Johanna Spyri
Kornelli wird erzogen
Johanna Spyri

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Eine Ankunft in Illerbach

Der alte Mathis ordnete die Kieswege im Garten, als Kornelli aus dem Hause trat und langsam daherkam. Sie hatte ein Buch in der Hand, setzte sich auf die Bank unter dem Haselnußbaum, legte das Buch auf ihren Schoß und sah zu, wie Mathis die Wege säuberte. Dieser schaute auf: »Komm mit mir, Kornelli, wir gehen hinüber; du bist lange nicht im Stalle gewesen, du solltest sehen, wie das Geißlein wächst!«

Kornelli schüttelte den Kopf und gab keine Antwort. Mathis schaute noch ein paarmal nach dem Kinde hinüber; er sagte nichts mehr.

Jetzt kam Esther mit einem großen Korb daher; sie ging dem Gemüsegarten zu. »Du mußt ein besonders schönes Buch haben«, rief sie dem Kinde zu, »sonst säßest du nicht so still, das kenn ich.«

Kornelli schüttelte den Kopf.

»Nicht?« lachte Esther; »so komm mit mir, ich zeige dir, wieviele Mirabellen es dies Jahr gibt; der ganze Baum ist voll; sie werden schon gelb.«

»Es ist mir gleich«, sagte Kornelli.

»Aber nicht doch! Gleich! So schöne Mirabellen!« rief Esther aus. »Und die saftigen Magdalenenbirnen fangen auch an zu reifen. Willst du nicht kommen und sehen, wie weit sie sind?«

»Nein«, rief Kornelli abweisend zurück.

Esther ging ihres Weges. Kurze Zeit nachher kam Mathis in ihre Nähe. »Was hat das Kind, Esther«, fragte er, »es ist ganz verändert. Wer unser einstiges, immer freundliches Kornelli gekannt hat, der kennt es nicht mehr. Warum hat es auch das Haar so ins Gesicht hängen? Man kann das Kind weder von außen noch von innen mehr erkennen.«

»Das sag ich genau so«, entgegnete Esther; »man weiß gar nicht, woran man ist. Man sieht das Kind kaum mehr, und trifft man es noch irgendwo, so sagt es kein Wort. Singen und lachen, wie in früherer Zeit, hört man es gar nicht mehr, und ein Gesicht macht es fort und fort, daß es einem ganz weh tut. Wie wohl war's doch vorher dem Kind. Aber sie sagen, es brauche Erziehung, und es kann ja sein; aber seit es die Erziehung hat, ist es so verändert und nicht zum Guten. Vielleicht kommt's später wieder besser, wenn die Erziehung fertig ist.«

»Die Mutter fehlt ihm«, sagte Mathis. »Das ist nichts, wenn so ein Kleines ohne die Mutter aufwachsen muß; sie fehlt ihm ja auf jedem Schritt. Wie sicher ist eines, wenn es mit allem zur Mutter kann, was es freut und was ihm leid tut.«

»Man würde meinen, Ihr lauft heut noch zur Mutter, wenn Euch einer etwas tut, Mathis«, sagte Esther ein wenig spöttelnd.

»Das tät ich gern genug«, versicherte Mathis; »ich weiß, was ich an meiner Mutter gehabt habe, und jedes Kind dauert mich, das keine hat, und hätte es daneben noch soviel Gutes. Man kann's an unseres Herrn Kind ja sehen, was ihm alles Gute hilft, nun ihm die Mutter fehlt.«

Mathis ging weg; aber er schaute noch einmal mitleidig nach der Bank hin. Kornelli saß noch unbeweglich da, das Buch lag auf dem Boden.

Jetzt trat Herr Mälinger in den Garten. Er kam auf das Haus zu; Kornelli ging ihm entgegen.

»Ich konnte heute nicht um neun Uhr kommen«, sagte er; »aber eine Stunde ist besser als keine, darum komme ich nun noch um elf Uhr. Ich hoffe, du hast deine zwei Morgenstunden recht angenehm und nützlich zugebracht.«

»Nein, das habe ich nicht getan«, sagte Kornelli trocken.

