Der Jesuit
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Zweiter Abschnitt

Verdacht. – Der Pastor der Johanniskirche. – Sein Nachfolger bei dem Senator. – Der Doktor in seinem Hause. – Die Kupferstecherfamille. – Justinens geheimer Ausgang. – Die Messe. – Die Witwe des bei Denain gebliebenen Offiziers. – Die Beichte. – Des Doktors Tagewerk. – Geschichte eines Schauspielers. – Der unerwartete Fremde.

Es bestätigte sich durch den von Amsterdam eingelaufenen Brief, der den Kommissarien des Gerichts schuldigerweise vorgelegt wurde, daß der in des Senators Hause verschiedene Fremde nicht van den Hoecken gewesen; aus dem Inventarium dagegen, welches über den an Kreditbriefen, Empfehlungsschreiben, kostbarem Leibgeräte und beträchtlichen Pretiosen reich ausgestatteten Nachlaß des Verstorbenen aufgerichtet wurde, schien nicht undeutlich hervorzugehen, daß Herrn Birsher den Aeltern von Neuyork selbst das Unglück betroffen. Vor allem rechtfertigte diese Mutmaßung ein reicher Frauenschmuck, der sich vorfand, in ein artiges Etui gepackt, auf welchem mit Goldschrift die Worte standen: »Meiner vielgeliebten künftigen Schwiegertochter und Freundin, Justine Müssinger, zum Hochzeitsgeschenke.«

Der Anblick dieses Schmucks, den ein galanter Kommissarius der Verlobten vorwies, regte in derselben erst deutlich die Beziehung an, in welche sie zu dem Dahingegangenen hatte treten sollen. Seine letzten Worte vergegenwärtigten sich ihr wieder aufs neue, und ihr Gemüt ergriff eine stille Wehmut, wie sie noch nie empfunden. Sie wäre selbst krank geworden, wenn die Umstände eine längere Pflege an des Vaters Bette erheischt hätten. Der Senator genas indessen wie durch ein Wunder, plötzlich am Tage der Bestattung seines Gastes. Durch die tobenden Vorzeichen einer furchtbaren Nervenkrankheit hatte sich seine starke Natur gearbeitet, aber der fliehende Feind rächte sich demungeachtet. Die paar Tage streiften die Schärfe und klare Bestimmtheit seines cholerischen Temperaments von ihm. Haltung und Gang, Gesichtsfarbe und Rede – alles war anders geworden; aus dem heftigen, gerade durchgehenden Manne ein scheuer, schwermütiger Mensch, der seiner Arbeiten nicht mehr froh wurde, nicht mehr polterte und lärmte, aber dafür gern innerhalb seiner vier Wände für sich allein brütete.

Dieses Benehmen, das schon am Begräbnistage deutlich hervortrat, ermangelte nicht, die gebührende Aufmerksamkeit zu erregen. Die plötzliche Schreckensbegebenheit hatte Aufsehen gemacht; die vorangehenden Ereignisse, wie der Ort, die Stunde und alle Einzelheiten des Sterbefalls, waren geeignet, zu allerlei Verarbeitung zu dienen. Ein entehrendes Gerücht hatte sich plötzlich auf tausend Zungen verbreitet, und selbst im Senate seinen Sitz gefaßt. Die Mehrzahl des Rats jedoch, eifersüchtig auf dessen Vorrechte, und die Bewahrung eines unbefleckten Rufs der Glieder desselben, bemühte sich, jede Ahnung, jede Vermutung niederzuschlagen, die der bürgerlichen Existenz des Kollegen Müssinger hätte schädlich werden können; und jede Angabe, und jede noch so leise Hindeutung auf obige Begebenheit wurde mit Gewalt unterdrückt, während der Gegenstand dieser Anklagen durch sein auffallend verändertes Betragen, dem bloßen Verdacht einen Dolch nach dem andern in die Hände gab. Die wenigen Besucher mieden das Haus des Senators; er erschien am nächsten Sonntage mit seiner Familie in der Kirche; nach seinem Betstübchen starrte die gaffende Menge, aber aus seiner Nähe entfernten sich alle diejenigen, die sonst während des Gottesdienstes gute Nachbarschaft mit ihm gehalten hatten. Frau Jakobine merkte es nicht, dank ihrer Stumpfsinnigkeit; Justine nicht, denn ihre Unbefangenheit hatte keine Ahnung von dem gräßlichen Verdacht; aber dem Senator, der dieses wohl verstand, zehrte es, wie ein Wurm am Herzen. Er wurde immer verschlossener. Zwischen ihm und der Mutter fielen die Worte immer seltener; Justine litt unter den Folgen dieser übeln Verstimmung, und ihr einziger Trost wurde jetzt, da sie – ihr unbegreiflich – keine ihrer Freundinnen mehr bei sich sah, oder zu Hause fand, die englische Lehrstunde, zu der sich James wieder, nach den drei Tagen, eingefunden hatte. Mit keiner Silbe der vorangegangenen Mißhelligkeit gedenkend, suchte Justine durch ein sichtlich mildes Betragen ihre Uebereilung gut zu machen, und James war nicht unversöhnlich. Es stellte sich ein gewisses Vertrauen zwischen den beiden jungen Leuten her, Justine benutzte den ersten Augenblick, in welchem sie ungestört waren, es zu befestigen. Ernst und nachdenkend saß sie dem vortragenden Lehrer gegenüber, und sagte, indem sie ihn bat, das Buch wegzulegen: »Wir wollen plaudern, mein Herr, und uns gegenseitig wundern, wie wir so plötzlich füreinander passend geworden sind. Ich habe Eurer Prophetenkunst schreiendes Unrecht angetan, und muß dieselbe leider jetzo anerkennen. Der Abend jenes Samstags war der letzte glückliche in unserm Hause. Heiterkeit und geräuschvolles Leben sind daraus entschwunden, und es kommt mir beinahe vor, als wenn man von außen her unser Unglück uns recht fühlbar zu machen suchte.«

»Dem Unglücklichen ist Mißgunst näher, als der Trost,« meinte James, »ich selbst habe, als Flüchtling, diese Erfahrung oft genug gemacht. Indessen haben auch die Blumen der Freude ihre Zeit der Wiederkehr. Der Sturm zernichtet nicht immer, er entwickelt auch Blüten.«

»In unserm Hause?« fragte Justine ungläubig, »o nein, mein guter Herr. Die Mutter – Ihr kennt sie. Der Vater ist heute noch einmal so finster und verdrossen geworden. Uns wurde durch einen Amsterdamer Brief die Gewißheit, daß Herr Birsher in unserm Hause verblichen.«

»Was ihn nur bewogen haben mag, die fremde Maske vorzunehmen?«

»Er wollte uns kennen lernen, selber unerkannt. Ein Scherz, der, sich unbewußt, den Trauermantel auf den Schultern trug.«

»Der Mensch sei auf sein Ende gefaßt, jederzeit,« entgegnete James. »Genug indessen von dem traurigen Gegenstande. Fröhlichkeit steht Ihnen besser, als Betrübnis; und die Braut hat ja den Bräutigam nicht verloren!«

»Ich verbitte mir die Anspielung,« sagte Justine lebhaft, »Herrn Birshers Sinn wird sich wohl anders wenden. Mir vergingen auch alle Heiratsgedanken, stünde ich am Sarge meines Vaters. Mein guter Vater!« setzte sie seufzend hinzu, in die stille Wehmut versinkend, die, in ihrem Schmerze selbst, uns wohltut.

»Erheitern Sie sich!« ermahnte James, sich zu ihr beugend, »hören Sie mich. Der Schmerz bedarf nur eines Ableiters, um gemäßigt und ruhig hinzufließen, wie ein geräuschloser Strom in seinem Bette. Was wäre wohl zu diesem Zwecke geeigneter, als eine gute Tat? Im Ungemach ist ja ohnehin das Herz weicher, geneigt zum Mitgefühl, weil der Kummer ihm nicht mehr ein Fremder ist. Ich nehme mir daher den Mut, Ihrem Tiefsinn eine andere Richtung gebend, im Namen einer sehr bedrängten Frau Ihr Mitleid, Ihre Freigebigkeit aufzufordern. Fürchten Sie keinen Mißbrauch Ihrer Güte, hoffen Sie aber auf den Segen von oben.«

»Nicht so viel Worte, Monsieur,« sprach das Mädchen, bereitwillig, der neuen Wendung des Gesprächs zu folgen; »man überredet mich selten, wenn nicht schon mein Kopf und mein Gefühl gewonnen sind. Ich helfe gern, bin auch nicht hart, wie oft die Leute sagen; ich bin auch nicht so leichtsinnig, fremde Not nicht zu bemerken und zu bedauern. Redet, wer ist die Frau?«

»Eines französischen Offiziers Witwe. Ihr Mann blieb in dem Treffen bei Denain. Villars empfahl die unglückliche Frau der königlichen Gnade, aber Ludwig vergaß der Armen. Der Regent mißhandelte sie sogar, als sie es wagte, nach des Königs Tode bittend und flehend ihr Recht geltend zu machen. Aus der Hauptstadt verwiesen, fristete sie in ihrer Heimat durch Handarbeit kümmerlich ihr Leben. Endlich schien ihr das Glück wieder zu leuchten. Eine sächsische Herrschaft, rückkehrend aus den Bädern zu Aix, schlug ihr vor, sie als Gouvernante der Kinder nach Dresden zu nehmen. Von allen Hilfsmitteln entblößt schlug Madame de Lapnez willig ein, schied vom Vaterlande, um in Sachsen eine neue Lebensbahn zu betreten, kam aber nur bis in diese Mauern. Von einer heftigen Krankheit befallen, mußte sie hier zurückbleiben. Ihre Gebieter hinterließen ihr eine dürftige Geldsumme, und sagten sich von ihr los. Mehrere Monden hindurch schwebte die Verlassene zwischen Tod und Leben. Das Mitleid gefühlvoller Menschen rettete sie endlich vom Grabe, aber ihre völlige Genesung geht langsam von statten. Mangel drückt sie, und es bleibt ihr nichts übrig, als aufs neue sich an die Teilnahme wahrer Christen zu wenden.«

James hatte kaum geendet, und schon lag Justinens ansehnlich gefüllte Börse in seiner Hand. »Kein Wort!« gebot sie, da er sprechen wollte, »nichts davon. Gebt, helft, rettet! Es soll nicht dabei bleiben, wenn es mir gelingt, den Vater in günstiger Stunde für die Bedrängte zu gewinnen.«

Eilig ging sie davon, damit James nicht die Bewegung sehen sollte, die sich auf ihrem holden Antlitz kundgab. Aber der junge Mann hatte scharfe Augen. Es war ihm nicht entgangen, daß die ganze Fülle der herrlichen Seele aus Justinens Zügen gesprochen, und, selig überrascht von einem Anblick, wie er ihn noch nie gehabt, sah er der Fliehenden sehnsüchtig nach.

