Kindes Kopf zieren; sie sind so dicht und haben die Farbe von Kornelias Haaren.«

Der Direktor schaute seine Base fast bittend an; es mußte ihm viel daran liegen, daß sie dieselbe Anschauung ausspreche.

Sie zuckte die Achseln: »Zur Zeit kann ich in der kleinen, struppigen Wilden gar keine Ähnlichkeit entdecken mit der hübschen, immer in Ordnung und fleckenloser Sauberkeit glänzenden Kornelia mit den freudestrahlenden Augen, die unter den braunen Haarwellen einen so freundlich anlachten. Ich muß dir offen sagen, Friedrich, sehr einnehmend tritt dein Kind nicht auf. Es sieht aus wie ein böses wildes Kätzchen, das einen Buckel macht und die Haare sträubt, als wollte es einem ins Gesicht springen.«

»Nein, nein, das tut es nun doch nicht«, sagte der Direktor, »das Kind ist nicht bösartig; ich glaube es wenigstens nicht. Aber du hast ja wohl recht«, fuhr er seufzend fort, »es sieht seiner Mutter nicht ähnlich; vielleicht ist die Erziehung, das heißt die Nichterziehung auch viel schuld daran. Ich bin dir ja, wie auch Fräulein Grideelen darum so dankbar, daß die Damen gekommen sind und zunächst dableiben wollen. Gewiß wird unter Ihrem Einfluß und Ihrer Aufsicht das Kind sich ganz ändern und viel gewinnen; ich glaube nicht, daß es unbildsam ist. Mit wie leichtem Herzen kann ich nun reisen, da ich Kind und Haus und Dienerschaft und alles in deine Hände geben kann, Base! Du glaubst nicht, wie verzweifelt meine Lage oft ist, wenn ich durchaus reisen sollte und unmöglich weg kann, weil ich keinen Menschen habe, dem ich alles überlassen kann, der nicht nur den guten Willen, wie die Dienstboten, sondern auch die Einsicht und vor allem die Autorität hat, das Haus zu regieren, wie es sein muß. Ich kann dir nicht genug danken, daß du mir die Reise leicht machst.«

Als die Gesellschaft von ihrem Gang zurückgekehrt war, trennte man sich. Die Damen gingen, sich in ihren Zimmern einzurichten, der Direktor hatte noch vollauf zu tun, um für seine Reise fertig zu werden. Zum Abendtisch wollte man sich wieder zusammenfinden. So geschah es. Die Damen hatten sich gesetzt; der Direktor erschien pünktlich zur Zeit; das Essen wurde aufgetragen.

»Wo ist denn deine Tochter?« fragte Fräulein Dorner, »kommt sie nicht zum Essen?«

»Doch, doch, wissen Sie, wo sie ist, Jungfer Mine?« fragte der Vater seinerseits.

Eben ging die Tür auf, und Kornelli kam mit glühenden Wangen hereingelaufen. Sie setzte sich schnell an ihren Platz.

»Bist du durch eine Hecke gekrochen?« fragte die Base.

»Nein, ich war im Hühnerstall«, antwortete Kornelli.

»Ja, das reicht auch hin, um nachher so auszusehen, wie du jetzt aussiehst. Geh lieber erst nach deinem Zimmer und laß dir von Jungfer Mine die Haare zurechtmachen und Seife geben, wofür sie nötig ist.«

Kornelli schaute nach dem Vater; das war eine Neuerung, die er wohl erst bestätigen mußte.

»Schnell, schnell, Kornelli, was besinnst du dich«, sagte er mahnend. »Du hast der Base aufs Wort zu folgen; sie steht da ganz an meinem Platz. Das werden ja alle Hausbewohner verstehen«, fügte er mit einem Blick auf Jungfer Mine bei.

Diese wollte Kornelli schnell folgen; aber das Kind rief zurück: »Ich kann es selbst«, und lief hinaus.

Als sie zurückkam, sahen Gesicht und Hände sehr sauber gewaschen aus; die Haare aber waren so eigentümlich durcheinander gekämmt, daß man nicht wußte, was auf die eine oder die andere Seite, was nach vorn oder nach hinten gehörte. Die Base lachte.

»Dein Kopf sieht aus, wie ein verwehtes Heufeld«, sagte sie. »Jungfer Mine muß dir morgen das Haar richtig scheiteln.«

Kornelli zog ihre Stirn zusammen, daß die Augen sich ganz nahe kamen; sie schaute nicht mehr von ihrem Teller auf.

