Der Jesuit
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Der ungeschlachte Mensch ging wiehernd weg, aß im Schwan noch so tüchtig, als ob er sich auf ein Heldenwerk vorzubereiten hätte, ließ unter seine Matrosen viel Branntwein austeilen und bestieg mit ihnen jubelnd den verdeckten Korbwagen, der ihn zum Damme, von da zum Kanal bringen sollte. Dem Kutscher wurde noch tüchtig mit Rum zugetrunken und beim Abfahren schwenkte der Kapitän in frechem Uebermute den Hut gegen den Amerikaner, der oben aus dem Fenster sah und brüllte ein: »Auf Wiedersehen!« Georg zog sich, ergrimmt über den widrigen Seemann, vom Fenster zurück, warf sich auf das Kanapee, stützte den Kopf eine Weile in die Hand, sprang dann wieder auf, legte mit erhabener Würde die Hände auf seine Brust und sagte, mit einem freien Atemzuge, zu sich selbst: »Bist doch eine wackere Seele, Georg, und hast einen schweren aber um so rühmlicheren Sieg erfochten! Ach du mein lieber, lieber Vater! Siehst du nicht aus den Wolken und freust dich meines Entschlusses? Ist gleich mein Auge zu schwach, dich zu erschauen, so ist doch gewiß der himmlische Friede, der in mein Herz einzieht, dein Werk! Ja! Vergebung ist eine süßere Rache für dich, als das Blut des Elenden, der denn doch sein Leben ferner nur wie eine Pestbeule mit sich umherschleppen kann!«

Er warf einen Blick auf die Speisen, die unangerührt auf dem Tische standen, auf die Seitentür. Er ging hastig auf dieselbe los, öffnete sie mit dem Schlüssel, und sagte ernst: »Komm Er heraus, Monsieur!«

Eine blasse, ängstliche Figur kam gebückt hervor: Nothhaft, wie ein armer Sünder.

»Setze Er sich und esse Er!« fuhr der Amerikaner fort, »vergesse Er seine Schrecken. Ich habe mich besonnen und halte dafür, es sei besser, die ganze Anklage zu unterlassen,«

»Ach, wenn Sie das im Ernste wollten,« stammelte Nothhaft, »ich würde neu aufleben.«

»Lerne Er, Mensch,« sprach Birsher weiter, »daß es nichts Gemeines mit solchen Anschuldigungen auf sich hat. Er hat mir auf die Bibel zugeschworen, daß alles, was Er mir heute entdeckt, reine Wahrheit sei, ich will es glauben; nicht um Seinetwillen, denn der erbärmliche Spuk in des Senators Haus verdächtigt Ihn, aber um des seltsamen Benehmens des Senators willen; um der Voraussetzung willen, daß ein Mensch, der nur einen redlichen Blutstropfen in sich verspürt, nicht auf eine Lüge hin seinen Nächsten ins Grab und in Schande stürzen werde. Er hatte nicht darauf gerechnet, daß mir es einfallen könnte, die Anklage öffentlich zu machen; Er hat mich beschworen, es zu unterlassen, das ist ein guter Zug von Ihm; Er hat mir gestanden, daß Er nur, um mich von der Ehe mit Justine abzuhalten, mir die Eröffnung gemacht, die aber demungeachtet eine völlig wahre sei. Er hat sich endlich gutwillig in jenes Zimmer verfügt, wo ich Ihn inne zu halten für gut befand, damit es mir bei der Klage nicht an dem Gewährsmanne fehlen möchte. Bedenke Er aber selbst, wohin meine Klage führen würde: zu Seiner eigenen Haft, zu Seiner eigenen Schmach, als Hehler der begangenen Bluttat. Der Senator würde eines schimpflichen Todes sterben, seine Familie würde zugrunde gehen, mein Schmerz wieder tausendfach erneut, meines Vaters Gebeine in ihrem Grabe gestört werden; und zu welchem Endzweck? Würde diese Genugtuung mein Herz befriedigen, den geliebten Toten wieder ins Leben rufen? Und die Unglücklichen, die – ihren schuldigen Gatten und Vater beweinend – mir, dem unglücklichen Verfolger fluchen würden! ... ach, welch eine Zukunft! Darum will ich lieber schweigen, wie das Grab über dem Toten, und verlange dasselbe von Ihm; schwöre Er mir's abermals auf die Bibel, und dann gehe Er hin, von wannen Er gekommen, so wie ich nach der Heimat zurückkehren will; vergessend – und rein von Fluch!«

Nothhaft vernahm mit innigem Wohlgefallen Birshers Worte. Er hätte tausend Eide geschworen, um nur den Folgen eines Schritts zu entgehen, den er weniger aus unverbesserlicher Bosheit, als von frechem Trotze und Eifersucht bewegt, getan hatte. Er entlief mit Riesenschritten dem Gasthause und suchte den Weg nach seinem Städtchen, Birsher war mit seinen Entschlüssen zufrieden und überlegte gerade, wie er dem Senator, wenn derselbe sich nicht bereits auf der Flucht befände, seinen edelmütigen Vorsatz kund zu geben hätte – wie er von Justine Abschied nehmen sollte, als der Magister aus Falbern zu ihm trat.

»Was wollen Sie, Magister?« fragte Georg hastig und verdrießlich, gestört zu werden.

»Der Ueberbringer des Danks sein, welchen Ihnen zwei redliche getröstete Herzen zollen,« antwortete der Magister freundlich und zutraulich.

»Zwei getröstete Herzen? Schon gut!«

»Und der Bitte zugleich, diesen Dank aus dem Munde der Getrösteten selbst hören zu wollen.«

»Ihr Zögling soll zu mir kommen. Ich will ihn kennen lernen.«

»Und Justine, die sich sehnt, Ihnen ein dankbares Wort zu sagen.«

»Welche Zumutung? Will sie sehen, wie mich die Entsagung kleidet?«

»Und Justine, die sich vor Ihnen rechtfertigen möchte?«

»Falschheit sich rechtfertigen? Ich mag sie nicht beschämen!«

»Und Justine, die Ihnen etwas Wichtiges anzuvertrauen hat, das nur Ihrem teilnehmenden Herzen vertraut werden kann; das auf das Glück Ihres Lebens den größten Einfluß haben wird?«

»Magister! Sie schlagen die rechte Saite an. Justine soll einen Mann in mir finden, den Liebeskummer nicht niederbeugt; einen Mann, der das Gute nicht halb tut. Ich bedarf dieser Prüfung, um mich zu einer edeln Tat würdig zu stärken. Ich folge Ihnen; ich will dem Mädchen ebenfalls eine Nachricht bringen, die wohl manches Herz beruhigen dürfte. Wo, wann harrt meiner das Paar, das ich durch meinen Rücktritt so sehr beglückte?«

»Wenn Sie mir folgen wollten? ... ich führe Sie.«

»Recht; geschwinde, mein Freund! Sie noch einmal zu sehen – Sie zu beruhigen, und dann schnell wiederzukehren, um meine Abreise anzuordnen.« Georg ging mit dem Magister weg, ohne wiederzukehren. Die Stunden gingen vorüber, der Abend war da. Der Gast im Schwan blieb aus. Die Wirtin, die den jungen, stillen Mann wohlwollend ins Auge gefaßt hatte, wurde unruhig. Mit einbrechender Nacht sendete sie in des Senators Haus, um nach dem Amerikaner fragen zu lassen. Er war dort nicht gesehen worden. Der Senator schickte den Kellner mit dem kühlen Bescheide zurück; ging dann auf seine Stube, heimlich seinem Gott zu danken und den Zettel wieder durchzulesen, den ihm um die zweite Stunde des Nachmittags der Doktor geschickt hatte, mit den lakonischen Worten: »Fassen Sie Mut, Gebeugter! Wir verlassen Sie nicht. Soeben ist Er fort, um nicht wieder zu kommen. Er wird Sie ewig in Ruhe lassen!«

Der Senator küßte, seiner Angst entledigt, den kurzen Brief; trat dann zu seiner Familie und sagte: »Mein armes Bräutchen Justine! Dein Verlobter scheint auf Abwege gekommen zu sein. Wir wollen morgen, am Tage des Herrn samt und sonders zur Johanniskirche wandeln, um den Segen Gottes anzuflehen, daß er den Handelsfreund wieder gesund zu uns zurückbringe!«

»Endlich wieder ein frommer Vorsatz,« erwiderte die Senatorin, »nur schade, daß der Bürgermeister dich heute zur Gottesfurcht belehren mußte. Bei alledem finde ich's ungezogen, daß Herr Birsher heute gänzlich ausbleibt. Wenn nur die leichtfertige Französin, die sich auch seit dem Morgen nicht sehen ließ, den zutäppigen Sans façon nicht berückte!«

Justine schwieg, aber in ihre Augen traten unwillkürlich Tränen; unwillkürlich seufzte der Mund. »Ja, Vater,« sagte sie, als dieser am Abend freundlicher und ruhiger als seither, Abschied von den Seinen nahm, »wir wollen morgen aus dem Grunde des Herzens beten, damit Eintracht und Friede nicht von uns weiche!«

Am nächsten Morgen stand Pater Münzner sehr frühe auf, um sich zu dem Gottesdienste vorzubereiten. In dem Garten kam ihm bereits sein Pflegesohn entgegen. Leidenschaftlich faßte ihn dieser bei der Hand und rief: »Wohl mir, daß ich Sie endlich allein finde, mein Vater! Des Superiors Gegenwart hat meine Zunge gebunden, sonst hätte ich Ihnen gestern schon gestanden, wie sehr ich's bereue, daß ich Sie verkannte! Ja, mein würdiger Pfleger! Sie wollen mein Glück; Sie wollen es, wenn Sie mir es auch verhehlen; meinen ewigen Dank dafür!«

»Verstehe ich dich, Unbegreiflicher?« fragte Münzner staunend.

