Johanna Spyri
Kornelli wird erzogen
Johanna Spyri

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neues Leid

Alle Obstbäume im Garten des Direktors hingen voll lachender Früchte. Der Herbst war gekommen. Hochrote Äpfel und goldene Butterbirnen schimmerten zwischen all den grünen Zweigen, und honigsüße, dunkelblaue Zwetschgen fielen da und dort von den beladenen Bäumen nieder. Wer am Garten vorüberkam, mußte stillstehen und bewundernd den Reichtum betrachten, und mehr als einer hatte die größte Lust, über die Hecke zu springen, um eine der goldenen Birnen zu erhaschen.

Kornelli saß auf ihrer Bank unter dem Haselnußbaume und starrte vor sich hin. Eben kam Mathis vom Stalle hergegangen; er hatte den guten Rock angezogen; da mußte etwas Besonderes vor sich gehen.

»Willst du mit, Kornelli?« fragte er, an die Bank herantretend, wo sie saß. »Ich spanne gleich ein; der Papa kommt um elf Uhr an. Ich fahre zum See hinunter, ihn abzuholen. Komm, die Braunen werden gut traben, die haben lang genug ausgeruht. Komm mit, das wird lustig.«

Kornelli schüttelte den Kopf.

»Nicht?« sagte Mathis enttäuscht, »nun hätte ich doch gewettet, das wäre eine Freude für dich, so in den Morgen hinauszutraben mit den lustigen Pferden und den Papa heimzuholen. Soll ich dir dort die Birnen herunterholen? Auch nicht?« Jetzt schüttelte auch Mathis den Kopf und ging weiter. »Wenn doch unser Herr ein halbes Dutzend Buben hätte und noch gerade soviele Mädel, wie wär's dann schön auf unserem Gut! Dann hingen nicht solche Prachtsbirnen traurig und verlassen an den Bäumen«, murmelte er im Fortgehen, »und keine Freude haben am Ausfahren mit zwei solchen Pferden!«

Kornelli war aufgestanden; sie hatte Herrn Mälinger eintreten sehen. Die Zeit der Unterrichtsstunden war da. Der Lehrer saß jetzt meistens kopfschüttelnd neben seiner Schülerin; er hatte seine ganze Langmut nötig, um die völlige Gleichgültigkeit derselben gegen alles, was sie erlernen sollte, zu ertragen. Auch heute war es nicht anders, und als die zwei Stunden zu Ende waren und soeben der Wagen am Hause vorfuhr, der den Vater heimbrachte, da mußte Herr Mälinger sich sehr wundern, als seine Schülerin nicht in Freude aufsprang und davonrannte, sondern scheu durch das Fenster blickte und sich nicht regte.

»Du darfst gehen, Kornelli, es ist der Papa; der Unterricht ist zu Ende.«

Der Lehrer ging.

Kornelli hörte, wie der Vater hereinkam und von den Damen mit lauten Freudenrufen begrüßt wurde. Jetzt zerdrückte sie eine Träne, die ihr aufgestiegen war, dann ging sie zum Zimmer hinüber, wo der Vater eingetreten war.

»Grüß Gott, mein Kind! Kommst du endlich?« rief der Vater ihr fröhlich entgegen; »aber wie siehst du aus, Kornelli?« fuhr er mit veränderter Stimme fort, »was ist das?« Kornelli hatte ihm stumm die Hand gegeben; sie schaute dazu scheu auf die Seite. »Was ist denn mit dir? Wie siehst du nur aus? Dich kennt man ja gar nicht mehr! Streich dir dies Zigeunerhaar aus der Stirn. Warum siehst du mich denn nicht fröhlich an? Was schaust du weg? Nun freue ich mich monatelang auf meine Heimkehr, auf meine Tochter, die während meiner Abwesenheit viel gewonnen hat, wie ich denke, und wie finde ich dich, Kornelli?« Der Vater schaute in Schmerz und Ärger auf das abgewandte Kind. Es sprach kein Wort; auf dem halb in Haarsträhnen versteckten Gesicht lag es wie graue Wolken, die in einen bösen Regen auszubrechen drohten.

