Der Jesuit
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Dritter Abschnitt.

Der Freier. – Jakobinens Geheimnis. – Des Senators Tröster. – Georg Birsher. – Tischgespräche. – Häuslicher Sturm. – Justinens Opfer. – Abendunterhaltungen. – St. Sebastian und die heilige Pulcheria. – Das Gespenst. – Der Superior. – Seine Philosophie. – Wut der Leidenschaft. – Qual der Schuld. – Neues Ungewitter. – Der Heilige unter den Myrten. – Die Geisterbannerin. – Verlobung. – Vorträge auf der Promenade. – Plaudern zur Unzeit.

Nothhaft war schon seit den ersten Frühstunden im Hause des Senators herumgegangen – glänzend, strahlend, hoffärtig wie ein Pfau. Feiertäglich geputzt, vom Tressenhute bis zur schweren Silberschnalle am Korduanschuh mit dem leuchtenden Absatze, hatte er mehreremal an die Türe des Prinzipals geklopft und murrend von der verschlossenen Abschied genommen. So hielt er Schildwachtposten und Schildwachtgang durchs ganze Haus, getraute sich aus Respekt nicht den Fuß in der Senatorin Zimmer zu setzen und hielt es unter seiner Würde, in die Schreibstube zu treten, durch deren Fensterchen Berndt den geputzten Wandler mit neugierig neidischen Augen betrachtete. Endlich, von mancher Prise Tabak gestärkt und an dem Glauben haltend, daß Geduld alles überwinde, besiegte der Kommis, der nichts Geringes im Schilde führte, die schleichende Zeit und seinen Unmut. Die Haustüre ging auf, der Senator kam heim. Mit einer vertraulich patzigen Verbeugung empfing ihn Nothhaft an der obern Treppenstufe und sein Herz lachte im stillen, denn sein Benehmen schien zu wirken.

Der hochfahrende Senator hatte völlig die Miene eines betretenen Kindes angenommen. Seine Stirne lag zwar glatt und freundlich, aber in den Augen saß eine gewisse unerklärliche Demut und seine Stimme war lammfromm und gemäßigt.

»Was verlangt Er, mein Sohn?« fragte der Senator, nachdem er den Kommis in seine Stube gewinkt; und stolzer hielt Nothhaft sein Haupt, und nachlässiger spielte er mit dem Uhrbande.

»So geputzt?« fuhr Müssinger fort, mit niedergeschlagenen Augen den umherschweifenden des Dieners ausweichend, »ich wette darauf, der junge Herr will mich besänftigen, daß ich nicht zürne, weil er bereits zween Tage lang gefaulenzt hat? Danke Er Gott, Monsieur, daß ich nicht so strenge wie der Buchhalter bin, und mich überhaupt heute in einer Laune befinde, die mich nicht leicht zum Zanken kommen läßt. Es sei Ihm alles vergeben, aber kontinuiere Er dafür in Seinem vorigen Fleiße.«

»Er hat sich hier nichts zu vergeben, Herr Senator und geschätztester Prinzipal,« antwortete Nothhaft ziemlich dreist und nachdrücklich, »die Ursache meiner Abwesenheit von dero Kontor wird mich, so hoffe ich, sehr gnügend entschuldigen. Ich bin hier, um dieselbe gebührend vorzutragen, da Ew. Edeln Geschäfte gestern und vorgestern mir solches unmöglich gemacht. Freilich sollte ich gebührenderweise schwarz wie ein Tintenfuß vor Ihnen stehen; allein, erstens hat der saumselige Schneider mich noch nicht mit Kleidern versorgt, und zweitens will sich's nicht wohl ziemen, da eine fröhliche Botschaft an der traurigen hängt, daß ich ihrer im fröhlichen Kleide gedenke. Wissen Sie demnach, Hochzuverehrender, daß mein Herr Vater, bis dato Kaufmann und Ratsherr in meiner Geburtsstadt, am verwichenen Freitage im siebzigsten Jahre seines Alters das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht hat. Ich bin sein einziger Erbe in Haus und, Gewölbe geworden, und, wie mir schmeichelhafte Verwandte versichern, würde der Magistrat sich nicht lange sperren, mir auch den Ratsstuhl des Verewigten als vollgültiges wohlerworbenes Erbe zu überlassen.«

Der Senator war unwillkürlich vom Stuhle aufgestanden, hatte einen nebenstehenden Sessel herbeigezogen und winkte lächelnd und verbindlich dem Kommis, Platz darauf zu nehmen. Nothhaft ließ sich nicht lange bitten und indessen sprach Müssinger sehr freundschaftlich: »Sehen Sie, bester Herr Nothhaft; der Tod ist so eigentlich kein Unglück, sondern ein Soll, das früher oder später jeder Lebensnegoziant zu saldieren hat. Trösten Sie sich demnach über den herben Verlust und genehmigen Sie den wärmsten Ausdruck meiner Teilnahme an Ihrem fernern Wohlergehen. Dieses wird nun freilich lediglich von Ihnen abhängen, denn Sie haben in meinem Geschäfte von der edeln Handelswissenschaft ohne Zweifel so vieles profitiert, daß Sie ganz gut auf dero eigenen Füßen werden stehen können. Behalte mir demnach nur die Fortdauer Ihrer freundschaftlichen Anhänglichkeit vor und bitte mir zu nächstem Sonntage die Ehre aus, Ihnen mit einem Löffel Suppe aufwarten zu dürfen, wie ein Handelsfreund dem andern.«

Müssinger hätte hier gerne, nachdem er der Förmlichkeit ihr Recht gegeben, das Gespräch beendigt, aber Nothhaft saß immer noch breit und lässig im Stuhle, nickte vornehm dankend mit dem Kopfe und hob an, die Zwiesprach weiter fortzuspinnen.

»Eben darum, geehrter Herr Senator,« sagte er, »weil ich weiß, wie förderlich mir Ihre Freundschaft ist, und gewesen, sowie auch die meinige vice versa, so unterstehe ich mich, an obige Trauernachricht ein artiges Vergnügen zu knüpfen, indem ich auf ein Band hinweise, das unsre bisherige Freundschafts-Sozietät zu befestigen geschickt sein möchte. Mein seliger Herr Vater hat jeden Albus sechsmal umgewendet, ehe er ihn ausgab, und vermittelst dieses Grundsatzes einen ansehnlichen Kasten voll harter Taler zusammengespart: ein Tuchgeschäft in vollem Gange, eine Weinfabrik, ein wohleingerichtetes Haus, Gartenland und Ackerfeld, Brunnen und Stall, Geschirr von Silber und Ringe von Gold. Alles dieses ist mein und mir geht nichts ab, als ein Weib. Ich halte demnach, geziemend und gebührend, um Ew. edeln Tochter an. Jungfer Justine ist zwar ein schwieriges, schnippiges Ding, aber ich mag sie doch wohl leiden, und hat man erst ein Dutzend Wochen im Ehestande zugebracht, so findet sich alles hinterdrein.«

Der Senator saß verstummt da und lächelte vor sich hin, ob aus Spott oder aus Ueberraschung? Dann erwiderte er ziemlich treuherzig: »Lieber Herr Nothhaft! Sie tun mir unleugbar eine Ehre an, so wie Justinen. Aber, Bester! sollte es Ihnen denn unbekannt sein, daß meine Tochter noch immer versprochen ist? Bevor Herr Birsher junior nicht sein Wort und das meinige aufgegeben ...«

»Täuschen Sie sich noch beständig mit dem Bräutigam aus Neuyork?« fragte Nothhaft achselzuckend, »geben Sie um Gottes willen die Anwartschaft auf. Der junge Herr wird an Deutschland gedenken und über kurz oder lang wohl die Brautgeschenke wieder einfordern lassen, die sein armer Papa hieher bringen mußte, aber sicher nicht die Braut.«

»So?« fragte Müssinger etwas gereizt, »woher wissen Sie das? Sind Ihre Briefe sicher?«

»Hm!« antwortete Nothhaft ruhig und bedeutend, »ich meine nur ...; wenn ich der Sohn wäre – ich könnte nimmer in das Haus heiraten, worinnen man meinen Vater ... begraben hätte.«

Des Senators Mundwinkel zuckten krampfig, »Man muß es darauf ankommen lassen,« sagte er trotzig.

»Lassen Sie's nicht ankommen,« fuhr Nothhaft fort, »verkennen Sie Ihren Vorteil nicht. Eine Verbindung mit mir ist Ihnen heilsamer, als eine Verwandtschaft mit dem Amerikaner. Ich habe zwar keine Million in Kassa, aber einen Mund, der schweigen kann, und einen milden Verstand, der mit dem Mantel der Liebe allzeit fertig und bereit steht, wenn gewisse Menschenirrtümer zur Sprache kommen wollen.«

»Wieso? Wie begreife ich, was Sie mir sagen?«

»Denken Sie an des alten Gastfreundes Sterbetag. Gedenken Sie des seltsamen Sterbefalls...«

»Und nun, Monsieur? Was will Er... was wollen Sie damit sagen?«

»Der Pistolen auf der Diele, der verzettelten, gerade noch vor Torschluß möchte man sagen, quittierten Wechsel... oder Verschreibungen...«

Der Senator wurde weiß wie die Wand, stand auf, schöpfte tief Atem und sagte mit gepreßter Stimme: »Sie sind ein schauerlicher Patron, und verstehen's, solche unangenehme Todesauftritte recht täuschend zu schildern, daß man sich unwillkürlich fürchten möchte.«

»Herrlich!« rief Nothhaft, »um so schneller werden Sie mit der Heirat in Ordnung kommen. Schlagen Sie ein, Allianz! Respekt dann vor Ihrer Firma!«

»Ei! den müssen Sie auch haben, junger Mensch!« fuhr der Senator auf, »haben ohne Allianz! Sie tun absonderlich vertraut mit mir, mehr als sich's schicken dürfte! Werden wohl beraten sein, wenn Sie dieses unterwegs lassen!«

Nothhaft sah den Aufblitzenden stutzig und verblüfft an. Die auflodernde Hitze reute indessen den Senator im Augenblicke. Er beruhigte sich gewaltsam, murrte ein finsteres »Pfui!« gegen sich selbst gerichtet, in den Bart und fuhr fort: »Verzeihen Sie mir den Ausfall. Ich habe mir vorgenommen, mich nicht zu erzürnen, aber die Zunge läuft manchmal wie ein toller Deserteur davon. Mit Permiß! so wir uns alterierten, wollen wir wieder Freunde sein. Das Schätzbare Ihrer Werbung ist mir nicht entgangen; aber sagen Sie selbst: ist es möglich, Ihnen etwas, das geringste aufmunternd zuzusagen, da der junge Birsher selber hier eingetroffen ist?«

Nothhaft sprang überrascht vom Sessel. Er studierte lange an dem Ernste in des Senators Augen; dann sprach er hitzig, wie ein Pfeil schwirrt: »Wenn's in der Tat also ist, Herr Senator, so heißt's kurz resolviert. Ueberlegen Sie genau, wie's anzufangen sein möchte, damit der Herr von Neuyork nicht ans Ueberlegen komme. Parbleu! Ihr Jawort ist so gut als schon in meiner Tasche. Justinens wird sich dann schon finden. Apropos indessen Ew. Edeln, dem ehrlichen Freiersmann kann es nicht angenehm vorkommen, wenn sich die Braut an ein fremdes, leider malhonnettes Volk hängen will. Jungfer Justine ist in der Edukation sehr vernachlässigt.«

»Monsieur Nothhaft!« sagte Müssinger erstaunt und wieder böse werdend.