»Ihre Güte wahr mir unbegreiflich,« fuhr James heftig und entzückt fort, »aber die Wege der Vorsehung sind es ja auch, und dennoch gut und dennoch beglückend! Mögen Sie es doch wissen, daß ich alles erfuhr, aus Birshers edelmütigem Munde erfuhr ...!«

»Birsher? ums Himmels willen, was weißt du?«

»Daß Sie mit ihm geredet, daß Sie sein Herz gerührt!... daß Justine – das herrlichste Glück! daß Justine mir gut ist, daß sie, die so schlau ihre Liebe zu verbergen wußte, mein Bild – vielleicht hat ihre liebe Hand es selbst entworfen – mein Bild auf ihrer Brust trägt – daß der gefürchtete Bräutigam zurücktritt...!«

»Mensch! Du fabelst!«

»Leugnen Sie nicht, mein Vater! Ist es denn ein Verbrechen, einen liebenden Jüngling zu beglücken? Ich bin verschwiegen! Ich sehe ein, daß Sie Gründe haben können, vor dem Superior, der mich ins Noviziat schleppen will, Ihr menschenfreundliches Bestreben zu verbergen, daß Sie nur Zeit gewinnen wollen! Legen Sie jedoch, uns gegenüber das Geheimnis ab, und hören Sie meinen Plan. Ich werde nicht Priester! Der Soldatenstand allein kann und wird mich Justinen näher bringen. Ich habe gestern des letzten Schwedenkönigs Leben gelesen, es hat mich begeistert! Noch bin ich jung; noch wetterleuchtet es am Horizonte Europas! Ich liebe, ich hoffe! das Glück muß mir zur Seite stehen!« »Jesus Christus!« versetzte der Doktor blaß und betrübt, »du lassest mich nicht zu Worte kommen, und dennoch muß ich dir mit blutendem Herzen beteuern ...«

Rasche Schritte von Annähernden unterbrachen ihn. Der Superior mit allen Zeichen des Schreckens – die Lainez, wie ein Schatten folgend – eilten herbei.

»Hannibal ante portas!« rief der erstere, der einen dicken Brief in der Hand trug. »Hochwürdiger Herr! Jetzt gilt's, zum Streit sich rüsten!«

»Wieso? Wie das?« fragten der Doktor und James.

»Erzählen Sie, während ich dies Schreiben durchlaufe,« versetzte der Superior zitternd und bebend. Die Lainez sprach mit erlöschender Stimme: »Wir sind verraten; alles kömmt an den Tag. Des Schreiners Ulrichs Frau ist in der Nacht krank geworden; der Mann hat unser Gebetbuch unter ihrem Kissen gefunden. Die Drohungen des Mannes, wie der Schmerz ihres Körpers haben sie zugleich bedrängt; sie hat gebeichtet, daß sie katholisch geworden, daß eine stille Gemeinde bestehe, daß in dem Johanniterhofe ...«

»Gott stehe uns bei!« riefen die Zuhörer.

»Vor einer halben Stunde ...« fuhr die Lainez erschöpft fort, »läßt der Rottmeister, bei dem der Schreiner alles angezeigt, den Hof umringen, das Tor aufsprengen, den Verwalter festnehmen, alles durchsuchen. An meiner Türe vorüber dringen die Schergen in die Kapelle, Unsre heiligen Zierden fallen in ihre Hände. Man bemerkt mich nicht im Tumulte, ich entspringe, um hier das Unglück anzusagen!«

Litzach stürzte in den Garten. »O meine Herren! meine heiligen Väter! was wird daraus werden?« rief er, »ich erfahre soeben, von dem Dorfe kommend ... der Verwalter ist verhaftet, leugnet indessen noch fest, hat nichts gestanden; der Johanniterhof wird verschlossen gehalten, damit nichts vor der Zeit verlaute; vor dem Polizeiaufsichtei soll um neun Uhr erst alles klar werden! Der Sigrist, der entsprang, sagte mir's, es Ihnen mitzuteilen!« »Das Interdikt über die Bübin, die den Herrn verriet!« zürnte der Superior, »das Etablissement, die Mission ... alles geht zugrunde! Schande kommt über uns! Lassen Sie uns Hand an die Rettung legen, Pater Münzner! Wir müssen fort, ehe der Lärm um sich greift.«

»Unsere Bücher liegen beim Senator,« tröstete der Doktor, »kein Mensch sucht sie dort. Die Translation war zweckmäßig.«

»Zweckmäßiger als Ihre Verwaltung, Pater Münzner!« entgegnete der Superior zornig, »solche Leute, wie die Schreinersfrau, an- und aufzunehmen ...! plaudernde Gänse ...!«

»Mein Vorgänger hat schon ...« wollte sich Münzner entschuldigen.

»Schweigen Sie!« befahl der Superior heftig, »Marsch, auf die Beine, ihr übrigen! Er, Litzach, tummle sich schnell um einen Wagen um. Vor dem Friedertore will ich einsteigen. Er, James, wird auf der Stelle alle Habseligkeiten des Paters kompendiös zusammen packen. Cito! citissime

James eilte hinweg, Litzach rang die Hände, »ich bin der Unglücklichste!« seufzte er, »was wird aus mir, was aus meinen Kindern, und was aus meiner kranken Frau werden?«

»Was Gott will!« antwortete der Superior hart und rauh, »packe Er sich fort, und besorge Er den Wagen!« Litzach gehorchte, fast weinend.

»Laufe Sie, Lainez!« sagte der Superior dringend zu dieser, »ein Weibsbild mengt sich ohne Gefahr unter Gaffer und Pöbel! Horche, laure Sie. Wenn etwas Ungerades sich verspüren läßt ... schnelle Post hierher!«

Die Lainez eilte weg. »Pater Münzner!« fuhr der Superior fort, »unsers Bleibens ist in diesem Hause nicht. Der Doktor Leupold wird bald aufgesucht werden! Schändlicher Baalstreich! Wir flüchten uns einstweilen in des Senators Haus, wo man uns sicherlich nicht sucht.« »Ich Unglücklicher!« rief Münzner, wie in Verzweiflung, »daß dieses Unglück unter meiner Verwaltung geschehen mußte! Welch ein Empfang wartet meiner in unserm Hause und beim Provinzial!«

»Erkennen Sie, ob ich Ihr Freund bin!« erwiderte der Superior, indem er ihm den Brief reichte, den er vorhin gelesen; »ich will Sie der Taufe entziehen, weil Sie mir ein wohlgefälliger Mitbruder gewesen. Der Provinzial trägt mir auf, ein tüchtiges Mitglied nach Assumption in Paraguay zu schicken, um den Handelsangelegenheiten vorzustehen, Ihre Mission allhier ist leider nun erledigt; verbergen Sie Ihre Scham in Amerika, bis der General Sie zur Rechenschaft rufen läßt. Es verfließen indessen Jahre, die Sache schlummert ein, und ein simpler Verweis tritt alsdann an die Stelle der harten Pönitenz.«

Der Doktor nahm mechanisch die Kommission, ohne ein Wort zu erwidern. Der Superior sowohl, als die Hauswirtin, die ängstlich herbeikam, drangen in ihn, sich in Sicherheit zu setzen. Kaum, daß ihm die Zeit verblieb, seinen James zu umarmen; »ich gehe nach Paraguay!« sagte er weinend zu ihm, »das Schicksal macht hier ein schnelles Ende mit uns. Wir sehen uns vielleicht nie wieder. Folge darum dem ehrwürdigen Pater Superior, der dein Glück will! Vergiß, armer Getäuschter, und zürne mir nicht!«

Der Jüngling war von dem Augenblicke zu sehr erschüttert, um auf die Rede seines Pflegevaters merken zu können. Der Superior riß den Doktor unwillig mit sich fort und ermahnte den jungen Engländer im Novizenmeisterton, seine Packarbeit zu fördern, die Effekten vor das Friedertor zu schaffen, und bei dem Wagen seiner zu warten, um mit ihm sich zu entfernen. Hierauf schlugen die geistlichen Herren, die Hüte tief in die Stirne gedrückt und herabgekrempt, den Weg nach Müssingers Wohnung ein. Ein heftig niederstürzender Regen begünstigte ihre schnelle Wanderung. Die Kirchenglocken riefen von allen Seiten die Gläubigen zum Gottesdienste und leerten die Straßen. Ohne Aufenthalt waren die Väter an des Senators Türe gekommen. Sie war verschlossen.

»Der Senator ist in der Kirche!« sagte der Superior, sich besinnend. »Wir erlaubten ihm ja gestern, als wir die Register brachten, das Possenspiel mitzumachen, um seinen Leumund wieder zu heben«

»Ich habe glücklicherweise den Schlüssel zu der Hintertüre in der Tasche,« versetzte der Doktor, »er gab mir ihn, um unbemerkt zu kommen, wann ich wollte; es ist sonderbar, daß es heute zum ersten- und letztenmal sein muß.«

Sie traten in das Gäßchen; der Schlüssel paßte und die Herren stellten sich unter das Gewölbe des Hauses, um zu beratschlagen, ob der Senator zu erwarten, oder vielmehr ratsam sei, daß der Superior oder der Doktor zuerst sich auf die Flucht mache.