Am andern Tag in der Frühe reiste der Direktor ab. Das Dorf Illerbach, wo Kirche und Schule standen, war zu weit von der Eisengießerei entfernt, als daß Kornelli täglich dorthin zur Schule hätte wandern können; auch hielt der Direktor es für besser, sie daheim unterrichten zu lassen. So hatte er einen Lehrer angestellt, der je am Morgen herkam, um Kornelli in allen nötigen Fächern zu unterrichten; am Nachmittag war sie frei. Die Aufgaben, die für den folgenden Tag gemacht werden mußten, nahmen wenig Zeit weg. So hatte Kornelli bis dahin ein sehr freies Leben geführt und zu ihren täglichen Besuchen bei der alten Freundin Marthe und zu ihren eingehenden Gesprächen mit ihr auch immer soviel Zeit gehabt, als diese nur erforderten. Auch für lange Streifzüge durch den Buchenwald und den ganzen Berg entlang war Zeit genug da; Kornelli hatte sie nicht zu sparen. Zu lange wurde sie aber dem Kinde nie; denn da waren soviele tausend schöne Dinge in Feld und Wald aufzusuchen, daß es niemals damit fertig wurde, wenn nur immer die Sonne scheinen wollte. Wollte sie nicht, und war durch den Regen oder Schnee kein Umherstreifen möglich, dann war das gemütliche Stübchen der Marthe jederzeit ein herrlicher Aufenthalt, und ihre Gespräche und Erzählungen waren für Kornelli eine unversiegliche Quelle des Genusses und der Kurzweil. Eben hatte der Lehrer das Haus verlassen. Die heutige Abreise des Vaters hatte soviel Stoff zu Sätzen gegeben, die Kornelli in der Unterrichtsstunde der deutschen Sprache zu liefern hatte, und alle Antworten kamen heute so fix auf alle Fragen, daß der Lehrer mit dem Schlag der Uhr die Stunden für beendigt erklärte und Kornelli noch einen besonderen Lobspruch für die guten Leistungen des heutigen Tages erteilte. Dann verabschiedete er sich, und Kornelli schlug kräftig in seine dargebotene Hand; denn ihr Lehrer und sie waren die besten Freunde.

Immer verliefen diese Unterrichtsstunden zur größten Zufriedenheit beider Teile; der Lehrer kannte seine Schülerin so gut. War sie einmal recht frisch und lebendig, dann arbeitete er mit ihr tüchtig darauf los und brachte in kurzer Zeit soviel zustande, daß die Stunden den dreifachen Gewinn des Erwarteten hervorgebracht hatten. Dann entließ er seine Schülerin Punkt mit dem Schlag; seine Freude an der Sache mußte auch die ihrige bleiben; ein Gefühl des Ermüdens sollte sie nicht verderben. War aber Kornelli zerstreut und unlustig zur Arbeit, so ging der Lehrer ganz langsam und so bedächtig mit ihr voran, als wäre sie ein wenig schwachsinnig, und diese schleppende Tätigkeit wurde dann vom Lehrer ausdauernd fortgesetzt, bis der Zeiger der Uhr eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, ja drei Viertelstunden zuviel aufwies. Da war ja nicht einmal mehr eine gute Viertelstunde mehr übrig, um noch vor dem Mittagessen nach dem Garten, nach dem Stall, nach dem Hühnerhof hin zu rennen, was Kornelli doch vorgehabt hatte. Endlich mußte der Lehrer freilich aufbrechen, und beim Abschied sagte er dann mit der größten Freundlichkeit: »Ich mußte heute so lange bleiben, weil wir nicht die Hälfte von dem fertig brachten, was wir hätten fertig bringen können; du warst ein wenig langsam im Erfassen heut, Kornelli. Morgen wird es schon besser gehen; sonst kann der Unterricht auch noch länger dauern.«

Am nächsten Tage ging es sicher ganz anders; denn etwas so furchtbar Langweiliges noch einmal durchzumachen und noch länger, das hatte Kornelli nicht im Sinn. Es währte denn auch immer eine gute Zeit lang, bis wieder ein Tag der großen Zerstreuung kam. Heute hatte Kornelli einen besonderen Beweggrund, recht tüchtig und rasch zu arbeiten, um zur Zeit frei zu werden. Sie hatte ja das Zicklein noch nicht sehen können seit gestern. Jetzt stürzte sie nach dem Stall hinüber; sie hatte eine ganze Stunde bis zur Zeit des Mittagessens, das um ein Uhr stattfand. Mathis hatte das heranrennende Kind schon erblickt. »Komm, komm, Kornelli, eben hüpft es heraus«, rief er ihr entgegen.

