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Elftes Kapitel.
Begegnungen auf dem Rückzug, in Basel und auf dem Walde.


Des Kalendersommers Anfang brachte der Umwälzung in Baden das Ende. Die Hoffnungen der Führer und ihrer Werkzeuge gingen zu Trümmern; sie hatten Wind gesäet, und der Sturm war gekommen. Das preußische Heer und die sogenannten Reichstruppen hatten den Aufstand angegriffen, und warfen ihn Schritt für Schritt zu Boden. In so manchem Gefecht waren des Sommers Saaten blutig gedüngt worden von Deutschen mit deutschem Blute! Die Häupter der provisorischen Regierung, Diktatoren und Minister, die konstituirende Versammlung endlich hatten die Hauptstadt geräumt, um zu Offenburg oder Freiburg ihren Sitz zu nehmen. Die Truppen, Legionen und Freischaaren wichen überall aus dem Felde. Wer von ihnen nicht seine Unterkunft in der Festung Rastatt gewinnen konnte, zog, wie es eben ging, dem Oberland, dem Gebirge und der Schweizergränze entgegen. Das Rhein [200]thal war bedeckt von bewaffneten Haufen mit Geschütz und Pferden, die auf der rastlos befahrenen Eisenbahn keinen Platz gefunden, oder auf Seitenstraßen in den Schwarzwald einbrechen wollten. – Die Witterung war heiß, allenthalben wirbelte der Staub, Menschen und Thiere schleppten sich erschöpft dahin – jeder Baum am Wege, der sein Schattendach gastlich ausbreitete, war dem müden und sorgenvollen Wanderer für kurze Zeit eine willkommene Ruhestätte.

Unter den Zweigen einer stattlichen Linde, in der Nähe von Offenburg, da, wo das Kinzigthal sich öffnet, war am schwülen Nachmittag ein junger Mann gelagert, bis zum Tod ermattet. Seine halbkriegerische Kleidung, von den Mühsalen des Feldlebens hart mitgenommen, wies immerhin noch Spuren von Behäbigkeit auf; das Gesicht des jungen Mannes zeugte von Verstand und einer gewissen geistigen Stärke. Aber die Hinfälligkeit des Körpers hat schon eines Manchen Seelenmuth bewältigt, und so stand es auch mit Dem, der im Schatten jener Linde ruhte. »Alles verloren, der schöne Traum zu Ende!« seufzte er wehmüthig in sich hinein: »Jegliche Täuschung abgetragen, die Lüge und das Verderben nackt und bloß! Kann ich noch die Augen aufthun vor den Menschen, die mich einst gekannt, geliebt, gerühmt? O, wenn ich nur den Muth hätte ...!« Dabei zog er aus seiner Tasche ein Terzerol, prüfte die Ladung, spielte mit dem Hahn, suchte nach einer Kapsel, steckte aber bald, und zwar schaudernd, die Waffe wieder bei. –

Indessen rasselte unfern ein Bauerwagen, hielt an, wo die Thalstraße ausmündet, und von dem Wagen sprang ein geschmeidiger Herr in modischen und bestaubten [201] Kleidern, warf dem kutschirenden Bauer ein Trinkgeld zu, und wollte, sein Bündelchen in der Hand, gen Offenburg fortschreiten, als ihm der stattliche Lindenschatten in's Auge fiel. »Ei, da könnte ich wohl ein bischen rasten; die Sonne hat gesengt und gebrannt, daß ich lechze wie ein Hund, und zur Eisenbahn komme ich noch früh genug!« Also sprach der Herr und wandelte dem Schatten zu. Bemerkend, daß schon ein Glücklicher darunter eingekehrt, näherte er sich mit freundlichem Bückling: »Grüß' Gott, lieber Landsmann; 's ist wohl noch ein Fleckchen für mich frei?« – »Ho, warum nicht?« antwortete der Andere, der seinen Mann auf der Stelle erkannt hatte: »Die Welt ist weit und steht uns offen, wie es scheint ganz offen, wenn wir einmal über'm Rhein sind?«