»Na! ruhig im Gemüte, Herr Senator! Ich hab's aus guter Quelle. Der englische melancholische Junker, der hier im Hause den Sprachmeister abgibt, der verdient's, daß Sie ihm böse, gram und giftig werden. Er hat Justinen gekirrt; Parbleu! ich weiß es sehr genau. Morgenpromenaden – im Frührot – Berndt hat's mit angesehen, wie sie plauderten, wie sie Abschied nahmen. Solche Lustwandeleien im Morgentau mögen vielleicht unter den grobhäutigen Engländern gäng und gäbe sein, aber der gute Ruf unsrer deutschen Töchter und Schwestern bekömmt leicht davon den Schnupfen.«

»Ich werde die Sache untersuchen,« erwiderte der Senator strenge, wendete sich aber von dem Freiwerber ab, damit er nicht die Röte der Scham auf seiner Stirne bemerke, »verlassen Sie sich darauf: ist's wahr – soll's gewiß nicht mehr geschehen!«

»Dann bin ich um meiner Jungfer Braut willen bereits kontent!« äußerte Nothhaft, den Weg zum Abschiede suchend. Der Senator ermangelte nicht, dem Zuversichtlichen zu bemerken, daß seinem Ansuchen bei weitem noch kein Amen gesprochen worden, aber unwillkürlich nahm seine Rede einen trügerischen Schein an, und Nothhaft – wäre er auch nicht der alte dumm-dreiste und hochmütige Geck gewesen, wie sonst – hatte Ursache, mit mancher Hoffnung von dannen zu gehen.

»Verzeihe mir der Himmel die Sünde, wie er mir heute bereits die schwereren vergab!« sagte der Senator leise vor sich hin, wie im Gebet, »ich konnte mir in der Verlegenheit des Augenblicks nicht anders helfen. Der freche Tölpel, der ein Endchen meiner Geheimnisse kennt, muß berücksichtigt werden; wenigstens, bis er die Stadt im Rücken, den Weg nach seiner Heimat unter der Sohle hat.« Er ging hin und her in der Stube, musterte seinen Schreibtisch, seine Bücher, zuckte auf wie vor dem Anblick einer Schlange, als er die bestaubte Hauspostille darunter gewahr wurde, schob sie mit unmutiger Hand in einen klaffenden Wandschrank, und reinigte dann die Finger vom Staube. »Wie dieser Anblick mich plötzlich an die Jugend erinnert hat!« sagte er mit wehmütigem Vorwurfe zu sich selbst, »dieses Buch, woraus ich meinen Eltern den Abendsegen lesen mußte, dessen Hauptpredigt- und Erbauungsstellen ich auswendig gelernt hatte, trotz dem Vaterunser ... Dieses Buch, worein der Vater alle Begebenheiten unsers Hauses verzeichnete, wie eine Geschlechterchronik, dieses Buch soll mir von nun an ein Greuel sein!« Er seufzte, drückte jedoch den Wandschrank entschlossen zu und zog ein kleines Büchlein aus dem Busen, das er mit einer seltsamen Mischung von Neugierde, Zuversicht und Zweifel betrachtete. »Du sollst in Zukunft mein Hort sein?« fragte er flüsternd und setzte, darin blätternd, hinzu: »Ihr Heiligen alle, deren Häupter aus diesen Bildern, mit Dornen und Blut bekränzt, schauen! nehmt Euch meiner an, daß ich nicht vergehe in mutlosem Schwanken! wahrt mir doch den Frieden, den ich kaum durch einen beispiellos raschen Entschluß gewonnen!« Sein Blick fiel auf den Rand eines Kupferstichs, und in dem Blicke ging es auf wie ein Fieudenfeuer. »Münzner! Münzner! ist das nicht Klaras Weltname? Und ist sie nicht der Engel, der heute mein Pate gewesen? Und ich sollte friedlos bleiben, da sie für mich zu den Füßen des Heilands betet? Mut, mein Herz!« Die Glocke, die zum Frühstück rief, ertönte.

Der Senator versteckte da« Gebetbuch, zog sein Gesicht in die gebieterischen Alltagsfalten, und begab sich zur Wohnstube. Der Kaffee dampfte von dem blaudamastenen Tafeltuche, das glänzende goldgeringelte Porzellan, berührt von dem schweren silbernen Geräte, erklang hell; im übrigen blieb es stumm in dem kleinen Kreise. Die Senatorin, die kaum den Morgengruß des Mannes erwidert hatte, saß, zwar ihm zur Seite, aber dennoch halb von ihm gewendet, und genoß, die Tasse in der bequem ruhenden Hand haltend, das Frühstück und den Morgenstrahl, der durchs Fenster schlug, zugleich. Justine hütete mit besorgten Blicken bald den stillen Vater, bald die feindselige Mutter, und bestellte die Frühstücksangelegenheit; schenkte ein, bediente, nötigte wie es der Brauch war. Berndt saß unsern, wie ein Lämmchen, unfähig, ein Wässerchen zu trüben, unterrichtete bald den Prinzipal von den Arbeiten, die er heute schon getan, bald schoß er lauernde Blicke nach dem Mädchen. Der ernste Buchhalter, gegen jede Kaffeebedienung deprezierend, zum zwanzigstenmal behauptend, daß er bereits in aller Frühe seine Portion genossen, stand hinter dem Herrn und produzierte eine eingelaufene Missive nach der andern, eine Reihe abzusendender und eine Menge, der Unterschrift bedürftiger Papiere. Müssinger las und unterschrieb schweigend, sandte den Buchhalter hinunter, beschied Berndt in einer Stunde auf seine Stube und fragte, nachdem auch dieser feuerrot hinweggegangen, mit ungewöhnlich fünftem Tone: »Wie nun, Jakobine, und du mein Justinchen? Ist denn schon die Tafel für den zu erwartenden Gast geordnet?« Justine wollte die Mama antworten lassen, aber die Senatorin hatte dazu keine Lust. Mit einem tiefen Seufzer setzte sie die Tasse geräuschvoll hin, kehrte dem Senator völlig den Rücken und starrte ins Blaue. – »Ei, Jakobine ...!« sagte Müssinger hierauf staunend und gereizt, näherte sich der Schmollenden und wollte die Hand auf die Lehne ihres Stuhles legen, um sich vertraulich zu ihr herabzubücken; aber wie vor einem Skorpion fuhr die Senatorin empor, wischte schnell mit ihrem Schnupftuche die Stelle ihres Kleides ab, woran zufällig sein Finger gestreift hatte, und schritt trotzig und stumm ins Seitenzimmer. Die Türe ging krachend hinter ihr zu. – »Was bedeutet das?« fragte Müssinger, seine Erregung kaum bezwingend. Justine erzählte schüchtern und verlegen, daß sich der Mutter Betragen seit ihrem Spaziergange von gestern nach dem Ritterhofe geändert habe; daß sie nichts über die Veranlassung zu diesem stummen Groll geäußert, und daß sie, Justine, von der Sache nicht das geringste begreife. – »Mit wem hat deine Mutter draußen gesprochen?« fragte der Vater mit krauser Stirne. Justine gestand, daß sie, in Scherz und Gelächter mit andern Personen ihres Alters und ihrer Bekanntschaft vertieft, es nicht bemerkt habe.

»Welche unselige Grille beherrscht das Weib nun wieder!« sagte der Senator empört, aber wie mitleidig die Achseln ziehend, »ist denn wohl ein Hausvater in dieser Stadt, der unglücklicher wäre, als ich? Diese stumpfsinnige Xantippe, die mein Leben verbittert ...«

Justine flog mit tränendem Auge an seinen Hals und fragte: »Lieber Vater! Sind Sie denn auch mir böse? Verdiene auch ich Ihren Unwillen?«

Der Senator sah sie gerührt an, schob sie dann, plötzlich verfinstert, von sich und antwortete: »Unter deinen Fehlern vermißte ich wenigstens bis heute die Heuchelei. Nun tritt auch diese hervor. Ungeratene mit dem Unschuldsblick! Wohin hast du dich verirrt? Mit einem jungen Manne, der mein Vertrauen verrät, bist du am frühen Morgen auf den Gassen der Stadt gesehen worden, Bekenne! wohin führen diese Gänge? und seit wann?«

Justine erbleichte ein wenig; allein sie war bald wieder gefaßt, »Berndt hat mich verleumdet,« sagte sie ruhig, »der Schleicher trat auf meinen Fersen in das Haus. Glauben Sie dem Menschen nicht. Verlangen Sie jedoch nicht, daß ich Ihnen mehr von dem Morgengange sage, als daß er nur ein einziges Mal – gestern – stattgefunden, und daß ich die Hütte einer Armen aufgesucht. Um alles übrige befragen Sie, wann es Ihnen gefällt, den Monsieur White selbst.«

»Welch ein kühnes Vertrauen!« rief Müssinger, »ich will glauben, daß noch die Sünde nicht mit euch ging. Was soll aber daraus in Zukunft werden? Du wirst, hoffe ich, nicht den törichten Gedanken hegen, den bettelarmen Baronet, obendrein zu einer Zeit, wo dich noch andere Bande fesseln, die vielleicht fester zu knüpfen, dein Verlobter kam ...«

»Vollenden Sie nicht, Herr Vater,« versetzte Justine, »lernen Sie mich besser kennen, Ihre Besorgnisse sind grundlos. Da Herr Birsher hier angekommen, schickt sich's ohnehin nicht, daß ich den Besuch eines Mannes ferner annehme. Sie werden mich verbinden, wenn Sie Herrn White heute schon entlassen. In Frieden, denke ich, wenn Sie meinen Ruf schonen wollen. Was Berndt betrifft ...«

»Das ist meine Sorge!« ergänzte der Senator und eilte auf seine Stube, wo sich Berndt demütig und bald einfand.

»Er hat sich erlaubt,« fuhr ihn der Prinzipal mit Strenge an, »meine Tochter durch böse Nachrede zu verunglimpfen, und ihr einen Spaziergang zum Verbrechen zu machen, von dem ich unterrichtet war, und der einer Armen galt. Verleumder und Züngler dulde ich nicht in meinem Hause. Er hat sich um einen andern Dienst umzusehen, und mit Ablauf des Quartals von meiner Schreibstube abzuziehen.