Kornelli stürzte heran und in den Stall hinein. Richtig, da hüpfte das schneeweiße Zicklein so lustig zu seiner Mutter hin und wieder auf sein Heu zurück und war so zierlich in seinen Sprüngen, daß Kornelli in lebhaftes Entzücken geriet. »Du niedliches Tierlein du«, rief sie, sein schneeweißes Fell streichelnd; »nun hol ich dir ein rotes Halsband, und dann will ich dich spazieren führen.« Dann lief sie ins Haus zurück, kramte in ihren Sachen herum und kehrte mit einem hochroten Band zurück. Das wurde nun um den Hals des Zickleins gebunden, und etwas Hübscheres hatte Kornelli noch nie gesehen, als das feine Tierchen in seinem schneeweißen Röcklein mit der purpurroten Schleife um den Hals, wie es nun seine leichten Sprünge fortsetzte und dann auf einmal sich in sein Heu duckte und mit ganz zufriedenen Blicken Kornelli anguckte. »Kann man es herausnehmen, Mathis, kann man mit ihm spazieren gehen? Kann man es an einen kleinen Wagen spannen und ausfahren?« fragte Kornelli, schon so viele Pläne ausspinnend, daß immer einer den anderen überholen wollte.

»Warten, warten, erst wachsen lassen, das ist die Hauptsache«, sagte Mathis bedächtig. »Siehst du, jetzt ist das Tierlein noch wie ein kleines Kind, das eben das Gehen erlernt hat; das muß noch bei der Mutter bleiben und kann nur kleine Sprünge um sie herum machen. Wenn es größer ist, kommt das Spazieren, und wenn es stark und kräftig geworden ist, dann spannen wir's an, und dann fährst du aus, zwei Zügel in der einen Hand und eine große Rute in der andern.«

Kornelli jauchzte auf und streichelte das Zicklein mit erneuter Zärtlichkeit, im Vorgefühl der herrlichen Fahrten, die sie zusammen ausführen würden, wenn die Zeit da war.

»Hast du die Glocke in der Gießerei gehört? Es wird Zeit zum Mittagessen sein. Du wirst ein wenig aufpassen müssen, nun fremde Herrschaften da sind«, sagte der alte Mathis vorsichtig; »du kannst ja am Nachmittag wieder herüberkommen.«

Kornelli hatte vor lauter Freude an ihrem schmucken Zicklein nichts gehört; sie ging aber nun gleich; sie hatte selbst das Gefühl, nun müsse sie zur Zeit zu Tische erscheinen; denn die Damen vertieften sich in keine Zeitungen, wie der Papa, das hatte Kornelli schon bemerkt. Sie lief dem Hause zu. Beim Brunnen im Hof fiel ihr ein, daß sie noch die Hände waschen müsse. Sie hielt alle beide unter die Röhre und rieb sie kräftig. Auch das Gesicht wurde gleich noch ein wenig eingetaucht und gerieben. Da war nun kein Tuch zum Abtrocknen vorhanden, als das Taschentuch; das war ein wenig klein.

»Mach, mach, komm herein, die Damen sitzen schon bei Tische«, ertönte die mahnende Stimme der Esther vom Küchenfenster her.

Kornelli lief hinein. Wirklich saßen die Damen schon am Tisch; der gefüllte Suppenteller erwartete Kornelli an ihrem Platz.

»Du sollst zur Zeit zu Tische kommen; du kannst die laute Glocke drüben wohl hören«, sagte die Base. »Aber wie siehst du denn aus? Halbnasse Arme, völlig nasse Schürze, nasse Füße – bist du im Wasser gewesen? Was hast du nur gemacht?«

»Ich habe die Hände unter der Brunnenröhre gewaschen, und da hat es gespritzt«, sagte Kornelli.

»Sehr begreiflich«, bemerkte Fräulein Dorner; »aber es gibt ja auch Einrichtungen im Zimmer, die Hände zu waschen; dann bespritzt man sich nicht damit. Geh, zieh dir eine andere Schürze an; zu Tisch sollst du ordentlich erscheinen.«

Kornelli ging.