»Du hast doch ein schönes Buch in der Hand, das wird doch sicher etwas Schönes enthalten. Wovon handelt es?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Kornelli.

»Komm, wir wollen zu unserer Arbeit; es scheint mir nicht, daß dein Buch einen besonders tiefgehenden Eindruck auf dich gemacht habe; hoffen wir auf eine lebendigere Wirkung unserer Unterrichtsstunde.«

Der Lehrer trat mit seiner Schülerin ins Haus ein.

»Es will mir scheinen, Kornelli«, sagte er, als sie sich an ihre Plätze gesetzt hatten, »dein Haar hänge dir ein wenig unbequem ins Gesicht hinein; könnte man da nicht eine Änderung treffen?«

»Nein, das kann man nicht, gar nicht und nie mehr«, sagte Kornelli leidenschaftlich und drückte mit beiden Händen ihre Haare an die Stirn fest.

»So, so, das ist ja eigentlich nicht meine Sache«, sagte der Lehrer beschwichtigend; »es scheint mir nur eine etwas entstellende Haartracht zu sein; auch meinte ich, es könnte dir ohne dieses trauerweidenartige Gehänge wohler sein.«

Kornelli hielt noch immer beide Hände auf die Stirn gepreßt, als könnte der Lehrer versuchen wollen, ihr mit Gewalt das Haar zu ordnen. Er ging aber nun ganz friedlich zu seinem Unterricht über.

Als sich nach Tische die Damen entfernten, sagte die Base: »Nun wird nicht gleich wieder fortgerannt, Kornelli; du mußt nun wirklich ein ordentliches Leben beginnen! Bist du nachher mit den Aufgaben zu Ende, so liesest du ein nettes Buch; du hast deren viele. Zu Streifereien und Besuchen hast du noch Zeit genug nach dem Abendkaffee.«

Die Aufgaben waren, wie immer, schnell fertig. Dann setzte sich Kornelli mit ihrem Buche auf die Bank im Garten hin, und ganz so wie am Morgen, legte sie es einmal auf den Schoß und einmal fiel es zur Erde, und Kornelli guckte derweilen nach den Bäumen und auf den Boden. Es war aber nicht, als sähe sie wirklich etwas vor sich. Zur Kaffeezeit stellte sich Kornelli pünktlich am Tische ein, schluckte schnell hinunter, was ihr eingeschenkt wurde, als wäre es Arzenei, die nun einmal geschluckt werden müßte. Dann saß sie mit zusammengezogenen Brauen unbeweglich da; denn sie mußte am Tisch bleiben, bis die Damen aufstanden; diese gute Sitte hatte die Base ihr beigebracht.

»Mach nur nicht immer solche Hörner, man kann sie ja sogar durch deine Vorhänge sehen, so arg ziehst du deine Stirn zusammen«, sagte Fräulein Dorner. »Es währt nicht mehr lange, so kannst du ja gehen.«

Jetzt erhoben sich die Damen, um nach dem Garten hinauszugehen. Kornelli schlich hintendrein, bog unversehens um die Hausecke und ging quer über die Wiese dem Wege zu.

»Hier unter dem Haselnußbaum zu sitzen und ein schönes Buch zu lesen, ist wirklich ein Vergnügen, das nicht alle Kinder haben«, sagte die Base, sich auf die Bank setzend; »du hättest schon dafür allein Grund, ein frohes Gesicht zu machen und zu danken, anstatt beständig die Stirn zu runzeln und zu schmollen, Kornelli – ja, wo ist sie denn schon wieder hingekommen?« unterbrach sich das Fräulein, um sich schauend.