Stumm und niedergeschlagen entfernte sich Berndt und murmelte zwischen den Zähnen: »Das kommt von Nothhaft, dem neidischen Bengel! Das gedenk' ich ihm!«

Der Geist der Verdrossenheit hatte sich auf Müssingers Dach gelagert. Ein dumpfes Mißbehagen bedrängte alle, die darunter wohnten, Justine ausgenommen, die mit unbefangnem Herzen, mit klaren Augen die Zukunft musterte. Freilich mischte sich auch in diese unbefangene Klarheit dann und wann ein wenig Unruhe, wenn sie an den Verlobten dachte, der so plötzlich erschienen war; von dessen Wollen und Wünschen noch nichts verlautet hatte. »Wie wird er die Sache entscheiden?« fragte sie sich, »und will er mich noch heimführen, oder hat der Tod seines Vaters seinen vielleicht erzwungenen Vorsatz geändert? Aber, wie sieht wohl der junge Mann aus?« fragte sie sich noch weit öfter, und erbebte ein bißchen, dachte sie sich des alten Birshers Korpulenz, seine Perücke, seine Manieren, die sich vielleicht alle, wenn auch nach verjüngtem Maßstabe, in dem Sohne wiedergaben, wie im Spiegel. Werde ich ihn heiraten? war natürlich die letzte, die bedeutendste Frage, die Justine an ihren Verstand, an ihr Herz richtete. Der Verstand, der den Reichtum und das daraus entspringende heitere Leben zu schätzen wußte, sagte allerdings: Ja! aber das Herz? In diesem verborgensten Winkel tauchte von Zeit zu Zeit, einem spielenden Geist zu vergleichen, ein Bild auf, angenehm in seinen Zügen, unangenehm jedoch in seiner Bedeutung: James. – Justine wurde nun sehr ernsthaft, sehr unruhig, und dankte dann dem Himmel von ganzer Seele, als dieses Bild nach kräftigem Bedenken mit einem Male verschwand und nimmer wieder kam. So halte ich dem besorgten Vater Wort und meiner eigenen Würde! sagte sie gleich einer Siegerin und ging, eines hellen Entschlusses voll, die Schlüssel des Hauses einzufordern, um das Gastmahl zu rüsten.

Frau Jakobine machte gar keine Schwierigkeit, auch heute die Wirtschaft dem Mädchen anzuvertrauen. »Du wälzest einen Stein von meinem Herzen!« sprach sie, die Schlüssel hinreichend und wieder in die Kissen des Kanapees versinkend, in denen sie sich ausnahm, wie eine im Nachdenken Verlorne.

»Darf ich nicht wissen, was Sie beängstigt oder ärgert, liebste Mutter?« fragte Justine mit sanfter Teilnahme. Die Mutter schlug die Hände zusammen und schüttelte den Kopf mit Heftigkeit, »Frage mich nicht, Justine!« sagte sie alsdann mit phlegmatischem Pathos, »es wird die Zeit kommen, da sich alles enthüllen wird. Armes Kind! und ich ... eine arme Mutter! Mir bleibt nichts übrig, als zu überlegen, wie wir beide einer großen Seelengefahr zu entrinnen haben. Gott wird ja einen Engel schicken! Behalte indessen die Schlüssel dieses unseligen Hauses! In meinem Leben rühre ich sie nicht mehr an!«

Sie schwieg verstockt und Justine fürchtete für den Verstand der Mutter.

»So werden Sie mir doch erlauben,« sprach sie, »eine Gehilfin zu erwählen; denn in der Zeit, als Herr Birsher hier aus und ein gehen wird, dürfte es viel zu tun geben, dem ich allein nicht gewachsen wäre.«

»Wie du willst. Gott segne den Herrn Birsher! Er hätte aber besser getan, zu Neuyork zu bleiben. Wen willst du jedoch dir zur Seite setzen?«

»Eine Freundin, Madame Lainez, eine Französin.« – »Wer ist die Person? Ich kenne sie nicht.« – »Die Frau Syndikus empfahl sie mir,« versetzte, um eine Antwort etwas verlegen, Justine. – »So?« erwiderte Jakobine mit großen Augen, »meinethalben dann. Die Syndikussin empfiehlt sicher kein Gesindel; sonst möchte ich wohl geraten haben, auf der Hut zu sein. Die Franzosen machen gerne lange Finger, und bei Gelegenheiten, wie die heutige ...« – »Lassen Sie mich walten, Mutter, und erheitern Sie sich. Dieser unbegreifliche Mißmut würde den Gast verschüchtern und den Vater erzürnen.« – »Den Vater?« rief die Mutter zusammenfahrend aus, »schweige von ihm. Ich will nichts von ihm wissen, nichts von ihm hören! Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen. Du wärest nie geboren worden!« – »Mutter!« – »Ich wollte, meine Augen müßten den fremden Gast nicht sehen. Aber, nicht wahr, es wäre unschicklich, wenn ich bei Tische fehlte?« – »Gewiß, liebe Mutter! Bedenken Sie selbst, die Frau vom Hause ...«

»Mein Heiland, ja! Was muß man nicht tun, um der Schicklichkeit willen? Was muß man nicht verschweigen und verbeißen um bei Schande willen! Ach, liebste Tochter, ich werde viel leiden an dieser Tafel! Jeder Bissen wird mir im Munde quellen. Ach Gott! verzeihe mir meine Sünden; womit hab ich aber all diese Not verdient?«

»Ich fürchte mich bei Ihnen, Mutter!«

»Bei mir?« ächzte da« Weib, das sich mit Gewalt in eine Aufregung versetzte, die sich lächerlich und peinlich zugleich ausnahm, »bei mir, du gottloses Kind? Und ich bin doch ein Lamm, wie Schnee so rein; und ich habe dich zur Welt geboren, und ich sinne und sinne seit gestern, daß mir der Kopf schwindelt, wie ich dich, meinen Herzensschatz, mit mir zugleich erretten kann. An mir sollst du dich halten, und nur Gott fürchten in Demut, und ... deinen Vater in Angst! Fürchte dich vor dem Vater, wie das unschuldige Lamm vor dem Wolf! Tue von heute an nie mehr, was er begehrt, denn er begehrt nur unser Verderben.«

Justine sah die Frau, die sich wie eine in Wahnsinn fallende zerängstigte, mit großen Augen, dann mit Mitleid, dann mit Geringschätzung an, drehte sich endlich kurz und gut um, und sah nach ihren Pflichten.

»Was ich versprochen, kann ich heute schon mit dem Segen Gottes beginnen,« schrieb sie in Eile an die Lainez, »kommen Sie, gute Frau. Versuchen Sie es fürs erste auf ein paar Tage, wie es Ihnen gefallen möchte bei Ihrer herzlichen Freundin Justine.«

Sie sendete diesen Zettel durch den dümmsten Packknecht ihres Vaters in den Johanniterhof an die Adresse und verlor im Drang ihrer überhäuften Geschäfte bald die seltsamen Launen ihrer Mutter, sogar den eingeladenen merkwürdigen Gast aus den Gedanken.

Indessen hatte sich bereits ein anderer Geladener in des Senators Stube eingestellt. Müssinger erkannte selbst beinahe den Eintretenden nicht, so sehr veränderte diesen der schwerbetreßte Rock, die ansehnlich bauschende Halsbinde und die große weiß erglänzende Perücke.

»Im Namen des Herrn und Heilandes!« sagte der Kommende, Doktor Leupold, mit leiser Stimme.

»Amen, und willkommen, hochwürdiger Herr!« antwortete der Senator ebenso, und ging dem Doktor entgegen, ihm die Hand zu küssen; eine Ehrenbezeugung, deren sich Leupold weigerte.

»Lassen Sie diese Förmlichkeit der Jugend und dem Volke, die in Respekt gehalten werden müssen, mein werter Beicht- und Taufsohn,« sprach der Doktor. »Unser Verhältnis sei das eines Freundes zum Freunde. Ich finde Sie mit den Büchern beschäftigt, deren Studium ich Ihnen empfahl, und frage nicht, ob die heutige bedeutungsvolle Frühstunde Frucht getragen oder nicht. Im Herzen des Frommen gedeiht stets die himmlische Speise, und der schnellste Entschluß belohnt sich am schnellsten. So wären wir denn nun eins in Gott und seiner Kirche, bester Herr, und Sie haben ohne Zweifel die Gnade recht empfunden, die unser Heiland und Erlöser in Ihnen erweckte? Die Huld unserer barmherzigen liebreichen Mutterkirche, die Ihnen erlaubt hat, alle Vorübungen, Prüfungen und Bräuchlichkeiten zu überspringen, um sich so schnell als möglich in ihre Arme zu werfen? Das Glück, das ich genoß, ich, eines der geringsten Rüstzeuge, die im Felde des Herrn zu seiner größern Ehre streiten, Ihr Führer zur Himmelsleiter sein zu dürfen, erfüllt mein Herz mit seligem Behagen. Und auch in Ihrem Heizen, mein Sohn, ist nunmehr Friede; nicht wahr?« »Wenn Glaube an unbedingte Erlassung Friede ist, so genieße ich des Friedens,« antwortete Müssinger.

»Glaube ist allerdings der schützende Schild, und seine Wohltat zögert nicht. Ich wette darauf, Herr Senator, Sie erwarten nun mit sicherem Fuße den Gast, vor dem Ihnen gestern noch gegraut.«

»Ihres Beistands versichert, ohne Zweifel.«

»Des Beistands des Herrn und seiner Scharen, deren Engelfittich auch den Gedanken der Sünde von Ihrem Bewußtsein scheuchte. Halten Sie sich an dem Bewußtsein Ihrer nunmehrigen Reinheit fest, und Sie werden nicht straucheln. Der Versucher naht wohl zuweilen dem Menschen; am häufigsten dem Gottgefälligen. Ich habe Ihnen den Lebenslauf unsers heiligen Ordensstifters und des herrlichen Heidenapostels Xaver in die Hände gegeben. Sie werden meinen Reden als Belege dienen. Aber – je gefährlicher die Versuchung, je herrlicher der Sieg der Beständigkeit. Und auch das ist Versuchung, wenn dem Neubelehrten der Teufel ketzerischen Zweifelmuts ins Ohr raunt: bist du denn nun auf dem rechten Wege? Und auch das ist herrlicher Sieg, wenn der gottselige Jünger ihm antwortet: Ja, Satan; trotz dir und deinen Schrecken! – Sie verstehen mich. Ihre früheren Sünden sind nicht mehr, denn das Blut unsers Herrn hat sie getilgt, und mein Priesterwort ist Ihnen dafür Bürge. Mut also, und ein klares Auge! Sie haben Gottes Gnade gewonnen; gewinnen Sie auch jetzo das Vertrauen des Ordens, der Ihnen Genesung brachte. Ein Thron ist schön, aber ein Koadjutor unserer Gesellschaft selbst in weltlichen Dingen zu sein, ist ein weit schönerer Beruf.«

»Verlassen Sie sich auf mich, sobald Sie mir über die gefährlichste Brücke geholfen haben, in allen Dingen, die nicht mit meiner Bürger- und Vaterpflicht im Widerspruche stehen.«

»Verfängliche, aber unnötige Klauseln!« lächelte der Doktor; »Vaterpflicht? Die Kirche ist ja selbst die liebendste Mutter. Bürgerpflicht? Ein relativer Begriff. Halbheit, mein Bester, führt nur zu Trostlosigkeit. Man muß, was man sein will, ganz sein, und auf dem Wege der Religion kommen unsere Pflichten nie ins Gedränge, wenn man ohne des Vorurteils Brille um sich schaut. Die Wahrheit ist immer nur eine; das Recht ist stets nur eines. Menschliche Satzungen fehlen: die göttliche Wahrheit nimmer. Sind Sie überzeugt, Ihrer Mitbürger Bestes zu wollen, so gehen Sie mutig zum Ziel. Wütende Parteien und schielende Gesetze schelten gar zu oft Hochverrat, was man mit allen Bürgerkronen nicht aufwiegt – die Rettung des Vaterlandes. Ich behalte mir vor, Ihnen diese unerschütterlichen Grundsätze deutlicher auszuprägen, wenn sie zur Anwendung reifen sollten.«

»Zur Anwendung?« fragte der Senator gedehnt, denn sein Kopf ging im wirbelnden Kreise.