Der geschmeidige Herr stutzte, reichte aber wehmüthig die Hand hin, und sagte mit einer Art von Rührung: »Bürger Titus, finden wir uns hier? ...« – »Mit Leib und Seele, Bürger Melchior!« versetzte der ehemalige Turner: »Ich komme vom Gebirge her, wie es in jenem guten deutschen Liede heißt, und bin dem Brand zu Gernsbach glücklich entronnen. Ob ich nun nach Frankreich mich wende, oder nach der Schweiz laufe, weiß ich noch nicht. Und Du?« – Melchior ließ einen tiefen Seufzer los, und erzählte, wie ihm das Glück geworden, seine Stellung bei der Arbeiterlegion mit einer andern zu vertauschen, die ihn befähigte, im Gefolge eines Reichskommissärs nach Stuttgart zu reisen, um daselbst in Sachen des Parlaments thätig zu seyn. Das Parlament sei jedoch schmachlich gesprengt worden, und er mit vielen Genossen gezwungen gewesen, den Rückzug nach Karlsruhe zu nehmen; [202] die Reise sei aber eine schwierige geworden, indem der Feind bereits die gangbarsten Wege verlegt habe. Nur auf Nebenpfaden habe Er, Melchior, das badische Land erreichen können, und mit Erstaunen gehört, daß es in Karlsruhe nicht mehr geheuer, und die Regierung nach Freiburg versetzt worden. Mittelst Vorspanns und anderer Fahrgelegenheit habe er sich bis hieher fortgeschafft und so eben einen gefälligen Landwirth entlassen, der ihn für Geld und gute Worte bis an die Wegscheide seines Dorfes geführt. »Vielleicht,« schloß Melchior seinen Bericht, »daß ich die Landesregierung noch in Offenburg antreffe, um mich ihr anzuschließen und die Mittel zu berathen, wie der Feind schleunigst über die Gränze zurückzuwerfen.«

Titus betrachtete den Sprecher mit sonderbarem Lächeln, und fragte unbefangen: So? Das wäre!? Ei nun, gut Ding will Weile haben. Wie wollt Ihr das anfangen? – Worauf Melchior sehr pathetisch und geläufig: »Das wird eine Kleinigkeit seyn, denn das Volk am Oberrhein, aus dem Wald und im Seekreis erhebt sich in Masse! Die Franzosen harren nur dieser Erhebung, um mit sechzigtausend Mann über den Rhein zu brechen. Hecker ist aus Amerika herübergekommen, um die Zügel in seine Hände zu nehmen, und alle deutsche Stämme jubeln ihm zu, und während wir hier davon reden, haben die Baiern, die Franken und die Schwaben ihre Ketten gebrochen, und eilen uns zu Hülfe! Der Preuße und sein Gelichter wird in unserm Lande seinen Untergang finden und somit den europäischen Despoten die ernste Lehre geben, sich nicht mehr in den Freiheitsschwung der Völker zu mengen!«

[203] Hier lachte Titus dem Fabler wild und verächtlich in's Gesicht, und setzte als Text hinzu: »Ei so lüge Du und der Teufel! Glaubst Du denn immer noch, den Schulbuben vor Dir zu haben, den Du zum Heckerputsch und zu dem Maiaufstand begeistert hast? Behalte doch Deine Prahlereien im Sack, und erinnere Dich, daß schon im verwichenen Jahre ich bescheidene Zweifel an Deiner und Deiner Genossen Wahrheitsliebe, Thatkraft und Herzhaftigkeit gehegt und geäußert habe, daß ich dazumal eine böse Ahnung ausgesprochen, die leider in den jüngsten Tagen sich verkörpert hat! Was hab' ich gesagt? Daß Du und Deinesgleichen, während wir bethörte Jünglinge für eure Schwindeleien Glück und Leben einsetzen, schon lange die Thür gefunden haben werdet, wohinter ihr euch bergen und in Sicherheit bringen könnt! Das ist buchststäblich zur Wahrheit geworden. Verrathen von unsern Führern, im Gefecht und auf dem Marsch, verrathen von einer Handvoll untüchtiger Menschen, die sich in Regenten maskirt hatten, werden wir abermals gejagt in Elend und Verbannung, und Ihr fliegt uns voraus, mit gefülltem Beutel und gepflegtem Wanst, und wollt uns noch überreden, als wäre für des Volkes Wohl und Rettung von euch noch etwas zu hoffen?«

Drückte den Melchior das Gewissen, oder waren des Titus Vorwürfe frech und ungerecht, daher um so verletzender – genug: Melchior sprang wild in die Höhe, und sprudelte dem Turner zu: »Dein Glück, daß ich just ohne Waffen bin! Du solltest erfahren, daß ein Kämpfer für die Freiheit, unerschrocken wie ich ...« – Melchior kam nicht zu Ende, denn in der Nähe pafften einige Schüsse, und der Held sank beinahe in [204] die Kniee, stammelnd: »Der Feind! Nicht wahr, der Feind?« – Titus spottete seiner, und gab zur Antwort: »Klammere Dich am Baume fest, Du armer Schächer! Mir käme aber der Feind just recht. Ob ich sterbe morgen oder heut', gleichviel! Mir bleibt nur noch ein Schuß, aber auch diesen will ich thun, und dann erwarten, wie es weiter geht!«