»Sie ist gleich beim Heraustreten verschwunden«, erwiderte die Freundin; »Kornelli ist wirklich ein seltsames Kind, kein freundliches Wort, kein Zeichen kindlicher Anhänglichkeit gibt sie von sich. Sobald sie kann, läuft sie weg; ein solches Kind ist mir noch nie vorgekommen.«

»Mir ist es nur um ihren Vater leid, der so gern eine gemütliche Häuslichkeit hätte«, fuhr Fräulein Dorner fort; »eine solche wird ihm ja nie erblühen an der Seite der einzigen Tochter, die entschieden mit jedem Tag störrischer und unliebenswürdiger wird; das empfinden die sämtlichen Hausbewohner, wie mir Mine sagt. Wie wird es in zwei, drei Jahren hier aussehen und hier zu leben sein? Der arme Vetter mit seinem schönen Gut! Was hat er davon?«

»In zwei Jahren kann sich manches ereignen, Kitti, das man nicht vorausgesehen hat, und das ein ganzes Haus verändert«, entgegnete die Freundin. »Hoffen wir, daß diese Wahrheit sich an deinem Vetter zu seinem Besten bewähren möge.«

Bei Kornelli ging es nicht mehr in Sprüngen. Sie schlich dem Rande des Weges nach und schaute vor sich in den Boden hinein, ohne ein einziges Mal aufzublicken, wenn schon alle Vöglein über ihr lustig in den Bäumen pfiffen und rechts und links die Wiesen voll roter Margeriten und blauer Vergißmeinnicht standen, denen sonst Kornelli vor allen anderen Blumen nachlief.

Marthe sah das Kind so herankommen. Sie kam mit bekümmertem Gesicht heraus. »Was ist's denn, Kornelli«, fragte sie teilnehmend, »kannst du noch nicht wieder fröhlich sein?«

»Nein, das kann ich nie mehr«, antwortete Kornelli, in Marthes Stube tretend und sich auf das Stühlchen setzend, das diese für sie zurechtgestellt hatte. Kornelli warf ihre Worte nicht mehr rasch und zornig heraus, wie sie es vorher getan. Mit einem tiefen Seufzer sagte sie jetzt: »Oh, wenn ich nur nie lesen gelernt hätte!«

»Was, was, Kornelli, was hast du dir da ausgedacht!« rief Marthe aus; »das ist nun sicher etwas Verkehrtes. Du müßtest nur einmal erfahren, wie es ist, wenn man etwas durchaus lesen soll und kann es nicht herausbringen, und man fängt immer wieder an und kommt nicht ins klare. Gerade heute ist es mir so gegangen, du mußt mir noch helfen, daß ich's verstehen kann. Wie manchmal muß ich denken, wenn ich doch so flink lesen und schreiben könnte wie unser Kornelli. Es ist ein rechtes Glück, ohne Hindernis schreiben und lesen zu können; das weiß der wohl, der's nicht kann. Und dann hast du gewiß schöne Bücher; dein Vater schenkt sie dir ja doch meistens.«

»Ja, sie sind schön, aber langweilig, du kannst es glauben, Marthe«, versicherte Kornelli, »da sind lauter Geschichten, nein, so Beschreibungen von berühmten Männern und Entdeckungen, und der Papa hat gesagt, er habe die Bücher sehr gern gelesen, wie er jung war; aber er war vielleicht anders als ich. Nun soll ich nicht mehr umherrennen und nicht mehr in den Stall gehen und nicht mehr zum Wald hinauflaufen, wenn ich will; immer soll ich nur hier sitzen und ein Buch lesen. Oh, wenn nur kein Mensch ein Buch geschrieben hätte, so müßte es keiner lesen.«

»Ja, siehst du, Kornelli, das wäre vielleicht doch nicht allen Menschen recht«, meinte die Marthe; »aber jetzt hilfst du mir wohl meinen Brief lesen, den ich heute bekommen habe, da siehst du dann, welch ein Vorteil es ist, wenn man gut lesen kann. Ich muß dich ja zu Hilfe rufen, damit ich nur recht verstehe, was man von mir will.«

Kornelli nahm bereitwillig den dargebotenen Brief in die Hand, um der Marthe beizustehen.

»Wer hat ihn denn geschrieben?« wollte das Kind wissen.