»So ist's, mein Sohn,« erwiderte der Doktor ruhig, »die Gestirne wandeln ihre Bahn; folglich auch die Schicksale der Welten, der Völker, der Gemeinden, der einzelnen Menschen. Lassen Sie uns den Fall setzen, es wäre den, Himmel gefällig, in dieser Stadt die Anarchie des Luthertums zu beendigen, die von dem unerforschlichen Ratschluß nur aus dem Grunde zugelassen worden ist, damit der erschlaffende Christussinn sich an dem Widerstände wetze und siegend wieder auflebe. Noch mehr, der Allmächtige hätte Sie ausersehen, das Panier des wahren Glaubens, dem Sie freiwillig sich unterworfen, kühn und frei zu erheben. Würden Sie sich dessen weigern? Gott durch eine schimpfliche Feigheit beleidigen? Oder gestehen, daß Sie sich selbst belogen, als Sie sich dem Meßopfer zugewendet?«

»Wahrlich, ich erstaune ob Ihrer Rede,« sagte der Senator mit Angstschweiß auf der Stirne, »welch einen Kampfplatz tun Sie mir in diesen Worten auf?«

»Keinen gefährlichen; denn Gott würde mit dem Beharrlichen sein, und sein Engel den Satan stürzen. Beruhigen Sie sich indessen. Das Heldenbild eines solchen Kampfes lebt nur in der Einbildungskraft, nicht in der Zeit, die eine gemessene, mathematisch schleichende ist. Wir bekehren nicht mehr mit Feuer und Schwert, sondern mit dem kraftvollen Honig der überzeugenden Rede. Wir dringen uns nicht mehr den Völkern auf. Die Völker werden aber, vom geheimen Zuge ergriffen, alle zu unserm Tische treten. Die Wunder der grauen Judenzeit geschehen nicht mehr, sondern langsam, still webend, wie der Trieb der Natur, bereitet der Schöpfer seine Ereignisse vor; Mirakel, nicht kleiner als die der heiligen Bücher, aber mystischer als sie. Durch göttliche Schickung rüttelte sich der Wolf der Ketzerei los; aber mit dem Gifte erstand zugleich das Gegengift. Der Ursprung unserer Gesellschaft, ist er nicht ein Wunder? erzeugt im Staube, und herrlich fortblühend an der Brust der Könige? Zeigen Sie mir ein ähnliches Beispiel in der Geschichte aller Völker, und bezweifeln Sie den Fingerzeig des Herrn, der uns seine Streiter erweckte; nicht zum blutdürstigen Morde, wie jene Dominikaner, die ihren Beruf, die Unseligen, verkannten; nicht zum faulen Bettel, wie jene schmutzigen Mönche des Franziskus von Assisi, welche ihre Sendung mit Füßen treten; sondern zu der schweren Arbeit, wie sie die Not der Zeit erfordert. Warum wütet man gegen uns? Weil man uns ungemessen fürchtet. Warum verleumdet man uns? Weil wir heller sehen, als alle Welt. Wie kömmt es aber, daß wir das können? Weil die hunderttausend Augen meiner Brüder nur ein Einziges sind, und ein scharfes; ihre hunderttausend Arme nur ein Einziger, und ein tätiger; beseelt von einem Willen, von einer Kraft. Ein Ziel ermißt unser Blick, nach dem einen greifen unsere Hände; nach dem einen schreitet unser Fuß. Ehre dem Herrn in der Höhe! Nachfolge dem menschgewordenen Sohne und seinem Kreuze! Belehrung der Gläubigen, Zurechtweisung der Verirrten und der noch nicht im Geiste Gebornen! Aufrechthaltung der allein seligmachenden Kirche! Krieg auf Tod und Leben dem Satan der Zeit, welcher da ist der der Unvernunft, der der Hartnäckigkeit, der des Lasters! – Hier nannte ich Ihnen in Kürze die Grundlagen unserer Bestimmung, die Zwecke unsers Daseins. Gibt es vortrefflichere auf Erden? Verdienen sie nicht die größte Teilnahme, und den göttlichen Schutz, der ihnen so offenbar zu teil geworden? Ueberall verbreitet, in jedem Weltteile angesiedelt, predigen wir die wahre, reine Religion. Wir haben ganze Völker dem Heile zugewendet; wir haben Halbtiere zu Menschen gemacht. Wir leiten das Gewissen der Fürsten; wir bewachen den Stuhl des Statthalters Jesu Christi. Unsere Schulen – wer lobte sie nicht als die vollkommensten! Unsere Zöglinge – wer rühmte sie nicht als die gelehrtesten? Meine Brüder – wer hatte sich nicht an ihrer heitern Freundlichkeit, an ihrem milden Ernste, an ihrer Weisheit erquickt? Um jedoch ausgezeichnet und allumfassend wirken zu können, mußten wir umfassende Hilfsmittel wählen und schaffen: ein Band der Religion, der Wissenschaften, der Künste, der Gewerbe, des Handels um die Erde und die fernsten Meere legen. Für alle Bedürfnisse des Menschenwohls Sorge zu tragen, haben wir uns verbindlich gemacht; wir besitzen in unserm Ordensschoße alle Elemente dazu; die Mittel muß die Außenwelt geben, die uns freilich gern und oft zurückstoßen möchte, während sie uns danken sollte. Die kanonische Armut der Kirche, die Kargheit der meisten Fürsten, versagt uns bedeutende Unterstützungen, und unsere Spekulation muß aushelfen; daher – im Vertrauen – unsere Kolonien in fernen Weltteilen; daher Schiffe mit unserer Fracht auf dem Meere; daher das Bedürfnis, Stapel-, Lager- und Ausladungsplätze in allen Gegenden der Windrose zu besitzen. Ich komme jetzt ganz natürlich auf unser hiesiges Etablissement, das im Anbeginn einen solchen Lagerplatz ganz allein bezwecken sollte. Einige Vertraute waren nötig; mein Vorgänger entdeckte jedoch viel Glauben, viel fromme Sehnsucht, und pflanzte die Reben des Herrn mit gutem Gedeihen an, so daß ich, sein unwürdiger Nachfolger, schon eine ansehnliche Zahl von Sprößlingen vorgefunden. Auch mit mir war der Segen des Herrn und das Glück, das mich berief, Ihnen zu dienen; dem alten bereuenden Freunde, dem nievergessenen Freunde Klaras. Ihr Einfluß, mein Sohn, wird, hoffe ich, viel Gefahr von unserer stillen Gemeinde abwenden, und ein guter Wächter für den Handelsvertrieb der Gesellschaft sein, die hingegen stets bereit sein will, ihre müßigen auf hiesigem Platze liegenden Kapitalien in Ihre vertrauten Hände zu legen und gegen billigen Zins zu lassen; so wie sie Ihnen auch bereits – gänzlich uneigennützig und mit Ihren frommen Gesinnungen nicht bekannt – die bewußten Wechsel auf Brasilien angeboten, so wie ein Freund dem andern zu dienen verpflichtet sein sollte.«

»Ihrem Orden meinen Dank,« sagte der Senator erheitert, »ich will zu vergelten suchen, wie ich kann. Treue Freunde tun heutzutage not. Sie haben mein Ohr bezaubert durch Ihren kurzen Bericht und Ueberblick Ihrer Wirkungskreise. Wahrlich! ein solcher Verein ist ein Wunder, ein noch nie gesehenes, nie erhörtes; und Sie hochwürdiger Herr, müssen sich im Paradiese wähnen, wenn Sie stündlich sich erinnern, auch ein Glied an dieser großen edeln Brüderkette zu sein!«

Der Doktor sah bei dieser Wendung ernst und wehmütig auf die stumpfen Spitzen seiner Schuhe, lehnte das Kinn auf den Rohrstock und entgegnete nach einem verhaltenen Seufzer: »Je nun, Herr Senator! Jeder Beruf hat seine Last! und ich gehöre zu den Lasttieren unsers Ordensberufs. Herr Senator! um ein gläubig Gewissen, um ein ungeschwächte Vertrauen auf die Unfehlbarkeit eines vorgesetzten Endzwecks ist's eine schöne Sache. Dieses Vertrauen auf Gott, meine Obern und meiner Pflicht wohltätige Früchte ist mein Reichtum, mein Paradies. Die Pflichten selbst sind gar oft schwer, widern oft an; allein man tröstet sich mit der Fürsicht, die das alles befiehlt und ordnet, und wissen muß, zu welchem guten Zweck alles so befohlen und geordnet werden soll. Lichtpunkte in meinem Berufe und Treiben sind Vereinigungen, so erwünscht, so freundlich, wie die mit Ihnen im Namen der sanftesten Religion eingegangene. Klara betete für Ihr Glück! Klaras Freund feindlich mir gegenüber zu sehen, der Verdammnis verfallen, der Hoffnung bar, einst mit Klara, mit mir vereinigt zu werden! ... Der Gedanke schmerzte mich tief, und indem ich Sie für unsere Lehre gewinnen durfte, gewann ich selbst einen Schatz tröstenden Bewußtseins!«

Der Senator war bewegt, da er in die bewegten Augen des Doktors sah, und auch die seinigen gaben Tränen, und in einer herzlichen Umarmung erkannten sich Priester und Neophyt als höhere Würdenträger der Menschheit; als verwandte Gemüter, als Freunde.