»Es ist doch etwas Gutes an dem Kinde, daß es folgen kann«, sagte Fräulein Grideelen; »es kommt immer ganz frisch gewaschen zu Tische, seit du ihm den Befehl erteilt hast.«

»Das ist richtig«, entgegnete Fräulein Dorner; »aber es hat unglaubliche Gewohnheiten und Manieren. Wie soll man die ausrotten und das Kind zur Ordnung bringen? Sie müssen wirklich des Morgens etwas mithelfen und vor allem die Haare des Kindes glatt kämmen und scheiteln, wie ich gestern, Jungfer Mine.«

»Das habe ich wirklich getan, Fräulein, und tue es jeden Morgen«, entgegnete diese etwas verletzt; »aber die Haare sind zu struppig, um sie zu flechten; Kornelli braucht nur einen Sprung zu tun, so ist wieder alles auf dem Kopf durcheinander, und sie tut alle Augenblicke einen.«

Kornelli war wiedergekommen; sie brachte endlich ihre Suppe zu Ende. Ihr Platz war neben der Base; Fräulein Grideelen saß ihr gegenüber.

»Was klebt dir denn hier am Kleid?« fragte die Base, mit einiger Scheu den Saum des Röckchens betrachtend, an dem entschieden etwas hängen geblieben war. »Kann das Heu oder Stroh sein? Sauber sieht es nicht aus. Du wirst doch nicht etwa aus dem Stall kommen?«

»Doch, freilich«, gab Kornelli zurück.

»Wie greulich! Wahrhaftig, ich rieche es. Das geht denn doch zu weit!« rief die Base aus. »Das würde dir dein Papa gewiß nicht erlauben, wenn er es wüßte.«

»Doch, freilich; er geht auch selbst«, erwiderte Kornelli.

»Antworte nicht ungehörig. Mit dem Papa ist es etwas ganz anderes«, bedeutete die Base. »Aber eines will ich dir sagen; daran sollst du denken: Wenn es dir denn erlaubt ist, in den Stall zu gehen, und du daran einen Genuß findest, so tue es; aber kommst du nachher zu Tisch, so gehst du erst in dein Zimmer, wäschst dich gründlich und ziehst ein anderes Kleid an. Das vergißt du nicht, verstehst du?«

»Ja«, erwiderte Kornelli.

»Es ist sonderbar, was die Kinder auf dem Lande für Vergnügungen haben«, meinte Fräulein Grideelen. »Hast du keine Bücher, Kornelli, liest du denn nicht viel lieber, als daß du so herumschweifst, sogar nach dem Stall?«

»Nein, das tue ich nicht lieber. Bücher habe ich schon«, antwortete das Kind.

»Was wirst du denn nun nach Tische tun? Da hast du ja keinen Unterricht mehr«, fragte die Base.

»Dann geh ich zur Marthe«, war die Antwort.

»Wer ist die Marthe?« wollte die Base wissen.

»Eine Frau«, sagte Kornelli.

»Das kann ich mir denken«, bemerkte Fräulein Dorner. »Aber was für eine Frau?«

»Eine gute«, antwortete Kornelli schnell.

»Ist das eine Antwort!« Die Base wandte sich an Jungfer Mine: »Was ist mit der Frau? Kann man das Kind zu ihr gehen lassen? Ist sie bekannt im Hause?«

»Ja, das ist sie schon lange; sie kam schon hier ins Haus, bevor ich da war«, berichtete Mine. »Sie hat die selige Frau hier gepflegt in ihrer letzten Krankheit. Es ist eine brave Frau, und sie sieht immer sauber und ordentlich aus; der Herr mag sie gern.«

»So, nun weiß man doch, woran man ist; du mußt wirklich antworten lernen, Kornelli«, sagte die Base. »Du bist wie ein wilder Hase, alles tust du in Sprüngen. Du kannst also zu der Frau gehen; aber vorerst setzt du dich hin und machst deine Aufgaben für den Lehrer; du wirst wohl solche für morgen haben.«

Kornelli bejahte dies.

Sobald die Damen das Zimmer verlassen hatten, um sich für die wärmsten Stunden in ihre Schlafstuben zurückzuziehen, setzte Kornelli sich an ihr Tischchen in die Ecke und schrieb schnell eine Seite voll. Dann wurde das Buch ergriffen und schnell gelesen, noch einmal und noch einmal, nun wußte sie's auswendig. Jetzt wurden die Bücher in den Schrank geworfen, Kornelli stürzte fort.