»Das ist es ja gerade, was ich nicht lesen kann«, entgegnete die Alte; »nur daß er aus der Stadt kommt, das habe ich gesehen; aber wer mir aus der Stadt schreiben könnte, das kann ich nicht erraten.«

Kornelli begann den Brief vorzulesen. Es war eine Anfrage, ob das angebotene Zimmer noch nicht besetzt sei, und ob Frau Marthe einen Jungen von zwölf Jahren für einige Wochen aufnehmen wollte. Er bedürfe keiner besonderen Pflege, indem er nicht krank, nur nicht recht kräftig sei. Gute Luft und frische Milch täglich wäre das Hauptsächlichste, was für ihn gewünscht werde. Wenn keine Absage käme, so würde der Junge Mitte Juli erscheinen. »Nika Halm, Pfarrerswitwe« war die Unterschrift.

»Siehst du, das läuft wie von selbst!« sagte Marthe bewundernd, als Kornelli fertig gelesen hatte. »Nie hätte ich es so herausgebracht. Denk, daß mir eine Frau Pfarrer ihren Sohn bringen will, darauf kann ich stolz sein. Ich will ihn auch gewiß recht pflegen und für ihn sorgen. Ich muß Mathis fragen, ob er mir Milch von der Kuh weggeben kann, am Morgen und am Abend. Jetzt ist es nur einzig schade, daß es kein Mädchen ist, da hättest du eine Spielgefährtin. Aber ihr werdet euch auch schon zusammen verkurzweilen; du freust dich doch nun auch ein wenig, daß er kommt?«

»Nein, kein bißchen«, erwiderte Kornelli kurz, »ich weiß schon, daß er nichts mit mir zu tun haben will, und ich weiß auch warum. Es ist mir ganz gleich, ob es ein Bub ist oder ein Mädchen; ich will auch nichts von ihm.«

»Du warst sonst nicht so, Kornelli, du warst freundlich und lustig mit jedermann, was ist nur über dich gekommen?« fragte Marthe ein wenig bekümmert. »Du siehst auch nicht mehr mit so hellen Augen umher. Ich meine, das Haar kommt dir ein wenig zu tief herunter; wenn ich dir's so ein bißchen zurechtstreichen würde?«

Marthe holte einen Kamm und wollte Hand anlegen.

»Nein, laß es bleiben, Marthe, das muß so sein«, wehrte Kornelli, »und so muß es immer, mein Leben lang bleiben.«

»Das glaub ich doch nicht; es ist ja schade, daß es so sein soll. Dein Gesicht ist ja halb verdeckt, und man kennt dich kaum«, sagte Marthe bedauerlich; »was sagen denn die Damen dazu?«

»Fräulein Dorner ist bös mit mir und sagt, ich sei das allereigensinnigste Geschöpf auf der ganzen Welt, und kein Mensch könne mich mehr zurechtbringen«, berichtete Kornelli der Wahrheit gemäß, »und kein Kind auf der Welt sähe so häßlich aus wie ich, und nie werde ein Mensch mich gern haben, und ich weiß wohl, daß es so ist«, fügte Kornelli hinzu, »ich wollte auch lieber, es käme niemand zu dir, so könnte ich doch immer zu dir kommen und mit dir allein sein.«

»Aber ich meine, Kornelli, wenn du tun würdest, was die Damen von dir wollen, so tätest du doch das Rechte«, meinte Marthe, »und dann hätten sie dich wohl gern und alle andern Menschen gewiß auch.«

»Nein, nein, du weißt nicht, wie es ist, Marthe«, sagte Kornelli ängstlich; »ich will schon in allem andern tun, was sie mir befehlen; aber das Haar kann ich nicht mehr wegstreichen, sonst ist es noch viel ärger, alle Menschen sehen es.«

Marthe schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, was du meinst; aber komm du doch zu mir, Kornelli, wie du immer kamst. Wer auch bei mir sei, du bist mir doch immer am liebsten, und wenn du nicht mehr kämest, so würde es mir so weh tun, daß ich lieber keinen Menschen in mein Zimmer aufnehmen würde, wenn ich schon eine große Freude hätte, den Pfarrerssohn bei mir zu haben.«