»Wir wollen nachher über alles sprechen, Friedrich, jetzt laß uns den ersten Augenblick deiner Heimkehr freudig feiern, den sollst du genießen und ihn dir nicht durch allerlei traurige Gedanken trüben lassen«, sagte die Base, den Vetter zum Tisch hinführend, der festlich geschmückt und mit allen guten Dingen besetzt war, die Esther als des Herrn Lieblingsgerichte kannte. Aber die Gedanken des Heimgekehrten waren so sehr getrübt, daß die festliche Tafel sie nicht erhellen konnte. Kaum berührte der Direktor die schönen Gerichte, die ihm geboten wurden. Immer und immer wieder schaute er auf sein Kind, das mit gesenktem Kopf stumm vor ihm saß und nur dann und wann einen scheuen Blick auf ihn warf. Das Essen verlief in wenig festlicher Weise. Man konnte wohl bemerken, wie der Direktor sich zu den wenigen Worten zwang, die er sprach, wie seine Gedanken ihn in Anspruch nahmen und von welch wenig erfreulicher Art sie sein mußten. Sobald es anging, stand er vom Tisch auf und lief weg. Die Base schaute ihm nach.

»Er geht zu den Werkstätten hinüber«, sagte sie zu der Freundin, die allein mit ihr geblieben war; Kornelli hatte gleich nach dem Vater das Zimmer verlassen; »es hat ihn mehr mitgenommen, als ich dachte; er muß seiner Aufregung ein wenig Luft machen, die Arbeiter drüben werden ihn etwas von seinem Eindrucke befreien, da wird er viel Neues und hoffentlich Erfreuliches hören, von viel Arbeit und guten Geschäften. Es ist auch hart für ihn, seine ganze rastlose Tätigkeit für ein solches Kind fortzusetzen. Aber es ist nun einmal so, er muß sich hineinfinden.«

Nach einiger Zeit kam der Direktor zurück; er sah nicht aus, als wäre er drüben sehr erfreut und beruhigt worden.

Die Damen hatten sich wieder hingesetzt, um ihn zum Kaffee zu empfangen.

»Sie haben mir manches verdorben drüben«, sagte der Direktor, sich zu den Damen setzend; »aber das alles kann ich verschmerzen, mögen auch einige und ziemliche Verluste die Folge davon sein. Eins kann ich aber nicht verschmerzen, nicht ertragen, mein Kind so wiederzusehen. Es bietet ja einen abschreckenden Anblick dar und ist wie stumpfsinnig geworden. Über meine Heimkehr zeigte es nicht die leiseste Freude, hat noch kein Wort gesprochen, seit ich da bin, hat mich noch nicht ein einzigesmal angeblickt, sitzt die ganze Zeit da, als empfinde es sein Dasein als ein wahres Unglück – es ist nicht auszuhalten, was ist nur mit dem Kinde vorgegangen?« Der Direktor war aufgesprungen; er lief in Aufregung durch das Zimmer.