Für den Augenblick sah es allerdings gefährlich aus, denn ein Haufe von Soldaten und bewaffneten Bürgermannschaften tobte schreiend und bunt durcheinander die Straße daher gegen die Stadt. Ob von einem Feinde verfolgt, ob nicht, das war die Frage, die baldigst erledigt wurde durch einen Soldaten, der neben dem lärmenden Trupp einherherlief und den Schatten der Linde aufzusuchen kam. Mit Unmuth, ohne auf die beiden Männer zu achten, die unter'm Baume standen, kühn und trotzig der Eine, verzagt der Andere, rief der Soldat in's Blaue hinaus: Das ist doch zu rund, das ist unmenschlich, und schlägt bei mir dem Faß den Boden aus! Ich will verdammt seyn, wenn ich mit dem Landstreichergesindel nur noch einen Schritt mehr thue! Gleich von hier will ich nach Tryberg hinauf und in die Heimath! – – Den aufgebrachten Menschen redeten plötzlich Melchior und Titus zur selben Zeit an: »Ei Vetter Lenhard!« – »He, Kamerad aus dem Mohrenwirthshaus zu Freiburg!« Und beide schüttelten seine Hände und fragten ihn dringlich, was es denn auf der Straße gegeben, und was jene Schüsse zu bedeuten gehabt?

Lenhard machte seine Hände frei, schaute seine Anredner scheel an – ihre Begegnung schien ihm nicht zugefallen – gab jedoch mit kurzen Worten den Be [205]scheid: »Ha, was wird's gegeben haben? Es hat eben Einen gekostet, und das wäre eben kein Unglück, wenn's nur nicht so grausam wäre! Da hat Einer durchbrennen wollen, böslich davonlaufen, und hatte zuvor einem Kameraden seine paar Kreuzer aus dem Sack gestohlen. Sie waren alle zwei von der deutschpolnischen oder meintwegen türkischen Legion ... der Dieb heißt Wurstinger, ein abgehauster Schulmeister, und ist auf dem Diebstahl ertappt worden. Da hat ihm Einer mit dem Flintenkolben auf den Kopf getappt und die Andern haben ihm ein paar Kugeln in den Leib gejagt. Pfui Teufel, sag ich. Um den Strolch wär' nicht Schade gewesen; gibt noch viele von der Art ... aber grausam war's eben doch, und ich laufe nicht mehr mit den Gesellen.« – Melchior erwiederte hierauf feierlich: Das ist die Vergeltung, Vetter Lenhard. Ich hab' den Wurstinger wohl gekannt. Ein schlechter Kerl, der zu Staufen den wackern Volksfreund Spiegler mit eigener Hand umgebracht hat! – Titus trat nun dem Melchior hart unter die Augen, und sagte mit Anzüglichkeit: »Die Vergeltung schläft manchmal, Bürger. Wenn wir alle Diejenigen erschießen wollten, die jetzo mit gestohlenem Gelde sich aus dem Staub zu machen anschicken ...?« Dabei hielt er dem erblassenden Melchior sein Terzerol auf so kuriose Weise unter die Nase, daß besagter Melchior hastig zur Seite sprang, und verstört ausrief: Dummes Zeug, Bürger! Laß doch die Faxen, Bürger! Vetter Lenhard, zieh Deinen Säbel, und hilf mir!

Aber der Vetter zog nicht, sondern rief dem Melchior verächtlich zu: »Macht's miteinander aus, Ihr Herren! Wir haben euch unsern Arm schon zu lang [206] geliehen, um euretwillen unsern Eid gebrochen und die schlechten Bursche gemacht. Was ihr uns vorgelogen, ist von vorne bis hinten hinaus nur Schwank und Trug gewesen und jetzo lauft Ihr davon, und wir müssen die Suppe ausfressen! Schämt euch in euer Herz hinein, und denkt an uns arme zu Grund gerichtete Teufel, wenn euch das Gewissen sticht, oder wenn Ihr den Galgen gefunden habt, an den Ihr gehört!« Nach dieser kurzen Predigt ging der Soldat ohne weitern Abschied in's Thal hinein, wo ihn sein Weg hinführte. – »Der hat sich sauber ausgeleert;« lachte Melchior verlegen, und Titus gab darauf: »Das galt nur Dir, und Du wirst das noch öfters hören, ich stehe Dir und Allen, die Dir gleichen, dafür.« Worauf Melchior ganz gelinde: »Laß uns nicht im Unglück streiten, Bürger; ertragen wir es mit Muth und Fassung. Der Abend will kommen, und ich muß heute noch nach Freiburg. Du trachtest ohne Zweifel auch dahin?« – »Im Gegentheil; ich will weiter. Mein Ehrgefühl erlaubt mir nicht, nach solcher Niederlage und Enttäuschung meinen Verwandten und Freunden zu begegnen; ich würde vergehen vor Schaam. Lieber fahre ich – zum letztenmal auf Staatskosten – in einem Ritt nach Basel, wenn ich nicht schon auf der Gränze meinem elenden Leben ein Ende mache!« Nachdem Titus also gesprochen, machte er wieder eine Demonstration mit seiner Pistole, die den Bürger Melchior sehr alterirte. »Steck' doch Deinen Sackpuffer ein, sei vernünftig und komm' mit!« rief der Bürger ängstlich, nahm den Turner unter'm Arm und zog ihn dem Städtchen entgegen. – –