»Ja, dann will ich wiederkommen, Marthe«, versprach Kornelli; »wir können ja auch allein miteinander in der Küche bleiben; ich will nur mit dir allein sein. Am Montag komm ich nicht, dann kommen sie an, aber am Dienstag komm ich, und dann kommst du in die Küche hinaus, Marthe.«

Diese versprach zu kommen, und Kornelli ging ihren Weg zurück, wie sie gekommen war. Nicht ein einziges Mal rannte sie den blauen Vergißmeinnicht oder den andern Blumen nach, die drüben in der Wiese leuchteten.

Als der Montag gekommen war, war sie doch ein wenig neugierig, ob nun ein Reisewagen anfahren würde, in dem ein stolzes Stadtherrchen sitze und eine Dame mit einem hohen Federhut, die verächtlich auf sie herunterschauen würde. Kornelli stellte sich am Gartenzaun auf; von da konnte sie bequem den Weg übersehen. Es kam kein Wagen, weder am Morgen, noch am Nachmittag, da sie noch länger Zeit zum Aufpassen hatte. Das war Kornelli gerade recht: es war also niemand gekommen. Sobald am folgenden Tag die Zeit kam, da ihr das Fortgehen erlaubt war, wanderte sie dem Häuschen der Marthe zu.

»Es ist doch gut, daß sie nicht gekommen sind, so kann ich wieder allein bei dir sein und muß doch nicht in die Küche –«

Kornelli hatte im Eintreten so gesprochen; jetzt stockte sie plötzlich. Drinnen am Tisch saß ein fremder Junge; eben räumte die Marthe das Abendessen weg. Nun war er doch gekommen und hatte dazu noch gehört, wie froh sie gewesen wäre, wenn er sich nicht eingefunden hätte. Der Junge lachte auf, Kornelli wollte sich schnell zurückziehen.

»Nein, nein, komm du nur ganz herein, wir wollen Bekanntschaft machen«, rief er ihr zu, »Frau Marthe hat mir schon von dir erzählt. Komm nur einmal herein«, fuhr er fort, als Kornelli mit ihrem Eintreten zögerte; »wenn du lieber mit ihr allein sein willst, kann ich auf mein Zimmer gehen.«

Das war doch nett, daß er ihr Platz machen wollte und nicht bös über ihre Worte war. Sie trat ein. Marthe begrüßte sie mit der gewohnten Herzlichkeit; sie hatte schon ihr Stühlchen bereitgestellt.

»Ich habe dich erwartet, Kornelli«, sagte sie; »komm, setz dich ein wenig zu unserem Gast, er heißt Dino Halm; wie du heißt weiß er schon. Ihr werdet euch gewiß gut miteinander unterhalten; ich gehe derweilen nur schnell hinauf. Wenn etwas nötig ist, findest du mich wohl droben im Stübchen, Kornelli.«

Die Marthe hatte sich ausgedacht, die neue Bekanntschaft würde am besten vor sich gehen, wenn sie die beiden allein ließe. Noch dazu konnte sie die Zeit gut brauchen, um schnell die Sachen des Neuangekommenen auszupacken und schön in seinen Schrank und seine Schubladen zu ordnen, daß er sich recht daheimfühlen könne in seinem sauber geordneten Stübchen.

»Warum hast du gemeint, wir seien nicht gekommen?« fragte Dino, als Marthe das Zimmer verlassen hatte und Kornelli nun stumm vor ihm saß.

»Weil ich den Wagen nicht gesehen hatte«, antwortete sie.

»Den Wagen? Ja, das glaube ich wohl«, sagte Dino. »Mehr als eine Stunde, eigentlich fast zwei Stunden lang mußten wir von der Eisenbahn bis hierher zu Fuß gehen. Setzst du dich nur so in einen Wagen, wenn du zur Eisenbahn willst?«

»Ja, das tue ich, mit dem Papa fahr ich hin«, antwortete Kornelli.