»Mit dem Kinde ist gar nichts vorgegangen, wir wenigstens wissen von nichts, nicht wahr, Betty?« sagte die Base. »Wir haben beide gesucht, vor allem in deinem Interesse, aber auch, weil wir es nötig für das Kind fanden, ihm Sitte und Anstand beizubringen, was ihm in hohem Maße mangelte. Aber ich muß es dir aussprechen, Friedrich, so leid es mir tut, dein Kind ist so schrecklich eigensinnig angelegt, daß dagegen rein gar nichts zu machen ist. Je mehr wir dagegen ankämpften und das Kind auf den rechten Weg bringen wollten, desto schlimmer wurde alles, desto deutlicher beharrte es auf seinem Eigenwillen. Was haben wir nur gegen diese Entstellung mit seinen Haaren im Gesicht gesprochen und befohlen! Alles umsonst; im Gegenteil, je mehr wir sagten, desto tiefer riß Kornelli die Haare in ihr Gesicht hinein. Da gab ich's auf; denn ich sah, da kann ja nur Züchtigung helfen, und die wollte ich dir überlassen; dazu war ich nicht in dein Haus gekommen. Ob überhaupt Züchtigung bei solchem Eigensinn hilft oder nur noch mehr verstockt, wage ich nicht einmal zu entscheiden. Ich habe überhaupt in meinem Leben noch nie ein so verstocktes Kind gesehen. Wer dir dieses Kind zurechtbringen könnte, den wollte ich bewundern.«

Der Direktor war mit immer unruhigeren Schritten im Zimmer auf- und niedergegangen; jetzt stand er mitten darin still.

»Aber um des Himmels willen, ein Kind von zehn Jahren wird doch noch zurechtzubringen sein!« rief er aus. »Gibt es denn kein Mittel mehr, ein so junges Geschöpf zu erziehen, als Züchtigung? Das ist ein abscheulicher Gedanke, davon will ich lieber nichts wissen. Weißt du denn keinen Rat? Was soll mit dem Kinde geschehen? Die Damen müssen doch wissen, wie man ein Mädchen aufziehen soll. Etwas muß geschehen und zwar sofort. Ich bin schuld an der Vernachlässigung des Kindes, ich habe es zu lange in den unrechten Händen gelassen. Was würde mir meine Kornelia sagen, wenn sie ihr Kind sehen könnte!« Der Direktor warf sich auf seinen Stuhl nieder und legte die Hand vor sein Gesicht.

»Beruhige dich, Friedrich, du hast da keine Schuld, Naturanlagen sind nun einmal Naturanlagen«, sagte beschwichtigend die Base. »Aber wir haben einen Gedanken gehabt, meine Freundin und ich, da wäre vielleicht noch ein Mittel, dem Kinde beizukommen: Wenn du es in ein Institut nach der Stadt schicktest, in ein Haus, wo eine große Anzahl Kinder und junger Mädchen beisammen ist. Kinder erziehen sich oft untereinander, indem sie sich aneinander reiben, sich gegenseitig ihre Unarten vorhalten und einander auslachen.«

»Meinst du, das könnte für Kornelli gut sein?« fragte der Vater zweifelnd. »Das Kind ist nicht an solches Auslachen und solche Reibereien gewöhnt.«

»Um so mehr würden sie ihm Eindruck machen, das ist klar«, erwiderte die Base. »Glaub mir, es ist das einzige Mittel, wenn noch etwas helfen kann, des Kindes Eigensinn zu brechen. Es bringt dir kein Mensch das Kind mehr zurecht, wenn es nicht noch in solcher Schule mürbe gemacht werden kann; das kannst du mir glauben, Friedrich.«

»Es ist noch zu jung«, sagte der Vater mitleidig, »soll es schon in die Fremde, aus dem Vaterhaus weg? Aber du kannst ja recht haben, hier kann es nicht besser werden mit dem Kinde, nur schlimmer, so wird es sein müssen. Weißt du mir einen Rat, wohin das Kind soll? Kennst du ein Institut, das du empfehlen kannst?«