Während dieses in seinem Hause vorging, saß der Senator, noch von allem ununterrichtet, mit den Seinigen im Betstübchen der Johanniskirche. Das Gebäude war gedrängt voll. Das schlechte Wetter hatte es ungewöhnlich angefüllt. Die Orgel schmetterte die Melodie des Liedes, und nachdem einige Verse desselben verklungen, betrat Pastor Lammer die Kanzel. Sein Gesicht war feurig, seine Augen sprühten und rollten in der Runde umher. Auf dem Oratorium des Senators haftete ein drohender staunender Blick, dem alle Augen der Anwesenden folgten. Heftig zerrte des Predigers Hand an der faltenreichen Krause; er hustete, er öffnete den Mund ... da fiel ein Donnerschlag ein, dessen Vorgänger unter dem geräuschvollen Orgelspiel nicht gehört worden waren, und ein Blitz leuchtete durch die grauen Fensterscheiben, die der Stromregen peitschte. Lammer sah, während ein Laut des Schreckens durch die Kirche ging, furchtlos nach der Seite, wo der Blitz erschienen ... seine Mienen nahmen eine gewisse Begeisterung an; verächtlich schob er das Konzept seiner Predigt, das vor ihm auf dem Kanzelrande lag, hinunter, und begann plötzlich aus dem Stegreife mit aller Kraft seiner Stimme: »Du donnerst, Herr der Welten? Du starker zorniger Gott? ja, Barmherziger, entziehe mich heute der schweren Pflicht, deine Gebote zu erklären! Nimm selbst das Wort, damit gerade am heutigen verhängnisvollen Tage die Sünder zittern und ächzen, wenn du in deinem Zorne sagst: »Ich bin der alleinige starke Gott, und du sollst keine Götter haben neben mir!« Laß deine Gewitter rollen und den grauen Schleier vom Himmel niederfallen, damit die Natur in Sack und Asche traure; schreibe einen außerordentlichen Bußtag aus für außerordentliche Sünden! denn sie haben dein erstes Gebot mit Füßen getreten! denn sie haben andere Götzen neben dir! denn sie haben dich geschändet, als wärst du nicht der starke eifrige Gott, sondern das elende Heidenbild Dagon, ein zerbrechliches Stück Kot! aber sie täuschen sich, denn sie knien vor den faulen Götzen! sie betrügen sich, denn sie haben keine Bundeslade, vor welcher du den Staub küssen müßtest! sie haben sich belogen, denn ihnen ist die Hölle worden; meine Brüder! vernehmt, daß das Weib aus Babylon auferstanden war, daß es sich gelagert hatte an den Toren dieser Stadt, und daß es gesprochen: kommt her, die ihr mich heimlich lieben wollt, und sündigt mit mir! O der Schande! o des Greuels! o der verfluchten Ueppigkeit! sie sind nicht vorübergegangen an dem frechen Weibe! sie haben ihr Ohr nicht vor der Schlange verstopft! sie haben mit ihr gebuhlt! ja, meine Freunde! ja, meine Brüder! das römische Papsttum hat eine Winkelbude in unserer Stadt errichtet; es hat vielen eurer Mitbürger das ewige Seelenheil gegen falschen Tand abgetauscht. Doch nicht alle Sündige waren verstockt; ihrer waren etliche, die Reue fühlten. Sie haben bekannt. Die Kapelle ist entdeckt, die Hülle ist von der abscheulichen Verschwörung der Finsternis gefallen! sie sind entlarvt und harren angstvoll der verwirkten Strafe!«

Eine Bewegung der Unruhe, des Abscheus, der Bestürzung durchlief die Versammlung, und jedes Ohr horchte neugierig auf die Fortsetzung der Predigt. Der Senator konnte sich kaum vor Schrecken an der Brüstung des Betstübchens erhalten; die Senatorin starrte stumm und nicht begreifend auf den Prediger; Justine, ahnungsvoll und beklommen, behielt den Vater ängstlich im Auge. Der Prediger fuhr mit erhöhtem Kraftaufwande fort: »O, wie zittern jetzo die Herzen der Sündigen! wie werden sie wünschen, gar nicht geboren zu sein! und dennoch selig noch diejenigen, die Scham und Reue empfinden! seliger noch diejenigen, die ihre schweren Verbrechen durch ein aufrichtiges Geständnis versöhnten! aber dreimal verworfen diejenigen, so in ihrem Irrtume, in dem Laster beharren! dreimal verworfen die gottlosen Priester aus Babel, die das Volk des Herrn verführt haben, und Unkraut gestreut unter den Weizen! Wie soll ich euch aber nennen, Gottesleugner! was soll ich euch prophezeien, ihr Verstockte! die mit der Abtrünnigkeit noch Heuchelei verbinden? die mit glatter Stirne den Tempel des wahren Christentums besuchen, und das falsche im Busen tragen? besser wäre es, ihr bliebet aus dem Hause Gottes, das ihr durch eure betrügerische Gegenwart verunreinigt! – wie soll ich aber denjenigen nennen, der – selbst ein Richter im Volle ... der – selbst ein Erhalter der Gesetze – das Volk verrät, indem er dessen Verführung begünstigt? ... das Gesetz schändet, indem er tut, was es in seiner Weisheit verbietet ... ? den ehrwürdigen Senat, dem er angehört, brandmarkt durch seine entsetzlichen Frevel? ihn, der schamlos genug ist, sich allen Augen im Tempel des wahren Gottes preiszugeben, sich heuchlerisch darin zu brüsten, nachdem er, geschweige anderer Untaten, die erst ans Licht kommen werden und müssen, in dem teuflischen verbotenen Lotto sein Hab und Gut gewagt, und satanisches Handgeld damit gewonnen? ... nachdem er ... ich spreche es mit Schaudern aus, meine Brüder – nachdem er katholisch geworden?« Der von dem Feuer der tadelnswertesten Heftigkeit ergriffene Geistliche deutete mit Blick und Finger auf den Senator unverhohlen hin, der, von Beschämung und Wut gepeinigt, in den Schatten seiner Betloge zurücksank, nach welcher murmelnd und blasphemierend die Menge gaffte, auf die der wütende Prediger noch einen Hagel von Verwünschungen niederrauschen ließ. Der Auftritt sollte noch greulicher werden. Der Senator, an seinem Stuhle niedergleitend, hatte unbewußt den Arm seiner Frau ergriffen. Diese, die endlich mit abergläubischem Entsetzen begriff, wo hinaus der Prediger wollte, fühlte kaum die Hand ihres Mannes, als sie dieselbe lautschreiend zurückstieß, aufsprang, mit dem Gesangbuche nach dem Ohnmächtigen warf und kreischte: »Weg von mir, elendiger Mann! Das fehlte noch, katholisch zu werden! Gott erbarme sich unser! Ich bleibe keinen Augenblick mehr an deiner Seite!«

Vergebens warf sich Justine ihr bittend in den Weg. Schluchzend, wütend, wie eine dem Teufel Entlaufende, drängte die Senatorin ihre Tochter von der Türe. »Weg, Satanskind!« rief sie aus vollem Halse, »helft mir, ihr guten Christen! Ich gehe nicht mit einem Schritte mehr in das Haus des Abtrünnigen!«

Auf der Treppe von einem Schwarme von Betschwestern umringt, die fragten und schimpften, und bedauerten, ging das Kreischen des unvernünftigen Weibes in ein widerliches Heulen über, das der Menge Gemurre und des Predigers Stentorstimme gewärtigte. »Ich unglückliches Weib!« schluchzte sie, »wer führt mich zu meinen Verwandten, damit ich sicher sei vor dem Teufel, an den man mich verheiratet hat? Ich habe zu allem geschwiegen, aber nun kann ich's nicht mehr. Der elende Mann hat im Lotto gespielt, hat den Holländer umgebracht, und nun erst ... katholisch zu werden ...! ich armseliges Geschöpf!«

Endlich wurde sie fortgebracht, und mit ihr ging die Steuerkommissärin und viele Freundinnen. »Da haben wir's ja!« sagte die erstere triumphierend. »Da hören Sie's selbst, meine Lieben! den Holländer umgebracht ... wahrscheinlich nicht minder dessen Sohn, der seit gestern verschwunden ist ...! Lotterie gespielt ... katholisch geworden! und mit alledem tat der schlechte Mann als wie ein Tugendspiegel! Aber mein Mann soll auf der Stelle zum Bürgermeister, und dann wollen wir sehen, ob noch Recht im Lande ist!«

Währenddessen schritt, von einem angsterregenden Menschengedränge umgeben, von Justine unterstützt, der totenähnliche Müssinger durch die Kirche und über die Gassen. Es regnete entsetzlich. »Warum gehst du nicht zu der Mutter?« fragte er die Tochter leise und ohne die Augen zu ihr aufzuheben. »Ich bleibe bei Ihnen,« erwiderte sie sanft, »ich kenne die Mutter nicht mehr. Ich habe im stillen geahnt, was Ihre Vernichtung mir bestätigt! Ach, ich habe nicht falsch gesehen; ... der Doktor! ... Aber ich liebe Sie jetzt mehr, um Ihres Unglücks willen, und begehre nicht, von Ihnen mich zu trennen.« – »O mein armes, einziges, liebes Kind!« sprach der Senator unter Wehmutswellen und schauderte sichtbar zusammen, weil eine Menge Volks vor seinem Hause sichtbar wurde, und die Hellebarden und roten Röcke der Ratshatschiere von der Türe daher blinkten. »Ich werde in Arrest gebracht!« seufzte der Beängstigte. Justine erschrak; ihre Tränen fielen auf seine Hand. Der Senator erhielt im Gedränge einen Stoß auf die Brust; er sah zur Seite und erblickte sein schweres Portefeuille, das ihm eine hilfreiche Hand in den Busen schob. »Einen Gruß von den Herren!« sagte der blasse Litzach zu ihm, der sich wieder niederduckte, »Sie sollen das bewahren und fliehen. Die Bücher sind verbrannt und zerrissen. Ernst hat Sie verraten, fliehen Sie nach Amsterdam, der Doktor erwartet Sie.«