Dennoch nicht früher als am Mittag des folgenden [207] Tages kam Titus in der Stadt Basel an. Er hatte unterwegs den Freund Melchior aus den Augen verloren und wanderte zu Fuß, um nicht im Omnibus ein Gegenstand zudringlicher Neugierde zu werden, in der Baselstadt ein. »Gottlob« sagte er zu sich selber: »Mir wäre auf der vertrackten Eisenbahn, die so vollgepfropft mit davonlaufenden Menschen, schier unheimlich geworden! Jetzo wär' ich in Sicherheit, aber was beginnen, ohne Geld, ohne Freunde? Das Beste wäre freilich, mich im Ernste todtzuschießen, aber ich komme nicht dazu. Jetzt zum Beispiel hab' ich barbarischen Hunger und Durst, und habe schon deswegen keine Lust und Lieb', mich umzubringen. Bin ich aber einmal satt, so mag ich vollends nichts vom Selbsterschuß hören. Das ist kurios, aber ich weiß das schon zum voraus.«

Er stand auf der Brücke zu Basel, und welch ein Erstaunen – der erste Mensch, der ihm entgegen kam, und den er sich näher betrachtete, war kein anderer, als der Vetter Hinterbein! – Wie gerne wäre er dem gefürchteten Verwandten aus dem Wege gegangen, wenn's nur thunlich gewesen wäre, denn welche Strafrede hatte er von ihm zu erwarten! – Aber der junge Mann irrte sich gewaltig. Mit dem freundlichsten Angesicht und mit offenen Armen begrüßte ihn Papa Hinterbein, und rief als wie verklärt: »Seyn Sie mir doch tausendmal willkommen, liebster Vetter Titus. Keine lebendige Seele auf Erden könnte mir durch ihr Eintreffen so viele Freude machen, als Sie, scharmantes Vetterchen! Warum aber so ernst, warum so scheu und zurückhaltend? Schenken Sie meiner Freude Glauben. Ihre Ankunft verbürgt mir eine schönere Zukunft. [208] Ich habe schon einige Gesichter hier einschleichen gesehen, die meine Hoffnung weckten; aber da nun auch Sie kommen, bester Vetter, so ist gewiß eine Thatsache, daß der Aufruhr zu Ende, daß unsere lieben lieben Preußen vollständig Sieger geworden!«

Beinahe wäre der Vetter Titus bärbeißig herausgefahren, als er vernahm, worinnen Hinterbeins Zärtlichkeit ihren Keim gefunden ... aber seine Schlauheit bewältigte das Aufbrausen seiner demokratischen Seele, und er beschloß, von der wunderlichen Begegnung möglichst Vortheil zu ziehen. Hinterbein gab ihm selbst dazu das Heft in die Hand. »Werden müde und hungrig seyn, guter Vetter?« fragte Papa besorgt, und Titus antwortete melancholisch: Meinen Durst will ich mit einem Sprung im Rheine stillem. – Schritt auch sehr kühn dem Brückengeländer zu. Hinterbein riß ihn erschreckt zurück, und ermahnte: »Nur keine Unbesonnenheit! Wenn Sie wollen, gehört noch die ganze Welt Ihnen; vor Allem lassen Sie uns in jenes Gasthaus treten, wo eine gute Flasche uns erquicken soll. Bis zur Mahlzeit ist noch eine Weile und Sie bedürfen der Erfrischung.« – Ich habe kein Geld; sagte Titus mit finsterer Stirn, aber mitgehend. – »Das lassen Sie meine Sorge seyn; Sie machen mich heute so glücklich durch Ihre werthe Person, daß ich mich noch, Ihnen zu Gefallen, zu weit mehr verstehen könnte!« – Mir bleibt als letzte Hoffnung nur der Tod; bemerkte Titus schauerlich. Ich habe alles verloren, das freie Volk ist unterlegen, die schweizerische Gastfreundschaft werd' ich nicht mißbrauchen. Dafür sorgt dieser, mein letzter Freund! – Titus zeigte verstohlen dem Vetter sein Terzerol vor. Aber Papa war nicht [209] so furchtsam, wie der Bürger Melchior, sondern riß dem Vetter die Waffe aus der Hand und schleuderte sie unverweilt in den hochgehenden Strom. Dann bemächtigte er sich des überraschten jungen Mannes, kredenzte ihm einen edeln Trunk, richtete seine Gedanken auf die große Freistätte Amerika, versprach ihm die augenblicklichste Unterstützung, wenn er ohne Zögern nach den Vereinigten Staaten, um dort sein Glück zu machen abgehen würde, schrieb bei der Flasche sitzend alsbald einen Empfehlungs- und Kreditbrief an seinen Freund, an Salomon Triller, dermalen in Havre, und hatte richtig das Vergnügen, den angenehm überraschten Vetter, noch bevor die Mittagsglocke läutete, nach Frankreich abfahren zu sehen

