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Vierzehntes Kapitel.
Allerlei Friede.

Die Brüder mußten wieder gehen. Sie befahlen Hildegard und ihren künftigen Lebensweg in Gottes Weisheit und Barmherzigkeit. Als sie am Abend des Ostermontags nach Heilbronn zurückkehrten, sprachen sie darüber, daß Hildegard ihrem Vater wohl bald folgen werde.

Du legst mich in des Todes Staub, sagt der Psalmist. Hildegard empfand den ganzen Ernst dieser Worte. Sie, die jetzt erst dreiundzwanzig Jahre zählte, die in einem schönen Familienkreis aufgewachsen war, stand allein in der Welt, nur noch bewacht und versorgt von einem einfältigen Knechte. Alle, alle ihre Lieben dahin in kurzer Zeit! Des Todes Macht haben in jenen Jahren des Schreckens viele erfahren, niemand wohl mehr als diese Jungfrau. Aber mehr noch als je vorher stand vor der Seele der Heimgesuchten, der Kranken das andere Wort: In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.

Am ersten Vormittag, den sie allein mit Uz im Sondersiechenhaus im Tuffingsthal zubrachte, kam die Witwe Diez. Sie wagte es, mochte daraus für sie entstehen, was da wollte, ins Haus am lichten Tag hineinzugehen. Sie sprach liebreich mit der Vereinsamten, hatte aber auch eine Botschaft an sie auszurichten. Die Äbtissin wollte sie sprechen am gleichen Ort und zur gleichen Zeit wie das erstemal. Hildegard erschrak. Sollte sie am Ende den Zufluchtsort verlassen müssen? Ach, wenn auch dies noch ihr auferlegt würde! Wohin sollte sie sich dann wenden? Aber Frau Diez sprach ihr Mut zu, und sie bekam die Kraft, auch diese Sorge an Gottes Herz zu legen. Sie machte sich beim Läuten des Klosterglöckleins auf zur Brücke. Als sie nicht mehr weit davon aufblickte, sah sie, daß die Äbtissin schon auf der Brückenmauer saß. Andere Nonnen waren nicht zu sehen. Die Äbtissin wollte offenbar allein sein mit Hildegard. Diese beeilte sich, zum Ziele zu kommen, wurde aber nun von einem solchen Husten befallen, daß sie kaum mehr Atem bekommen konnte.

»Armes Kind«, sagte voll Mitleid die Äbtissin, »setzt Euch doch!« Hildegard war zu schüchtern und folgte erst der wiederholten Aufforderung.

»So ist Euer Vater erlöst, und Ihr seid allein – und krank?« fuhr die Äbtissin mit liebevoller Teilnahme fort. »Was gedenket Ihr denn zu thun?«

Hildegard schaute mit ihren großen dunkeln Augen, die in ihrer Krankheit noch mehr glänzten als früher, die Äbtissin an und fragte mit Spannung: »Darf ich nicht bleiben, ehrwürdige Frau?«

»Ich werde Euch gewiß nicht vertreiben, arme Schwergeprüfte! Ich bedaure Euch nur in Eurer Einsamkeit und möchte Euch heraushelfen.«

»Wohin soll ich gehen, ehrwürdige Frau? Bin ich doch für den Rest meiner Tage ausgeschlossen aus aller menschlichen Gemeinschaft!«

»Wollt Ihr nicht in unser Kloster kommen?«

Hildegard schaute die Äbtissin an, als hätte sie dieselbe nicht recht verstanden.

»Es ist mein Ernst, liebe Tochter, ich frage noch einmal: Wollt Ihr nicht in den Frieden unsres Klosters einziehen? Ich will meine Ordensoberen fragen, ob ich Euch nicht aufnehmen darf, da offenbar der Aussatz des Vaters Euch nicht angesteckt hat. Habe ich die Erlaubnis, und sie wird mir gewiß nicht versagt werden, dann sollt Ihr unter meinem Schutz und unter der Pflege meiner Schwestern Euch erholen. Für Euren Knecht soll auch gesorgt werden. Der mag im Häuslein bleiben und einen Acker umtreiben, den ich ihm anweisen werde.«

»Wie groß ist Eure Güte, ehrwürdige Frau, aber ich kann Eurer Aufforderung nicht folgen! Ich« – sie wollte weiter reden, aber ein neuer Hustenanfall plagte sie. Als sie endlich wieder Luft hatte, fuhr sie mit wehmütigem Lächeln fort: »Ich bin aussätziger, als Ihr glaubt, ehrwürdige Frau. Eure große Liebe und Freundlichkeit zwingt mich, Euch ein Bekenntnis abzulegen. Ich bin durch Waldenser eine Freundin des Evangeliums geworden; ich habe gelernt ohne Priester und ohne Messe, ohne die sichtbare Kirche zu leben und mit meinem Gott zu verkehren. Ihr könnt ein Mädchen dieser Art in Eurem Kloster nicht brauchen!«