Der Senator sagte hierauf, indem er sich die Augen trocknete und des Doktors Hand ergriff: »Was mir einfällt, mein würdiger Freund! Ihr Pflegesohn scheint Lust zu haben, ein Proselyt meiner Tochter zu werden, denn umgekehrt läßt sich bei des Mädchens Starrköpfigkeit die Sache nicht denken. Allein ... Sie begreifen ... und ersparen mir wohl fernere Erläuterung.«

»Allem ist schon vorgebaut,« unterbrach ihn der Doktor, »mir ist's nicht entgangen, und dem jungen Menschen ist bereits Ihr Haus untersagt. Ihn binden frühere Pflichten, und Zeit ist's, daß sein Schwärmen endige.«

»Welch ein Mann sind Sie!« rühmte der Senator, freudig des Doktors Hand schüttelnd, »solch ein Scharfsinn, solch feine verhütende Moral lernt sich wahrlich nur in Ihren Kollegien. Was sind dagegen unsere trockenen, dürren Gymnasien, wo man nur Buchstaben lernt, und nicht Menschenkenntnis? Was unsere Schreibstuben, in denen man den Charakter unserer Geschäftsfreunde, wie der Welt, nur nach den Zahlen taxiert, die sie in Gold oder Papieren aufzustapeln vermögen! Was Ihnen der klare Forscherblick schon verraten, das mußte mir der Mund eines schleicherischen Handlungsdieners ...«

Die Schelle am Hause wurde gezogen; einmal, zweimal, dreimal, bescheiden, aber steigend, wie sich dazumal geladene Fremde anzumelden Pflegten, während Hausfreunde nur zweimal läuteten und Hausgenossen das ganze mit einem derben Riß an der Schelle abzutun gewohnt waren. Der Senator erblaßte: da« Wort erstarrte in seinem Munde, ein heftiges Zittern überkam ihn.

»Herr ... Birsher ...!« stammelte er. Der Doktor rüttelte ihn zurecht und sagte ihm tröstend und ermahnend: »Sie sind entsündigt. Im Namen der Dreieinigkeit! gehen Sie hin; trauen Sie auf meinen Beistand, und geben Sie nicht Anlaß zum Argwohn, noch Aergernis!«

Ein nachfolgender Zug an der Kontorschelle benachrichtigte den Hausherrn, daß der Fremde hereingelassen worden, daß der Besuch nicht dem Kaufmann allein gelte. Seine Pflicht zu erfüllen, nahm sich Müssinger zusammen, und ging dem die Treppe Ersteigenden höflich entgegen. Der große junge in Schwarz gekleidete Mann mit dem wenig gefärbten ernsten Gesichte und den hellen geradausschauenden Augen hatte den Senator beinahe wieder aus der Fassung gebracht; was indessen der erste Anblick verderben zu wollen schien, brachten die ersten Worte des Fremden wieder ins Gleis. Der junge Mann streckte, ohne den Hut zu rücken, aber mit offenem Gesichte dem Wirte die Hände entgegen und sagte: »Ei, herzlich willkommen, Herr Senator. Freue mich, Sie endlich zu sehen. Vor allem Entschuldigung, daß ich mich gestern, von der Reise ermüdet, durch den Kellner anmelden ließ. Hierauf verbindlichen Dank für die Einladung, und – da« Beste kömmt zuletzt – meine herzlichste, Erkenntlichkeit für die Bewirtung meines armen Vaters.«

Der Senator bückte sich äußerst verlegen und öffnete die Türe des Tafelzimmers. Ohne sich jedoch unterbrechen zu lassen, fuhr der junge Mann ruhig und behaglich fort: »Das Grab meines guten Vaters war das erste, was ich hier besuchte. Meine Träne ist darauf zurückgeblieben, und mein Segen nicht minder. Wir wollen uns jedoch, nach diesem Berichte, die Hände darauf geben, daß wir kein Wort mehr über sein Schicksal verlieren wollen. Sie übersehen gütigst die Farbe meiner Kleider, so wie ich selbst den eigenen Kummer übersehen will, um Ihnen nicht ein unerträglicher, unwillkommener Gast zu sein.« Der Senator sah den Doktor verwundert, aber mit erleichtertem Herzen an. Leupold studierte in dem Gesichte Birshers. Er erkannte seinen gestrigen Tischnachbar im Schwan. Dieselbe ruhige Unbefangenheit, die ihn im Gasthause ausgezeichnet hatte, verließ ihn auch heute nicht. Der ungewöhnliche Prunk, von welchem die Tafel strotzte, nötigte ihm keinen Blick der Verwunderung ab, und, als sei er schon seit geraumer Frist ein Genosse dieser Tafelrunde, begrüßte er ohne förmliche Umschweife die geputzte Senatorin, die sich endlich einfand, und Justine, die im Kleide der Hausfrau erschien, um, der Küche entsagend, bei Tische das Ehrenamt zu verrichten. Nachdem Doktor Leupold von dem Senator den Seinigen und dem Fremden vorgestellt worden, begann das Mahl, dem heute im übrigen kein anderer Gast als der ernsthafte Buchhalter beiwohnte. Die Unterhaltung war anfänglich geschraubt. Der Senator bewachte mit ängstlichem Auge Herrn Birsher, die Senatorin saß mit stummem verzogenem Munde und niedergeschlagenen Augen, der Buchhalter schwieg nicht minder devot, und der Doktor allein führte mit dem Neuyorker ein unbedeutendes Gespräch. Justine beobachtete, und ihre Aufmerksamkeit sobald es ihre Geschäfte erlaubten – teilte sich zwischen Herrn Birsher und dem Doktor. Die Züge des letztern hatten für sie etwas Bekanntes, mancher Anklang seiner Stimme war ihr ebenfalls nicht fremd, und dennoch hatte sie ihn im Kabinette des Vaters nur ein einziges Mal – beinahe nicht gesehen, keine Silbe aus seinem Munde gehört. Sie grübelte in der Erinnerung, gelangte jedoch zu keinem Ergebnis, weil ihr des Doktors Nachbar interessanter erschien. Wider Willen kehrte ihr Auge immer häufiger auf den jungen Amerikaner zurück, und sie mußte sich gestehen, daß ihre Phantasie an dem Manne eine Sünde begangen. Nicht die müde Behaglichkeit des Vaters, die entschlossene Ruhe eines mit sich selbst aufs reine gekommenen Menschen, redete von dieser Stirne, aus diesen Blicken, die manchmal hell und fest den ihrigen begegneten, die ihr eine freundliche Bewunderung, verbunden mit einer beinahe ehrfurchtsvollen Scheu, einflößten. Sie horchte neugierig auf jede« seiner Worte; sie lächelte unwillkürlich und beifällig, als der Zurückhaltende endlich gesprächig wurde. Nach der dritten Speise schob Birsher mit einer leichten Verbeugung den Teller etwas zurück und sagte: »der Hunger ist gestillt, und zum Vergnügen esse ich nicht. Ich erbitte mir daher die Vergünstigung, unangefochten und nachsichtsvoll beurteilt, ein untätiger Zeuge der fernern Mahlzeit sein zu dürfen.«

Die Senatorin, viel auf Tafelgenüsse haltend und dieselben sogar in ihrem jetzigen gereizten Zustande nicht vernachlässigend, warf dem Redner einen mißbilligenden, verwunderten Blick zu. Birsher bemerkte denselben, fuhr aber, ruhig und verbindlich zu der Frau vom Hause gewendet, fort: »Ein paar Worte, hochzuverehrende Gastfreundin, werden hinreichen, den Verdacht einer Unschicklichkeit von mir zu entfernen. Ich habe es wohl erfahren, daß man in Deutschland die freundschaftlichen Mahlzeiten hochschätzt und sie verlängert, daß man den Grundsatz hegt, dem willkommenen Gast könne nie zu viel angeboten werden, und er könne hinwieder nie zu viel genießen. Bei uns in Amerika ist die Lebensart viel einfacher, so wie unsere Wohnungen, unser Tafelgeräte und unsere Kleidungen einfacher sind. Drei Gerichte, eine Flasche Bier oder Wein, ein herzliches Tischgespräch von einer halben Stunde, ein aufrichtiges Gebet zum Beschluß – das sind die Bestandteile unserer Sonntags- und Feiertafeln, Lassen Sie mich bei dieser Gewohnheit, die meine Landessitte mir einprägte, die mir immer wohl bekam. Ich will, da ich meinen Teil von diesem überprächtigen Gastmahle nicht gehörig annehmen darf, meinen Anteil zu der Unterhaltung geben, und fange damit an, Ihnen unumwunden zu bekennen, weswegen ich im Grunde hieher gekommen bin.«

Alle Anwesenden neigten höflich das Haupt und der Senator, um eine Erwiderung verlegen, sagte mit zweifelhaft schwankendem Tone: »Ew. Edeln kommen unsern Wünschen zuvor. Ich darf gestehen ... daß ... so höchst angenehm mir auch Dero Ankunft erschienen, ich nicht begreife, wie es möglich wurde, Sie schon jetzt hier zu begrüßen. Meiner erprobten Berechnung gemäß könnte das schnellst segelnde Schiff kaum die Nachricht nach Neuyork gebracht haben, daß ...«

»Ihre Berechnung täuscht nicht, Herr Senator,« antwortete Birsher, »das dänische Kauffahrteischiff Kiöbenhaven, das vom Texel abging, mit der Depesche des Herrn van den Hoecken befrachtet, kann erst seit drei Wochen, fiel die Fahrt vollkommen günstig aus, zu Neuyork angekommen sein. Doch hatte ich nicht auf eine Nachricht aus Europa gewartet. Eine Ahnung – man möchte sagen, wie mein schottischer Faktor zu sagen pflegt, ein zweites Gesicht hat mich übers Meer getrieben!«

»So?« fragte Doktor und Buchhalter. Des Senators Gesicht verlängerte sich. Die Frauen hingen mit ihren Blicken an dem Munde des Erzählers. Dieser bemerkte die gespannte Neugier und sprach lächelnd weiter: »Erwarten Sie keine Gespenstergeschichten. Nichts Ungewöhnliches. Ein einfacher Traum ist's nur, der sich leicht erklärt, wenn man erfährt, daß Vater und ich uns unaussprechlich lieb gehabt. Um ein Kapital zu retten, das in Ostfriesland unsicher stand, und um mir – wovon nachher – einen Schatz mitzubringen, unternahm der alte Herr die mühevolle Reise. Eine Art von Heimweh gesellte sich zu den obigen Motiven. Er hatte früher in Holland und Deutschland gelebt. Es war ihm in diesen Ländern wohl ergangen. Er wollte das Paradies seiner Jugend noch einmal sehen vor seinem Ende. Er hoffte, seine lästige Korpulenz auf der Seefahrt zu vermindern. Er bestand – eigensinnig von jeher – auf seinem Vorhaben und segelte ab. Das Schiff hatte einen bedeutungsvollen Namen: Fare well! Mein Glück- und Segensruf hing sich an des Schiffes Wimpel, und – setzte ich mich gleich stracks wieder vor die Bücher und die Korrespondenz, so schaukelte sich doch meine Seele neben dem Vater auf dem fernhingleitenden Fare well! Diese Einbildung verwuchs, sozusagen, mit mir, und gab sicherlich Anlaß zu dem Traume, der mir einst, geraume Zeit nach des Vaters Abfahrt, vorkam. Ich saß im Kontor und schrieb. An die Türe klopfte es. Herein! rief ich. Alles still. Nun stand ich auf und sah selbst nach. Vor der Türe stand mein Vater; gekleidet, wie wohl sonst, aber blaß. Willkomm! sagte ich und streckte die Hand aus. Er aber sprach: Beileibe, Freund Georg; ich bin ja gestorben und muß in Europa bleiben. Ich fuhr auf, und das nächste Schiff nahm mich mit nach Holland. Van den Hoecken sagte mir bei der Ankunft in Amsterdam nichts Neues. Ich war von der Wahrheit meiner Ahnung innig überzeugt.«

»Das ist eine entsetzliche Geschichte!« sagte die Senatorin und erhob sich, von Gespensterfurcht ergriffen, vom Stuhle, um mit starren Augen und bebendem Kinn von hinnen zu wanken. Der Senator, der auf glühenden Kohlen gesessen, beeilte sich, der Frau seinen Arm zum Weggehen anzubieten. Mit einer Gebärde schaudernden Abscheus stieß ihn jedoch Frau Jakobine zurück, griff mit heftiger Gewalt nach Justinens Hand, und verließ, auf dieselbe gestützt, das Eßzimmer.