Die Base kannte ein solches, wie sie sagte, und wollte auch, um dem Vetter die Sache zu erleichtern, gleich Schritte für ihn tun, sobald sie wieder zu Hause wäre. Umsonst hoffte Fräulein Dorner, die Stimmung ihres Vetters würde sich in kurzer Zeit ändern, und er würde wieder der alte, fröhliche Gesellschafter sein. Er gab sich zwar alle Mühe, ein unterhaltender Wirt für seine Gäste zu sein, wenn sich die Gesellschaft zu Tische zusammenfand; aber immer wieder fielen seine Augen auf das Kind, das lautlos an seinem Platze saß und nicht aufschaute. Dann ging ein tiefer Schatten über sein Gesicht, und man konnte bemerken, daß er Mühe hatte, wieder am Gespräch teilzunehmen. Jetzt hatte die Base genug von der unerfreulichen Haltung ihres Vetters. Sie wollte das Letzte versuchen, ihn ein wenig aufzurütteln und zum Bewußtsein zu bringen. »Es ist, als seiest du in einem Grade in Anspruch genommen, Friedrich, daß du deine Liebenswürdigkeit als Hauswirt fast ein wenig vergißt«, sagte sie am dritten Tage nach seiner Rückkehr. »Wir gedenken nach der Stadt zurückzukehren; vielleicht bist du damit einverstanden.«

»Ich begreife vollkommen euren Entschluß«, entgegnete der Direktor entgegenkommend. »Du hast recht; ich bin der unliebenswürdigste Wirt, der gefunden werden kann; aber du mußt auch begreifen, daß diese Wendung mit meinem Kinde mir alle Freude genommen hat und ich nur dem einen Gedanken nachgehen kann, wie da geholfen werden könnte. Ich hoffe, die Damen besuchen mein Haus zu einer anderen, fröhlicheren Zeit wieder. Du hast nur zu befehlen, auf wann du den Wagen wünschest.«

Die Base hatte diese Antwort nicht erwartet. »Du gehst wirklich zu weit, Friedrich«, sagte sie ärgerlich; »wie kann ein Mann so alles beiseite setzen und sein ganzes Denken um eines solchen Kindes willen umwerfen lassen!«

»Du vergißt nur, daß es mein Kind ist und das Kind meiner Kornelia«, erwiderte der Direktor; »wir wollen nicht mehr darüber sprechen, wir würden uns doch nicht verstehen. Ich bin dir auch für deinen guten Willen zuviel Dank schuldig, um dir zum Schluß noch Ärger zu bereiten.«

Zwei Tage darauf stand der Wagen vor der Tür. Die Damen bestiegen ihn. Auch Jungfer Mine stieg mit ein. Sie hatte sich bei den beiden Damen so beliebt zu machen gewußt, daß diese auf Mines Wunsch sie mit nach der Stadt nehmen wollten; denn sie wollte in die Stadt kommen und nicht mehr auf dem Lande leben. Die eine oder die andere der Damen würde sie dann als Kammerjungfer anstellen, welche von beiden es sein sollte, war noch zu bestimmen. Esther war sehr entrüstet darüber, daß Mine so ohne Grund ein gutes Haus verlassen konnte, wie das ihrige war; denn da sie seit der Gründung des Haushalts darin gewaltet hatte, war die Ehre des Hauses die ihrige. Sie stand wie geladen hinter ihrem Herrn, als dieser die Hand zum letzten Abschied in den Wagen streckte.

Jungfer Mine schaute nach der anderen Seite, wo Kornelli stand: »Gibst du einem nicht einmal zum Abschied die Hand? Das ist recht unfreundlich von dir, wie du überhaupt bist«, sagte sie halblaut zu dem Kinde.

Jetzt schoß Esther los: »Jungfer Mine«, rief sie so laut als möglich, »seien Sie denn auch so freundlich und erzählen Sie den Damen auf der Reise, wer auf dem Sofa gestanden und die staubigen Tritte dort hinterlassen hat! Sie waren nicht von Kinderschuhen!«

Mine wurde purpurrot; Fräulein Dorner sah ihr erstaunt in das glühende Gesicht; sie erwartete wohl eine triftige Antwort; es kam keine.

»Vorwärts, Mathis«, befahl Fräulein Dorner etwas erregt; sie wünschte keine Erläuterung der Sache mehr.

Der Direktor war weggegangen.