»Welch ein Mädchen!« seufzte er, »und ich – täglich fühle ich mein Unglück mehr, und darf nicht wanken und nicht weichen von der Stelle, die mir so gefährlich wird.« Justinens Gabe im Busen verbergend, schied er, um heim zu kehren. Unten im Hause war viel Geräusch. Geldsäcke wurden gewogen, Taler klangen; die Diener gingen geschäftig hin und her; Nothhaft stieß im Vorbeigehen mit dem Ellbogen an James' Arm, und machte ein sehr herrisches Gesicht, als der Engländer sich befremdet nach ihm umsah. – »Der muß mir auch aus dem Hause, und wenn's mich tausend Gulden kosten sollte!« murmelte der Diener, dem Engländer nachsehend, zwischen den Zähnen. Berndt, der eben ins Haus getreten war, hörte die Rede. »Warum so giftig, lieber Bruder?« fragte er lächelnd, »giftig und freigebig obendrein? Du wirfst mit Tausenden um dich? Glück zu!« – »Ist's ein Wunder?« sagte Nothhaft hierauf, »bar Geld macht Mut. Wir schwimmen ja in Geld, siehst du. Laß uns daher auch in Gottes Namen davon reden, und liederliche Schmeißfliegen damit totschlagen.«

»Ich verstehe dich nicht, Herr Bruder,« versetzte Berndt achselzuckend, »aber ich sehe, daß deine Prophezeiung nicht falscher hätte sein können. Statt des Bankrotts strömt der Segen Gottes in das Haus.«

»Erbschaft! unverdientes Glück!« versicherte Nothhaft leise, »wer weiß, ob ich so unrecht hatte; ... doch – stille –!« Er schlug sich bedeutend auf den Mund. »Wer weiß auch,« fügte er hinzu, wichtig und geheim, »wem's die Firma verdankt, daß sie noch mit Ehren steht?«

»Wichtigkeitskrämer!« lächelte Berndt ungläubig, »du spreizt dich so absonderlich, daß – wer nicht wüßte, welch ein Windbeutel du bist – glauben sollte, du erratest aufs Haar, was unser Herr denkt und beschließt. Glück auf, zu dem Vertrauen, Herr Geheimhorcher! empfehle mich zu Gnaden!«

»Ei, des breitmäuligen Augenverdrehers!« schalt Nothhaft verächtlich, »wir wollen sehen, wer am Ende hier im Sattel bleibt. Du bist ein Esel, sonst hättest du schon gemerkt, daß meine Aktien um 200 Prozent besser stehen, als ehedem.«

»Gott sei mir vor dem Prahler gnädig,« sagte Berndt, den Kopf schüttelnd, »der Prinzipal redet mit dir so wenig, als mit mir, und die Jungfer macht dir immer ein verdrießliches Gesicht.«

»Soll bald ein freundlicheres machen,« versicherte Nothhaft hochmütig.

»So?« fragte Berndt, dessen Neid allgemein rege wurde, »du mein Jesulein! darf man schon Glück wünschen, Herr Hochzeiter?«

»Narren sagen oft die Wahrheit,« erwiderte Nothhaft, noch patziger als zuvor, und Berndt versetzte giftiger: »Gratuliere also, Herr Associé und Schwiegersohn. Wird bald heißen: Müssinger und Kompanie? Scharmant. Nun begreife ich erst, warum ich den Pastor Lammer zum Herrn habe bitten müssen. Das Aufgebot wird gewiß bereits bestellt? Nun, viel Sukzeß und geneigte Protektion, wertester Herr Kollege! Vergessen Sie dero getreusten Diener nicht im Glücke!«

»O du miserabler, kotiger Adam!« spottete Nothhaft. Der Buchhalter klopfte aber ans Kontorfenster, und rief: »Soll ich euch Stühle hinaussetzen zu bequemerer Konversation, ihr Lungerer? Herein, hier gibt's zu tun, ihr, des lieben Herrgotts Müßiggänger!«

Berndt schwenzelte, der Amtspflicht getreu, schnell in die Schreibstube, Nothhaft zögerte stetig. Indessen trat bereits der Pastor der Johanniskirche im Amtsrock in das Haus. – »Der Herr Senator oben?« fragte er vornehm und schleppend. – Nothhaft bejahte freundlichst, und schlich mit einem bedeutenden: »Aha!« an sein Pult.

Der Senator empfing den Pastor an der Türe seines Zimmers, und bewillkommte ihn so freundlich, als ein im Gemüt Verletzter nur vermag. Der Geistliche nahm dieses Entgegenkommen als eine ihm gebührende Huldigung an, und antwortete darauf ohne sichtbare Herablassung.

»Ich bin wahrlich neugierig, Herr Senator,« sagte er, »zu erfahren, zu welchem Endzweck ich hier bin. Unter allen den, meiner christlichen Pflege Empfohlenen, haben Sie mir noch am wenigsten zu schaffen gemacht. Mein Amt legt mir indessen die Pflicht auf, einem jeden Gehör zu schenken; dem Sterbenden, dem Frommen und dem Sünder. Das erste sind Sie nicht; das zweite? ... will ich nicht beschwören. Was befehlen Sie?«

»Sündig sind alle Menschen vor Gott und seiner Kirche,« entgegnete der Senator melancholisch und achselzuckend, »die Frömmigkeit ist dagegen nur ein Gnadengeschenk. Ich habe Sie, würdiger Herr, für jetzt ersuchen wollen, der Spender einer Gabe zu sein, die ich der Armut bestimme. Verteilen Sie nach Ihrem Gutdünken diese Summen unter diejenigen Bedürftigen, die Ihnen der Unterstützung am würdigsten scheinen.«

Der Pastor wog die ansehnliche Rolle in der Hand, und ein Schimmer von Behagen flog über sein düstres Gesicht. Im nächsten Augenblicke war es jedoch wieder Stein, wie zuvor. »In Gottes Namen,« sprach er, und ließ das Geld in die weite Tasche seines Priesterrocks gleiten, »der Armut sei dies Scherflein gesegnet. Ew. Hochedlen Freigebigkeit kömmt mir unerwartet.«

»Der Himmel hat mich mit einer reichen Erbschaft bedacht,« antwortete der Senator seufzend, »ich opfere einen kleinen Teil derselben auf dem Tisch der Durstigen. Sie mögen für einen Unglücklichen beten.«

Der Prediger faßte den Handelsherrn scharf ins Auge, »Für einen Sünder?« fragte er betonend, und da keine Antwort erfolgte, fuhr er gemessen und drohend fort: »Der Unglückliche, von Gott gewichene, betrüge sich nur nicht. Geld und Gut ist eine schöne Sache, insofern man damit Christum speist; aber eitel Schlacken vor dem großen Richter der Welt, will man damit eine Missetat abkaufen. Die Buße ist unfruchtbar, wenn nicht herzliche Reue die Brust des Verirrten erfüllt; unfruchtbar, und wenn er Millionen in Klingelbeutel oder Armenbüchsen würfe.«

Der Senator sah den Pastor erstaunt und erbleichend an, bedachte sich einen Augenblick, und erwiderte alsdann mit niedergeschlagenen Augen: »Ich begreife Ew. Ehrwürden nicht. Man kann unglücklich sein, ohne gesündigt zu haben. Der Sünder selbst jedoch kehrt sich freudig zur Reue, wenn man ihm nur glauben will; wenn er nur das Vertrauen haben darf, daß ihm einst vergeben werde.«

»Einst? einst?« versetzte der Pastor mit überlegendem Blick gen Himmel, »ja, einst vielleicht; denn Gottes Barmherzigkeit ist ein tiefer Brunnen. Das entscheidet sich indessen – nach meiner Meinung – erst am letzten Tage des Zorns und der Strafe. Ich halte nämlich dafür, daß kein Mensch auf Erden, selbst nicht ein ordinierter, sich anmaßen dürfe, die Sünden eines andern hinwegzunehmen, sobald sie unter die schweren gehören. Nur der Herr prüft Herzen und Nieren. Das Gewand der wahren Reue ist ein feines Kleid, aber es muß das Leben hindurch getragen, ins Grab genommen, und dem Herrn am Jüngsten Gerichte untadelhaft vorgewiesen werden. Dann mag allerdings seine unendliche Milde vergeben.«

»Sie entfalten eine traurige Zukunft vor meinen Augen,« erwiderte der Senator schwerbekümmert, und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl nieder, »Ihre Kollegen –«

»Sprechen vielleicht anders,« fiel der Geistliche ein, »ich beteure aber, daß sie im Irrtume tappen, und bin bereit, meine Meinung vor jeder Synode durchzufechten. Meine Mitarbeiter im Weinberge sind zum Teil junge Leute, denen der philosophische Kram unserer Zeit den Kopf verwirrt hat. Der alte Lammer geht jedoch nicht ab von seinen Grundsätzen, die er seit fünfzig Jahren gelehrt hat. Er läßt kein Schäflein seiner Herde davon abgehen, so lange er noch ein rüstiger Hirt ist. Er ist keiner von den Sanften und Süßen, die nur schmeicheln, wo sie packen, nur einlullen, wo sie donnern sollten. Trost dem Unglücklichen, denn er ist zu seinem Heil! Krieg dem Sünder, denn er ist wieder zu seinem Heil. Unablässig, bis an seinen Tod, schneide ich ihm das wilde Fleisch aus der Wunde, daß sie frisch blutend vor Gottes Thron komme, und ich dann sagen darf: »Sieh, Herr, dein unwürdiger Knecht hat dir nicht ins Amt gegriffen. Er hat nicht gepfuscht, da, wo du nur heilen kannst; aber er bringt dir den Kranken, dürstend nach der Genesung, wie in der Stunde, da ihm zuerst sein Uebel unerträglich wurde!«

Eine heftige Unruhe bemusterte sich Müssingers, und sein, von Schwermut in Fesseln geschlagener Jähzorn rüttelte gewaltsam an seinen Banden. »Ich weiß nicht,« sagte der Senator, mit Mühe an sich haltend, »wie Sie dazu kommen, Herr Pastor, mir Ihr System so schonungslos darzulegen. Ich kann diejenigen bloß bedauern, die, in einem Fehltritt befangen, von Ihnen Trost und Erlassung begehren, und wünsche Ew. Ehrwürden recht wohl und lange zu leben!«

Der Pastor bückte sich und versetzte spitzig: »Alles, wie Gott will, Ew. Hochedeln. Der alte Lammer stirbt gern, wenn seine Uhr abgelaufen ist. Der Herr schenke allen einen sanften Tod. Meine Worte bereue ich jedoch nicht, denn ich glaubte sie hier vonnöten. Uebrigens hat unsere Unterredung sicherlich ein anderes Ende erreicht, als wir beide hofften, Herr Senator, nicht wahr? Ich bin nicht böse deshalb, und wünsche kein Vertrauen, das ich nicht mit der sündlichen Willfährigkeit vergelten könnte, die man von mir erwartet. Die offne Beichte in der Kirche steht Ihnen frei. Werde mit seinem Gewissen fertig, wer da kann. Sapienti sat, Herr Senator, und: Gott beßre Sie!«

»Was ist das? Was sagen Sie da?« fuhr der Senator auf. Lammer zog aber bereits die Türe hinter sich zu. Müssinger schritt im Zimmer auf und nieder, und rang die Hände. Steht mir denn das Zeichen aus die Stirne gebrannt? fragte er sich mit erstickter Stimme. Die blöden Augen dieses Wolfs im Hirtenkleide selbst scheinen erraten zu haben ... o gewiß! ... und der Mensch kann so unbarmherzig sein! ... und der Mann ist Protestant? O der herzlosen, steifen Eiferer! was sie berühren, wird Eis oder Träne. Hätte ich, wie ein altes Weib, auch in der Woche die Kirche besucht, keine Nachmittagspredigt, keine Bet- und Vorbereitungsstunde versäumt, dem Klingelbeutel reichlicher gegeben, und den Schwarzröcken Ueberfluß in Küche und Kasten geliefert – der harte Mensch würde nun nicht so widrig mit mir gesprochen haben, da ihm sonst Worte weit wohlfeiler sind, als der Heller, den der Geizige, selten genug, einem Bettler spendet! Warum habe ich auch nur einen Schritt versucht, mich der Kirche wieder zu nähern, die alles getan zu haben glaubt, ist die trockene Predigt und das Geplärre des Lieds vorüber! Warum? setzte er fragend und gemäßigter bei: Warum? Ach! drückt nicht hier auf meiner Brust eine Last, unter welcher ich erliege? Ist es nicht verzeihlich, daß ich in der Angst meiner Seele Linderung suche und Trost? Aber nun fehlt mir der Mut, und ich fürchte ...