Hildegard war darauf gefaßt, im Gesicht der Äbtissin etwa Schrecken oder Abscheu zu finden. Aber im Gegenteil mit strahlender Freundlichkeit schaute die Klosterfrau das Mädchen an, indem sie sagte: »Waldenser waren noch nie in unserem Kloster, aber könnten nicht vielleicht trotzdem Seelen unter uns sein, denen das Evangelium lieber ist als alles andere? Hildegard, wenn Du eine Freundin des Evangeliums bist, dann sind wir Schwestern. Wüßte ich nicht, daß neugierige Augen drüben im Kloster auf uns gerichtet sind, und daß thörichte Nonnenherzen es falsch auslegen könnten, ich würde Dich hier als Schwester umarmen und Dir den Schwesternkuß auf Deine Stirne drücken!«

Hildegard faltete die Hände und sagte, innig zum Himmel aufblickend: »O, Herr, wie führst Du doch die Deinen!«

Die Äbtissin fuhr fort: »Nun, Schwester, frage ich noch einmal: Willst Du, wenn die Oberen ihre Erlaubnis geben, einziehen zu uns, damit ich Dich pflege?«

»O, wie so gerne!« antwortete Hildegard und preßte die Hände an die Brust.

»Es mögen noch einige Wochen darüber hingehen, bis die Erlaubnis gegeben wird, indessen gedulde Dich und sei dem befohlen, den unsere Seelen gleichermaßen lieben, und dem wir verlobt sind in Ewigkeit!«

Die Äbtissin erhob sich. Die Nonnen, die zu allen möglichen und unmöglichen Öffnungen des Klosters ihre Äbtissin beobachtet hatten, konnten nichts wahrnehmen, was gegen die Ordnung und das Gesetz des Klosters verstoßen hätte. Die Aussätzige war in der gehörigen Entfernung geblieben und kehrte in ihren Bergungsort zurück.

Der armen Hildegard Krankheit wuchs trotz der Freude, welche ihr die Äbtissin bereitet hatte. Es wurde auch dem guten Uz oft angst, wenn er die Herrin so arg husten hörte. Er besann sich, in Heilbronn von der alten Barbara oft gehört zu haben, daß die und jene Kräutlein gut seien für den Husten. Bei Tag durfte er sich ja nicht hinauswagen in Feld und Wald. Aber wenn kaum der erste Schimmer des Tags den Rand der Wälder deutlicher sich am Himmel abheben ließ, dann schlich sich Uz hinaus und suchte die Kräuter und Blumen. An der Mittagssonne ließ er sie trocknen, und mit dem freundlichsten Grinsen brachte er den Trank, den er bereitet hatte.

Hildegard konnte nicht mehr den ganzen Tag sich aufrecht halten; sie mußte sich häufig niederlegen. So lag sie auch an einem Sonntag nachmittag auf ihrem Lager, müde geworden von dem Husten, der ihre Brust zu sprengen drohte. Sie schlummerte. Es träumte ihr, sie sei in ihres Vaters Hause in der Klostergasse. Sie sah von der Galerie des ersten Stockes über den Hof hinüber, hinauf zur Galerie der Kammern, in welchen die Gäste beherbergt wurden. Sie hörte den alten Pietro sprechen. Der kurze Traum war zu Ende, sie schlug die Augen auf. Träumte sie weiter mit offenen Augen? Sprach denn nicht eben noch Pietro? Ja er sprach mit Uz, dem Getreuen, der einst ihn in Kurt Hartmuts gastliches Haus geführt hatte, ihn, den auf der Landstraße Zusammengebrochenen.

Und noch eine Stimme hörte Hildegard, als sie sich jäh von ihrem Lager aufrichtete. Aber es war nicht Giovannis Stimme; es war Meister Vaihinger, der draußen redete. Die Beiden traten ein. Mit großer Bewegung, mit kaum verborgenem Schrecken über das üble Aussehen Hildegards begrüßte Pietro die Kranke.

»Ach, daß auch Ihr mich hier gefunden habt!« sagte Hildegard und ein lebhaftes Rot stieg für einige Augenblicke in ihrem Gesichte auf. Und noch einmal schoß ein flammendes Rot hin über ihre blassen Wangen, als sie nach einer kleinen Pause fragte: »Ihr seid allein, wo ist Giovanni?«

»Daheim bei unserem Herrn!«

»Auch er!« rief Hildegard, sank auf ihr Kissen zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Wie ist er heimgeholt worden?« fragte sie nach einer Weile, und Thränen standen in ihren Augen.