Jetzt erfaßte das Kind die breite Hand Esthers und drückte sie mit seinen beiden Händen, und zum erstenmal nach langer Zeit ging ein Freudenschimmer über sein Gesicht. »Oh, ich bin so froh, daß du das gesagt hast, ich bin so froh, du kannst gar nicht denken, wie froh ich bin«, sagte es ganz eifrig, »hättest du das nicht gesagt, so würden sie immerfort, das ganze Leben lang glauben und behaupten, ich hätte es getan und dann hätte ich es abgeleugnet. Aber wie weiß Mine, wer es getan hat?«

»Sie weiß es gut, weil sie es selbst getan hat«, erwiderte Esther.

»Oh, oh, hat sie es selbst getan?« rief Kornelli aus. »Dann ist es gut, daß sie fort ist, wir wollen lieber allein sein, nur du und ich, Esther, nicht?«

»Das wollen wir«, sagte diese befriedigt, »sag du es selbst dem Herrn Papa, und sag ihm, daß ich doppelte Arbeit nicht scheue, aber Katzenart verabscheue ich.«

Kornelli hatte noch gar nicht mit dem Vater gesprochen, seit er zurück war. Sie hatte Scheu vor ihm; sie wußte, ihr Anblick mißfiel ihm; aber sie konnte nichts machen, es mußte so sein; denn wenn er entdeckte, was unter den Haaren war, so würde er noch viel mehr Abscheu vor ihr haben. Sie wollte ihm nun doch den Auftrag Esthers ausrichten und ging seiner Stube zu, langsam und zaghaft, nicht wie früher, wenn sie etwas zu sagen hatte und hinstürzte.

»Oh, so würde es nie mehr sein«, dachte sie, und der Gedanke drückte so schwer auf ihr Herz, daß sie einen Augenblick stillstehen mußte. Eben machte der Vater die Tür auf, vor der sie stand.

»Da bist du ja schon, Kornelli«, sagte er erfreut, »wolltest du mir einen kleinen Besuch machen? Wir haben uns ja auch noch gar nicht recht gesehen. Komm zu mir herein, ich wollte dich eben holen, ich habe mit dir zu sprechen.«

Kornelli trat ein; sie sprach kein Wort, schaute auch nicht zum Vater auf.

»Komm, Kornelli«, sagte er, indem er das Kind durch das Zimmer führte und neben sich hinsetzte, »ich habe dir etwas mitzuteilen, das dich erfreuen soll. Du hast dich, während ich fort war, so verändert und so gar nicht zu deinem Vorteil, daß nun etwas für deine Erziehung getan werden muß; es ist die höchste Zeit. Ich werde dich in ein Institut nach der Stadt bringen, da wirst du mit vielen anderen Kindern und jungen Mädchen beisammen sein und viel von ihnen lernen und dich mit ihnen befreunden. Dann wirst du innerlich und äußerlich eine andere werden und deinem Vater zur Freude heimkehren. Jetzt kann ich mich deiner nicht freuen, ich weiß nicht, was mit dir ist; aber es kann ja besser werden, du mußt eben erzogen sein. Nächste Woche reisen wir.«

Kornelli war schneeweiß geworden vor Schrecken. Erst gab sie keinen Laut von sich, plötzlich brach sie in gewaltsames Weinen aus.

»Oh, Papa«, schluchzte sie, »laß mich doch daheim; ich will gewiß recht tun. Oh, schick mich nicht in die Stadt zu den vielen Kindern, oh, ich kann nicht, ich kann nicht! Oh, Papa, schick mich nur nicht fort!«

Der Direktor konnte keine Tränen sehen; das Flehen des Kindes konnte er nun gar nicht hören. »Es muß ja sein, für sie selbst, für ihr Bestes«, sagte er, sich selbst hart zu machen; aber den Jammer konnte er nicht anhören; er lief fort.