Ein bescheidenes Klopfen unterbrach seine Betrachtungen. Fast erschreckt eilte er an die Türe, öffnete, und sah, sehr überrascht, den Doktor Leupold draußen stehen. Er konnte sich nicht Rechenschaft geben, warum der Anblick des Mannes ihn freundlicher ansprach, als er wohl zuweilen gehofft hatte, wenn er sich die Möglichkeit gedacht, ihm wieder zu begegnen. Er bewillkommte ihn mit einiger Auszeichnung, und führte ihn bei sich ein. Der Doktor entschuldigte sich tausendmal um der Störung willen, die er vielleicht verursache, und ließ im freundlichsten Tone das Wort fallen, daß sein Besuch wohl ebensogut hätte unterbleiben können.

»Mein Herr Doktor,« sagte der Senator hierauf verbindlich, »die Besuche werter Freunde, denen wir Dank schuldig sind, sollten nie unterbleiben. Sie lehren mich ohnehin, was ich schon längst hätte tun sollen. Sie verzeihen jedoch; eine Flut von Begebenheiten raubte mir die Muße, Ihre Wohnung aufzusuchen.«

»Unnötig,« versicherte der Doktor, »ich dachte nicht daran, Sie an einen sehr erläßlichen Besuch mahnen zu wollen. Mein Gang in Ihr Haus hatte einen andern Zweck; ... allein – und ich darf sagen – mit Vergnügen sehe ich, daß er wohl vereitelt ist.«

»Ein Zweck? ... vereitelt? ...« fragte Müssinger, »wieso? erklären Sie sich.«

»Sie setzen mich durch Ihre Frage in Verlegenheit,« sagte Leupold hierauf zögernd, »indessen darf der Mensch, wenn er sich seines Wollens nicht zu schämen hat, wohl reden, ohne den Vorwurf der Ruhmredigkeit auf sich zu laden. Ich habe hier einige Wechsel auf St. Sebastian und Brasilien. Das Haus Minhaô ist solid, die Summen sind nicht unbedeutend, bald fällig. Ich hatte den Auftrag, Ihnen dieselben auf eine gewisse Zeit zum Genuß gegen äußerst billige Preise anzubieten. Allein – wie ich beim Eintritt in Ihr Haus bemerkte, so hat der Ueberfluß Ihnen aufs neue die Hand gereicht, und durch ihn wird meine wohlgemeinte Hilfe überflüssig.«

Der Senator erhob bewundernd seine Augen, ergriff beide Hände des Doktors, schüttelte sie und sprach: »Mein Herr, Sie bereiten mir den frohsten Augenblick meines Lebens! Da ich gerade an allem Trost verzweifle, richten Sie, ein Fremder, mich wieder auf. Gott sei Lob, ich bedarf Ihres freundlichen Darlehens nicht; aber – glauben Sie mir – demungeachtet habe ich's doppelt empfangen.«

»Und somit keine Silbe mehr davon,« setzte der Doktor ruhig hinzu, »Sie preisen mich unverdient. Eine Gesellschaft von Menschenfreunden wollte Ihnen ihre Teilnahme beweisen, und hatte keine Gefahr dabei, da sich Ihre Geschäfte gefestigt haben.«

Der Senator nickte seufzend mit dem Kopfe, und entgegnete: »Ja, mein Herr, so ist's. Nicht minder jedoch meinen wärmsten Dank der Gesellschaft, von welcher Sie sprachen, und die ich wünschte kennen zu lernen,«

»Das ist Ihnen – hier – unmöglich,« sagte der Doktor, »lassen Sie uns, da ich einmal Ihnen zur Last falle, von etwas anderem reden. Wie gesagt: Fortuna ist bei Ihnen eingekehrt, und ich freue mich, Ihnen damals auf der Promenade ein gutes Prognostikon gestellt zu haben; allein – Sie selbst – Herr Senator – scheinen sich nicht im geringsten zu freuen.«

»Einem Manne gegenüber,« entgegnete Müssinger, »der sich mir als verschwiegener und hilfreicher Freund erwiesen hat, kann ich keine Lüge sagen. Die ... Erbschaft, die mich wieder auf den Gipfel meines vorigen Reichtums hebt, ist mir ganz gleichgültig. Ich bin ein armer, armer Mann. Mein Gemüt ist krank, meine Seele sehnt sich vergebens nach Genesung.«

»Und Religion – die sicherste Trösterin?« fragte der Doktor mitleidig.

»O, lassen Sie das!« erwiderte der Senator still ergrimmt, »die Religion ist entartet in ihren Dienern. Weiß Gott – Herr! wir haben uns in einer sehr bedeutenden Stunde kennen gelernt, aber, ob ich nicht vielleicht Ursache hätte, jetzt dem Flußbette näher zu stehen, als damals?«

»Ich würde Sie alsdann nicht mehr zurückhalten,« erwiderte der Doktor kalt und ernsthaft, »Sie verdienen hier und jenseits das traurigste Los, wenn Sie zum zweitenmal wagen, wovon die Vorsehung Sie einmal schon gerettet,«

»Sie wissen nicht ...!« entschlüpfte dem leidenschaftlichen Senator, »es gibt noch drückendere Schmerzen, als die des Mangels und der Scham, Die Stimme des Innern ...«

»Sagen Sie nur frei heraus: das Gewissen,« unterbrach ihn der Doktor sanft aber fest, »um das Gewissen ist es eine kitzliche Sache; freilich. So lange aber Gott die Quelle aller Liebe, die Kirche eine freundliche Mutter ist, so lange darf selbst der trotzigste Sünder unverrückt auf Gnade und Verzeihung rechnen. Im Zeitlichen wie in der Ewigkeit. Soll denn der Mensch, der ein Verbrechen beging, das er vielleicht in der nächsten Minute bereut, an diesem Unglück verkümmern, rettungslos daran verzweifeln, während sein frisches Leben noch viel des Guten schaffen könnte? In der Strafe selbst liegt Vergebung, und ein Augenblick der Reue des Sünders wiegt manches schuldlose Menschenleben auf.«

»Sie sprechen von Gott, dem Quell aller Liebe?« fragte der Senator scheu. – »Er ist's!« bekräftigte der Doktor.

– »Von der Kirche, einer freundlichen Mutter?« – »Sie ist's.«

Der Senator seufzte tief beim Angedenken an Lammers Worte. Der Doktor sagte aber nun mit gemessenem Tone: »Unsere Ansichten weichen ab, wie ich sehe. Es befremdet mich nicht, da ich mich zu einer andern Kirche bekenne, als Sie.« – Dem Senator starb die weitere Frage im Munde, da der Doktor ganz ruhig fortfuhr: »Ich bin Katholik. Von meiner Kirche hab ich gesprochen: und – wahrlich – sie erfüllt ihre Mutterpflichten.«

Müssinger bückte sich verlegen. Der Doktor sprach unbefangen weiter: »Von unserer Kirche Schwelle geht kein Vertrauender ungetröstet, kein Leidtragender unerquickt, kein Verirrter ungelöset. Alle ihre Gebräuche deuten in ihrer mystischen Form auf die heiligsten Pflichten hin; auf die der Versöhnung, der Menschenliebe. Doch, wem sage ich das, und zu welchem Endzweck?« fügte er, sich besinnend bei, »Sie, mein verehrter Herr, haben nie die apostolische Lehre näher prüfen gelernt, da die Gesetze Ihrer freien Stadt die Ausübung jenes Kultus und die Ausbreitung unsers Lehrbegriffs auf ihrem Gebiete aufs strengste untersagen; gewiß ist es Ihnen auch völlig gleichgültig, wie ein Katholik von seinem Glauben denkt.«

»Ich habe zu Augsburg meine Lehrzeit verlebt,« versetzte nachdenkend der Senator, »ich habe mich oft hinter dem Rücken meiner Vorgesetzten in die katholische Kirche geschlichen, mich an der feierlichen Pracht des Gottesdienstes, an der herrlichen Musik ergötzt... ich kann nicht leugnen, daß...«

Justinens Stimme störte die Herren. Das Mädchen trat ein, und berichtete dem Vater, sich vor dem Fremden sittsam verbeugend, über eine nicht besonders bedeutende Angelegenheit der Wirtschaft. Der Doktor betrachtete währenddessen sowohl den Senator, als seine Tochter mit der größten Aufmerksamkeit. Als Justine wieder hinausgegangen war, sagte Leupold mit fast bewegter Stimme: »Wahrlich, Herr Senator! Wüßte ich nicht durch meinen Pflegesohn, daß Ihre Tochter sich Justine nennt, ich würde darauf schwören, sie müsse Klara heißen.«

Der Senator richtete schnell und fragend die Augen auf den Doktor.

»Klara?« fragte er, »wie kommen Sie zu diesem Namen?«

»Klara war, wie Justine

»Welche Klara?«

»Klara Münzner.«

»Mein Gott! Sie wissen...?«

»Ja, mein Freund.«

»Woher? – Herr, Sie reißen eine Vergangenheit vor mir auf, die jetzt doppelt schmerzlich mein Gefühl verletzt.«

»Das soll sie nicht. Eines Engels Gedächtnis bringt Segen.«

»Ja, Sie war ein Engel! ... ein Engel, wie ihn diese Welt nicht verdient.«

»Der Engel ist in seine Heimat gegangen.«

»Barmherziger! versteh ich Sie?«

»Klara ist tot.«

»Tod? ... tot? ... Und ich lebe noch ... wie lebe ich ...?«

»Bis an ihr Ende hat sie in Ihnen gelebt, wenngleich Länder und ein Jahrzehnt sie von Ihnen trennten. Jetzt wird sie, sollte es not tun, für Sie beten bei dem unsterblichen Vater!«

»O!« seufzte Müssinger, und lehnte sich mit vor das Gesicht gehaltenen Händen zurück. Dann fragte er jedoch lebhaft: »Erklären Sie mir, rätselhafter Mann! wie können Sie von dem unterrichtet sein, was außer mir ...«

»Ich bin Klaras Bruder!« flüsterte der Doktor dem Senator in das Ohr.

»Xaver?«

»Derselbe, mein Freund. Ich höre, daß man uns wieder unterbricht. Ihr Zimmer, dem Drang der Geschäfte preisgegeben, ist nicht geeignet, daß wir uns darinnen der wohltätigen Erinnerung ungestört hingeben könnten. Macht Ihnen die Vergangenheit Freude, so besuchen Sie mich. Ich wohne eng, aber niedlich und einsam, in der Rahmgasse. Das Haus ist zum Apfel geschildet. Fragen Sie im zweiten Stocke nach dem Doktor Leupold, Sie werden mir willkommen sein.«

Indem der Buchhalter eintrat, verbeugte sich der Doktor gelassen und fremdtuend gegen den unbeweglich hinstarrenden Senator, und ging.

Langsam und sinnend durchstrich er die Stadt, und machte geflissentlich einen Umweg nach seiner Wohnung, um seinen Gedanken nachhängen zu können. Hier und da nickten ihm aus Hütten oder wohlanständigen Bürgerhäusern freundlich grüßende Gesichter zu. In einem armseligen Gäßchen schlich eine bettelhaft gekleidete Frau, nachdem sie sich vorher überall umgesehen, geheimnisvoll an ihn, und küßte seine Hand. Er reichte ihr dagegen eine kleine Münze, und ermahnte sie für die Ruhe eines Sünders zu beten. Hierauf schlug er sich rechts durch ein paar Durchgänge nach der Rahmgasse, und stieg im bezeichneten Hause in sein Quartier hinauf. Eine sauber angekleidete Magd öffnete ihm ehrfurchtsvoll die Gittertüre an der Treppe. James, der in der Wohnstube schreibend saß, richtete sich grüßend auf, und brachte dienstfertig dem Pflegevater den Schlafrock herbei, gegen den der Doktor eilig den unbequemen Steifrock vertauschte. Er nahm seinen Platz im Lehnstuhle am Fenster, das, auf einen Garten aussehend, selbst einen Garten vorstellte, geschmückt mit würzigen Blumenstöcken. In der Stube sah es so reinlich, so friedlich und traulich aus; sie stellte ein reizendes Stilleben dar. Der Boden, sauber wie ein Spiegel; die Gerätschaften blank und rein. Ordnung überall; keine Falte in den Teppichen der Tische, kein Stäubchen auf dem grünen Vorhange, der eine kleine Büchersammlung barg; ein niedlicher Vogel im luftigen Bauer von der weißen Decke schwebend; eine pickende Schwarzwälderuhr an der Wand; viele summende Mücken auf dem Blumenflor am Fenster. Das Schweigen wurde lange nur durch der Tierchen Geschwätz, den Perpendikelschlag, und die knarrende Feder des jungen Engländers unterbrochen, der sich gleich wieder an seine Arbeit gesetzt hatte. Der Doktor saß mit gefalteten Händen, rückwärts gelehntem Kopf und geschlossenen Augen in seinem Lehnstuhle. Seine Lippen trugen das Lächeln einer freundlichen Gedankenwelt, die unter den zugezogenen Augendeckeln vorüber schwebte, und er schwieg wie ein Träumender, bis er einen leisen Hauch an seiner Wange fühlte, und forschend die Augen aufschlug. Schon dämmerte es. James stand bei ihm, und hatte sich über sein Gesicht gebeugt.