Die Worte waren wie im Fluche gesprochen worden und der dem Senator unbekannte Bote verschwand. Der Senator verbarg mechanisch das Taschenbuch, das seine Wechsel und Obligationen enthielt, ohne darüber nachzudenken, wie es wohl aus dem verschlossenen Hause in die Hände jenes Menschen gekommen. Zwei Senatoren, Kommissarien des Bürgermeisteramts, die in ihren schwarzen Kleidern und weißen Perücken ungeduldig im Regen warteten, riefen dem verdächtigen Kollegen zu, die Türe schnell aufzumachen, Müssinger gehorchte; Kommissarien, Hatschiere, Volk, drangen in das Haus. Justine wurde von des Vaters Arm gerissen und flüchtete in das obere Stockwerk, dessen Treppe von den Hatschieren besetzt wurde. »Ihre Papiere!« hieß es unterdessen zu dem Senator. Er bückte sich, die Türe seines Kabinetts zu öffnen. Sie war schon offen. Man trat ein. Da« Pult war gewaltsam geöffnet ... von den Büchern der Jesuiten, die darin verwahrt gewesen, sah der Senator, selber staunend, keine Spur. Unglücklicherweise jedoch fand ein Spürhund in einem Winkel die Legenden der Heiligen Ignaz und Xaver. Als ein Beweis des Gesuchten wurde das Buch mit Jubel empfangen, »Unwürdiger Mann!« sagte ein Senator zu dem verstummenden Müssinger, »die Schlüssel zu der Kasse, damit sie fürs erste in Beschlag genommen werde!« – »Oeffnen Sie die geheimsten Fächer des Bureaus!« sagte der zweite, »man hat Sie mit Seelenverkäufern umgehen gesehen; nach der Aussage Ihrer eigenen Kontorbedienten Nothhaft und Berndt, Wo ist die Korrespondenz über diesen schändlichen Trafik?«

Müssinger leugnete und verwies auf seine Handelsskripturen.

»Wer seinen Gott verleugnen kann, lügt auch vor Menschen!« sagte einer der Kommissarien, »wie kömmt es aber, daß Ihr Pult bereits geöffnet, gewaltsam geöffnet ist?« Müssinger bezeigte seine Unwissenheit.

Indessen kamen zwei Personen herbei, die viel Verwirrung in den Auftritt brachten. Der erste, ein Schwager der Senatorin, zu dem die bösartige Frau sich geflüchtet und welcher erschien, um deren Eingebrachtes zu reklamieren; bei zweite, der Kontordiener Berndt, den Neugierde und Schrecken zu kommen vermocht hatten. Der Schwager der Senatorin mischte sich mit vielem Lärm und aufgeblasenem Benehmen in die Geschäfte der Kommissarien, und diese hielten es für gut, den Diener Berndt verhaften zu lassen, weil gegen ihn der Verdacht obwalte, auf vorläufigen Befehl seines Prinzipals aus der Kirche entwichen zu sein und das Pult gesprengt zu haben, um die schwersten Indizien, sowohl des Katholizismus, als des Lottospiels, als der Seelenverkäuferei, aus dem Wege zu räumen. Während nun der unschuldige Kontorist deprezierte, und die Hatschiere Gewalt brauchen mußten, den jungen Mann, der seiner philadelphischen Sanftmut gänzlich vergaß, festzuhalten; während der Senatorin Verwandter seinerseits schrie und die Kommissarien übertäubte, die Zuschauer sich um diese Szene drängten, stießen und kleine Debatten unter sich selbst hielten, erwischte jemand den Senator Müssinger beim Kleide und zog ihn mit kecker Faust in das Gedränge, durch das Gedränge, und niemand bemerkte es im Tumult. James war der Kühne, »Kommen Sie!« flüsterte er dem Staunenden dringend zu, riß ihn durch den Ausgang, unfern von der bewachten Treppe vorbei in den Hof, nach der Hintertüre, klinkte sie auf, und nun stracks mit dem Geretteten fort durch das öde Gäßchen.

»Wohin, wohin, mein Freund?« fragte Müssinger atemlos.

»Still, kein Wort!« versetzte der Jüngling, und lief, so schnell der Senator selbst konnte, nach einer Querstraße, wo er in ein Haus schlüpfte, das ein Werbschild über der Türe trug. Er hieß den Begleiter folgen und trat mit ihm rasch in die niedrige Stube, wo einige Reiter, in bunten Uniformen, saßen und tranken.

»Kameraden!« rief James, als wie begeistert, »ihr seid Katholiken! Es gilt hier, einen Katholischen zu retten! Einen Helm, einen Reitermantel, ein Pferd für den Verfolgten! Zwei von euch zur Bedeckung, die ihn geleitet, bis zum Weichbilde geleitet, und nehmt dafür mich hin, mit Leib und Seele! Ich begehre kein Handgeld als den Liebesdienst!«

»Was tut Ihr, mein Freund?« fragte Müssinger verweisend, sank aber erschöpft auf eine Bank. Ein Reiter bot ihm Wein. Die andern überlegten; endlich, einig geworden, baß ein hübscher Bursche hier zu werben stehe, und wohlfeil, so wie nie, sagte der Wachtmeister: »Meinetwegen, Monsieur, Geb Er mir die Hand, und trink' Er aufs Wohlsein unsers Herrn!« James stieß eiligst an. »Pressiert's mit dem armen Mann?« fragte der Unteroffizier weiter. James bestätigte es dringend, erzählte, er habe gehört, man wolle die Tore schließen, um sich der heimlichen Gemeinde desto gewisser zu versichern. Der Unteroffizier lachte der ungeschickten Maßregel. »Unsrer Uniform stehen, so Gott will, alle Tore offen!« sagte er, trotzig den Bart streichend, »schafft nur für den Herrn Stiefel, Mantel und Helm herbei, ihr Bursche. Mit ihm aufs Pferd dann, in Gottes Namen! scharfen Trab! ich bleibe indessen bei dem jungen Rekruten da!«

Während einer ging, die Monturstücke herbeizuschaffen, und der andere, die Gäule aufzuzäumen, umarmte Müssinger kraftlos schwankend den Jüngling, »Nehmt die Hälfte meines Geldes!« sagte er, die Brieftasche hinreichend. James stieß sie mit glänzendem Auge von sich. »Ich will schon meinen Lohn fordern, wann es Zeit sein wird!« antwortete er, half dann dem willenlosen Senator seine Verwandlung vollenden, drückte ihm anstatt der Perücke den Helm auf den Kopf und empfahl Ihm, das bartlose Kinn tief in den Radmantel zu stecken. Indem er ihn unterstützte, um ihn zum Pferd zu geleiten, rief Müssinger, wie aus einem Traume auffahrend: »Justine; meine Tochter! Sie bleibt zurück; und hat doch geschworen, sich nie von mir zu trennen! Edelmütiger Mensch! wollt Ihr die Krone auf Eure Tat setzen und die Angst meiner Tochter endigen? Mein Buchhalter soll sich ihrer annehmen ... er soll sie mir nachführen ... nach Amsterdam, zu van den Hoecken, wo ich ihrer sehnsuchtsvoll warte!«

»Es soll geschehen, Ew. Edeln,« versicherte James, »ich werde sie aufsuchen; will's Gott! auch sie retten, Ihnen nachsenden. Gott geleite Sie.«

»Armer Mensch!« klagte Müssinger, »wie lasse ich dich zurück? Du hast deine Freiheit, dein Leben um meinetwillen verkauft. Schreibe, melde mir, ob Geld dich wieder befreien kann, und ich ...«

»Possen!« rief der Wachtmeister ärgerlich dazwischen, »war er ein paar Wochen zu Pferde, so begehrt er's nicht mehr anders. Aber zu Pferde, Herr, zu Pferde müssen auch Sie, damit meine Bursche um Mittag zurück sein können. Der Trompeter bläst. Steigen Sie auf und machen Sie meinem Gaul keine Schande. Er geht aufs Wort.«

Indessen hatte James dem Senator zugeflüstert: »Ich brauche kein Geld, lieber Herr, und indem Sie mir das trauliche Du gaben, haben Sie die Hälfte Ihrer Schuld abgetragen, Leben Sie wohl! Gott mit Ihnen!«

Der Senator wurde aufs Pferd gehoben und trabte majestätisch zwischen den Reitern durch Stadt und Tor, das die Stadtsoldaten gefällig und gehorsam vor dem gefürchteten Feldzeichen aufrissen.