Als nach mehreren Stunden die Zeit zum Abendessen gekommen war, trat der Direktor, von den Fabrikgebäuden herkommend, wieder in sein Haus ein.

Esther kam ihm entgegen: »Bin ich froh, daß Sie kommen, Herr Direktor«, sagte sie aufgeregt, »da wollte ich das Kind herunterholen, damit es mir die Pflaumentörtchen versuche, die mag sie doch am meisten; aber es schrie nur: ›Laß mich hier! Laß mich hier!‹ Ach, Herr Direktor, wenn uns das Kind krank würde und stürbe!«

»Ach was, Esther, Kinder sterben nicht am Eigensinn.«

Der Direktor wollte recht rauh sprechen; aber es gelang ihm nicht ganz. Er lief die Treppe hinauf nach Kornellis Zimmer. Das Kind lag vor seinem Bett auf den Knien und hatte den Kopf in die Kissen gedrückt; es weinte herzbrechend.

»Oh, hol mich nicht fort, Papa, hol mich nicht fort!« schrie es dem Vater entgegen.

Er sah, wie Kornelli vor Angst und Aufregung am ganzen Körper zitterte. »Das kann ich nicht mit ansehen«, sagte der Direktor, ergriff seinen Hut wieder und lief aus dem Hause.

Frau Marthe saß in ihrem friedlichen Stübchen an ihrem Flickkorb und sann eben darüber nach, wie es wohl mit Kornelli kommen werde, nun das Kind wieder allein mit dem Vater war, ob wohl die alten Tage wieder zurückkehren würden, oder ob über Kornellis Erziehung wieder etwas Neues beschlossen sei. Da wurde die Tür rasch aufgemacht, der Herr Direktor trat bei ihr ein.

»Ich weiß mir nicht mehr zu helfen, Marthe«, sagte er in aufgeregtem Ton. »Sie müssen mir beistehen. Sie haben meine Frau gekannt und kennen das Kind und haben es lieb, und es hängt an Ihnen. Sagen Sie mir, was ist mit dem Kinde? Seit wann ist dieser furchtbare Eigensinn da? Oder war das Kind von jeher so und ist nur immer verstockter geworden? Haben Sie bemerkt, wie schrecklich Eigensinn und Verstocktheit in ihm überhand genommen haben während meiner Abwesenheit?«

»Mit Kornelli ist es nicht so schlimm, Herr Direktor, nein, nein, Kornelli ist kein bösartiges Kind, sicher nicht. Aber will der Herr Direktor nicht auch Platz nehmen?« unterbrach sich Marthe, dem hin- und herlaufenden Herrn bald dahin, bald dorthin einen Stuhl setzend, damit er sich niederlassen möge. Aber er winkte ab; er hatte nicht Ruhe genug, sich zu setzen. »Es war auch gar zu schroff und schnell, Herr Direktor, daß mit dem Kinde alles anders werden sollte«, fuhr Marthe fort, »ein älteres Kind hätte ein wenig kopfscheu werden können, und Kornelli ist noch so jung. Alles auf einmal und ganz plötzlich ist zuviel für ein junges Pflänzlein; es muß alles seine Zeit haben, und je besserer Art ein Pflänzlein ist, desto sorgsamere Pflege hat es nötig.«

»Sie werden mir doch nicht andeuten wollen, daß es die höchste Zeit war, daß endlich die Erziehung dieses Kindes in gute Hände kam«, sagte der Direktor, mitten in der Stube stillstehend, »ich mußte es als einen Segen erachten, daß das Kind endlich mit Frauen von Bildung und guter Sitte in Berührung kam, die ihm in aller Weise beibringen und in ihm wecken konnten, was schön und edel und gut ist, was meine Kornelia vor allem in ihrem Kinde geweckt hätte, was sie ja alles selbst in so hervorragender Weise war. Das Kind hat keinen Zug von ihr, auch äußerlich nicht; da ist alles verloren, was früher noch an sie erinnerte.«