Als der Omnibus mit dem Republikaner nach der Republik abging, wischte sich Hinterbein seelenvergnügt den Schweiß der Mühe von der Stirn, und suchte, von einem kleinen Räuschlein belebt, den Weg in sein Hotel. Da hatte der Allerweltswagen just wieder eine Ladung von Reisenden aus dem badischen Lande gebracht. Diese Ladung, da sie ausstieg, mit kritischem Aug' musternd, wäre der »Plantageur« fast nüchtern geworden zur Stelle, als er des Doktors Faust ansichtig wurde, der mit Weib und Kind und Amme in der Reihe der Ankömmlinge erschien.

»Um Gotteswillen, was machen Sie hier?« fuhr er den Schwager und die Tante an, eben so bestürzt, als er beim Anblick des Titus fröhlich gewesen war. Ein bischen ängstlich erwiederte der Doktor: Was ich hier machen werde, Schwager mein, das weiß ich selbst nicht; aber was ich in Freiburg gethan hätte, das ist mir bewußt: ich wäre salva venia aus der Haut gefahren! –»So ist denn alles nur Lüge, [210] was wir von den Siegen der Preußen und Reichstruppen gehört haben? Oder wäre der Teufel noch einmal losgegangen? Hat denn unsere Freiheitsnoth und was damit zusammenhängt, immer noch kein Ziel und Ende?« – Dieser zitternden und bebenden Anfrage antwortete die Tante gerüsteter als ihr Gatte: »Was Sie gehört und vernommen, lieber Schwager, ist allerdings Wahrheit, und drüben an der Gränze wimmelt's schon von Soldaten, die auf dem Rückzug in die Schweiz sich werfen wollen. Wir sahen, wie man die Unglücklichen entwaffnet, und heute Nachmittag wird der erste Zug dieser Mannschaften hier eintreffen, denen baldigst noch manche Tausende ihrer Brüder folgen werden. Auch in Freiburg geht's zu Ende; aber wir hatten bange, ich und Sebastian, vor dem letzten Akt des Trauerspiels. Schon haben Freischaaren einige Landgüter in unserer Gegend überfallen und gebrandschatzt ... das Militär, das bei uns liegt, ist untereinander im Zerwürfniß. Wer kann sagen, was es da noch absetzt? So haben wir unsere Häuser dem Nachbar Sattler übergeben, der sie möglichst zu beschützen versprach. Seyn Sie uns darum ja nicht böse, lieber Schwager. Wie hätten denn wir auch nicht kommen sollen? (Dabei machte Tante Laura ihr angenehmstes Gesicht.) Sollte denn die Hochzeit Ihrer vier Töchter möglich seyn, und gefeiert werden können ohne mich, die liebe gute Tante Laura, ohne die geistreichen Trinksprüche meines gelehrten Gatten, und ohne das Beifallgestammel meines herrlichen Knaben Sebastian?«