»Er hat mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen in Würzburg seinen Glauben bezeugt. Es ist ihm eine Freudigkeit geschenkt worden, die auch seine Richter und das Volk in Staunen setzte.«

»Er ist daheim; ich folge bald«, lispelte kaum hörbar Hildegard.

»Dich hat der Herr gestärkt, meine Tochter!« fuhr Pietro fort. »Ich habe mit Freude gehört, daß auch Dein Vater noch ein Freund des Evangeliums geworden ist. Wie viel haben wir Grund zum Dank!«

»Aber was habt Ihr im Sinne, Vater Pietro? Ihr habt die Stütze verloren, an die Ihr Euch gewöhnt hattet.«

»Die Brüder stehen mir mit doppelter Liebe zur Seite. Und wenn der Herr will, so werde ich wieder einen Genossen finden.«

Die beiden Brüder redeten noch manches mit Hildegard.

Eine selige Wehmut, die Gewißheit, daß ihr Heimweh bald gestillt sein werde, erfüllte das Herz der Kranken. Für die Nacht zogen sich die beiden Brüder nach Reisach zurück. Am Morgen wollten sie noch einmal nach Hildegard sehen. Sie kamen. Da saß Uz vor dem Häuslein und weinte bitterlich.

»Was ist geschehen?« fragte Pietro.

Uz konnte nicht antworten, er erhob sich und ging ins Haus, die beiden einladend, ihm zu folgen. Sie traten ins Stübchen.

Mit selig lächelndem Gesicht schlief Hildegard, sie schlief den Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr giebt ins Elend des Erdenlebens.

Mit gefalteten Händen betete Pietro: »Sei gepriesen, o Herr, daß deine Gnade sich verherrlicht hat an dieser deiner Magd und daß du ihr durchgeholfen hast zu deinem ewigen Lichte!«

Dann verließen die drei miteinander das Sterbebett der Jungfrau, um sich draußen vor dem Häuschen zu beraten, was sie thun wollten. Kaum standen sie im Gärtchen, so sahen sie zwei Nonnen auf das Gehege zukommen.

Die stutzten, als sie beim Knechte zwei fremde Männer sahen, aber Uz rief ihnen zu: »Kommt nur herein!« Als sie schüchtern das Gärtchen betreten hatten, fragte sie Meister Vaihinger nach ihrem Begehr. »Wir haben von der Äbtissin der Jungfrau etwas auszurichten. Wo ist sie?«

»Tretet nur näher!« sagte Pietro. Zagend begaben sie sich ins Haus und merkten bald, daß sie zu spät gekommen waren; sie konnten Hildegard nicht mehr in den Klosterfrieden holen. Aber ergriffen vom lieblichen Totenbild sanken die Nonnen in die Kniee und beteten für die Abgeschiedene; hinter den Nonnen standen mit gefalteten Händen die zwei Waldenser und Uz der Einfältige.

Die Nonnen kehrten nach Lichtenstern zurück. Als die Äbtissin die Botschaft hörte, schloß sie sich in ihre Zelle ein. Sie hatte am Abend sehr verweinte Augen.

Neben den Vater begruben sie, als eben die Sonne hinter der Weibertreue unterging, Hildegard. Als sie zur Ruhe gebettet war, sollten die Wege der Waldenser auseinander gehen. Meister Vaihinger wollte zurück nach Heilbronn, Pietro aber über den Wald nach Hall. Was aber sollte aus Uz werden? Der sagte zu Pietro: »Ihr kennet mich schon lange, Ihr wißt, wie ich nicht viel reden kann über das, was Ihr miteinander sprechet vom Worte Gottes. Aber für den Herrn Christus und die Freunde des Evangeliums lasse ich mich gerne verbrennen. Nehmet Ihr mich mit? Ich folge Euch überall hin und will gerne Euer Diener sein.«

»Nein, nicht mein Diener, sondern unser lieber Bruder sollst Du sein, Uz!« sagte mit weicher Stimme Pietro, und er und Meister Vaihinger gaben am Grabe Hildegards dem einfältigen Knecht den Bruderkuß.

Nun wurde noch beschlossen, daß Vaihinger die Ziegen ans Haus der Witwe Diez führen sollte. Die Vogelbauer öffnete Uz und ließ seine Lieblinge in den Abend und in die Freiheit hineinfliegen. Dann bat er die beiden, sie mögen ihn noch einmal allein lassen.