»Ich wollte mich überzeugen, ob Sie schliefen, mein Vater,« sprach der Jüngling, »meine Arbeit ist vollendet; die Feierstunde da. Sie sind aber heute nicht so munter und gesprächig, wie wohl sonst. Darf Ihr Pflegesohn nach der Ursache fragen?« –

»Die Ursache, mein Sohn, ist nur eine kleine Geschichte aus der Zeit, da ich dein Alter hatte,« antwortete der Doktor, freundlich ihm zunickend, »setze dich zu mir, und höre sie, wenn du willst. Ich sage dir aber im voraus, daß die Geschichte so kurz und einfach und natürlich ist, wie nur eine in der Welt. Den Jüngling befriedigt freilich nur ein Labyrinth von Abenteuern. Dem greisen Manne jedoch schließt gerade die klarste Begebenheit einen Zaubertempel auf. Versetze dich mit mir nach Augsburg, wo du zwar niemals warst, von dem du aber manches gelesen. In jener alten weit berühmten Stadt ist eine abgelegene Gegend an der Stadtmauer, unfern von einem kleinen Tore. Durch diesen leicht zu übersehenden Winkel soll, heißt die Sage, der Teufel den Doktor Luther ins Freie geführt haben, da demselben große Gefahr drohte, und alle anderen Ausgänge von Feinden besetzt waren. Obgleich nun diese Geschichte durchaus Fabel und unhaltbar, so führt doch noch zu heutiger Stunde der Platz den Namen: Dahinab! In diesem Dahinab nun stand unter andern kleinen Häusern ein von einem Gärtchen umgebenes; reputierlich anzuschauen, und die Wohnung eines braven Mannes. Der Fleiß desselben hatte das Haus gebaut, und die Heiligen, buchstäblich zu verstehen, hilfreich dazu getan. Der Fleißige war nämlich Kupferstecher, und hat, durchaus dem Fach sich hingebend, viele Hundert Heiligenbilder gestochen und geätzt, die zu damaliger Zeit in großen Ladungen über die Berge nach Italien gingen. Der Künstler war fromm und still, wie seine Bilder, arbeitete unverdrossen von früh bis spät, und seine einzige Erholung außer dem Hause war am Sonnabend ein Ruhestündchen auf der Schießstatt, bei einem Krug Bier und freundlichem Geschwätze. Den Sonntag nahm die Kirche und – bei schönem Wetter – ein Spaziergang mit dem Weibe nach dem Ablaß oder nach Göggingen hinweg. Diese Lebensordnung machte auch, daß es im Hause sein und ordentlich aussah, und der Friede doppelt mit den Kindern einkehrte, die der Himmel dem einfachen Künstler schenkte. Der Bube hieß Xaver, die Tochter Klara. Der erste, zugleich der ältere, sollte anfangs Kupferstecher weiden, wie der Vater; die zweite ein braves Weib, wie die Mutter. Es ergab sich indessen bald, daß Xaver, um schwacher Augen willen, der Kupferstecherkunst nicht gewachsen war, und, noch in der Wahl verharrend, was einst aus dem Jungen werden mochte, schickte ihn der Vater in die Schulen, damit er etwas Tüchtiges lerne. Klara wuchs arbeitend und blühend auf, besuchte kein anderes Haus, als das Haus Gottes, und ahnte nicht, daß an jener Stätte ein sehnsüchtiger Jünglingsblüte die verborgene Blume ausgespäht hatte. Die Eltern ahnten's um so weniger. Der Bruder allein, der oft, um zu studieren, im Gärtchen sich befand, merkte das Erste von der Sache, Eine Bastion der Festungswerke, die gerade, senkrecht fast, in die Höhe stieg, und die Ansicht über die Häuser des Dahinab frei gab, bildetete die Schlußwand des Gartens. Auf dem Rand dieser Bastion stand einmal um die Mittagszeit ein blutjunger Mann, und sah immer so steif und unverrückt in den Galten hinab, daß dem studierenden Xaver, als dieser, durch die Blätter der Laube schielend, zum zweiten- oder drittenmal das Unwesen wahrnahm, bang um den Verstand des jungen Menschen wurde. Bald kam er jedoch dahinter, daß die Schildwache auf der Bastion eigentlich die Schwester gelte. Denn so oft diese, blühend und frisch wie eine Rose, um die Mittagsstunde aus dem Hause hüpfte, den Bruder zu Tisch zu rufen, so oft zog der auf der Schanze ein Fernrohr aus der Tasche, und lichtete es so scharf und fest auf das Mädchen, als ein Konstabler nur mit seinem Geschütz tun kann. Der Bruder hütete sich wohl, der unbefangenen Schwester da« geringste von seinen Beobachtungen, die er eine ganze Woche hindurch fortsetzte, mitzuteilen. Endlich eines Vormittags, aus dem Kollegium kommend, wandelt ihn die Luft an, der Sache auf den Grund nachzuspüren. Er steigt auf die Bastion, und findet den Bewußten bereits am Posten. Er schlägt ihn auf die Schulter und fragt ihn: Was hat Er dahinab zu spionieren, mein Freund? – der andere errötet, antwortet aber vornehm: Das geht Ihn nichts an, mein Freund. – Ei ist ein Narr! sagt ihm hierauf Xaver, und der andere antwortet mit einem Unverschämten Menschen, Für einen Studenten von neunzehn Jahren ist das zu viel. Er antwortet ebenfalls mit einer nachdrücklichen Beleidigung. Der andere greift nach feinem Degen. Xaver bedeutet ihm, er selbst dürfe als angehender Theolog keine Waffe tragen; er werde aber nur hinunter ins Haus gehen, sich einen Degen holen, und sicherlich binnen wenig Minuten auf die Schanze zurückkehren, um die Sache auszumachen. Was hat er in jenem Hause zu tun? fragt der andere verwundert. – Es ist das meiner Eltern; entgegnete Xaver. – Und das Mädchen? – Meine Schwester. – Nun lacht der Mensch ausgelassen, steckt die Klinge ein, fällt dem Studenten um den Hals, und ruft: Wir müssen Kameradschaft trinken, – Wieso? – Ich bin in deine Schwester verliebt, mein Junge; fährt der andere fort, ich sterbe, wenn ich nicht wenigstens bald zu ihr sagen kann: Wie befindet Sie sich, Jungfer? Du mußt mich bei deinen Eltern einführen, als einen Mitstudenten, als einen Freund aus dem Gasthause, als was du willst. – Nun erzählte der heftige närrische Mensch weiter, und es kam heraus, daß er Kaufmannsdiener sei, vor wenigen Wochen erst die Lehre verlassen habe, und in einer der eisten Handlungen Augsburgs konditionierte. Ein Zufall hatte ihm meine Schwester gezeigt. Dazumal wurden gerade Bittgänge gehalten und Gottesdienst gefeiert, zum Besten und Frommen der unglücklichen Rheinländer und Pfälzer, die unter dem Mordschwert des Königs von Frankreich bluteten. Bei einer dieser Prozessionen war der Kaufmannsdiener an Klaras Seite gekommen, und sie hatte ihm schnell gefallen, obschon sein Mund keine Silbe mit ihr gesprochen. Xaver, der in dem fremden jungen Mann einen Sohn wohlhabender Eltern aus einer entfernten Stadt erkannte, dem derselbe gefiel, ließ sich endlich bereden, gab den sonderbaren Gesellen für einen Bekannten aus, und brachte ihn in der Eltern Wohnung. Ach, nun beginnt eine schöne Zeit, sie umfaßt beinahe ein Jahr. Die Eltern gewannen den Fremdling lieb; Klara teilte seine Gefühle. Xaver sah eine schöne Zukunft für die Schwester leuchten. Die Mutter betete zu diesem Endzweck im stillen. Harmlos flossen die Tage, von Vertrauen, von Freundschaft und Liebe getragen, dahin! In dem engen Häuschen, in dem kleinen Garten waren alle glücklich. Aber – der Friede, das Glück hat seine Grenzen, und somit endigte auch dieses.«

Der Doktor sammelte sich hier, wehmütig werdend, und sprach nach einer langen Stille, gefaßt und trocken weiter: »Der junge Mensch hatte nicht redlich an der Familie gehandelt. In dem Augenblick, als alle, Klara selbst, im stillen auf eine baldige Erklärung und Werbung hofften, verließ er Augsburg, heimlich, schnell, um in die Heimat zurückzukehren. Ein Brief belehrte uns, daß er als Protestant – er hatte sich für einen der Unsern ausgegeben – nicht daran denken könne, aus der Neigung seiner Jugend Ernst zu machen, und mit blutendem Herzen sich von der Stelle losreißen müsse, die ihm teuer und lieb geworden, wie das Vaterhaus. Wir weinten; Klara verzweifelte fast. Die Jahre beruhigten zwar ihr Herz, aber – an dem Entfernten treu und eigen hängend, blieb sie Jungfrau, legte als fromme Wärterin die Eltern ins Grab, und folgte ihnen dann, zehn Jahre, nachdem er sie verlassen; mit seinem Namen auf den Lippen. Hiemit, mein Sohn, endigt sich die Geschichte, deren erster Teil noch jetzt meine Seele mit angenehmen Bildern füllt. Du hast meine Eltern; meine Schwester und mich kennen gelernt. Vor achtzehn Jahren habe ich Klara verloren, und heute – bewundere die Wege der Allmacht! heute finde ich ihn wieder, der sie verließ, der vielleicht ihr Leben abkürzte; finde ihn wieder, unglücklich, daniedergedrückt von schweren, schweren Aengsten, wie ich fürchte: ein armer elender Mensch, im Schoße des Ueberflusses der eiteln Welt!«

»Errate ich?« fragte James ungestüm, »der Senator?«

Der Doktor nickte mit dem Haupte. »Beinahe,« sagte er, »hätte mich die Schwachheit überrascht, ein Wohlbehagen zu empfinden, als ich ihn so erbarmenswürdig vor mir stehen sah, und jetzt erst bestimmt ins reine kam, daß er jener Walter sei, den ich – seltsam fürwahr – beinahe vergessen hatte. Kein Zug der Jugend mehr in seinem Gesichte; keine Zufriedenheit in seinem Hause; keine Ruhe in seiner Brust. Die Vergeltung hat an dir gearbeitet! wollte ich sagen, doch Gott hielt meine Zunge im Zaume. Klara hat mir ja auf dem letzten Lager ihre Liebe zu ihm als Vermächtnis hinterlassen, und ich muß ihn oder die Seinen glücklich machen, wenn ich's vermag; schon darum, weil ihn Klara geliebt, weil ihn Klara gesegnet hat –!«