O nein, o nein, das darf nicht seyn! rief ein Chor von Frauenstimmen darein, und Laura sah sich [211] umringt von ihren fröhlichen Nichten, und des »Plantageurs« Vaterherz, ohnehin so weich, schmolz wie Butter an der Sonne. – Und richtig wurde zur bestimmten Zeit, einige Tage später, das vierfache Hochzeitsfest gefeiert und dessen Heiterkeit gesteigert durch die inzwischen gen Basel gelangte Nachricht, daß die liebe Stadt Freiburg vom Würgengel des Kriegs verschont worden, und zur Ordnung zurückgekehrt sei. Um so geistreicher fielen daher die Trinksprüche des Doktors aus, der die Hochzeitpaare und den Hochzeitvater hoch leben ließ. Aber auch Papa Hinterbein trank eine fröhliche Gesundheit seiner eigenen wiedergewonnenen Freiheit, die er der töchterlichen Tyrannei abgekämpft. Der ehemals »schöne Fritz« stieß an auf den seligen Hintritt seiner Eitelkeit; Raphael auf den ewigen Frieden und das Wohl seines Exnebenbuhlers Titus in Amerika; Moritz auf das theure Vaterland und eine baldige Versöhnung mit demselben; Alfred endlich brachte sein Glas dem mathematischen Gesetz, so die Welt regiert, und nach manchen Stürmen und Verwicklungen die Werberei der vier Freunde zum Ziel geleitet hatte! – »Stoß' an!« rief er dem Moritz zu: »Stoß' an, Du vom Tode Auferstandener! Hast uns viel Angst gemacht. Glück zu zum frischen Leben! Hoch das mathematische Gesetz, das allein die Wahrheit, während Träume nur Schäume!«


Am selben Tag, und just zur selben Stunde, da zu Basel der Hochzeitsbecher fröhlich kreis'te, war im Hirzenbach, und zwar im Leuenwirthshaus, eine keines [212]wegs so lustige Gesellschaft versammelt. – Da stand, mit dem Rücken an's Fenster gelehnt, Vater Gündermann, und sein Haupt war traurig gebeugt, seine Arme waren über der Brust verschränkt. Auf dem Herrensessel neben der Spieluhr saß die Mutter Gertrud betrübt und in sich selbst zurückgezogen. Annele saß unfern, und hielt auf ihrem Schooße den kleinen Xaver, der mit nichten im großväterlichen Hause die Genesung gefunden hatte, sondern mit seinen geringen Kräften zwischen Tod und Leben kämpfte. Und vor dem Annele stand der Soldat Lenhard und sprach mit merkwürdiger Aufregung, die er bemüht war, möglichst niederzuhalten: »Schau Annele, ich habe, Gott soll's wissen, das Menschenmögliche gethan; den Kaspar, der mich einst im Bädle drüben grausam verhöhnt hat, statt mir ehrlich Rede zu stehen, hab' ich gepflegt, da er in's Lazareth gebracht wurde und am Sterben war. Seine Seele konnt' ich freilich nicht heben; mein Herr, der Oberarzt, konnte das selber nicht, aber versprochen hab' ich dem Kaspar, bevor er die Augen zumachte, Dir seinen letzten Gruß zu bringen, und den Ehering, den er am Finger trug. Ein Anderer hätte das vielleicht nur versprochen, und es nicht gehalten. Ich hab's ausgerichtet, obschon ich jetzt nicht weiß, wo ich zu Hans bin, wo ich mein Haupt niederlegen soll. Was mir geschieht als einem flüchtigen Soldaten, werd' ich vielleicht verdient haben; aber daß Du mir immer noch böse bist, das kränkt mich schwer, und ich bitte Dich um Gotteswillen, gib mir ein freundlich Wort in die Fremde mit, wo der arme Lenhard ja nicht Weg noch Steg kennt! Sag' mir nur einmal noch, wie Du vor Jahren gethan hast: Lenhard, ich bin Dir noch ein [213] bissel gut, Lenhard, ich hab' Dich noch ein klein wenig lieb! Das sollte mir ein großer Trost, ja der einzige seyn, der mich aus dem Land hinausbegleitet, und der mich vor sündiger Versuchung und von einer schlimmen That zurückhalten wird.«

Gündermann und Gertrud, tief bewegt und angegriffen, schwiegen still. Annele hatte, mit nassen Augen über ihr sterbendes Kind gebeugt, den Lenhard angehört, und nach einer ziemlichen Weile antwortete sie, kämpfend mit Verbitterung und dem Rest der alten Liebe: »Du verlangst mehr, als ich thun kann. Ich soll Dir sagen, daß ich Dir noch gut sei, und habe da vor mir den Ehering meines todten Mannes, und das Büble, sein Kind, das sterben wird, ehe noch der Abend kommt? Nein, nein, das kann ich nicht, wenn ich Dir auch für die ausgerichtete Botschaft danke. Geh' hin, sei glücklich in der Welt! Gott wird Dich vor der Versuchung besser schützen, als ein armes Wort von mir! Bete fleißig zu ihm, und bereue, daß Du einst der Sünde nicht widerstanden, die uns alle unglücklich gemacht, und mich selber in Sünd' und Fehl gebracht!« Das ungestüm ausbrechende Schluchzen der unglücklichen Mutter erstickte jedes weitere Wort.