So schauten Pietro und Vaihinger in den Abendhimmel hinein, wie er verglühend sich ausbreitete über das Weinsberger Thal. Über den Waldesrand hinter dem Kloster stieg der Vollmond herauf. Uz aber lehnte sich zwischen den beiden Gräbern an die Hecke, schloß die Augen, und nun begann eine Nachtigall zu schlagen, so zart und schmelzend und wieder so voll und tief, so klagend und fragend und dann wieder so freudig und zuversichtlich, so heimwehkrank und so voll seliger Befriedigung. Pietro wischte sich die Augen. Droben aber im Klostergarten lauschten die Nonnen und sagten: »Eine sonderlich liebliche Nachtigall ist zu uns gezogen.« Endlich schwieg die Nachtigall.

Die Männer verabschiedeten sich und mit dem alten Pietro, der schon mehr als einmal nur wie durch ein Wunder dem Rachen des Todes entrissen worden war, stieg Uz den Berg hinan durch den schweigenden Wald, Uz, der bereit war, für den Herrn Christus zu sterben.

Des andern Tags aber führte die Äbtissin ihre Nonnen alle ins Sondersiechenhaus im Tuffingsthale und ließ sie den Psalm singen: »Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden; dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.«

*

Wie aber sah es in Heilbronn aus?

Der »Pfaffenkönig« Karl IV. hatte keinen Gegner mehr, nachdem Günther von Schwarzburg gestorben war. Nun suchte man überall im Reich wieder ins Reine zu bringen, was in den Zeiten des Kampfs und des Schreckens verworren worden war. Und so kam auch in Heilbronn auf besondere Weise ein Friede zu stande. Ihn vermittelten die Grafen Eberhard der Greiner und Ulrich IV. als königliche Landvögte durch ihren Beichtvater Johann von Tachenhusen.

Da ging es freilich durch manche Demütigungen hindurch. Zuerst mußten die von der Pest verschonten Pfarrherrn, der Kirchherr voran, bei geschlossenen Thüren in St. Kilian Buße thun dafür, daß sie durch Hunger und Gefängnis sich hatten bewegen lassen, das vom Papst durch den Bischof ausgesprochene Interdikt eigenmächtig aufzuheben. Es war eine scharfe, schwere Buße, die der Erzbischof Balduin von Trier verhängte. Dann aber kam die Bürgerschaft daran. In langen, wollenen Hemden, barfuß, brennende Kerzen in den Händen tragend, mußten alle, die ein Amt in der Stadt hatten, zweiundfünfzig an der Zahl, bei der Kirche sich aufstellen.

Der gräfliche Beichtvater, Johann von Tachenhusen, trat unter die nördliche Turmhalle und rief: »Ziehet hin an den Turm, in den Ihr mit frevlem Übermut die Priester des Herrn eingesperrt habt und sprechet dort, den Turm berührend: »Vergieb uns, Herr, unsre Missethat!« Dem Befehl gehorchend zogen die Büßenden dahin durch die Menge der ernsten Zuschauer, die sich bekreuzten und mit den Büßenden murmelten: »Wir haben gesündigt, vergieb uns, Herr, unsre Missethat!«

Vom Turme kehrten sie zurück zur Kirche. Hier öffnete der Bruder Johann von Tachenhusen selbst die Thüre, und der Zug der Büßer samt dem Volke durfte nun das Gotteshaus betreten, um dort aus dem Munde des erzbischöflichen Abgesandten die Lossprechung vom Interdikt zu vernehmen und zu hören, daß durch die Gnade des Erzbischofs auch das nachträglich für giltig erklärt werde, was die Priester seit ihrer Rückkehr aus dem Adelberger Turm in der Gemeinde vorgenommen hatten. So war denn auch das Totenamt giltig, das dem Kaufmann und Ratsherrn Kurt Hartmut, seiner Tochter und seinem Knechte bei lebendigem aber aussätzigem Leib gehalten worden war.

Die päpstliche Gewalt hatte in Heilbronn wieder gesiegt. Der Bau der Nikolaikirche wurde im gleichen Jahre 1350 begonnen, eine Sühne für den früheren Ungehorsam.

Mit Ausnahme von wenigen stillen Leuten, die in der Verborgenheit Freunde des Evangeliums blieben, beugten sich die Heilbronner unter das Joch der mittelalterlichen Kirche, bis die Wittenberger Nachtigall zu schlagen anfing, und der Sohn des Heilbronner Glockengießers Lachmann den Glockenton des evangelischen Glaubens und der evangelischen Freiheit über seine Vaterstadt hintönen ließ.


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