»Die Frau Senatorin scheint reizbarer zu sein, als ihre Konstitution erraten läßt,« versetzte Birsher, etwas aus der Fassung gewichen, »ich habe dennoch nur Alltägliches erzählt, um einen Beitrag zur Seelenkunde zu geben.«

»Ein merkwürdiger Beitrag allerdings,« hob der Doktor an, um des Senators betretene Beschämung zu bemänteln, »die Geschichte zeugt von Ihrer außerordentlichen Liebe zu dem Vater, dessen Tugend ein späteres Lebensziel verdient hätte.«

»Ich habe beschlossen, daß er in seinen Vorsätzen, in seinen Wünschen fortlebe,« entgegnete Birsher, »sein Wille ist mir ein schätzbareres Vermächtnis als seine beträchtlichen Güter. Ich bin weniger gekommen, um hier das mir zustehende Erbteil zu holen, als um den hochachtbaren Herrn Senator zu fragen, ob er die Freundschaft, die er für meinen Vater hegte, auf mich fortpflanzen, und mich, wie der Selige gewünscht, zu seinem Schwiegersohne an- und aufnehmen will.«

»Herr Birsher,« stammelte der Senator, höchlich überrascht, »Ihr wackerer Sinn spricht sich so unerwartet aus, daß ...«

»Was der Vater beschloß, will ich gehorsam ausführen! Von seinen Händen hätte ich blindlings die nie gesehene, ungeliebte Braut empfangen. Was soll ich nun tun, da ich die liebliche Jungfer gesehen, da ich aus jedem Munde nur ihr Lob vernommen? Ich bin kein Freund von vielem Reden. Ja oder Nein, Herr Senator? obschon unter Männern von Wort ein Nein nicht wohl denkbar ist. Ueberlegen Sie nicht, grübeln Sie nicht. Der Brautschmuck ist in Ihrem Hause. Das Kapital, das mein Vater, es schon verloren gebend, zu Emdes rettete, hat er verwendet, gewisse Verbindlichkeiten, die Ew. Edlen gegen van den Hoecken hatten, aufzulösen: die quittierten Verschreibungen zu der Jungfer Nadelgeld bestimmt. Mein Vater hat alles im voraus geleistet und besorgt ... werden Sie nun nicht auch das Ihrige gegen mich tun?«

»Ich will's, ich werde es!« lief der Senator ausbrechend, weil ihm ein Felsenberg von der Brust fiel, »ich heiße Sie doppelt willkommen, als meinen lieben Sohn und Handelsfreund.«

Er und Birsher schüttelten sich treuherzig die Hände. Der Buchhalter, mit dem Glase an das des Doktors klingend, rief ein jubelndes »Gratulor, gratulor von Herzen!« Der Doktor stieß wohl an, neigte sich wohl glückwünschend, aber auf seiner Stirne saß nicht das zufriedene Einverständnis. Wie hätte sich jedoch die Falte auf des welterfahrenen Mannes Antlitz lange halten können?

Nun wurde der Senator lebendig. Die Spannung seines Gemüts schien wiedergekehrt zu sein, eine heftige Freude ihn zu beleben. Die silberne Schelle ertönte in seiner Hand. »Alicante!« rief er dem eintretenden Burschen zu, »vier Flaschen! Das Siegel mit den vier Türmen! Frisch! Schnell! nicht gezaudert! die spanischen Kelchgläser mit den Lilien dazu! den Nachtisch herein! Justine soll kommen; sie soll kredenzen!«

Und so ging es fort in Feuer und Leben. Der Niersteiner, der gerade auf dem Tische kreiste, floß in ungeduldigen Bächen in die traulichen Römer. Gesundheit auf Gesundheit wurde getrunken. Unter den fröhlichen Bewegungen der Gäste erzitterten beständig die silbernen Glöckchen an dem prächtigen spiegelverzierten Aufsatze, der, einen chinesischen Tempel vorstellend, mitten auf der Tafel stand; aber das Funkeln dieser schillernden Spiegel und bewegten Perlen war tote Asche gegen Müssingers strahlendes Auge; das Schellengetön verklang unter der tönenden Sprache seiner erweiterten Brust.

Die Türe ging auf. Einen silbernen Präsentierteller in der Hand, auf welchem sechs Kelche voll des köstlichen Alicante schimmerten, neben der geöffneten Flasche, die nun mit einer prachtvollen Blume verschlossen war; gefolgt von dem dienenden Burschen, der im Korbe die drei übrigen Flaschen nach sich schleppte, trat eine schöne Frau herein, in einfachem aber angenehmem Kleide, mit Wirtlichkeit kündender Florschürze angetan und die zierlichen Hände von saubern Handschuhen bedeckt. Die Herren fuhren überrascht und grüßend auf. Der Senator blickte überraschter als die übrigen auf die ihm Unbekannte.

»Mademoiselle Justine ist nicht zu finden,« sagte die angenehme Wirtin, den Wein mit einem Anstande umherreichend, als bediene sie eines Königs Tisch. »Um die verehrten Herren nicht allzu lange warten zu lassen, mußte ich also selbst ... entschuldigen Sie gütigst.«

Soeben trat Justine aus der Seitentüre. Mit einem Blicke begriff sie die Verlegenheit der Helferin, die Ueberraschung des Senators, und sagte mit der freundlichsten Betonung, zu der ganzen Gesellschaft gewendet: »Madame de Lainez, die Witwe eines im Felde gebliebenen königlich französischen Hauptmanns, meine sehr liebe Freundin, die sich heute erbitten ließ, meine häusliche Pflicht zu teilen und mir zu erleichtern.«

»Freut mich unendlich,« versetzte der Senator mit einem Bückling und wies der Errötenden den ledigen Stuhl Jakobinens an. Die Lainez wollte sich, stumm versagend, empfehlen. Justine hielt sie aber zurück, sagte ihr viele schmeichelhafte Worte und behauptete, durch eine plötzliche Unpäßlichkeit der Mutter würde sich die Tafel verwaist sehen, wenn nicht eine liebenswürdige Frau den Platz einnähme. Leise flüsterte sie indessen der Lainez zu: »Bleiben Sie um Gottes willen, meine Beste, und unterhalten Sie die Herren. Ich finde noch kein Wort, das nicht meiner Seele wehe täte.«

So fügte sich Madame Lainez endlich. »Bei Denain fiel Ihr Gemahl?« fragte nach einigen vorläufigen Erkundigungen der Senator, »er ist in einem rühmlichen Kampfe gefallen gegen ehrenhafte Feinde. Man muß gestehen, daß des Kaisers Truppen in den Niederlanden einen Schauplatz vielen Ruhms und nur weniger Niederlagen gefunden haben. Meine Herren! Der Prinz Eugen soll leben!«

»Ich bitte, unsern Marlborough nicht zu vergessen,« sprach Birsher in den Gläserklang, »das Heldenpaar hat sich zu Malplaquet unsterblich gemacht. Ich habe mich oft gesehnt, Flandern zu besuchen, und so viele Tapfere gefochten. Ich will es tun und bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, das ehrenvolle Bette Ihres Gemahls zu betreten, Madame. Wissen Sie aber, daß Ihr Name weniger militärische Erinnerungen als vielmehr geistliche erweckt? Wenn ich nicht irre, so nannte sich der zweite Ordensgeneral der Jesuiten Lainez. Er war ein ausgezeichneter Mann; seine Feinde selbst müssen es eingestehen, denn seiner rastlosen Bemühung verdankt diese furchtbare Gesellschaft ihren raschen Aufschwung.«

Die Lainez schlug die Augen nieder und erwiderte: »Mir ist von jenem Manne nichts bekannt. Auch hörte ich nie von meinem Manne, daß einst in seiner Familie ...«

»Wünschen Sie sich Glück, Madame,« unterbrach sie der junge Birsher mit freundlicher Bestimmtheit, »so floß in seinen Adern auch kein Tropfen jenes herrschsüchtigen, alles verachtenden Übermuts, der in den Jüngern des Loyola und des Lainez sich hervortut.«

»Jawohl! jawohl!« äußerte der Buchhalter, besorgt den Kopf schüttelnd, »die Jesuiten! die Jesuiten! Wer diese Firma zuerst auf den Markt brachte ...«

»Man macht, denke ich, die Leute gefährlicher als sie sind,« sagte der Doktor gutmütig lächelnd, »was meinen Sie, Herr Senator? Unser hochgeehrter Tischgenosse hat sich, wie ich glaube, mehr mit der verrufenen Gesellschaft Jesu abgegeben, als bei einem Kaufmann bräuchlich ist ...«

»Freilich,« sagte Birsher aufrichtig, »es ist ganz natürlich. Wir Leute zu Neuyork hören an jedem Sonntage den Prediger über den Papst und sein Reich den Bann aussprechen, und der Jesuiten, dieser Trabanten des Stuhls Petri, wird allerdings dabei auch nicht geschont. Ferner lesen wir historische Schriften. Und spräche nicht die Weltgeschichte zu uns, würde auch unser Prediger der Schildhalter des Papsttums nicht erwähnen, die Zeit würde es von selbst tun. Dieser gefährliche Orden ist unsers Standes Nebenbuhler, Herr Senator. In den katholischen Staaten sitzen Jesuiten am Ruder und lenken die Zügel des Handels und der Gewerbe. In Westindien, in Südamerika vorzüglich haben sie ihre Kommanditen. Ihre Habsucht trachtet alle Monopole, von welchen die Handelswelt niedergedrückt ist, in ein einziges zusammen zu ziehen, und dieses Einzige selbst auszubeuten.«

»Ei, ei, Ew. Edeln gehen verzweifelt weit,« ermahnte der Senator lächelnd, und ungeduldig wegen des Doktors, der unruhiger wurde.