Justine wußte von all diesen Begebenheiten nicht das geringste. Einer schüchternen Unentschlossenheit hingegeben, hatte sie in ihrem Zimmer sich verborgen, um sich zu fassen. Der skandalöse Auftritt in der Kirche, die Verhaftung ihres Vaters, die Ungewißheit ihrer zukünftigen Lage, bestürmten zugleich ihre Sinne, daß sie auf einen Augenblick die Selbstständigkeit ihres Charakters vergaß. Die Stimme ihres Vetters, der endlich sich vernehmen ließ, der die Treppen heranstieg, um die Effekten seiner Schwägerin in Beschlag zu nehmen, der von Verschließung aller Gemächer redete, der rauh und ungeschliffen sich bei allen Domestiken nach seiner Verwandten Justine erkundigte, um sie in sein Haus, zu ihrer Mutter zu führen, diese Stimme raffte Justinens Mut zusammen. Dem eigenwilligen Mädchen erschien plötzlich nichts auf Erden schrecklicher, als unter die Vormundschaft dieses Menschen treten zu sollen, den es längst gehaßt hatte; unter die Leitung einer Mutter, die es von ganzem Herzen mißachten mußte. Justine zauderte nun nicht mehr! sie hoffte nicht ferner auf eine Eingebung von Oben; ihr Entschluß war plötzlich gefaßt. Ihr Vater im Kerker? Welcher andere Ort wäre wohl ihre Stelle gewesen? Ihr Vater verbannt? Welche Pflicht erschien ihr teurer, als die, den Urheber ihrer Tage zu begleiten? Sie ließ, in ihre Stube eingeriegelt, den im Hause herumstöbernden Schwager ihrer Mutter seinem überlästigen Geschäfte obliegen. Sie packte währenddessen ihr erspartes Geld, ihre Kleinodien zusammen; sie erwartete mit Herzklopfen den Augenblick, in welchem die Wege zur Flucht rein sein wurden; er kam. Sie entschlüpfte; sie eilte die Treppe hinunter. Nirgends mehr eine Wache; das Kontor verschlossen, und den Vater auf dem Bürgergewahrsam aufzusuchen ihre Aufgabe.

Das Gewitter des Morgens sendete noch immer fürchterliche Regengüsse. Ihrer nicht achtend, trat Justine aus dem Hause. Eine Frau stürzt ihr entgegen; die Lainez. »Wohl mir, daß ich Sie finde!« sagte diese atemlos, »Sie glauben mich im Unrecht. Aber Sie sollen sich vom Gegenteil überführen. Ich habe den Moment erspäht, Sie zu retten. Kommen Sie mit mir, wenn Sie nicht nach Ihrer Mutter verlangen!«

»Ich verlange auch nicht nach Ihnen!« antwortete Justine und will sich von der Französin losmachen, »lassen Sie mich! mein Vater ist im Gefängnis! ich will – ich muß zu ihm!«

»Zu ihm? Sie wissen also nicht ...?«

»Was, Madame?«

»Ihr Vater ist entwischt; niemand weiß, wohin!«

»Entflohen? Gott sei gelobt! Adieu, Madame, ich folge ihm!«

»Wie? ohne Spur? ohne Nachricht?«

»Der Herr wird mich erhören. Meine Angst wird ihn finden! Lassen Sie mich!«

»Sie machen sich unglücklich! Der Senator hat ohne Zweifel die Stadt verlassen!«

»Gleichviel! Ich suche ihn auch nicht in dieser Stadt!«

»Sie sind aber hier eingesperrt. Alle Tore sind geschlossen; niemand wird ohne die strengste Untersuchung hinaus gelassen. Man kennt Sie! man wacht sorgfältig über die Angehörigen des Senators, Man wird Sie zu Ihrer Mutter bringen!«

Diese Nachricht lähmte Justinens Kräfte. Mit einem tiefen »Ach!« griff die Wankende nach der Hand der Französin, die mit ihr indessen an die Ecke der Straße gekommen war und dringend weiter redete: »Aufschub ist's, den Sie gewinnen müssen! Lassen Sie die ersten Tage der Unruhe vorübergehen! Sie werden ohne Zweifel Nachricht von dem Vater erhalten! Rauben Sie sich jedoch nicht die nötige Freiheit, ihm alsdann folgen zu können. Vertrauen Sie sich mir. Auch ich bin verfolgt, fürchte ich; auch mich verdächtigt mein Aufenthalt im Johanniterhofe, obgleich meine Seele rein an jenen Umtrieben ist, rein wie ein Sonnenstrahl. Ich weiß einen Ort, der uns beide verbirgt, der uns fürs erste den nötigen Schutz verleiht. Folgen Sie mir. Sie werden daselbst sichrer sein, als unter den Augen Ihrer Mutter, die vielleicht Schuld an dem ganzen Unheile trägt, das Ihren Vater betroffen hat,«

»Lieber in den Tod als zu dem despotischen Onkel, als zu der Mutter, deren Vorwürfe mich umbringen würden!« rief Justine, »ich will noch einmal an Ihre Aufrichtigkeit glauben. Bringen Sie mich von hier!«

»So eilen Sie!« ermahnte die Lainez und fühlte Justine schnell mit sich von dannen; weit vom Vaterhause, auf den Paulsplatz, wo sie sehr durchnäßt ankamen, allein doch unbeachtet. Rasch schritten die Frauen auf die Kirche los; heftig zog die Lainez die Glocke an dem Pförtchen des Turms. Die wenigen Minuten, deren der Türmer bedurfte, um herabzukommen und aufzutun, wurden den Harrenden zu Ewigkeiten. Endlich ... Schlüsselklang ,,. da« Pförtchen geht auf. Pahlens empfängt verwundert, freudig erschreckt, die Einstürmenden, »Gott grüße Sie, Herr Pahlens!« ruft die Lainez in Eile, »oben ein Nähere«!« und mit flüchtigem Fuße eilen die Frauen über die hölzernen Stiegen; an Glocken und Uhr vorüber, über die finstern Wendeltreppen, durch die finstern Gangschluchten, und an den hohen Lucken vorbei, die eine schwindelerregende Gruft vor dem Aufsteigenden eröffnen; und nimmer ruhen, und nimmer rasten sie, bis der letzte Treppenabsatz erklimmt und die Plattform des Turms erreicht ist, wo der heftig ziehende Luftstrom sie zwingt, in des Türmers Stübchen einzutreten, Platz zu nehmen, Odem zu schöpfen, und endlich dem nachgefolgten Pahlens die Absicht ihres Kommens zu erklären. Die Französin faßt sich hierin, so wie in allem, kurz.

»Sie wissen, Monsieur, was in der Stadt vorging,« sagt sie mit vertraulichem Tone zu dem Türmer, »wir sind ebenfalls das Opfer jener traurigen Ereignisse. Wir fordern von Ihnen Schutz und sichern Aufenthalt für wenige Tage, und erwarten von Ihrer Galanterie die Erfüllung unsers Begehrens!«

Ein Strahl von Freude und Behagen fuhr über Pahlens Gesicht; vergnügt rieb er sich die Hände und versetzte: »Sie kommen zur besten Stunde, meine Damen. Mein Gehilfe wurde gestern in das Landkrankenhaus gebracht und ich bin allein. Mehrere Tage hindurch kann ich mich wohl allein behelfen, und der Magistrat wird mir die Schonung seiner Kassa danken. Ueber diesem Zimmer, in der Kuppel des Turms, befindet sich das schönste Belvedere; ein Plätzchen, wie geeignet, die Göttin Venus mit ihren Grazien und Amoretten zu beherbergen. Sie werden daselbst wohnen, ungestört sein und nur die Vorsicht beobachten müssen, sich nicht sehen zu lassen, wann sich Neugierige ober Leute, die hier oben Geschäfte haben, auf dem Turme einfinden.«

Justine, von dem albern galanten Wesen des Türmers unangenehm berührt, drang darauf, da« gerühmte Kuppelzimmer auf der Stelle zu beziehen. Ihrem Wunsche wurde also willfahrt, das Frauenpaar in sein Asyl eingeführt, das in der Tat eine gewisse Eleganz darbot und eine vielversprechende Fernsicht: heute freilich von Regenschleiern verhüllt. Pahlens, nachdem ei sich in seinen besten Putz geworfen, trug seinen Schutzbefohlenen alles auf, was die beschränkte Speisekammer des Junggesellen vermochte, und lud seine Gäste ein, seine Gaben nicht zu verschmähen. Die Lainez ließ sich nicht nötigen, Justine versagte, setzte sich ans Fenster, sah hinaus in die grauen Wolkenmassen und weinte und seufzte, und machte Pläne.

Pahlens, nachdem er vergeblich versucht, der Jungfer, die sein Herz erobert, ein Wörtchen abzugewinnen, ging verdrießlich davon, die Stunde zu schlagen; ließ die Frauen allein.

»Wohin sind wir geraten?« fragte Justine heftig, »wie sind Sie hier bekannt geworden, Madame? Von der Diskretion eines geckenhaften Menschen abzuhängen, der mich durch seine Zudringlichkeiten ärgern könnte, machte ihn nicht seine Albernheit lächerlich! Warum habe ich mich von Ihnen beschwatzen lassen?«

»Wissen Sie einen Ort, an dem man uns weniger vermutet? an dem wir unbemerkter sind?« fragte die Lainez einsilbig dagegen und setzte bei, »ich kenne den Herrn dieses luftigen Hauses zwar nur oberflächlich, aber getraue mir, für die redliche Reinheit seiner Gesinnung zu bürgen, Fürchten Sie keine Beleidigung Ihrer Würde, keine Verletzung des Anstands. Was Sie auch von mir halten mögen ... ich bin eine Freundin und Bewahrerin strenger Sitte, und niemand wird mehr als ich von einer Unbescheidenheit verletzt. Schlafen Sie deshalb ruhig. Morgen leuchtet uns vielleicht ein günstigerer Himmel. Vielleicht sind wir so glücklich, etwas Näheres von Ihrem Vater zu erfahren, und Ihr Zweck ist dann erreicht.«

Dieser Zuversicht sich überlassend, fügte sich Justine in die seltsame ungewohnte Lage. Der Abend kam und verging bei einsamer Kerze, und beim Lautenspiel des Türmers, der sich's nicht nehmen ließ, die Frauenzimmer zu unterhalten, bis die Zehnerglocke geläutet werden mußte. Pahlens Fürsorge hatte den Damen auf den Ruhebettchen des Belvedere ein erträgliches Lager bereitet. Er wünschte ihnen gute Nacht und empfahl ihnen das Licht zu löschen, damit der Wächter, der nach zehn Uhr auf dem Turme einzutreffen habe, nicht Unrat merke.