»Wo kommen denn die Pferde immer gleich her?« wollte Dino wissen.

»Aus dem Stall«, war die Antwort.

»Habt ihr denn einen eigenen Stall und zwei eigene Pferde darin, nur um auszufahren?« fragte Dino mit Erstaunen weiter.

»Ja, das sind die zwei braunen, und die sechs andern muß man haben, um das Eisen fortzuschaffen, weißt du, dort von der Gießerei.«

»Potztausend! Acht Pferde habt ihr!« rief Dino aus. »Du hast es gut, dich nur so mit dem Papa hineinzusetzen und fortfahren zu können!«

»Kannst du das nicht?« fragte nun Kornelli.

»Nein, gewiß nicht, in meinem Leben nie«, antwortete Dino überzeugt. »Einmal habe ich keinen Papa mehr, dann haben wir keinen Stall und Pferde noch viel weniger; du hast's wohl gut! Gibt's noch etwas anderes im Stall?«

»Ja, noch viel. Sechs Kühe und eine große graue Stallkatze«, berichtete Kornelli, »und eine alte Geiß und ein junges schneeweißes Geißlein; dem habe ich ein rotes Band umgebunden, und von den Kühen mußt du Milch trinken.«

»Oh, das will ich sehr gern!« rief Dino aus. »Darf ich dann in den Stall gehen und die Pferde da sehen?«

»Ja, das kannst du wohl; Mathis zeigt sie dir gern, und die Marthe läßt dich schon gehen. Wenn ich nur mit dir könnte!«

Kornelli mußte tief aufseufzen.

»Das wirst du doch wohl können, wenn der Stall euch gehört, da wird dich niemand hindern können«, sagte Dino überzeugt, »und weißt du, was wir machen könnten? Wir wollen das junge Geißlein an einen kleinen Wagen spannen, das sieht so nett aus. Dich kann es dann ziehen, und ich bin der Kutscher. Ich habe einmal auf unserer Promenade ein solches Wägelchen gesehen.«

Kornelli hatte ja auch schon diesen Gedanken gehabt; aber sie durfte nicht mehr nach dem Stall gehen, und jetzt fiel ihr erst recht ein, daß sie nicht mehr fortrennen durfte wie früher, und daß sie ja gar nicht mehr lustig sein konnte; denn nun trat ihr auch der Hauptgrund vor die Augen, warum alles aus war und sie nie mehr fröhlich sein konnte wie vorher. Sie antwortete nicht mehr. Nur einen tiefen Seufzer stieß sie aus, noch tiefer als der erste war.

»Warum seufzest du denn, wie wenn du einen Berg zu tragen hättest und könntest fast nicht mehr vorwärtskommen?« fragte Dino.

»Das kann ich nicht sagen, keinem Menschen; du könntest es auch nicht, wenn du's so hättest, wie ich«, antwortete Kornelli.

»Freilich könnt ich; es gibt gar nichts auf der Welt, das ich nicht sagen könnte«, behauptete Dino. »Wenn man etwas sonst keinem Menschen sagen könnte, so kann man's der Mutter sagen, dann kommt alles wieder in Ordnung. So geh doch und sag es ihr, dann wird dir gleich leicht, und alles ist wieder gut.«

»Ja, jetzt kann ich auch zu dir sagen, und noch viel eher, als du zu mir: du hast es wohl gut«, sagte Kornelli erregt. »Ich kann ja gar nicht zu der Mutter gehen, ich habe gar keine Mutter. Jetzt siehst du, wie gut ich es habe; du wolltest nicht mit mir tauschen, oder wolltest du?«

Dino sah ganz erschrocken aus.

»Das habe ich ja gar nicht gewußt, daß du keine Mutter hast«, sagte er voller Mitleid; denn er sah gleich seine Mutter vor sich, wie sie so liebevoll ihn anblickte und ihm das Herz leicht machte, wenn irgend etwas darin drückte. Das mußte Kornelli ganz entbehren.