Aber Lenhard war plötzlich ein anderer geworden. Mit flammendem Blick hob er die Hand gen Himmel, und rief zornig aus: »Du bringst mich um, Annele, aber Du hast da eine Rede geführt, die mir sagt, was ich zu thun habe. Du hast mich, den Unschuldigen, verdammt, Du glaubst noch jetzt nicht, daß ich seiner Zeit schändlich verläumdet worden bin! So will ich denn die Verläumderin treffen bis in's falsche Herz hinein, und sie soll mir meine Schand' mit ihrem Blut bezahlen.«

[214] Er sprang nach der Thüre, Gertrud warf sich ihm in den Weg. »Wohin? Was willst Du thun?« schrie sie den Wüthenden an. – Außer sich entgegnete Lenhard: »Umbringen will ich die Kunegund! O, der Landolin hat mir schon gesteckt, daß sie gestern hier durchgewandert ist, und meinem bettelarmen Vater auf dem Halse liegt, weil ihr Kerl sie verlassen, und weil sie nicht einen Bissen Brod mehr hat. Aber sterben soll sie jetzt von meiner Hand!«

Nun versuchte auch Gündermann, mit Recht das Aergste fürchtend, den verzweifelnden Lenhard zu beruhigen und fest zu halten. »Bedenke doch,« so redete er ihn an, bittend mehr als streng: »daß Du ein abscheuliches Verbrechen zu begehen im Begriff stehst!« – Worauf aber Lenhard mit Hohngelächter erwiederte: »Was thut mir das? Das ist mir alleins. Ich bin schon so ein schlechter Kerl, da ich meinen Eid gebrochen und meine Fahne verlassen ... was wär' noch an mir zu verderben?« Mit diesen Worten und wild an seinen Säbel schlagend, sprang Lenhard hinaus. Der Schrecken machte die Zurückbleibenden für eine geraume Zeit unbeweglich. Annele's Thränen stockten; zur gleichen Zeit stand auch das Herz des Knäbleins stille, und sein Absterben blieb einen Moment unbeachtet, so grimmig hatte das Entsetzen die Familie gepackt. Gündermann faßte sich zuerst; eiligst warf er sich in seine Kleider. »Jesus! das Büblein ist gestorben!« schrie Annele auf. »Wohin, Alter, wohin?« rief Gertrud. – »Unglück verhüten!« sagte im Sturm der Leuenwirth, und entfernte sich im Sturm, dem Lenhard nachzulaufen. Aber der bejahrte und schwere Mann mußte schon dem Soldaten, den der Zorn und die heiße [215] Kraft der Jugend vorwärts jagte, einen großen Vorsprung lassen, und Lenhard, der in ein paar Minuten zu Heurlingen eintraf, hätte unter der Bevölkerung des Dorfs eine grausame Metzelei anrichten können, ohne von Gündermann daran verhindert zu werden. Aber der alte Gott lebt noch, und seine Hand leitete sicherlich den verzweifelnden Soldaten, als derselbe schon dem Abgrund verfallen schien. – Denn beim Eintritt in das Dorf, wo Lenhard erschien wie ein blutlechzender Wolf, schlug der schrille Klang eines hellen Glöckleins an sein Ohr, und auf einmal zurückkehrend zu den Gewohnheiten seiner Jugend hielt der wilde Mensch inne, und faltete die Hände. Die Fenster rechts und links öffneten sich und andächtige Stirnen neigten sich heraus. Aus den Pforten der Häuser und Hütten kamen auch Männer und Weiber hervor, den Rosenkranz tragend die letzteren, mit entblößtem Haupt die ersteren. Längs der Gasse knieten sich die Frömmsten in den Staub, da aus dem Kirchweg der neue Pfarrverweser mit dem üblichen Gefolge trat, das Sakrament des Altars, die letzte Wegzehrung des Katholiken, einem sterbenden Christen zu spenden. Auch Lenhard kniete bestürzt und von seinem Zorn verlassen neben seinen Landsleuten nieder, schlug seine Brust nach dem Takt des Glöckchens, folgte dann, wie die übrigen, dem frommen Zuge nach dem Hause des Sterbenden und fragte nur, da sein Nachbarwandler ihn als ein bekanntes Dorfkind ernst begrüßte: »Wohin geh'n wir?« – »Ihr wißt es nicht? Ach Gott, ich meinte, Ihr wärt deswegen heimgekommen? Zu Euerm Vater gehen wir, wo die Kunegund in den letzten Zügen liegt!« – Auf diesen Bescheid erbleichte Lenhard, und all sein zornig Blut schien her [216]unter an sein Herz zu wogen und dasselbe zerschmettern zu wollen. Dem Hinsinken war er nahe, aber sein Nachbar unterstützte ihn mit seinem Arm, und so konnte er nach und nach sich erholen, den weiten Weg zurücklegen bis zu den allerletzten Hütten, wo unterm Dach einer armen Wittwe der anjetzt noch ärmere Metzger-Thoma eine Herberge gefunden hatte.