»O ein heiliges Gefühl, ein heiliges Erbe ist die Liebe!« versetzte James mit einer wehmütigen Innigkeit. Der Doktor ergriff ihn fest bei der Hand, und redete: »Mein Sohn, hüte dich vor Sophismen, wie sie nur gar zu gerne die Leidenschaft gebiert, wenn sie sich in Fesseln spürt. Denke deines Versprechens, der Zusage, die du mir gegeben. Du gehörst nicht mehr dir selbst an, du gehörst nicht mir. Und wäre dies alles nicht, so sollte meine Erzählung dir bewiesen haben, daß Ungleichheit des Glaubens Verderben bringt.« – James schwieg mit bitterem Gefühle. – »Ich sehe, daß es Zeit ist, deine Besuche in des Senators Hause abzukürzen,« fuhr der Doktor sorglich fort, »die letzte Aufgabe vollende noch. Vielleicht begründest du dadurch das Heil einer Person, die du liebst, wie ich fürchten muß.«

– »Und gelänge es mir,« fragte James, Mut fassend, »dürfte ich alsdann hoffen, mein Vater?«

»Dein Schicksal hängt nicht von mir ab,« antwortete der Doktor, »wäre dieses aber auch – Sohn! hätten wir uns in dir getäuscht ...? Laß mich das nicht ahnen!«

»O, welch ein Schicksal ist mir bereitet worden?« seufzte der junge Mann, »zu welchem Gewerbe – mir widerstrebend, meinen Sinn empörend, wurde ich bestimmt! und zum Dank dafür verbietet man mir grausam, zu fühlen wie ein Mensch!«

»Dafür rasest du wie ein Tor,« unterbrach ihn der Doktor heftig, »zur Strafe wirst du deine bisherigen Andachtsübungen verdoppeln, bis ich es anders bestimme –!« Milder fuhr er und plötzlich besonnen fort: »Was wäre dein Schicksal unter den dänischen Dragonern gewesen, du Verblendeter? Du schlägst die Hand, die dir wohl tat. Dein Gewerbe empört dich? Das heißt: deine Pflicht gefällt dir nicht. Glaube mir, oft ist auch mir die meinige zuwider, aber ich erfülle sie dennoch ohne Murren, weil ich überzeugt bin, daß zu einem vollkommenen Bau der geringste Dienst vonnöten ist, wie der edelste. Die Leute, die im finstern Schacht den Keller wölben, haben durch ihre lichtscheue Arbeit mehr getan, als der Meister, der das leichte Prunkgetäfel anschlägt, und, den Blumenstrauß stecken auf den fertigen Bau, kann vollends jeder Lehrjunge. Bescheide dich also dankbar vor dem Höchsten, zu dessen größerer Ehre wir handeln, und bemeistere flüchtige Aufwallungen der Jugend, die immer nur eitel sind, und denen im vorliegenden Falle ohnehin nicht entgegengekommen wird.«

Dieses letzte Argument entschied. James fühlte wohl, was er empfand, aber die Empfindung der Geliebten war ihm mehr als zweifelhaft geblieben. Er schwieg daher halb unterwürfig, halb gekränkt, und waffnete sich mit starrer Kälte, als er am folgenden Tage des Senators Haus betreten mußte. »Wo will Er hin?« schnauzte ihn mit unerträglicher Grobheit der verdrießliche Nothhaft an, der ihm just entgegen kam.

»Zur Jungfer Justine.« – »Die Jungfer hat Kopfschmerzen. Komm Er ein andermal.« – James wollte, nachdem er mit leichtem Achselzucken den Ungeschliffenen gemessen, still davongehen, als sich Justinens Stimme von oben vernehmen ließ: »Kommt nur herauf, werter Monsieur; für Euch bin ich zu Hause, nur für den Neidhammel nicht, der Euch sans façon belügt, wie ein Schelm!« – James stutzte erfreut. Von Zorn brennend, und mit einem: »Verdammter Naseweis!« lief Nothhaft in das Kontor.

»Laßt Euch meine Sprache nicht befremden,« sagte Justine ohne Umstände in Gegenwart der Mutter zu dem jungen Engländer, »wir Deutsche haben – wie wir denn in allem derb sind – ein derbes Sprichwort, das man wohl sonst nur in Pöbels Mund hört, das aber stets wohl angebracht ist, wenn man vom Pöbel redet: Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil! Ich zweifle nicht, daß in Eurer Sprache sich ebenfalls ein ähnlicher Spruch vorfinden werde. Der Bursche, der Euch belog, ist der Klotz, der sich sogar einmal unterstanden hat, sich in mich zu verlieben. Ich bitte Euch, damals noch ein Kind von fünfzehn Jahren, sollte ich an dem blatternarbigen Ungeschickt eine Freude finden! Ich habe ihm das Zärtlichtun abgewöhnt; nun verfolgt mich jedoch der holde Amadis mit tausend Tücken und Nucken, die mir – wider seinen Willen – Spaß machen, weil ich sie gewöhnlich vereitle. Seit der letzten Horchern hat er auch auf Euch seinen hohen Zorn geworfen. Fürchtet Euch aber nicht, Monsieur, Ihr steht unter meinem Schutze.«

»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Mademoiselle,« antwortete James lächelnd, »doch wüßte ich schon selbst mir den Ueberlästigen vom Halse zu schaffen, wenn er mir ernstlich zur Last fallen wollte.«

»Das meine ich auch,« ließ sich die Senatorin breit und förmlich vernehmen, »Er hat starke Knochen, Monsieur, und mag sich durchhelfen. Für dich Justine schickt es sich indessen ganz und gar nicht, einem jungen Mann solche Promessen zu geben. Die Chapeaus sind doch, so Gott will, dafür in der Welt, uns zu beschützen, und es ziemen sich folglich solche kavaliere Redensarten keineswegs für eine schon Verlobte Tochter, Ich werde also ...«

»Uebergenug, beste Mama,« fiel Justine kurz abfertigend ein, »Sie verstehen es, mich zum Schweigen zu bringen, und Ihr, Monsieur beginnt die Lehrstunde!« – James gehorchte, doch Justinens Geist war keineswegs bei der Grammatik. Ungeduldig zählte ihr Auge die Minuten auf der Wanduhr, und sie machte Schicht, sobald die Glocke schlug. Ein Vorwand wurde bald gefunden, den Lehrer zu begleiten, und schnell raunte sie ihm zu: »Wie ist's Herr? habt Ihr der armen Französin das Geschenk gebracht? Lindert es ihr Elend? Was ist ferner zu tun?« – James erwiderte verlegen: »Ich bringe Ihnen der Unglücklichen heißen Dank. Ihre reichliche Gabe hat sie in Ueberfluß versetzt, und zu ihrem Glücke fehlt nur noch eins: Sie, freundliche Geberin, von Angesicht zu sehen; Ihnen mündlich danken zu können!«

»Ratet der guten Frau ab,« versetzte Justine ängstlich, »sie soll ja nicht hierher kommen. Der Vater, er ist ohnehin mürrisch, würde es nicht gerne sehen. Die Mutter gibt in ihrem Leben kein Almosen, und ich hätte nur Verdruß, wenn es herauskäme, daß ich mein Taschengeld ...«

Sie stockte, besann sich einen Augenblick und setzte dann hinzu: »Die arme Frau soll sich deshalb nicht so grämen. Ich wünsche selbst, sie zu sehen, mich nach ihren Bedürfnissen zu erkundigen, aber Ihr begreift, es geht nicht an, daß sie komme. Ja, wenn ich ein Mittel wüßte ... ich würde mich gerne selbst einmal zu ihr schleichen ... ich helfe gar zu gern ... aber ... ich weiß nicht ...«

»Das Mittel wäre leicht,« entgegnete James, etwas zögernd, »vertrauen Sie sich mir an, ich führe Sie; in einer Stunde sind wir hin und zurück gegangen.«

Justine blickte ihn neugierig und strenge forschend an, »Ich halte Euch für einen Ehrenmann, Herr White. Ich würde mich nicht fürchten, mit Euch zu gehen. Aber, wann? Ich will nicht mit Euch gesehen werden, und am Abend gehe ich nicht aus, mögt Ihr wissen,«

»So bleiben uns die frühen Morgenstunden,« meinte James, und der Vorschlag gefiel Justinen. – »Schön!« rief sie, »das paßt. Mutter schläft fest bis um neun Uhr, Vater ist vor acht nicht sichtbar, und kümmert sich nicht um mich. Um sechs Uhr also. Dann sind die Straßen noch ziemlich leer von den Leuten, die mich nicht sehen sollen. Wartet meiner morgen um diese Stunde am Neumarkte. Wollt Ihr das tun, so wird mir das artige Abenteuer Freude machen.«

James versicherte seine Bereitwilligkeit und ging, nicht mit leichtem Herzen, aus dem Hause. Justine schwelgte dagegen in dem Genusse ihres kleinen Geheimnisses. Der Umstand, die Wohltäterin einer Bedrängten geworden zu sein, schmeichelte ihrer Eitelkeit, und schien ihrem Leben eine gewisse Bedeutung zu verleihen. Sie sah sich nicht mehr verdammt, zwischen einer stumpfsinnigen Mutter und einem schwermütigen Vater den freudenlosen Pfad zu gehen; sie wirkte nach außen hin, und diese Idee erquickte ihren Geist, der ihr zu etwas Besserem geschaffen schien, als zu der Einklammerung in alltägliche Hausverhältnisse. Justine war so gut und liebevoll, als sie sich manchmal schroff und ungestüm gebärdete. Sie hätte gewünscht, die Pflegerin der Welt zu sein, alle Schätze der Goldminen Amerikas zu besitzen, um sie an die Armut zu verteilen. Sie konnte darum der Neugierde nicht widerstehen, das dankbare Geschöpf ihrer Milde zu sehen, dessen Not mit eigenem Ohre zu vernehmen, ihm Trost zu geben durch Worte und durch die freigebige Tat. Mit Ungeduld erhob sie sich, als der bezeichnete Tag angebrochen, von ihrem Lager. Ein Blick durchs Fenster belehrte sie, daß das schönste Wetter ihre heimliche Wanderung begünstige; schnell war sie in ein unscheinbares Gewand gehüllt, ihr Haar, ihr Antlitz von einem dichten Schleier bedeckt, und, bevor noch der Zeiger auf sechs Uhr wies, die Türe ihrer Schlafkammer leise, leise geöffnet. Ein Geräusch hielt sie auf der Schwelle zurück. Am Ende des Ganges öffnete nämlich auch der Senator behutsam die Türe seines Gemachs, und trat, wie auf den Zehen, heraus; völlig angezogen. Langsam schritt er die Treppe hinab, und ging aus dem Hause. Justine war betroffen. Sie hatte den Vater gestern am ganzen Tage nicht gesehen. Eine Sitzung des Senats hatte ihn, seinem Vorgeben nach, fern gehalten. Und heute, dieses leise, schleichende Ausgehen ... es kam ihr seltsam vor. Allein, was war denn, seit jener unglücklichen Begebenheit, nicht seltsam in dem Benehmen ihres Vaters? Schnell gefaßt trat Justine ihren Weg an, um die Zeit nicht zu versäumen, und ihren Begleiter nicht warten zu lassen.