Justine verriegelte die Türe. Die Lainez löschte die Kerze. Die beiden schonen Flüchtlinge versuchten, ohne ein Wort ferner zu wechseln, zu entschlummern. Justinens Augen floh jedoch der Schlaf; ihrer Begleiterin ging's nicht besser, denn Justine, ganz stille ruhend, hörte plötzlich, wie sich die Lainez leise aufrichtete und in französischer Sprache – in der Meinung, ihre Gefährtin schlafe – zu beten anfing. Das Gebet war an die Himmelskönigin, an die heilige Jungfrau gerichtet, und die Flehende forderte die göttliche Mutter auf, durch ihre Gnade den traurigen Zustand zu endigen, in dem sich gegenwärtig die Bittende befinde; ihr es möglich zu machen, den lauernden Feinden zu entgehen, und unter den Schutz der Gläubigen zurückzukehren. Sie fügte hinzu, die Jungfrau möchte diese Gnade auch auf ihre Gefährtin ausdehnen, die um ihrer Eigenschaften willen, zu dem besten Glücke würdig und berufen sei. Sie möchte ein Wunder ihrer Huld tun, um das Seelenheil der Protestantin zu retten, sie auf die Bahn, die ihr Vater betreten, zu führen, ihr alle Sünden erlassen, sie frei und glücklich zu machen! Wenn die göttliche Fürsprecherin alles dieses Verlangte tue, so verspreche ihr die Beterin eine neuntägige Bußübung, ein vierzehntägiges Fasten und eine Votivtafel dem wundertätigen Bilde zu Montserrat. Hierauf begab sich die Lainez wieder zur Ruhe und entschlief bald in vollkommener Friedseligkeit.

Justine, welche aufmerksam gelauscht hatte, machte ihre besondern Betrachtungen. In dem Grade, als ihr Mißtrauen gegen die Französin zunehmen mußte, in der sie nun eine eifrige Katholikin, und – wie sie im Verlauf des letzten Tages geahnt hatte – ein Werkzeug ihrer beabsichtigten Bekehrung erfand, nahm auf der andern Seite wieder ihr Vertrauen zu der Person zu. Die Lainez hatte ja in ihrem Gebet die Protestantin mehr noch den himmlischen Mächten empfohlen, als sich selbst; sie hatte für Justinens Erleuchtung und Rettung gebetet, sie hatte dafür ein Gelübde geleistet! Justine dankte ihr im innersten Herzen für die Beweise einer liebevollen Teilnahme und vergab ihr allen Unglimpf. Justine beneidete sogar die Französin um ihr Vertrauen, um ihr gläubiges Gebet, das den ruhigen Schlaf auf die Augen der Beterin goß, erzeugt von der Zuversicht, daß das Gebet erhört, das Gelübde vergolten werden müsse. Justinens Auge blieb wach und munter ihr Ohr. Sie sah die Streiflichter der Wächterlaterne, die um das Turmzimmergebäude die Runde machte; sie hörte Pahlens und des ablösenden Wächters Stimme, das heisere Gebelle des Wachthundes, die von Stunde zu Stunde gegebenen Posaunenstöße in die weithallende Luft, das erschütternde Ausheben der großen Uhr, die Donnerschläge der allzunahen Stundenglocken. Unwillkürlich dachte sie an die Märchen ihrer Amme, an das Traumgesicht, das Georg Birsher erzählt hatte. Sie blickte sorglich nach der Gegend der Türe, ob nicht etwa des alten Amerikaners wahrhaftiger Geist hereinschreiten werde. Aber quälender wurde ihre Angst, marternder ihre Schlaflosigkeit, erinnerte sie sich der verflossenen Tage, des Glücksruins ihres Vaters, seiner Verblendung, seiner Flucht, des Verschwindens ihres Verlobten. Eine traurige Zukunft rollte sich vor ihrer Einbildungskraft auf, und sie hätte sich aus den Fenstern des Turms in das Wolkenmeer geworfen, wenn es möglich gewesen wäre, auf demselben überzuschiffen nach der Weltgegend, in welcher sich ihr Vater befand. Nein Andenken des, gewiß auf immer von ihr getrennten Verlobten weihte ihr Herz nur eine vorübergehende Klage: des Vaters Bild erfüllte es ganz. Seine Führerin, seine Begleiterin in dem Labyrinthe seines Unglücks zu werden, schien ihr Beruf zu sein, und sie sehnte den Tag herbei, der ihr vielleicht Kunde zu geben bestimmt war. Der Tag kam herauf, herrlich und prächtig, wie sein Vorgänger häßlich und stürmisch gewesen war. Justine badete ihre glühende Wange in dem kühl strömenden Glanzmeere, das um des Turmes Spitzen lag. Die Nebel des Himmels hatten sich zerstreut, waren am Horizonte niedergesunken. Durch die durchbrochenen gotischen Geländer der Plattform schimmerte das tiefe Blau des Himmels, und über dem frei ragenden Gipfel strahlte ein feines durchsichtiges Dach von Azur. Scharen von munterem Gefieder strichen neckend oder majestätisch vorüber. Der Storch klapperte fröhlich in seinem Neste, mit ihm um die Wette gurrten die Ringeltauben des Türmers. Eine köstliche Aussicht hatte sich durch die Nacht zum Licht emporgearbeitet. Die weite Fläche um die Stadt, nur in der weitesten Ferne von Gebirgsumrissen begrenzt, prangte in der vielfarbigen Fülle des nahenden Herbstes. Städtchen mit glänzenden Turmknöpfen, Kirchdörfer mit lustigen Ziegeldächern, zwischendurch belebte Landstraßen, oder weite Baumgelände, oder grüne Fluren, oder silberne Ströme, oder abgelesene Felder und frisch umgewühlte Aecker, über deren Furchen wunderliche Herbstseidenfäden ihren weichen, eisgleichen Spiegel gezogen hatten, entzückten das Auge. Die ansehnliche Stadt, von grünen Bastionen, altertümlichen Warten und dem Strome umzogen, bildete gleichsam den Korb, aus welchem man ins Weite sah. Justine hatte diesen Anblick noch nie gehabt. Sie hatte noch nie hernieder gesehen in die dunkeln Straßen, auf die volkreichen Märkte, auf die Giebel der Häuser, auf die niederer liegenden Kirchen. Sie suchte, sie fand ihr Vaterhaus, die Wiege ihrer Freuden; sie suchte und fand den altersgrauen Johanniterhof, die Wiege ihres Leidens und des Unglücks ihres Vaters; sie suchte nicht das Gasthaus, das ihren Bräutigam beherbergt hatte, damit ihr Schmerz nicht erwache; sie suchte aber die Straßen, die von den Toren in alle Weltgegenden ausgingen; sie versuchte zu erraten, welche ihr Vater wohl eingeschlagen haben mochte, oder ob er vielleicht noch in der dumpfigen Häusermasse atme, deren Bewohner sich gegen ihn und seine Schwachheit verschworen hatten. Sie lief, ohne sich des »Warum?« bewußt zu sein, nach der Türe, sie öffnete dieselbe unschlüssig und hörte plötzlich vom Fuße der schmalen Treppe, die ins untere Gemach führte, leise Flüsterworte, eine Unterredung, die sie nahe mit anging. Pahlens und die Lainez, die schon seit einiger Zeit das Gemach verlassen hatte, sprachen zusammen, heimlich und vertraulich – von Justinen.

Sie können sich leicht denken,« sagte der Türmer, »wie mich's alarmiert hat, als ich's vernahm. Es ist doch schade um die magnifique Jungfer, Parole d'honneur! die Mama und der Vormund wollen sie, sobald sie ausfindig gemacht worden, in die Kostschule sperren lassen, weil sie dergestalt an ihrem Vater hängt. Es wird behauptet, sie sei, wie er, katholisch geworden, und dieser Schmutz müsse abgekratzt werden.«

»Nichts weniger als das,« versetzte die Lainez, »indessen müssen Sie, Monsieur, uns weiter helfen. Der Superior hat mir das Mädchen auf die Seele gebunden. Ich muß Wort halten, damit auch mir einst Wort gehalten werde.«

»Ich will wohl behilflich sein,« sprach Pahlens wichtig, »aber um den Lohn begehre ich auch nicht zu kommen. Sie wissen, meine Beste, wie mich der blinde Kupido selbst aveugle gemacht hat. Ich bin amoroso dergestalt, daß ich mit Tränen meine Speisen salze, und täglich und nächtlicherweise von Morpheo verlassen werde. Wenn mir die ehrwürdigen Patres die Holdselige zur ehrlichen Hausfrau geloben wollten ... auf das Vermögen täte ich Verzicht, und laute irgendwo mein stilles Arcadia an. Könnte ich alsdann in irgend einem Dome Organist werden, so sollten die dankbarsten Liebesgötter meine Register handhaben.«

»Sie sind eigennützig, Monsieur Pahlens,« entgegnete die Lainez empfindlich.