»Herr Direktor, wenn ich noch etwas sagen darf, so will ich nur das noch sagen«, entgegnete Marthe in ihrer ruhigen Weise. »Ich habe immer gesehen, daß ein wenig Liebe mehr Gutes wirkt als noch soviel gute Vorschriften, und daß ein junges Kind von lieblosen Worten erschreckt werden kann. Viele Erwachsene wissen das nicht und begreifen dann das scheue Wesen nicht, das die Folge davon sein kann. Kornelli hat die Augen ihrer Mutter nicht verloren, wenn man auch nichts mehr davon sehen kann unter dem verdeckenden Haar im Gesicht.«

»Das ist's ja eben, Marthe, diese Entstellung, dieser Eigensinn, der daran festhält, diese scheue, freudlose Art, dieses ganz veränderte, verkehrte Wesen des Kindes ist es ja, was mich quält, peinigt, mir alle Freude, allen Mut, alle Hoffnung auf die Zukunft lähmt, mir das Leben völlig vergällt.« Der Direktor sprach immer aufgeregter. »Da will ich nun Hilfe schaffen, die einzige, die ich weiß; ich will das Kind forttun in ein Institut, es zu andern Kindern bringen, und nun gebärdet es sich wie eine Verzweifelte. Ich kann es nicht mit ansehen, mir ist, meine Kornelia könnte im Himmel keine Ruhe haben, wenn sie ihr Kind so weinen und flehen hört.«

»Herr Direktor, wenn Sie das Kind noch eine kleine Zeit daheim behalten würden, daß es so recht zur Ruhe kommen könnte«, schlug Marthe in bescheidener Weise vor. »Es war in der letzten Zeit soviel Neues, das Kornelli durchzumachen hatte, da wäre es vielleicht gut, wenn das Kind ein wenig in der Stille bleiben könnte, und unterdessen könnten Sie ihm so nach und nach das Institut vielleicht besser vertraut machen, daß es keine Angst mehr davor hätte. Ich würde, gern ein wenig mithelfen und auch viel Gutes von einem solchen Hause sagen, wo ja viel nette Kinder zusammenkommen.«

»Das ist ein guter Gedanke, Marthe«, sagte der Direktor ein wenig beruhigt. »Sie helfen mir und tun das Ihre, dem Kinde die Sache lieb und wünschenswert zu machen. Sie sind meine einzige Hilfe, Marthe, denken Sie daran.«

Der Direktor entfernte sich.

»Ach Gott, der gute Herr Direktor!« sagte Marthe, ihm nachschauend. »Was hat er für eine Hilfe an einer alten, einfältigen Marthe! Aber was ich tun kann, das will ich so gern tun.«

Der Direktor ging gleich nach dem Zimmer seines Kindes. Es kniete noch in derselben Stellung an seinem Bett und schluchzte.

»Steh auf, Kornelli, und hör auf zu weinen«, sagte er, »ich meine es gut mit dir; aber du hast es nicht begriffen. Du bleibst zunächst daheim, vielleicht kommt es dir später anders vor. Du gehst morgen zu Marthe und hörst recht auf ihre Worte, das ist deine beste Freundin.«

Ein tröstlicheres Wort konnte Kornelli nicht gesagt werden. Wie tönte das so hoffnungerweckend in ihre Ohren nach all den Schreckensworten von Fortgehen. Kornelli erhob sich sogleich.

»Soll ich jetzt noch zu Marthe gehen?« fragte sie verlangend.

»Ja, geh nur«, antwortete der Vater, »aber du hast ja wohl noch nichts gegessen.«

»Das tut nichts«, sagte Kornelli und war schon die Treppe hinabgelaufen.

Endlich rannte Kornelli einmal wieder. Da lief sie schon das Treppchen hinauf und war in Marthes Stube.