James hatte sich schon seit geraumer Frist auf dem Neumarkte eingefunden. Auch an ihm war der Senator, tief in Gedanken, vorbeigekommen. Mit klopfendem Herzen begrüßte er Justine, die eiligst herbei hüpfte, den Schleier nur leicht lüftete, mit dem Kopfe nickte, und zur Eile antrieb. Stumm ging James neben der Holden her, die ihre Schritte immer munterer förderte. Der Weg war jedoch weit. James führte seine Schülerin in ein entlegenes Quartier der Stadt, wohin sie noch nie gekommen war. Stutzig sah sie sich auf einer Kreuzstraße um und sagte englisch zu dem Führer: »Hat hier nicht die Ehrlichkeit ein Ende, Sir? und wie steht's mit der Euern?« – James lächelte etwas verlegen, deutete jedoch auf eine Türe und antwortete: »Wir sind am Ziele!«

Justine betrachtete diese Pforte aufmerksam. Nur eine Mauer stellte sich dar, über welche sparsame Efeugewinde herabhingen. Das Pförtchen, ohne Seitenfenster oder Lücke, war enge, niedrig, und sehr fest, von Eichenholz gezimmert. In der Umgegend, durch Gartenmauern und Gehege von dem Pförtchen abgesondert, standen nur einige halbverfallene, elende Wallhäuschen, deren Bewohner, im Taglohne arbeitend, schon beim Grauen des Morgenlichts ausgingen, und in später Nacht erst wieder heim kamen. Alle Türen und Fenster zu; nur hie und da schrie aus dem Innern ein eingesperrtes Kind, oder bellte ein angeketteter Hund. Mit fragendem Blicke deutete Justine auf die bezeichnete Türe. James nickte, und wollte an dieselbe pochen. Rasch hielt ihm das Mädchen die Hand, und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wo führt Er mich hin, Monsieur? Da hinein gehe ich nicht.« James betrachtete einen Augenblick ihre Miene. Die seinige verfinsterte sich nicht. »Nach Belieben!« entgegnete er schnell, »so gehen wir zurück, weil Sie sich fürchten.«

Der Vorwurf der Furcht, so wenig er verwunden sollte, traf sein Ziel. Justine maß von neuem mit dem Auge die verschlossene Türe, den zum Gehen gewendeten Jüngling, die menschenleere Nachbarschaft. »Glaubt Ihr, daß ich ein Kind sei?« fragte sie alsdann mit Vorwurf, »Furcht kenne ich nicht, Monsieur, aber ich muß drauf sehen, daß mein Vorwitz mich nicht an einen Ort bringe, der vielleicht meinem Geschlecht und meiner Familie gleich unangemessen wäre.«

»Wie, Mademoiselle?« fragte James mit flammenden Augen, »glauben Sie, daß ich fähig sei, Sie an einen solchen Ort zu führen? O wenden Sie schnell um, ich will Ihre Erniedrigung nicht.«

Justine machte ihm rasch ein Zeichen, zu schweigen, und faßte, an ihn tretend, seinen Arm. Sie hatte eines Mannes Schritt gehört, und in der Tat kam ein Herr um die Ecke der Mauer, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, und zum Ueberfluß einen Mantel um das Kinn geschlagen, daß auch kein Zug von ihm zu erkennen war. Einen flüchtigen Blick warf er auf die verhüllte Dame und ihren Begleiter, klopfte dann ziemlich vertraut zweimal an die rätselhafte Türe. Ein Mensch von gemeinem Ansehen öffnete sie, und schob hinter dem Eintretenden die Riegel vor. Justine hatte eben in dem Moment des Oeffnens die Aussicht auf einen Hof mit Bäumen, und ein darin stehendes Gebäude erhascht, »Kennt Ihr den Mann?« fragte sie ihren Führer. Er verneinte, »Es sieht doch da drinnen nicht wie in einer Mörderhöhle aus!« fuhr sie lächelnd fort, »wäre es Euch noch gefällig, mich zu begleiten?« – »Ihr wollt es?« versetzte James, »in Gottes Namen denn!« Er klopfte zweimal, wie der Vorgänger. Derselbe Pförtner schloß auf, bückte sich wie ein Bekannter vor dem Engländer, und begrüßte auch auf ein Zeichen desselben die Dame. Der Hof war bald durchschritten, das Gebäude bald erreicht. Tiefe Stille herrschte rund um das altertümliche Haus, das ehedem ein Kloster gewesen zu sein schien. Die in der Hausflur aufgeschichteten Geräte ließen vermuten, baß hier früher ein Magazin gewesen. Die halbdunkle, halbverfallene Holztreppe knisterte unter den Schritten der Kommenden. Neue Besorgnisse stiegen in Justinens Seele auf. Da pochte James an eine recht unscheinbare Türe. Sie ward geöffnet, und der Engländer mit seiner Begleiterin trat rasch hinein. »Mein Gott!« flüsterte nun James der letztern zu, »wir sind am unrechten Orte!« Aber schon hatte der Oeffnende, ein Pförtner, wie jener am Haupttore, die Türe zugemacht, und wies die Kommenden in einen hölzernen Verschlag, der zur Seite stand. Eine Bank war in dem dämmerigen Versteck zu sehen, und ein hölzernes Gitter gab die Aussicht auf das Gemach, in welches die Senatorstochter geraten war. Ein Spitzgewölbe, dem Ansehen nach eine verwitterte Kapelle, mit Grabsteinen auf dem Fußboden, und ausgebrochenem Ziegelpflaster. Die Fenster waren teils zerfallen, teils von Spinneweben umflort. An den Mauern liefen zu beiden Seiten Verschlage hin, dem ähnlich, in welchem sich Justine befand; teils mit vergitterten, teils mit offenen Fensterlucken; Betstübchen aus sehr lang verwichener Zeit. Durch die Oeffnungen waren tief verhüllte Männer, Weiber in Schleierhauben, Kapuzmänteln und anderer Vermummung zu sehen. »Wir sind in der ehemaligen Kapitelstube der Johanniter!« sagte James leise und verlegen zu der staunenden Freundin, »verzeihen Sie meinem Ungeschick. Schweigen Sie aber ja zu allem, was hier vorgehen möchte. Sie haben nichts zu befahren.«

Justine sah ihn starr an, und wendete sich, ohne eine Silbe zu erwidern, zu dem Gitter, um zu beobachten, was der Türsteher beginnen würde, der durch die Kapelle auf einen großen Kasten zuging, welcher am obern Ende derselben stand. Er öffnete das Schloß, hob den Deckel, schlug die vordere Wand herab, und siehe, es gestaltete sich ein Altar mit zwei hölzernen Stufen, und belegt mit einem sauberen weißen Linnen. Zwei Leuchter mit Wachskerzen, die der Diener anzündete, und einige Gefäße mit Blumen standen zu den Seiten eines Kruzifixes. Schmucklos war im übrigen der Altar. Der Diener nahm einige zinnerne Kännchen nebst Schüssel und Serviette aus einer Lade, setzte eine kleine Schelle auf die Stufen nieder, und entfernte sich durch eine enge Türe hinter dem schnell errichteten Opfertische, Justine sah nun deutlich, wie von den Leuten um und um Gebetbücher und Rosenkränze aus den Taschen genommen wurden, und sie ahnte, was hier geschehen würde. Diese Ahnung wurde zur Gewißheit, als die enge Türe wieder aufging, der Diener heraustrat, mit einem großen Buche in der Hand, aus welchem viele bunte Bänder herabhingen, und ihm ein ansehnlicher, ehrwürdig aussehender Mann folgte, in einem funkelnden, wunderlich geschnittenen Gewande, einen vergoldeten Kelch tragend, und in ernstes Sinnen und Gebet versunken. Justine hatte einigemal auf Bildern und in Kupferstichen römisch-katholische Priester in solchen Kleidern gesehen, und zweifelte nun nicht, sich an einem Orte zu befinden, wo man den römischen Gottesdienst unterm Schleier des Geheimnisses feierte. Welch ein Gefühl in ihrer Brust entstand, läßt sich nicht beschreiben. Unwillig gegen die ihrem Glauben widerstrebende Form, gegen den dienstfertigen Führer, gegen ihren eigenen Leichtsinn, hätte sie den Ort verlassen, aber die verriegelte Türe, die Furcht vor dem Aufsehen, das entstehen würde, mehr noch als das, ihre Neugierde hielt sie fest. Das Meßopfer begann mit der größten Ruhe, und der Anstand des Geistlichen versöhnte bald die Protestantin mit den Gebräuchen, die sie nicht faßte. Sie sah den Priester demütig vor den Stufen des Altars auf die Kniee sinken; sie fühlte, daß er vor dem Einigen seine Schuld bekenne, für sich und seine Gläubigen; und geheimnisvoll vorbereitend drangen die halblaut gesprochenen lateinischen Worte zu ihrem Ohr. Unwillkürlich machte sie die Gebärden der übrigen Zuhörer nach. Sie hörte stehend das Evangelium, beugte das Haupt bei der Wandlung. Sie genoß im Geiste das Abendmahl des Priesters mit, und als derselbe dem Volke verkündete, die Messe sei vorüber, als er wieder hinter der Türe entschwand, durch welche er gekommen, da bedauerte fast Justine, daß das seltsame, nie gesehene Schauspiel vorüber gegangen. Um den Eindruck, den dasselbe auf sie gemacht, noch aus dem baufälligen Hause mit sich in die freie Luft zu retten, drängte sie rasch den Begleiter, der sie zurückhalten wollte, nach der Türe, und trat, beinahe die erste der Davongehenden, aus der Kapelle.

»Was tun Sie?« flüsterte ihr James besorglich zu, »Sie werden sich verraten, erkannt werden! Wir hätten die letzten sein sollen!«

Von der triftigen Einrede erschüttert, stand Justine verlegen still, zog den Schleier fester zu, und sah kaum nach den Vorübergehenden, die, vermummt wie sie, mit flüchtigem Seitenblick von dannen zogen.

»Hier herein!« sagte mittlerweile der junge Engländer, und zog Justine in eine andere, nur angelehnte Türe, »hier finden wir, was wir gesucht, und indessen wird Haus und Hof von den neugierigen Gästen rein.«

Justine sah sich in dem Gemache um, und ward angenehm überrascht, ein ziemlich junges und hübsches Frauenzimmer, in prunkloser, aber sorgfältiger Kleidung, vor sich zu haben.

Dieses letztere bewillkommte sie demütig freundlich, mit einem wohlgesetzten Gruße in ausländischem Deutsch.

»Darf ich fragen ...?« äußerte Justine.

»Mein Name ist Lainez,« versetzte die junge Frau, »wie glücklich machen Sie mich, indem Sie mich eines Besuchs würdigen, und einer Gelegenheit, Ihnen zu sagen, wie dankbar ich für die großmütige Hilfe bin, die Sie mir durch den uneigennützigsten Wohltäter, durch Herrn White angedeihen ließen.«

»Die Offizierswitwe, von der ich Ihnen sagte,« schaltete James ein, »nur ein Zufall ließ uns die rechte Türe verfehlen.«

»So?« erwiderte Justine trocken, indem sie einen mißfälligen und mißtrauischen Blick auf den Engländer warf, sich aber dann schnell zu der Französin wendete: »Sie leben in einer geheimnisvollen Nachbarschaft, Madame.«

»Ich kenne meinen nächsten Nachbar nicht,« antwortete die Witwe unbefangen, und sah Justinen furchtlos in das Auge, »der Verwalter dieses ehemaligen Magazinhauses hat viel von dem bedeutenden Gelasse, in dem er befiehlt, an arme Mietsleute gegeben, und die Armut verkriecht sich gern. Die Hausgenossen sind mir fremd, bis auf eine alte, beinahe taube Frau, die mich mit Wasser und Holz versieht.«

»Ich glaube Ihnen,« versicherte Justine, indem sie der Freundlichen die Hand reichte, »Monsieur White wird um desto bekannter mit den Leuten sein, die ich soeben verließ.« »Ein Zufall, wie gesagt, Mademoiselle, brachte uns in die Mitte einer Versammlung, von der ich unter bei Hand einiges vernommen, zu welcher ich mich jedoch nicht zähle.«

Justine betrachtete ihn ungläubig, und erwiderte rasch und drohend: »Gleichviel, Monsieur, wie's Euch gefällt, mich zu belehren. Die Herrn und Frauen mögen unterdessen sorgen, daß nicht auch der Senat unter der Hand einiges von ihrem Tun vernehme. War mein Vater heute an meinem Platze, so war ein Unheil fertig. Wer bürgt übrigens dafür, daß ich nicht plaudere?«

»Ihr Herz,« versetzte James ruhig und zuversichtlich, »Sie sind ein zartfühlendes Weib. Sie werden nicht vorsätzlich Unglück über Menschen bringen, die es wagen, im Verborgenen eine Feier zu begehen, welche ihr Gewissen zu seiner Beruhigung verlangt, obgleich ein hartes Staatsgesetz sie verbietet.«

»Was ist denn hier im Werke? Was ist vorgefallen?« fragte Madame Lainez verwundert und neugierig.