»Ich opfere auch alles auf, bis auf die Braut, die ich adorire,« sagte der Geck, »wenn es herauskömmt, daß auch ich den Staub des Lutherwesens abgeschüttelt, so würde ich's nicht leugnen und folglich meinen Bündel schnüren müssen, und von denen Musis erwarten, wo ich wieder meinen Unterhalt fände. Nicht wahr? Wäre hingegen Jungfer Justine meine Verlobte ... vraiment! noch heute sagte ich auf, zöge morgen ab, und erhielte alsbald meinen Abschied, weil sich zehne für einen um meinen Dienst bewerben.«

»Das Mädchen will seinen freien Willen haben, Monsieur Pahlens.«

»Recht, beste Madame. Sie soll meine Devotion erkennen leinen, und wenn sie meine liebeslustigen Sentiments erfährt, wird sie nicht unempfindlich bleiben. Die Zeiten sind anders. Der Papa davon gelaufen ... die Mama, die sie einsperren will; auf der andern Seite dagegen der niedliche Pahlens, ein Virtuose auf vielen musikalischen Instrumenten und heftig verliebt ... ich bin gar nicht bange zu reüssieren, wenn Sie mir Ihren Beistand nicht versagen, und acht Tage hier oben verweilen.«

»Warum nicht gar? Sie müssen uns so schnell als möglich wegbringen. Man gibt vor, ihr Vater habe sie beschieden ,.. wohin? das ist gleichviel. Sie geht in die Falle. Wir bringen sie in den Bereich des Superiors, und das Zureden desselben, wie Ihre galante Bewerbungen werden das übrige tun. Wir Weiber sind schwach, Monsieur, und weichen gerne der Schmeichelei, wenn uns die Stütze eines Vaters fehlt.«

»Wenn Sie meinen ..,« fügte Pahlens hinzu, und das Gespräch verstummte.

Justine zog sich, empört und erschreckt von dem, was sie vernommen, zurück. Sie mochte überlegen, wie sie wollte, sie war gefangen und gebunden. Dort, wenn ihre Hartnäckigkeit einen freien Abzug von dem Turme erzwang, die schimpfliche Einsparung in die Kostschule, worin ungehorsame Töchter oder leichtsinnige Weiber oft jahrelang ihrer Lossprechung entgegenharrten; und dann die Autorität eines steifen unfreundlichen Familienrats, endlich der Spott, die ehrenrührigen Gerüchte der müßigen Stadtschwätzer. Hier eine begünstigte Flucht, die Hoffnung, den Ketten zu entrinnen, aber der Zwang einer lügenhaften Verstellung, die Gewalt eines intriganten Weibes, eines affenhaften Liebhabers, und irgend eines Superiors, den sie nicht kannte, nicht begriff, und der entscheiden sollte, ob sie den Türmer zu heiraten hätte, oder nicht: sie sah sich schon im Netz heimtückischer Katholiken, und wenn hin und wieder ihr die Vernunft schmeichelnd zuflüsterte, sie möchte sich der Verstellung unterziehen, zu glauben vorgeben, was man ihr von Vaters Befehl vorspiegeln werbe und auf der Reise eine Gelegenheit suchen, von ihren falschen Freunden loszukommen, so sträubte sich doch dagegen sowohl ihr gerader Charakter, als auch die so natürliche mädchenhafte Schüchternheit. Wer wußte, ob sich jene Gelegenheit fände? ob man sie nicht bereits in einen katholischen Zwinger gebracht, ehe sie an ein Entrinnen denken konnte? wer gab ihr auch zunächst die Versicherung, daß sie den Vater finden würde, sie, ein hilfloses unerfahrenes Mädchen ohne Schutz? ja, wenn Georg an ihrer Seite gewesen wäre! auf ihn, den besonnenen und entschlossenen Mann hätte sie jede Hoffnung gesetzt! aber ... allein?

Sie verlor sich in trostlosen Betrachtungen. Die Lainez verließ sie darin, um, wie sie vorgab, einen schnellen Gang durch die Stadt zu machen, um zu erfahren, was sich Neues zugetragen. Justine würdigte sie kaum eines Abschiedsgrußes und verschloß vor dem Türmer, der gern den Anfang seiner Bewerbungen gemacht hätte, die Türe.

Wie sie nun dasaß und überlegte, und zu keinem klaren Willen gelangen konnte, hörte sie auf der Galerie schwere klingende Tritte nahen. Ein Blick der Neugierde flog durch die ringsum freien Fenster des Belvedere.

Zwei Männer in Uniform erstiegen die Plattform, und der Voranschreitende, mit leuchtenden Achselbändern und einer vielfarbigen Schärpe geziert, von dessen Kasket eine breite Feder wehte, belobte alsobald die wunderschöne Rundsicht, deren man von dem hohen Standpunkte genoß. Pahlens, die Mütze in der Hand, trat zu ihm und beeilte sich, dem Besuchenden dienstfertig die verschiedenen Teile des großen Rundbildes zu erklären, nannte ihm die Hauptgebäude der Stadt, die umliegenden Dörfer, und ließ sich eines Breitern in die Erläuterung der bestehenden Wächter- und Feuerordnung ein. Der Offizier horchte freundlich zu, sendete Fragen auf Fragen, und schien mit seiner Expedition auf den Paulsturm sehr zufrieden. Sein Begleiter indessen, in derselben Uniform, doch ohne Silber und Schärpe und Feder und Achselquaste, ein gemeiner Reiter und dienender Gefährte des Offiziers, nahm keinen Anteil an dem Gespräche und wanderte einsam um die Galerie, bis er auf die, dem Offizier entgegengesetzte Seite zu stehen kam. Da legte er beide Ellbogen auf das Geländer, stützte sich auf diese und bückte sich nachdenkend hinunter. Justine war dem Menschen gefolgt. Er hatte, so fremd seine Kleidung war, so viel Bekanntes in seiner Haltung: neugierig lauschte sie, verwendete kein Auge von ihm, und ... als er einmal das Kasket abnahm, um sich den Schweiß abzutrocknen, als ein jugendlich melancholisches Gesicht darunter zum Vorschein kam – da bewegte sich Justinens Herz in unentschlossener Freude. Der Soldat war James, seine absichtslose Unbefangenheit ein Bürge, daß er hier nicht auf hinterlistigen Wegen wandle; daß er nicht, mit der Lainez einverstanden, gekommen war, um Justine mit eigner Hand noch tiefer in das Netz zu verwickeln, das sie bereits umgab. Vergessen waren alle Beweggründe, die einst Justinens Unmut gegen ihn gereizt hatten; sein soldatisches Kleid, für Weiberherzen stets ein Vertrauen erregendes, zeugte von einer gänzlichen Veränderung seiner Lage, sein Gesicht von bekümmertem Ernste. Justine fühlte sich hingezogen zu dem Jüngling, der ihr ein Bekannter, ein ehemals geschätzter Freund gewesen. Da der Vater geflohen, da Georg verschwunden – wo hätte sie eine Seele finden können, ihr verwandter, angehörender als dieser junge Mann? Er oder keiner war dazu gemacht, sie den treulosen Händen, worin sie sich befand, zu entreißen, und ein innerer Zug bestimmte sie zur Zuversicht auf ihn.

Ohne sich ihrer klar bewußt zu sein, hatten diese Gedanken den Sieg in ihrem Verstände, in ihrem Herzen errungen. Leise, aber dennoch nicht ohne Geräusch, hatte sie das Fenster aufgezogen. James sah sich um; Ueberraschung, Freude, Entzücken zogen auf seinem Gesichte die fröhlichen Wimpel auf. Justine, ihm verbindlich zunickend, winkte ihm, behutsam zu sein. Er legte beide Hände auf die Brust, sah sie voll Liebe an und erwartete ihr Begehren.

»Ich bin gefangen,« lispelte Justine englisch, »wenn Ihr, Herr, kein Verschworner der Lainez seid, befreit mich; doch behutsam.«

James, der bei dem Namen der Französin eine Bewegung des Abscheus nicht hatte unterdrücken können, antwortete rasch und ohne zu überlegen: »Mit Gottes Hilfe, Miß.« »Mein Vater?« fuhr zaudernd und ahnend Justine fort, »meine Zukunft? erfuhrt Ihr nichts? darf ich Euch vollends vertrauen?«

Die Sporen des Offiziers erklangen, des Türmers gellende Stimme erscholl; James winkte der holden Bittenden, sich zurückzuziehen. Sie stellte sich hinter den offenen Fensterflügel, den Engländer im Auge behaltend, der sich wieder an das Geländer lehnte, den Blick gleichgültig gegen Pahlens Taubenschlag kehrte und nach selbsterfundener Melodie ein Liedchen sang, das – nicht künstlich in Strophen und Reim geschnitten – in seiner Nationalsprache dem Mädchen zu wissen tat, was ihm not war; daß der Senator gerettet, daß er sie nach Amsterdam beschieden, daß James, ihre Spur verlierend, beinahe in Verzweiflung geraten; daß er die Lainez hasse, Justinen« Schicksal bedaure, und alles zu ihrer Befreiung und zu ihrer Rücklehr zum Vater aufbieten werde. Die Tore der Stadt seien wieder offen, und Justine würde noch am Nachmittage Nachricht erhalten.

Justinens Busen erzitterte von Wonne. Der Offizier machte jedoch dem improvisierten Liede ein Ende. »Brav,« sagte er in ziemlich schlechtem Deutsch, »ich sehe doch, daß Seine Melancholie ein Ziel hat. Wenn der Gesang auf die Zunge hüpft, wird auch das Herz ruhig. Er wird mich vollends zu Seinem Freunde machen, wenn Er aufgeweckt und munter ist.« James bückte sich, und wußte, auf geschickte Weise das Kasket in Stirn und Auge drückend, dem umherfaselnden Pahlens sein Gesicht aufs beste zu verbergen. Nach einigen Worten empfahl sich der Offizier und James folgte ihm dienstpflichtig. Der Schlüssel tragende Türmer geleitete sie hinab.