»Keineswegs,« fuhr jedoch ohne Bitterkeit und Animosität der Amerikaner fort, »ich gestehe ein, daß ich die Katholiken nicht liebe. Unser Mutterland hat viel durch sie gelitten. Ich liebe ebensowenig den Orden, den wir berührten. Allein Parteilichkeit leitet mich auch nicht, indem ich ihn verdamme. Die ledige Erfahrung spricht für mich. Was haben wir, was hat die ganze Welt von einer Stiftung zu erwarten, die den Fürstenmord begünstigt? von einem Orden, dessen Glieder, als Beichtväter der Könige, Zwietracht säen zwischen den Herrschern und ihren Völkern? Man weiß, wer in den letzten Zeiten die abscheuliche Mörderei in den Cevennen, wer den Widerruf des Toleranzedikts von Nantes verschuldet hat, der Tausende der besten Bürger mit ihren Familien der Heimat entfremdete. Wer dem Vaterlande in seinen Söhnen das Mark aussaugt, wer es in seinen Söhnen ermordet, begeht Hochverrat an der ganzen Natur und an ihrem Schöpfer. Vielleicht sind Sie nicht meiner Meinung, Madame, aber ich denke nicht anders.«

»Die Aufhebung des Edikts von Nantes machte mich mit meinen Eltern unglücklich,« erwiderte die Lainez mit feinem Doppelsinn.

»Eine Vertriebene also? eine Gemißhandelte?« fragte Birsher mit warmer Teilnahme, »nun wahrlich, so freut es mich, hier unter ehrlichen Protestanten zu sitzen, vor denen mein Herz reden kann, wie ihm zu Sinne ist. Ich hasse die Heuchelei, und diese Aufrichtigkeit ist nicht meine Tugend, sondern Sitte in Amerika.«

»Eine schöne Sitte!« meinte der Buchhalter, »in Deutschland selbst verschwindet nach und nach die deutsche Treue und Offenheit. Wohl unsern Nachkommen, wenn sie wenigstens solche Qualitäten dann in Amerika wieder finden mögen!«

»Es ist schade,« begann ser Doktor mit einem spitzigen Lächeln, »daß Sie, hochzuverehrender Herr Birsher, nicht den Beruf in sich empfunden, ein Weltumsegler zu werden. Vor Ihren Ansichten und Ihrer seltenen Aufrichtigkeit hätten alle fremde Götzen weichen, alle anders Glaubende sich bekehren müssen.«

»Meine Reden sind zu harmlos, als daß sie vielleicht die feine Zurechtweisung verdienen,« erwiderte Birsher freundlich, aber ernst; »indessen muß ich mich rechtfertigen. Ich bin nicht unduldsam; ich verabscheue jeden Glaubenszwang. Wir Amerikaner denken in diesem Punkte freier, als man es in England darf. Mit Freuden würde ich's sehen und erleben, was mein Vater einst in einer halb prophetischen Stunde voraussagte: daß einstens allenthalben in Amerika jeder Glaube neben dem andern wohnen werde, friedlich, ungestört, wie in dem Schoß« von Brüdern; wie Penns Brüderstadt das Beispiel schon gegeben; wie bereits des Königs Duldungsakte dieses Beispiel unterstützt.« »Diese Aeußerung wirft Ihre frühere um!« sagte der Doktor triumphierend. »Oder lieben Sie Ihre Mitmenschen alle, den katholischen Bruder ausgenommen?«

»Weil ich sagte, daß ich den Katholiken nicht liebe, sagte ich damit, daß ich ihn hasse und verwerfe?« entgegnete Birsher, warm werdend, »ich werde ihn vielleicht nicht rufen, daß er neben mir sein Haus baue; das tut man nur lieben Freunden. Aber, wenn er aus eigenem Antrieb seine Hütte an die meinige lehnt und zu mir spricht: Bruder, wir wollen versuchen, wie wir gute Nachbarn sein mögen! so werde ich ihm antworten, gern, Bruder, laß es uns versuchen. Und fügten wir uns beide in Güte und nachbarlicher Geduld, so würde ich ihn am Ende wohl noch lieben, herzlich lieben lernen, und ihn nicht aus seinem Eigentum jagen, und nicht von ihm begehren, daß er zu Gott bete wie ich. Allem Bekehren, allem Uebertritte bin ich Feind. Bleibe jeder auf der Seite, wohin ihn der Zufall, der ja auch unsere Geburt leitet, gestellt hat. Glaube jeder, was er kann, und folge er den Gebräuchen seiner Lehre, damit die Schwachen kein Aergernis nehmen, und die Schadenfrohen jenseits nicht triumphieren. Ich könnte dem Menschen nimmer trauen, der seine Religion verändert hat. Er hat den Rock seines Herrn weggeworfen, um keinen Herrn zu haben, und verdient kein Zutrauen, weil er sein Heiligstes verriet.«

»Und nun genug, mein Herr, von solch abnormem Gespräche,« sagte der Doktor verbindlich, in der Tat aber erschreckt von dem bleichgewordenen, nachdenkenden Gesichte des Senators. »Ihre Grundsätze sind redlich gedacht, wohl leichter anzugreifen, als Sie glauben; aber wir befinden uns hier nicht vor einer Synode, sind beide – ein Kaufmann, ein Jurist – nicht berufen, solche Streitigkeiten durchzufechten. Die Damen zumal finden an unsern Reden nur Langeweile.«

»Nicht doch; wir hören gerne zu,« nahm Justine für sich und die Lainez, welche schwieg, das Wort, »eine Duldungspredigt aus Ihrem Munde, hochgeehrter Herr Birsher, müßte sich gut ausnehmen. Ich wünsche Ihnen den Sieg gegen den Herrn Doktor, obgleich derselbe schwere, uns unbekannte Waffen in den Streit führen möchte.«

»Wünschen Sie mir wirklich den Sieg, schöne Jungfrau?« fragte Birsher verbindlich, und Justinens Wangen wurden Glutrosen vor seinem Blick, »o dann habe ich meine Sache schon gewonnen, und dem Herrn Senator bleibt nichts übrig, als seinen und meinen Wunsch Ihrer Entscheidung vorzulegen.«

Die Männer standen alle auf und ergriffen die Gläser. Der Senator räusperte sich, um auf eine zierliche Weise seinen Spruch anzuheben, der der Tochter galt. Justine stand wie auf Nadeln und wünschte eine Gelegenheit herbei, die Rede, deren Inhalt ihr Scharfsinn und ihre Eitelkeit ahnten, zu verhindern, zu unterbrechen. Siehe, da erhob sich auf dem Gange ein Getöse. Eine ferne Türe flog auf, man hörte gellendes Geschrei.

»Um Gottes willen, der Mutter Stimme!« rief Justine erschrocken und erfreut zugleich, aus der Angst zu kommen, Sie enteilte schnell durch die Türe. Die Lainez folgte. Staunend blieben die Herren zurück. Der Senator, von Groll gegen das Betragen seiner Frau erfüllt, verweigerte es kalt, zum Beistand der Hilferufenden zu gehen. Bald brachte die Lainez die Nachricht, daß ein lebhafter Traum Frau Jakobine ihrer Siesta entrissen und ihre Unruhe erregt. Man habe die wieder zur Besinnung Gekommene zu Bette gebracht und Justine wollte sie nicht verlassen. Sein Beileid bezeugend, wie seine Erzählung verwünschend, die vielleicht Anlaß zu der Senatorin Zustand gegeben haben durfte, beurlaubte sich Georg Birsher, mit dem Versprechen, morgen bei Eröffnung der versiegelten Habe seines Vaters gegenwärtig sein zu wollen. Dem Zeremoniell schicklicher Sitte zufolge begleitete ihn Buchhalter und Doktor nach seinem Gasthause und ließen den Senator nachdenkend allein.

Der Drang, den Beweggrund so mancher unbegreiflichen Erscheinung in dem Benehmen seines Weibes zu erforschen, vermochte ihn, sich nach dem Schlafzimmer desselben zu begeben. Er trat leise in die dunkle Stube. Jakobine schien zu schlummern. Am Fuße ihres Bettes, den Kopf in beide Hände gestützt, saß Justine. Der Senator näherte sich der Kranken, ohne von jemand bemerkt zu werden; er bückte sich lauschend über das Bette. Jakobine schlug die Augen auf und fuhr mit dem Geschrei: »Alle gute Geister loben Gott den Herrn!« empor. Justine erwachte aus ihrem Nachdenken. »Der Vater, liebe Mutter!« sagte sie sanft zu derselben.

»Weg, weg aus meinen Augen!« lautete die gellende Antwort. »Weg! weg! willst du mich umbringen? weg, entsetzlicher Mann!«

Sie drehte den Kopf nach der Wandseite und schwieg hochatmend. »Jakobine!« stammelte der von heftigem Zorn ergriffene Gatte und faßte ihre Schulter, »Weib! was hast du vor? Was soll dies alles?«

Er mochte aber der Worte so viele es ihm beliebte, verschwenden; umsonst.

Die Senatorin beharrte wieder in dem dumpfen unheilverkündenden Schweigen.

»Nun so strafe dich Gott, lästerndes nichtswürdiges Weib, daß du also mit mir verfährst!« brach er in jäher Wut aus, und hob die Hand zu einer Mißhandlung. Justine verhinderte diese ängstlich, und bat mit Lippe und Auge den Vater, hinwegzugehen.