Justine sagte: »Das kümmert Sie nicht, liebe Frau. Noch ein Wort zu Herrn White, ich bin Euch für die gute Meinung verbunden, Monsieur. Ihr fangt an, in meiner Seele zu lesen. Was wünscht diese wohl gerade jetzt?«

»Die Heimkehr,« antwortete James gefällig, »darf ich Ihnen wieder meinen Arm bieten?«

»Mit nichten, Monsieur. Ich werde ohne Euch den Weg nach dem Hause meines Vaters finden. Ich fürchte weitere Zufälle an Eurer Seite. Eure völlige Entfernung ist mein Wunsch, und bis Ihr diesen erfüllt, werde ich schon der Dame hier zur Last fallen müssen.«

»Welche Ehre!« beteuerte die Lainez, »wie schmeichelhaft diese Güte!«

»Sie zürnen?« fragte James gekränkt und bestürzt.

»Die ganze Stadt spricht von Justinens Launen,« erwiderte Müssingers Tochter, »ich habe heute die Kaprice, vorsichtig zu sein; ich werde sie auch morgen und übermorgen haben, und bitte Euch daher, dieses heutige Zusammensein als unser letztes anzusehen.«

»Sie verstoßen mich?« rief James mit den Lauten des tiefsten Grams, wollte heftig auf das Mädchen zugehen, faltete jedoch, sich besinnend, die Hände, warf noch einen seelenvollen Blick auf Justine, und empfahl sich dann rasch mit einer Verbeugung.

Justine hatte den schnellen Abschied nicht erwartet, und ihr aufgeregtes Mißtrauen machte einem wärmern, mildern Gefühl Platz. »Ich habe dem Monsieur vielleicht unrecht getan,« sagte sie langsam zu der Offizierswitwe, die neugierig auf ihrer Stirne las, »allein was soll ein Mädchen tun, dem ein Mann Ursache zu gerechtem Argwohn gab? Aengstlich auf der Hut sein, denn die Männer sollen lieben, uns mit Schlingen zu überziehen, und jenes Engländers Zufälle scheinen mir ein Netz. Nun aber zu Ihnen, meine Gute. Ihr Gesicht gefällt mir, wie Ihr Benehmen, davon keiner gewöhnlichen Herkunft zeugt. Lassen Sie mich wissen, worin ich Ihnen noch gefällig sein könnte.«

»Meine junge Dame, ich habe schon so vieles von Ihrer Güte genossen, daß ich unbescheiden sein würde, wenn ich ein Mehreres verlangte. Ihre Hilfe reichte hin, die Wohnung, in welcher Sie mich finden, wie ein anständiges Witwenzimmer auszuschmücken, und Sie würdiger aufzunehmen. Darf ich noch begehren, daß Sie Ihrer Milde etwas hinzufügen, so flehe ich Sie nur an, dem guten Herrn White, der trostlos von Ihnen ging, zu verzeihen, wenn ich gleich nicht weiß, wodurch er Ihren Unmut verschuldet hat.«

Justine bewegte ungeduldig das Haupt. »Warum reden Sie von ihm?« fragte sie, »ich habe Krieg mit ihm, nicht Sie; Sie scheinen viel von ihm zu halten.«

»Mademoiselle!« erwiderte die Lainez, »ich lebe eigentlich nur in meinen Wohltätern. Von der übrigen Welt habe ich Abschied genommen, seit ich meinen Mann verlor, der bei Denain den Tod eines braven Soldaten starb. Gott sei gelobt, daß die Handlungen eines wackern Mannes noch für dessen Witwe und Nachkommen Früchte tragen. Mademoiselle, mein Gatte, Viktor Lainez, machte, wir waren kaum einige Monate verbunden, an der Spitze seiner Grenadierkompanie die Schlacht bei Malplaquet mit. Der Himmel wollte, daß er den tapfern Boufflers aus der drohendsten Gefahr retten konnte, worein ein scheu gewordenes Pferd den Marschall versetzt hatte; ferner, daß er den kühnen Ritter St. George, der die Reiterei gegen die Feinde führte, durch einen heldenmütigen Angriff aus dem Gedränge riß. Villars belohnte freilich die seinem Nebenbuhler Boufflers geleistete Hilfe nur mit Geiz und Verdruß, aber des Marschalls Familie verließ mich doch nicht in meiner Not. Und als ich, vom Mißgeschick dem vaterländischen Boden entfremdet, hier in Krankheit verfiel, erwarb mir des Ritters St. George Rettung einen Freund in dem guten James White. Das Ungefähr machte ihn mit meiner Lage bekannt; kaum hörte er, daß mein seliger Mann dem Stuart, den er mit vielen tausend Engländern als König verehrt, einen Ehrendienst geleistet, als auch sein Beistand sich verdoppelte. Er wußte, selbst mittellos, seinen Pflegevater, den Doktor, in mein Interesse zu ziehen, mein Schicksal zu erleichtern, und endlich in Ihnen nicht minder einen guten Engel für mich zu gewinnen.«

»So?« versetzte Justine, beinahe mit einem Anstriche von Eifersucht, »es muß Ihnen peinlich sein, Madame, von einem jungen Manne abzuhängen. Frauen sollten billig wieder nur Frauen die Erleichterung eines unverdienten Mißgeschicks verdanken. Welches ist denn Ihr weiteres Ziel? Ohne Zweifel sehnen Sie sich, in die Heimat zurückzukehren?«

Die Lainez schüttelte traurig den Kopf. »Ich finde nur Gräber dort, die mir wert sind,« antwortete sie, »meine Lieben sind alle hinüber. Weitläufige Verwandte, die die Aufhebung des Edikts von Nantes aus ihrer Heimat verwiesen, leben zu Berlin. Ich kenne diese fremden Vettern und Basen nicht, und fürchte, sie werden auch mich nicht kennen wollen.«

»Ihre Furcht möchte gegründet sein,« begann Justine nach einigem Nachdenken. Die Lainez fuhr fort: »Und ist es nicht grausam, daß ich diese Ueberzeugung hegen muß? Trage ich denn die Schuld, daß mein Vater, seiner Familie Vorteil berücksichtigend, den katholischen Glauben für sich und die Seinigen annahm? Die Auswanderung hätte uns zugrunde gerichtet, um Gut und Leben gebracht. Im Grunde ist es ja doch gleichviel, unter welchen Gebräuchen wir Gott verehren. Wir sind die Kinder eines Vaters, und, so gut von ihm die zahllosen Sprachen verstanden werden, in welchen die Welt zum Himmel betet, so gut versteht er auch des Herzens frommen Willen von der Form zu sondern.«

Justine sah ihr bewegt, scheu und dennoch freundlich ins Auge. »Sie sprechen gut, Madame!« sagte sie, »Sie erregen meine lebhafteste Teilnahme. Ich werde Sie wieder sehen; ganz gewiß, Madame. Ich will über Ihre Zukunft mit Ihnen reden. Verlassen Sie sich auf mich. Ich bin ein junges Mädchen, aber ich habe meinen eigenen Kopf. Ich dürfte Ihnen von größerem Nutzen sein, als der Monsieur White. Es wäre mir lieb, wenn Sie sich seinem Beistande entzögen, und mir erlaubten, Ihnen schicklichere Dienste zu leisten. Ich muß überlegen ... mein Gott! ich habe diesen Morgen schon so vieles gehört und gesehen; ... sagen Sie mir aufrichtig: Sie wissen in der Tat nicht, was in Ihrem Hause, Ihrem Zimmer gegenüber, vorzugehen pflegt?«

»Wahrlich: nein, Mademoiselle.«

»So bleibt mir nichts übrig, als die Delikatesse zu bewundern, womit sich augenscheinlich eine Gesellschaft Ihrer annimmt, zu welcher Sie eigentlich gehören, die es aber vermeidet, Sie in ihren Kreis zu drehen, um Sie der Gefahr einer möglichen Entdeckung zu entziehen. Oder ... will man erst Ihrer Verschwiegenheit gewisser werden,«

»Noch einmal, Mademoiselle, ich verstehe Sie nicht.«

Justine rieb sich ungeduldig die Stirne. »Ich werde ganz verwirrt,« sagte sie, »Ihre Unwissenheit ... Whites rätselhaftes Betragen ... ist der Monsieur Protestant oder nicht?«

»So viel ich weiß: ja.«

»Und Sie, Madame, sind, wie Sie sagten, Katholikin?«

»Aufrichtig zu sein, Mademoiselle, muß ich Ihnen bekennen, daß mein Vater, ob er gleich zur Messe ging, dennoch Protestant geblieben. Wir Kinder folgten, größer geworden, seinen Grundsätzen. Herr von Lainez ließ mir freien Willen in Religionssachen. Meine Verwandten zu Berlin werden freilich nie glauben, was ich Ihnen soeben gestand, aber es ist nicht minder wahr, daß ich einem Rücktritt mich entgegen sehne.«

»Dann müssen Sie aus diesem Hause!« lief Justine lebhaft, »ja Madame, Sie müssen, ehe Sie erfahren ...«

»Was, Mademoiselle?«

»Ich werde überlegen, nachdenken, Sie dieser Lage entreißen. Glauben Sie mir; ich will nur Ihr Heil, Ihres Leben« Wohl.«

»Erklären Sie sich ...«

»Ein andermal ... morgen oder übermorgen! Soeben schlägt die Stunde, in der ich schon zu Hause sein sollte. Ich verlasse Sie jetzt, um Sie bald gefaßter wieder zu sehen. Veranstalten Sie indessen, daß ich den Engländer hier nicht finde. Leben Sie wohl, meine Beste. Keinen Dank für die Kleinigkeit, die ich Ihnen reichen durfte; ich wünsche, ich hoffe, ein Mehreres für Sie tun zu können. Adieu.«

Justine ging in der heftigsten Bewegung von dannen. Die Lainez folgte ihr verlegen über den Hof; öffnete ihr die Pforte, und des Senators Tochter eilte die Gasse hinauf. James, der an der Ecke ihrer wartete, wie ein armer Sünder seines Richters, hätte zu keiner unpassenderen Zeit in ihren Weg treten können.

»Was wollt Ihr?« fragte sie ernst und hastig, und streifte an ihm vorüber.

»Mademoiselle!« entgegnete er verschüchtert, »hassen Sie mich nicht, ich wollte meine Reue... ich hatte nicht Ruhe... darf ich nicht ein Wort ...?«

»Inkommodiert Euch nicht, Monsieur,« sagte Justine kurz, »schleicht nicht an meiner Seite hin. Bleibt zurück. Ihr wißt bereits wie ich denke. Adieu.«

Der niedergedonnerte James blieb in der Tat, an der Geduld der Zornigen verzweifelnd, zurück, und schlug den Weg in eine andere Straße ein. Er rannte an einer bekannten Figur vorbei; an dem Kaufmannsdiener Berndt, der ihn von der Seite mit einem Blicke, ohne ihn zu grüßen, maß, und dann eiligst der Jungfer folgte, die er wahrscheinlich von ferne, mit James redend, gesehen.

White hatte indessen nicht Zeit, nicht Besonnenheit genug, über diese Begegnung nachzudenken, Die, wie er sich bewußt war, verschuldete Mißbilligung und Verachtung eines geliebten Mädchens, auf dessen Gedankenkonsequenz nicht gehörig gerechnet worden war, kränkte ganz allein sein Herz, erfüllte sein Gemüt. Er verwünschte im raschen Laufe nach seiner Wohnung seine Bestimmung, sein Geschick, seine Liebe, und den Zwang, dem er unterworfen. Mit tränendem Auge und hochschlagender Brust erreichte er sein Stübchen, und warf sich, wie trostlos auf das Lager. Er hatte nur wenige Minuten mit geschlossenen Augen seine Sinne gesammelt, als er hinter der Bretterwand, die sein Gemach von dem Schlafkabinette des Doktors trennte, das Geräusch einer aufgehenden und zufallenden Türe vernahm, El horchte, und unterschied die Stimme des Doktors, die Stimme des Senators Müssinger.