»Ja, ja, Marthe, du solltest nur wissen, wie es bei uns ist, seit der Papa fort ist«, rief Kornelli schon auf dem Treppchen der alten Freundin zu, »ich wollte nur, der Papa wäre schon wieder da und alles wie vorher!«

»Was ist's, Kornelli, was macht dich so unwirsch? Komm, komm, setz dich ein wenig zu mir und erzähl mir's«, sagte Marthe freundlich und stellte einen Stuhl zu dem ihrigen an den Tisch hin, auf dem ihre Flickstücke lagen; ganz säuberlich geordnet lagen sie, jedes nach seiner Beschaffenheit, wie sie zusammengehörten.

»Ja, du kannst nicht begreifen, wie es ist, Marthe«, fuhr Kornelli in ungedämpfter Aufregung fort; »bei dir ist es immer gleich, und kein Mensch kommt und befiehlt, daß alles anders sein muß. Jetzt soll man nicht mehr hereinkommen, ohne sich gewaschen zu haben, und nie aus dem Stall kommen, ohne nachher einen andern Rock anzuziehen, und nicht die Hände am Brunnen waschen, weil es spritzt, und oh, und so viel Neues muß sein und alles anders als vorher.«

»Ja, siehst du, Kornelli, das ist nun nichts Schlimmes, daß nicht mehr alles so sein soll, wie vorher«, sagte Marthe bedächtig. »Ich denke, die Dame, die mit dir verwandt ist, wird es nun so mit dir haben wollen, wie es gewiß auch deine Mutter mit dir gemacht hätte, wenn sie dageblieben wäre, und das ist nur etwas Gutes für dich. Siehst du, Jungfer Mine und Esther meinen es sehr gut mit dir; aber deine Verwandte weiß doch viel besser, was sein muß, daß du so wirst, wie es deine selige Mutter mit dir im Sinn hatte. Denk, wie wird sich dein Vater freuen, wenn du ihr dann ähnlich wirst und er immer an sie erinnert wird, wenn er dich sieht! Du weißt es ja, welche Freude das für ihn sein wird!«

Kornelli wußte wirklich, daß ihr Vater sich darüber freuen würde; er hatte schon manche Bemerkung darüber gemacht, die sie wohl verstand. Noch ganz kürzlich hatte er ja gesagt, die Base finde, sein Kind habe keine Ähnlichkeit mit der Mutter, und Kornelli hatte den traurigen Ausdruck in des Vaters Augen, als er das sagte, wohl bemerkt.

Kornelli schüttelte den Kopf: »Das kann ich doch nie werden«, warf sie hin, »und du hast selbst gesagt, daß die Mutter war, wie sonst kein Mensch. Das hast du gesagt, Marthe, dann kann man doch nie so werden.«

»Ja, ja, das habe ich wohl gesagt«, bestätigte die Alte; »aber, siehst du, Kornelli, ich will dir etwas erklären: Wenn du auch nie genau werden kannst, wie deine Mutter war, so könntest du doch am allerehesten ihr ähnlich werden, viel eher, als sonst irgend jemand; denn du bist ihr Kind, und ein Kind hat immer etwas von der Mutter. Du kannst auch manchmal einen gerade so anblicken, wie sie tat, mit denselben braunen Augen; aber nicht, wenn du die Stirn so zusammenziehst, wie heute. Du mußt nur recht aufmerken, wie die zwei Damen alles tun und wie sie reden und wie sie sich in allem benehmen. Sie sind von derselben Art und demselben Stand wie deine Mutter, darum freut es mich so sehr, weil du ihnen nun ihr Wesen ablauschen und es annehmen kannst, daß du deiner Mutter auch im Tun und Wesen ähnlich werden kannst.«

»Ja, ich will ja wohl tun, was du meinst«, versetzte Kornelli willig; »aber eine so furchtbare Freude habe ich doch nicht, daß sie da sind und alles anders sein muß. Oh, nun fällt mir noch etwas Neues ein; ich muß auf der Stelle fort. Denk nur, Marthe, sonst ging ich doch immer um diese Zeit und holte mir Äpfel und Kirschen und was es gab und lief im Garten herum, sie zu essen; da schmeckten sie am besten. Aber nun muß man immer Punkt fünf Uhr wieder an dem Tisch sitzen und muß ganz heißen Kaffee und Milch trinken; denn Fräulein Dorner hat gesagt, auf dem Lande seien die Nachmittage unerträglich lang, man müsse eine Unterbrechung machen, weil das Nachtessen dann erst um acht Uhr kommt. Wenn ich nur an meinen Nachmittag ansetzen könnte, was an dem ihrigen zu lang ist. Ich kann immer lange nicht alles fertig bringen, was ich im Sinn hatte. Leb wohl, Marthe!«

Jetzt rannte Kornelli davon.


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