»Nun, so folge du mir; scheide von dieser Rabenmutter, die mein Leben zwecklos vergiftet!« sagte der Senator, zu sich selbst kommend und ergriff ihre Hand. Justine zögerte. Die Senatorin erhob sich, bleich vor Aerger und Ungeduld. Sie drohte der Tochter mit dem Finger. Justine zog unschlüssig die Hand aus der des Vaters. Mit dem bittersten Gefühle der innern Empörung sagte dieser: »Wie? auch du mein Kind, bist in dieses greuliche unbegreifliche Komplott gegen mein Herz verwickelt? Ich befehle dir, mir zu folgen; oder – soll ich fremde Autorität anrufen, daß mir mein einziges Kind gehorsam bleibe?«

Mit erneuter Gewalt ergriff er Justinens Hand und zog sie nach der Türe. Die Senatorin winkte der Gehenden, legte den Finger auf den Mund und rief ihr dann nach: »Du bist die elendeste Kreatur, Justine, wenn du meine Befehle vergissest!« Justine ging nun mit dem Vater auf dessen Zimmer. Wie eine arme Sünderin stand sie vor ihm; er ruhte auf einem Lehnstuhl von den Bewegungen seines Gemüts aus, und sammelte seine Gedanken; sah die Tochter unverwandt an, seufzte, schüttelte öfters mißmutig das Haupt und sagte endlich mit angegriffener Stimme: »Gott weiß, Justine, daß ich mich immer bemüht habe, ein guter Hausvater zu sein; daß ich oft mit der äußersten Anstrengung meinen Jähzorn im Zaume gehalten habe, um Weib und Kind nicht weh zu tun, hatten sie gleich meinen Zorn verdient. Aber solch Betragen, wie es seit gestern abend sich entwickelt, muß endlich ein Lamm in einen Wolf verkehren. Sieh, Justine, vor einer Stunde war ich noch so fröhlich! Es war mir Diverses wider Erwarten dergestalt nach Wunsch gegangen, es hatte sich so manches, das ich befürchtete, anders und befriedigend gestaltet und gedreht, daß ich die Welt hätte umarmen mögen und meinem liederlichsten Schuldner die Quittung geschrieben hätte. Da erhebt sich wieder aufs neue dieser häusliche Sturm, dessen Ursprung mir ein Rätsel ist. Auch du, Justine, bist mir eines. Am heutigen Morgen – zu Anfang der Mittagstafel noch – das fröhliche starke Mädchen, wie sonst, bist du plötzlich ein betrübtes, finsteres geworden. Leugne nicht; ich habe helle Augen, welche sahen, daß die deinigen verweint waren, als du beim Nachtisch wieder zu uns kamst, nachdem deine blödsinnige Mutter sich vor den Gästen zum bedauerlichen Spektakel gegeben hatte. Gezwungen, unbeholfen war deine Rede, und du zwangst dich, meinen Blicken zu entgehen. Jetzt bemerke ich wieder Tränen in deinen Wimpern. Sprich, Justine, woher diese Veränderung? Sei aufrichtig, mein Kind!«

Justine öffnete den Mund, aber dennoch schwieg sie kopfschüttelnd und mit gesenktem Blicke. Der Senator sprang ungeduldig auf, spielte mit seiner Tabaksdose, pfiff einige Töne des Marlboroughlieds, und stellte sich mit hochgeröteter Stirne vor die Tochter. »Undankbares Geschöpf!« sagte er mit unterdrücktem Grimme, »wirst du reden? Soll ich wie ein Bube um die Gnade eines Worts vor dir betteln? Heraus mit der Wahrheit, verlarvte Person! Du weißt was deine stetige Mutter im Schilde führt. Du hast auf den Grund ihres Steinherzens gesehen; du hast erfahren, was in ihrem vertrockneten Gehirne spukt; heraus damit, oder ... Gott strafe mich ...!«

Er warf im Ausbruche der Wut die porzellanene Tabatiere so stark zu Boden, daß sie in tausend Stücke zersprang. Justine fuhr zusammen, faßte des Vaters rechte Hand so kräftig, als sie konnte und sagte zu ihm, zwischen Tränen der Angst und einem plötzlichen Entschlusse schwankend: »Ums Himmels willen! keinen Schlag, mein Vater! Ich bin solcher Begegnung nicht gewohnt; Sie würden mich durch diese Entwürdigung umbringen. Ich kann die Zwischenträgerin nicht machen. Ein schimpflicher Zwang würde mich vollends nicht bewegen! Hüten Sie sich, Vater, daß Sie nicht noch mehr des Fluchs auf Ihr Haus laden!«

»Mehr des Fluchs!« versetzte der Senator und ließ ohnmächtig die Hände sinken, »wahr gesprochen, meine Tochter; es lastet auf mir schon genug des Unsegens. Geh' hin!«

Vor dem Bekümmerten ließ sich das gerührte Mädchen auf die Kniee nieder und redete mit gefaßten und bewegten Worten zu ihm: »Ach, wenn Sie gut und ruhig sind, mein Vater, will ich alles tun; nur nicht ausplaudern, was die Mutter mich erraten ließ; was meine Zunge aus Ehrfurcht und Angst nicht aussprechen will. Sie sollen aber wissen, was die Mutter zuletzt so gewaltig aufregte. Ob es eine Täuschung ihrer gereizten Sinne gewesen, ob Wirklichkeit, ich weiß es nicht. Doch sie behauptet, es habe sich langsam die Türe ihrer Kammer geöffnet, und die Erscheinung des in unserm Hause verstorbenen Birsher auf der Schwelle stehend sich gezeigt; mit trüb wankendem Haupte und drohender Gebärde. Die Gestalt sei einige Augenblicke sichtbar geblieben, bis sie unter der Mutter Schreckgeschrei verschwunden.«

»O des fratzenhaften Unsinns!« versetzte der Senator, obgleich sein eigen Gesicht länger und schmaler wurde; »Gaukelspiel eines verwirrten Weiberkopfes! Und daher die Mißhandlung, die mir von der Unverbesserlichen angetan wurde?«

»Was im übrigen die Mutter verbittert,« fuhr Justine seufzend fort, »ich will es nicht ergründen; ich will daran nicht glauben! Ich müßte ja an der Tugend des Mannes verzweifeln, den ich als Vater bis hieher geehrt habe, und noch ferner von Herzen ehren will. Ich überlasse es Ihnen, den Zwist mit Sanftmut zu beenden und die Eintracht wieder herbeizuführen, denn es ist nicht gut, wenn sich das Kind als Mittler zwischen die Eltern stellen muß.«

Der Senator trocknete sich kalten Schweiß von der Stirne. »So geh' hin,« sagte er ermattet, »geh' hin, ich will nicht in dich dringen. Die Zeit mag lösen, was mir weibischer Eigensinn noch verhehlt.«

Justine wollte bekümmert weggehen.

Der Senator rief sie zurück. »Du bist meine Feindin geworden,« sagte er bitter und gekränkt, »ich verzweifle daran, deinen Starrkopf für ein Projekt zu gewinnen, in dem ich alberner Tor dein und mein Glück zu sehen vermeine. Ich hätte gewünscht, ich hatte es schon besprochen, meinem alten Vorhaben Kraft und Vollendung zu geben; dich mit Herrn Georg Birsher zu verheiraten, wie es schon beschlossen war. Aber ... nun wird wohl nichts daraus werden. Die abergläubische Mama wird dir's verbieten, wäre es auch nur aus dem Grunde, weil ich eine Hoffnung darauf gesetzt. Du wirst dich weigern, weil du dein Los an Jakobine bindest. O, bewege nicht die Lippen, mir ein versagendes Nein zuzurufen. Ich lese es schon in deinem scheuen Auge. So sei es darum. Ich werde tragen, und du – gehe hin!«

»Sie täuschen sich, bester Vater,« erwiderte Justine fest und bescheiden, »Ihr Wille ist hier mein Gesetz; ich bin bereit, den Herrn zu heiraten, wann Sie es befehlen.«

Der Senator betrachtete sie mit großen Augen und ein lächelnder Schein spielte um den bitter geklemmten Mund. Er streichelte Justinens Gesicht mit wiederkehrender Zärtlichkeit. »Belügst du mich nicht, Mädchen? Oder hältst du mich nicht etwa hin, um im Augenblick, wo es darauf ankömmt, wahr zu sein, dein Wort zurückzunehmen?«

»Ich lüge nicht, lieber Herr Vater,« bekräftigte Justine mit offener Stirne, »ich will des Herrn Birsher Frau werden, wann Sie es haben wollen.«

»Und deiner Mutter unvermeidliche Einsprache?«

»Die Mutter ist damit einverstanden, lieber Vater.«

»Einverstanden?«

»Die hat mich sogar mit Tränen gebeten, den Antrag nicht zurückzuweisen, wenn er mir gemacht werden sollte; und ich darf Sie ersuchen, Herr Vater, daß Sie mit der Hochzeit eilen, wie es nur die Schicklichkeit verstattet.«

»Unverständliche Sybille! ich fasse dich nicht.«

»Mir ahnt, Herr Vater, als ob in diesem Bunde viel Besorgnis ihr Grab finden müßte,« erwiderte Justine mit Bedeutung: »wann Sie wollen, demnach, mein Vater.«

»Wie ist es dem ruhig verständigen Mann gelungen, in so kurzer Zeit dein gepanzertes Herz zu erobern? Er hat nicht einmal deiner Eitelkeit geschmeichelt.«

»Sie halten mich noch für ein Kind. Herr Birsher mißfällt mir nicht. Ich liebe ihn indessen ebensowenig. Ob sich die herzliche Zuneigung finden wird? – ich weiß es nicht. Aber ich opfre mich gerne einer zweifelhaften Zukunft, um Sie und Ihr Haus zu beruhigen.«

»Beruhigen? Du beglückst mich, Gold-Justine. Ich fange an, vor dir Respekt zu haben. Verlange für die Freude, die du mir so unvermutet machst, was du willst.«

Justine besann sich eine Weile, ernst und in sich versunken. »Wenn ich nun zweierlei verlangte?« fragte Sie mit klarerem Auge.

»Begehre.«

»Daß Sie fürs erste die Mutter ganz ihren Gedanken überlassen, Friede mit ihr halten, und meine Heirat beschleunigen wollen?«

»Zugestanden. Böses Mädchen! Du eilst, mein Haus zu verlassen und deinen verwaisten Vater!«

»Sie ahnen nicht, wie schmerzlich dieses Scheiden mir sein wird; aber Mama wünscht Herrn Birsher so schnell als möglich aus der Stadt zu entfernen.«

»Wieso? Weshalb denn, zum Donner?«

Justine überging diese Frage mit Schweigen. »Fürs zweite,« fuhr sie fort, »geben Sie mir die Erlaubnis, Sie zu warnen. Monsieur White hat sich falsch gegen mich bewiesen; und ich fürchte, sein Pflegevater meint es auch nicht ehrlich mit Ihnen.«

»Der Doktor?« Den Senator schlug das Gewissen.

»Wenn ich meinen Augen – einer gewissen Erinnerung trauen darf, so ist der Doktor nicht, was er zu scheinen vielleicht Ursache hat.«

»Unglückliche!« fuhr Müssinger auf. Justine unterbrach ihn: »Ich will meinen Scharfblick nicht über den Ihrigen stellen. Ich überlasse es Ihnen, auf der Hut zu sein. Es ist nicht unmöglich, daß ich mich getäuscht. Die Wahrheit muß sich jedoch bald auf diese oder die andere Weise enthüllen.«

»Du treibst Gauklerkünste,« sagte der Senator verlegen lächelnd, »und aufs Wort und deine vielleicht grundlose Ahnung hin, soll ich dir in einer Sache folgen, deren Bewandtnis mir völlig unbekannt ist?«

»Der Tag, an dem ich mit Herrn Birsher abreise, wird Ihnen meine Vermutung enthüllen. Ich fühle mich jetzt nicht aufgelegt, durch eine Unbesonnenheit einem andern, oder Ihnen selbst unrecht zu tun. Ich habe Ihre Klugheit gewarnt. Angeberin kann und will ich nicht sein.«


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