»Erholen Sie sich,« sagte der erstere, »in allen Verhältnissen des Lebens ist uns Fassung am nötigsten. Der Mensch ist seiner Herr, sobald er über seinem Schmerze, wie über seinem Glücke steht. Die Erinnerung an das Jahr 1690 hat Sie übel angegriffen. Hier stört uns niemand; hier lauscht niemand.«

»Arme Klara!« seufzte der Senator, »nach neunundzwanzig Jahren muß sich dein Andenken so grell in meinem Gehirne erneuern! In welcher bösen Zeit mein Freund! O, in welchen betrübten Stunden!«

»Klara ist im Himmel, Herr Senator. Sie sitzt zu den Füßen der Gebenedeiten, und sieht gewiß segnend auf uns herab, denn dort oben löscht jeder Groll aus, und Klara grollte Ihnen auch hienieden nicht.« »Welche Reden, würdiger Herr! Das sind Worte des Trostes, der unendlichen Zuversicht auf unendliche Barmherzigkeit! Aber – was hilft es? Ein stummer Fluch verfolgt mich, und weil mein frevelhafter Leichtsinn ein unschuldig Herz gebrochen, bricht die Schuld das meine.«

»Der Schatz göttlicher Liebe ist groß, unermeßlich. Vertrauen Sie dem Heiland. Ich darf seine Stelle auf Erden vertreten, wenn ein reuiges, nach Versöhnung lechzendes Gemüt sich vor dem Kreuze in Staub wirft. Sie erschraken beinahe, Herr Senator, als ich, Vertrauen mit Vertrauen vergeltend, Ihnen bekannte, daß ich die Weihen meiner Kirche trage. Wollte die heilige Mutter Gottes, daß Sie auch derselben angehörten! um zu erproben, ob ich den Beruf und die göttliche Gnade zu meinem Stande besitze.«

»O!« stieß der Senator nach einigen Augenblicken mit Gram und Kummer heraus, »fast wünschte ich auch, einer der Ihrigen zu sein, daß ich auf Milde und Vergebung rechnen dürfte.«

»Die Sonne scheint dem Bösen, wie dem Guten,« antwortete der Doktor mit Salbung, »der Verirrte hat in seinem Irrtum selbst Anspruch auf die Gnade seines Schöpfer«, um wie viel mehr der Bereuende? der Entfremdete, der einen Blick des Sehnen« nach der trauernden Heimat zurückwirft? Beruhigen Sie sich, bester Freund. Das Wort, das Sie soeben gesprochen haben, macht Sie schon gleichsam zu den unsrigen. Ich trage daher – die Macht benützend, die unsere frommen Väter im Namen des Statthalters Gottes auszuüben begannen – kein Bedenken, Ihnen die Tröstungen unsrer Religion anzubieten, da Ihnen, wie ich bemerke, diejenigen, welche Ihre bisherige Lehre Ihnen zu geben vermag, nicht zulänglich scheinen. Sammeln Sie Ihr Gedächtnis, mein werter Sohn, und erleichtern Sie Ihr Herz. Mein Ohr ist Ihnen offen, und meine Hand bereit, jeden Kummer aus Ihrer Brust zu nehmen, und den Balsam der Versöhnung dafür hinein zu legen.«

Der Doktor schwieg, und James hörte Stühle rücken, den Senator verlegen husten, und endlich mit unsicherer Stimme erwidern: »Ich danke Ihnen, würdiger Herr, für die Wohltat, die Sie mir zu erzeigen bereit sind. Allein, obgleich mein Herz sich nach der himmlischen Speise sehnt, und ich nicht leugnen mag, daß es noch empört ist von der starren Härte, mit welcher der Diener meiner Kirche meinem kindlichen Vertrauen entgegen kam, so muß ich doch nicht minder bekennen, daß die in der Jugend eingesogenen Grundsätze und Lehren mir zu verbieten scheinen, von Ihrer barmherzigen Freundschaft Gebrauch zu machen. Ich bin nie ein Kopfhänger gewesen, leide nur seit einiger Zeit an den schweren Skrupeln meines Gewissens, ich darf nur von der mildesten aller Religionen Milderung meines Zustandes erwarten, aber – das ist die Macht des Vorurteils, wenn Sie es so nennen wollen, daß ich in meiner Angst nicht weiß, ob ich auf Ihren Vorschlag eingehen darf, wenn ich gleich sonst an jeder Tröstung verzweifle.«

»Herr Senator!« lautete des Doktors ruhige und alsobald folgende Antwort: »Sie gebrauchen das rechte, das wahre Wort. Vorurteil! so heißt die schwere Kette, die das Herz an die Erde bindet, während es sich umsonst bestrebt, sich zu Gott zu erheben. In der heidnischen Fabel von dem Vogel Phönix finden Sie den Zustand, einer mutigen Seele angegeben, die, über Zeit und irdische Hinfälligkeit hinaus verlangend, sich durch ein heilig Feuer reinigt, um mit Gott vermählt zu werden. Die Heiden verstanden selbst die Fabel nicht, die sie dichteten, aber dem wahren Christen muß sie verständlich sein. Er verbrenne in der Anschauung des Höchsten den vom alten Adam umsponnenen Körper, und mit ihm alles Irdische, damit er in Gott verjüngt werde. Er lasse sich nicht von weltlichen und irrtümlichen Fesseln halten, um das Wahre zu finden. Er verschmähe nicht die herrlichste Frucht, weil ihm etwa von Kindheit auf aberwitzige Leute gesagt Haben, sie sei ungesund.« »Indessen,« fuhr der Doktor fort, nachdem er einen Augenblick inne gehalten, »indessen rottet man das Vorurteil, für welches der arme, irrende Mensch nicht kann, nicht mit Gewalt aus. Die zarten Blumen verlangen von ihrem vorsichtigen Gärtner eine kluge, treue und sanfte Pflege. Welche Milde entwickelt daher unsere Kirche, die, allen Lästerungen zum Trotze, dennoch die weiseste, sanfteste – und freudigste Gärtnerin im Paradiese des Herrn ist? Sie spricht also zu Ihnen, mein werter Freund und Beichtsohn: Es ist nicht zu leugnen, daß gebieterische Umstände das Abweichen von der gewohnten und vorgeschriebenen Regel entschuldigen. So gilt zuzeiten das mündliche Testament eines vom gerichtlichen Testieren abgehaltenen Sterbenden; so gilt die Nottaufe des Vaters, der Wehmutter, und im dringenden Fall tauft Wein oder Sand wie das reinigende heilige Wasser. Soll ich noch von den Begräbnisgebräuchen reden, die der Kapitän eines Schiffes, in Ermangelung eines Geistlichen an den verschiedenen Matrosen verrichten darf? oder von der Absolution, die im Augenblicke der Schlacht der Soldat seinem Nebenmanne erteilen darf, als komme sie aus Priesters Munde? Es wäre überflüssig, mich weiter darüber zu verbreiten. Ihre Seele liegt in Extremis, Herr Senator, und ob ein katholischer Priester oder ein Prädikant ihr beisteht, gleichviel! wenn sie nur gesundet!«

»Wahr, ehrwürdiger Herr!« versetzte Müssinger, »jedoch ...«

Der Doktor unterbrach ihn alsobald: »Mit wie viel größerem Rechte aber bietet Ihnen meine Kirche ihre tröstende Hand! Sie dringt sich Ihnen nicht auf, sie bettelt auch nicht um Ihre Genehmigung zu Ihrem Heil! Sie will Sie nicht erst überreden, sich zu ihr zu wenden; sie macht alte Rechte auf Sie geltend. Wahrlich, mein Herr Senator, was auch Ihre Partei sagen mag, die katholische Kirche ist Ihre Mutterkirche. Sie haben ihren Schoß verlassen; aber die Mutter hat Sie nicht aufgegeben. Sie sind, indem Sie zu den Gebräuchen der katholischen, der allgemeinen Kirche zurückkehren, kein Proselyt für diese letzte, kein Abtrünniger von Ihrer Sekte; Sie sind ganz einfach nur dem verirrten Kinde zu vergleichen, das wieder ins Vaterhaus zurückkommt, und sich an die gewohnte Stelle am Tische setzt. Die römische Kirche ist Ihr Haus, auf welches sich Ihre Ansprüche nicht verjähren, so wie sich hinwiederum das Recht derselben auf Sie nicht verjährt; ob es anerkannt werde, oder nicht. Darum begehen Sie nicht nur keine Sünde, sondern Sie üben eine Tugend, wenn Sie dem Zuge Ihres Herzens ohne Zweifelmut folgen, da es Ihnen selbst sagt, daß ich wahr geredet habe.«

»Ihre Worte rühren und ergreifen mich,« erwiderte der Senator, »verlangen Sie aber nicht, daß mein so befangener geängstigter Geist sich davon überzeugen lasse. Ich bin keiner der Frommen in meiner Kirche, aber wenn es darauf ankömmt, die dem Knaben eingepflanzte Lehre zu vertauschen; so rasch, so unüberlegt ...«

»Verlange ich denn dieses?« fragte der Doktor sehr sanft, »hat denn der Mensch seinen freien Willen umsonst? Ist denn die Kirche neidisch auf den Pflegling, der einer irrtümlichen Idee nachjagt? Keineswegs. Dem Vater ist es Freude genug, wenn der Sohn einmal wieder nach Hause kommt, unbekümmert, ob ihn der nächste Augenblick wieder von dannen reiße. Weil die Mutter nur um seinetwillen da« Kind liebt, füllt sie dem Scheidenden die Reisetasche mit köstlicher Speise und mit Ruhe die Brust. Mag es dann wieder fremdem Zuge folgen; sie liebt es nicht minder zärtlich.«

»Sie meinen also, daß der Seelentrost, den Sie mir verheißen, von mir genossen werden kann, ohne daß ich aus der Glaubensbahn treten müßte, die ich bisher beschritt?«

»Nichts faßlicher als dieses. Soll ich von Ihnen einen Eid verlangen, der Sie um nichts näher dem Vater bringt, dem Sie doch einmal angehören? Werde ich von Ihnen erst ein Glaubensbekenntnis fordern, das von dem Verlangen Ihrer Seele schon ausgesprochen wurde? Ohne es zu wissen, waren Sie schon wieder der Unsrige geworden – und ist, mein werter Beichtsohn, in Ihrem Sündenbekenntnisse und der daraus entspringenden Vergebung, der erneuerte Bund mit der wahren Kirche erst aufgegangen, so ist alles geschehen, was Sie im Grunde bedürfen. Sie sind im Innern wieder geworden, wozu Sie Gott erschuf, und das genügt uns. Von Ihrem Gutdünken, und der Forderung Ihrer Seele allein wird es abhängen, ob Sie nicht in der Befolgung aller Gebräuche unsrer Kirche eine größere Beruhigung finden möchten. Die Weisheit Gottes und seines Stellvertreters auf Erden ermächtigt uns, in den Fällen, deren Gewicht unsre Nachsicht verlangt, den Rücktretenden, den heimkehrenden Söhnen und Töchtern, jede öffentliche Aussprechung dieser Handlung zu erlassen, damit die Vereinigung mit der allgeliebten Mutter, dem Vater und dem Sohne, und dem Geiste, nicht durch weltliche Rücksichten und Bedenklichkeiten aufgehalten oder gar verhindert werde. Doch dieses berührt Sie vorderhand nicht, mein werter Beichtsohn, den ich als einen Gast freundlich zum Tische des Allbarmherzigen lade. Machen Sie sich demnach keine weitere Gemütsbewegung; sammeln Sie Ihre Gedanken, und beginnen Sie, im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit, die ungeschmückte schlichte Schilderung des Kummers, der Sie bedrängt, und der Sünden, von denen wir alle nicht rein sind, in meinen Schoß niederzulegen.«


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