Wie schnell hüpfte nun Justine aus ihrem engen Zimmer! wie freudig tanzte sie auf der Galerie umher! wie verächtlich sah sie auf die düstere Stadt, wie wonnetrunken auf die fern hinziehenden Heerwege nach Westen, wohin der väterliche Ruf sie beschied. Sie fürchtete keine Tücke von James! sie rechnete auf das Uebergewicht, das sie über die Handlungen des Jünglings stets behauptet... und nur nach Freiheit, nach Vereinigung mit dem geliebten – unglücklichen Vater, lechzte, alle Bedenklichkeit vergessend, ihre Brust.

Und als Pahlens zurückkam, mit abgeschmackter Schmeichelei ihr näher trat, und den erbärmlichsten Witz, die traurigste Galanterie an sie verschwendete – als später auch die Lainez erschien, und ihr in einer wohlgesetzten Lüge erzählte, ihr Vater warte ihrer zu Steinstadt mit dem größten Verlangen und Pahlens werde sich ein Vergnügen daraus machen, sie hinzubringen – da lächelte sie kindlich unbefangen; die List sprach nicht aus ihren Augen, die krause Stirn verriet keinen Ernst, keine prüfende Ueberlegung. Sie schien die Vertrauende zu sein, die Einwilligende, die Zufriedene. Die Verbündeten glaubten ihr Spiel gewonnen, und nie war es so trostlos verloren.

Am Nachmittage führte der von Justinens Nachgiebigkeit bezauberte Pahlens selbst einen Balsamhändler auf den Turm, dessen verschmitzte Augen wie Blitze aus dem bleichen Gesichte strahlten.

»Der Kerl ist ein Fremder; es hat keine Gefahr!« sagte Pahlens zu den Frauen, die sich sträubten, auf der Galerie zu erscheinen, um die Galanterien auszuwählen, die ihnen der verliebte Türmer zu kaufen Willens war.

»Mein Gott! ist das nicht Monsieur Litzach?« fragte die Lainez nach einem Blicke auf den Händler. Dieser bejahte achselzuckend und freute sich, die Madame hier zu finden.

»Einer der Unsrigen!« flüsterte die Französin dem erstaunten Pahlens zu, »was macht Ihr aber mit diesem Kram?« fragte sie weiter.

»Ei nun, Madame,« antwortete der Schauspieler lächelnd, »da es mit der Komödie nicht fort wollte, und meiner Wohltäter Weizen auch nicht ferner blühte, gab ich mich einem Parfumeur als Hausierer hin; will sehen, ob das Geschäft Weib und Kind ernährt! Die Herren werden mich ja für die Zukunft nicht im Stiche lassen,« setzte er bedeutend hinzu.

»Seid meiner Fürsprache gewiß, wenn Ihr diskret seid!« sagte die Lainez mit Beziehung und warnend.

»Ich weiß, was ich meinen Glaubensfreunden schuldig bin,« entgegnete der Hausierer, der die Lainez verstand; und in dem Augenblicke, als die letztere sich zu Pahlens wendete, um ihm zu beteuern, er könne diesem Menschen vertrauen, hatte auch schon Justine ein Blättchen Papier in der zitternden Hand, Sie dankte dem listigen Ueberbringer mit einem Blicke und trat bald hinter einen Vorsprung des Turms, um die Post zu lesen.

James schrieb: »Sein Sie um zehn Uhr abends an der Pforte des Turms. Ich mußte meinen Kapitän ins Geheimnis ziehen. Er läßt Sie in seinem Wagen fortbringen, weil er ein braver, ritterlicher Mann ist. Es quält mich, daß meine Pflicht mich hier zurückhält. Sie sollen indessen – so Gott will – ein Mehreres von mir erfahren.«

Das Billet flog zerrissen über das Geländer. Nachdem Pahlens seine Geschenke gemacht, nachdem Litzach hinweggegangen, setzte sich Justine in ein Winkelchen; ging mit sich zu Rate. »Was in aller Welt hat Herrn White zum Soldaten gemacht?« fragte sie sich, »und darf ich mich wohl der Diskretion des Kapitäns anvertrauen?« Ihre Herzhaftigkeit überwand den Zweifel; sie fühlte sich über Furcht erhaben und suchte nur nach Mitteln, dem verschlossenen Turme, den Pahlens stets selber öffnete, um die bestimmte Zeit zu entkommen.

Endlich gelangte sie mit dem Plane aufs reine. Sie wollte gegen die zehnte Stunde, mit welcher der ablösende Wächter im Turme einzutreffen pflegte, ihr Lager verlassen, die Treppen hinabschlüpfen und hinter einer Säule am Eingange den Türmer erwarten, wenn er kommen werde, dem Wächter zu öffnen. Sie wollte alsdann herzhaft den schmächtigen Pahlens zurückstoßen und an dem Wächter vorbei durch die offene Türe entspringen. Pahlens Vorteil, dachte sie, würde ihn bewegen, keinen Lärm zu machen, und der Retter nicht weit vom Turme ihrer warten.

Von ihren Hoffnungen ermutigt, hörte sie mit vieler Geduld die Schmeicheleien der Lainez, die Albernheiten des Türmers an, womit diese, ihr zu gefallen, den Abend töteten, und suchte frühzeitig das Lager auf. Die Lainez löschte die Lampe aus und entschlief bald an Justinens Seite. Diese letztere versäumte keinen Augenblick. Sie war angekleidet geblieben; sie hatte das Päckchen, das ihren Schmuck und ihre Sparpfennige enthielt, unter ihr Kissen verborgen; dieses und die Schuhe in der Hand, entriegelte sie so leise als möglich die Türe, fühlte sich das steile Treppchen hinab. Die Stiege knarrte, Justine erschrak; zum Glücke jedoch klimperte Pahlens, in dem Lehnstuhl seines Zimmerchens hingestreckt, auf der Laute und kämpfte mit dem Schlafe, Justine bemerkte dies, durch das Türfensterchen schauend, und dankte dem Strahle des durchschimmernden Lichts, der ihr die ersten Stufen der Wendeltreppe zeigte. Mutig betrat sie den dunkeln Weg, vorsichtig den Strick anfassend, der als Geländer diente. Endlich kam sie in den Bereich der Glockenstube, wo die Wendelsteige aufhörte und die breitern hölzernen Treppen begannen. Eine falbe Sternenhelle schlug durch die riesengroßen Fenster. Das Uhrwerk webte und regte sich mit wunderlichem Geräusch neben der Fliehenden. Sie enteilte der schauerlichen, in abgemessenem Takte pickenden und schnarrenden Nachbarschaft. Ein schützender Geist führte sie die geländerlosen Stiegen, dicht am Rande einer rabendunkeln Tiefe, hinab, Ungeziefer raschelte über ihren Pfad, hüpfte und kletterte auf und ab neben ihr; begleitete sie bis in die unterste Halle, wo sie hochatmend stille stand, hinter die Säule, die sie erfaßte, schlüpfte und mit hoffender Seele wartete; denn schon glaubte sie, den herannahenden Wächter zu hören; doch – das war nicht der Schritt eines Einzelnen; mehrere – immer näher kommend ...; »sind's die Retter?« fragte sie sich mit gespannter Aufmerksamkeit ...

Und plötzlich wurde es sehr laut vor der Türe; viele Stimmen, Flintengerassel, rohe Reden, Spott, Gelächter, starker Schellenlärm; der vielstimmige Ruf nach der Höhe endlich: »Im Namen des Magistrats!« Laternenglanz fiel durch das Schlüsselloch. Justine schreckte auf. »Das sind Verfolger!« klagte ihre ahnende Seele ... »sie kommen, dich zu fangen! Deine Freiheit soll verloren gehen! Oeffnet sich die Türe, so gerätst du mitten in die Feinde!«

Sie wendet sich entsetzt zum Rückwege. Sie eilt die Treppe hinan. Neue auflodernde Angst. Von oben naht sich Schlüsselgerassel, Lampenschein ... Pahlens unzufriedenes Schelten! Dem verhaßten Menschen, den Verfolgern zu entgehen ... Wo das Mittel? Ihre Hand tappt nach der Seite der Uhrstube, neben welcher sie wieder ist. Sie findet eine angelehnte Türe, drückt sie auf, stürzt hinein ... klammert sich bebend an zwei dicke Pfosten fest, neben welchen durch man zum Uhrwerk geht. Sie läßt Pahlens vorüber gehen, hört ihn die Türe öffnen, hört, wie man ihn gewaltsam ergreift, festnimmt, zwingt, den bewaffneten Troß hinauf zu führen, während unten sorgfältig die Türe wieder verschlossen wird. Wenige Minuten, und der Schwarm kömmt zurück. In seiner Mitte jammert der arretierte Pahlens. »Verdammter heimlicher Katholik!« ruft eine Stimme, »du sollst schon reden lernen!« und fort tobt die Schar und verläßt den Turm.

Die Pforte fällt zu; Schlüssel drehen sich im Schloß; schwere Tritte kommen die Treppen herauf. Der neue Wächter gewinnt die Höhe. Seine Tritte verhallen, seiner Lampe Schimmer vergeht; alles wird still – totenstill, und trostlos errät Justine, daß sie ganz verlassen geblieben. Keine Hoffnung zu entkommen ... kein rettender Zuruf von außen. Unter der Last ihrer Angst wanken ihre Kniee, schwindelt ihr da« Haupt. Da fängt das Uhrwerk an zu rasseln wie Gewitterlärm, Walzen und Räder knarren, pfeifen und rauschen, und die furchtbar große Glocke schlägt an, als ob jeder Streich Justinens Leben zu vernichten hätte. Die Erschütterte sinkt unter den donnernden Schlägen, die nicht endigen wollen, zusammen. Ihr Bewußtsein schwindet.


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