Der Stall und die Pferde und der große Garten mit den vielen Früchten, von dem ihm schon Marthe erzählt hatte, erschienen ihm in einem anderen Lichte als vorher.

»Nein, ich würde nicht mit dir tauschen«, sagte er entschieden.

Aber jetzt war in Dino eine große Teilnahme für das Kind aufgestiegen, das keine Mutter hatte; er mußte es ein wenig beschützen. Nun konnte er auch begreifen, warum Kornelli so seltsam aussah, was ihm gleich bei ihrem Eintritt aufgefallen war. Da war eben keine Mutter da, die alles ordnete, wie es sein mußte.

»Weißt du, Kornelli«, fing er wieder an, »wir wollen nun ein wenig Freundschaft machen. Nun will ich dir aber vor allem raten, daß du dein Haar aus der Stirn streichst; man sieht ja deine Augen nicht einmal recht. Das macht niemand so. Womit hast du's nur so festgeklebt, daß es über die ganze Stirn festhält und nicht auffliegt, so lang wie es ist?«

»Mit Gummi«, antwortete Kornelli.

»Scheußlich, komm, ich schneide dir alles weg, was da klebt, dann hast du deine Stirn und die Augen frei; du kannst ja kaum sehen.«

Dino hatte schon die Schere ergriffen, die bei Marthes Flickstücken lag; aber Kornelli wehrte ihn mit beiden Händen ab und schrie laut auf: »Laß es sein! Es muß so bleiben! Tu die Schere weg!«

»Ich will dir ja nichts zuleide tun, schrei nur nicht so«, sagte Dino ruhig, indem er die Schere wieder hinlegte, »ich wollte dir im Gegenteil etwas Gutes tun. Siehst du, wenn meine Schwestern Nika und Agnes dich sähen, würden sie lachen; es würde ihnen gar nicht gefallen, wie du die Strähnen festklebst.«

»Ich weiß wohl, sie brauchen mich auch gar nicht zu sehen«, sagte Kornelli mit rauher Stimme. »Niemand braucht mich zu sehen, ich weiß schon, daß kein Mensch mich gern hat; es ist mir gleich.«

Plötzlich lief Kornelli davon. Dino schaute in der größten Überraschung nach der Tür, hinter der das Kind soeben ohne alle Vorbereitung und ohne Lebewohl verschwunden war.

Als Marthe wieder in das Stübchen eintrat und verwundert auf Kornellis verlassenes Stühlchen blickte, sagte Dino: »Das ist aber ein merkwürdiges Kind; ich dachte nicht, daß es so unfreundlich sein könnte.«

Nun erzählte er, wie sie sich unterhalten hatten, und wie dann Kornelli plötzlich ohne Abschied zur Tür hinausgelaufen sei; er hätte ihr doch nichts Böses tun wollen. Marthe schüttelte den Kopf.

»So war Kornelli früher nicht«, sagte sie; »mich bekümmert das Kind, es ist so verändert. Du mußt nicht denken, daß es ein merkwürdiges Kind ist, oder eins, das so jeden Augenblick bös wird und fortläuft; es ist nicht so, das ist etwas ganz Neues bei ihm. Ach, wenn ich doch mein Kornelli wieder lachen und singen hörte, wie es sonst getan hat! Ich dachte, so mit einem guten Kameraden zusammen, wie du ihm sein würdest, komme ihm die alte Fröhlichkeit wieder zurück. Aber es kann ja auch wohl noch kommen; heut war ja der erste Tag eurer Bekanntschaft.«

»Kornelli kommt gewiß nicht mehr zu mir«, sagte Dino ein wenig verblüfft; »sie ist vor Zorn oder Ärger fortgelaufen.«

Wenn auch Kornelli ausgerufen hatte: »Es ist mir gleich!« so stimmte das doch nicht ganz. Zu Hause angekommen, schlich sie gleich nach ihrem Zimmer, setzte sich auf einen Schemel und den Kopf in beide Hände gelegt, fing sie recht bitterlich an zu weinen.


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