»Ich muß fort, Marthe, jetzt noch nicht gleich; aber ich muß doch fort, der Papa sagt es!« rief das Kind schon im Eintreten, »kannst du mir nicht helfen, daß ich nicht fort muß? Der Papa hat gesagt, ich soll zu dir gehen, vielleicht weil ich immerfort geweint habe, damit ich aufhöre; aber ich kann nur aufhören, wenn du mir hilfst, daß ich nicht fort muß. Ich will nicht zu den vielen fremden Kindern, ich kann nicht, ich kann es gewiß nicht aushalten. Oh, wie schrecklich! Hilf mir doch, Marthe!«

Die Angst in Kornellis Ton und der Anblick des ganz verweinten Gesichtes gingen Marthe sehr zu Herzen.

»Komm, Kornelli, setz dich auf dein Schemelchen, so wie in der alten Zeit«, sagte sie beruhigend, »dann erzähl ich dir etwas, das kann dich trösten und dir helfen, wie es mir in bösen Tagen und immer noch geholfen und mich getröstet hat. Siehst du, Kornelli, ich habe auch einmal durch eine große Trübsal gehen müssen, gewiß so groß, wie die deinige heute ist; denn ich sollte dem lieben Gott ein Kind zurückgeben. Da schrie ich wie du und noch viel lauter: ›Nein, ich kann nicht! Ich kann nicht!‹ Und je mehr ich widerstrebte, desto schrecklicher wurde mir zumute, daß ich dachte, ich müßte verzweifeln. Da schrie ich in meinem Herzen: ›Kann mir denn niemand helfen?‹ Da wußte ich auf einmal, wer helfen konnte. Und ich kniete nieder und rief und flehte zu Gott: ›Oh, hilf mir doch! Hilf du mir, der allein helfen kann!‹«

»Wenn ich nun gleich so bete, muß ich dann nicht fort, Marthe, hilft mir der liebe Gott dann gleich?« fragte Kornelli gespannt.

»Ja, er hilft dir ganz gewiß«, versicherte Marthe, »aber so, wie er weiß, daß es gut ist. Siehst du, Kornelli, wenn es nun einmal für dich gut ist, daß du fortkommst, und du bittest deinen Vater im Himmel recht herzlich, daß er dir beistehe, so hilft er dir so, daß dir dein Leben in der Fremde gar nicht so schwer wird, wie du fürchtest, und daß du die Zuversicht ins Herz bekommst. Was dich auch bedrückt, du kannst für alles seine Hilfe anrufen; er hilft dir immer, so wie es dir am besten ist und zu deinem Wohle dient.«

»Hast du das Kind hergeben müssen?« wollte Kornelli noch wissen.

»Ja, der liebe Gott hat es zu sich genommen«, antwortete Marthe.

»Ist es dir doch wieder wohl geworden, Marthe?«

»Ja, ja. Der Schmerz war groß; aber ich dachte nur noch an mein Kind und wie wohl es ihm war, und wußte, wie vielen Leiden es entronnen war. Der liebe Gott hat mir die Zuversicht ins Herz gegeben, daß er es wohl mit uns meinte. Da konnte mir doch wieder wohl werden.«

»Ich will nun heimgehen«, sagte Kornelli, plötzlich aufstehend; es war, als ob sie etwas fortdränge.

»Ja, so geh du nun; willst du auch noch daran denken, was ich dir erzählt habe?« fragte Marthe, das Kind hinausbegleitend.

»Ja, ich will«, sagte Kornelli. Diesmal rannte sie heim, es mußte ein besonderer Gedanke sie so zur Eile antreiben.

So ernsthaft und herzlich hatte Kornelli noch nie gebetet, wie sie es heute an ihrem Bette kniend tat. Sie übergab ihrem Vater im Himmel all ihr Leid und bat ihn, ihr doch beizustehen und zu machen, daß es ihr doch einmal wieder wohl werden könne.


 << zurück weiter >>