Während des Zugs erzählte der Nachbar dem Soldaten, daß die Kunegund, bald nach ihrer Rückkehr im Gewand einer landstreicherischen Dirne, und nach einem heftigen Auftritt mit ihrem Mann, in ein Fieber verfallen sei, das binnen wenigen Stunden an den Rand des Grabes sie gebracht. »Gottes Finger, Gottes Finger!« murmelte der Soldat in sich hinein, und dankte dem Herrn, der von ihm ein Verbrechen genommen und ihn geführt an ein Sterbebett, welches immerdar den andächtigen Zeugen heiligt und demüthigt. – Als die Menge betend vor der Wohnung des Metzger-Thoma sich aufstellte – der Priester war schon längst darinnen und wartete seiner Pflichten – sagte Lenhard zu seiner zagenden Seele: »Muth, Muth! Dort innen ist dein Platz!« und drängte sich den Andächtigsten des Volks in die Hütte nach. Und da eben der Priester die Sterbende fragte, ob sie bereit sei, den Leib des Herrn zu empfangen, um Verzeihung bittend ihre Beleidigten, und selber vergehend ihren Beleidigern – und hierauf Kunegund sich empor richtete, gleichsam neu gekräftigt, wie nicht selten den Sterbenden geschieht, und mit vernehmlicher Stimme sagte: »Der Heiland allein ist meine Hoffnung und meine Zuflucht ... ich kenne keinen Beleidiger ... nur Beleidigte! Verzeihe mir, Thoma, den ich in's Elend gebracht, und Gott möge mir im [217] Namen Deines Sohnes vergeben, auf den ich schändlich gelogen, und ihn somit um Haus und Hof und Ehr' gebracht! O, warum ist er in der weiten Welt draußen und kann nicht hören den Widerruf der Sünderin? Ich würde ruhig sterben, wenn ich von ihm ein versöhnlich Wort hörte ...!« – Da entstand eine heftige Bewegung unter den Leuten, die sich in die Thür gedrängt und die Worte der Hinscheidenden vernommen. Lenhard erschien, dem gleichsam ehrfurchtsvoll Platz gemacht wurde, und vor dem Sterbelager, bis zu Thränen gerührt, sank er auf seine Kniee und sagte leise: »Ich verzeihe Euch von Herzen!« – Kunegund lächelte schmerzlich, und gleich darauf starb sie, ruhig, wie sie es gewünscht.

Dem Lenhard hatte es indessen vor den Ohren gesummt, wie von Bienenschwärmen, kalter Schweiß hatte seine Stirne gebadet, stumpf war geworden sein Gesicht, daß Alles um ihn her wie im Nebel schwand, und ihm endlich die Sinne vergingen. Doch erwachte er wieder, von Freundesarmen umschlungen, an der Brust seines weinenden Vaters, am ehrlichen Herzen des Leuenwirths, welcher zärtlich zu ihm redete: »Du bist von Gott begnadigt, lieber Lenhard. Dein Gemüth ist rechtschaffener als ich geglaubt hätte. Das Wort der Sterbenden hat Dich gereinigt von der Schande und dem Verdacht, die auf Dir gelastet haben. O warum bist Du nicht auch als Soldat der Ehre treu und taub gegen die Verführung geblieben? Gern würd' ich Dich schon jetzo in mein Haus aufnehmen, wie ich hiemit feierlichst Deinen alten Vater aufnehme, damit er nicht Mangel leide in seinen alten Tagen! Aber Du bist jung, Lenhard, kannst Deinen Fehltritt immerhin wieder [218] gut machen. Geh' nicht außer Lands, stelle Dich bei Deiner Fahne. Dein Kriegsherr hat gerufen, er wird verzeihen. Und wenn Du einmal vom Dienst frei und wieder eingesetzt in Ehren Deine Heimath wiedersehen willst, so sprich kecklich bei mir ein. Du sollst, wie Dein Vater, an mir und meiner Alten wackere Leute finden, und wenn Du als ein braver Kerl nach ein paar Jahren mein Maidele wieder bittest, sie solle Dir sagen, daß sie Dir noch ein bissel gut sei, so wollt' ich doch ein Dutzend Dublonen wetten, das Annele sagt Dir nicht mehr »Nein!«

Und Lenhard schlug die Augen zum Himmel empor, seufzte voll von Liebe: »Ach Du liebes Annele!« warf sich dann von Neuem in Gündermanns Arme, und seine Antwort war: »Euer Wille geschehe, Amen!«

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