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Siebtes Kapitel.
Die Freunde des Evangeliums.

Bruno kam mit dem alten Eberhard auf dem Schiff zurück, gerade ehe der Frost der Schiffahrt Halt gebot. Eltern und Geschwister durften bald wahrnehmen, daß die Reise nicht ohne gute Folgen für den Jüngling gewesen war. Er war zwar durchaus noch nicht derselben Meinung wie der Vater, aber er hatte auf seiner Reise gesehen, daß der Kampf, der in seiner Vaterstadt und in seines Vaters Hause die Gemüter so aufgeregt hatte, auch an anderen Orten tobte. Wenn er in Köln den Tag über mit Eberhard den Geschäften nachgegangen war und dann abends in der Herberge den Gesprächen der Gäste zuhörte, so fand er bald, daß durchaus nicht alle Kölner es mit ihrem geistlichen Kurfürsten, dem Erzbischof hielten, der ein Gegner Ludwigs und ein Freund des Markgrafen Karl, des Sohnes des Königs Johann von Böhmen, war. Wo sie sonst noch am Rhein Städte besuchten, da fanden sie fast überall, daß trotz des Papstes Bann und der geistlichen Kurfürsten Feindschaft Ludwig treue Anhänger habe. Und die Leute, die so dieselbe Ansicht hatten, wie sein Vater, das waren doch oft recht wackere, gute, fromme Menschen.

Auch sah Bruno bei seiner Rückkehr, daß alles scheinbar wenigstens wieder ganz in der alten Weise vor sich ging. Die Priester hielten Gottesdienst, die Leute kamen wieder zur Messe, die Beichtstühle wurden wieder besucht; ihm selbst wehrte es kein Mensch, in die Kirche zu gehen. Hätte er schärfer aufgemerkt, so hätte er gesehen, daß die Mutter nicht mehr beim Kirchherrn beichtete, sondern beim Pfarrherrn Sifrit Busenhart, daß Hildegard sehr selten in die Kirche ging und gar nicht mehr zur Beichte, und der Vater nicht oft. Aber dies alles nahm Bruno nicht wahr gegenüber der Hauptsache, daß zwischen dem Hause in der Klostergasse und der Kirche der Friede äußerlich wieder hergestellt war. Bruno war bald nach seiner Rückkehr in der Präsenz gewesen. Er hatte, und dagegen machte der Vater gar keinen Einwand, den Geistlichen kleine Geschenke mitgebracht. Er wurde freundlich aufgenommen, insbesondere von Sifrit Busenhart, aber auch bei ihm hatte Bruno den Eindruck, als habe sich ein leichter grauer Schleier über alles gelegt, über den ganzen Mann, über seine Zelle, über alles, was er redete.

Kurt Hartmut hatte im Jahre 1345 einen Erfolg um den andern erringen dürfen. Es war das schönste Jahr seines Lebens. Daß es in den verschiedenen Kämpfen Wunden gegeben hatte, das verbitterte ihm die Erinnerung an das Geschehene nicht, das machte ihm das Errungene nur um so wertvoller. Aber er war nicht der Mann, der jetzt gerne geruht hätte. Sein Sieg gegenüber der Präsenz gab ihm den Mut, weiter zu gehen. Daß so viel Grundbesitz in die tote Hand, ins Eigentum der Kirche, der Klöster übergegangen war, das hatte ihn ja schon lange mit Sorgen erfüllt. Nun galt es für ihn, diesem Schaden entgegenzuarbeiten. Er sah die ganze Schwierigkeit klar ein. Er wußte gut, daß er nicht etwa den Einzelnen es verbieten könne, Stiftungen zu machen. Aber auf die drohende Gefahr wollte er immer und immer wieder im Rate hinweisen, wollte immer wieder Berechnungen anstellen, wie viel es Ausfall an Steuer gebe, wenn ein Grundstück um das andere den Abgaben entzogen werde. So lag denn auch im nächsten Jahre der Arbeit, des Kampfes genug vor Kurt Hartmut. Ja, auch des Kampfes. Denn daß die Priester und die Mönche, auch die Deutschherren, eine Beschränkung der Stiftungen als eine Feindseligkeit gegen die Kirche und Klöster ansehen würden, das erfuhr Hartmut bald. Aber sein Wahlspruch war: ›Viel Feind, viel Ehr!‹ und so ging er nicht zagend, sondern mit frischem Mut der neuen Arbeit und dem neuen Kampf entgegen.

Frühjahr und Sommer waren wieder über die Neckarstadt dahingegangen, die große Messe war wieder gekommen und mit ihr der Arbeit gerade genug für alle, die im Kaufmannshaus in der Klostergasse aus- und eingingen.

Der erste Tag war verlaufen wie sonst auch. Hildegard hatte in ihrem Teil fleißig mitgeholfen und sehnte sich nach dem Feierabend. Da drängte sich durch die Käufer und durch die Waren im Hofe ein Knabe hindurch, gab ihr ein kleines Röllchen in die Hand und eilte alsbald wieder zum Hofe hinaus. Hildegard besah sich, was ihr zugesteckt war; es war ein kleines Papierstreifchen, mit einem Schnürchen zusammengehalten. Sie ließ es zunächst in ihre Tasche gleiten. Denn vorerst galt es noch, für die Arbeit des Jahrmarkts zur Hand zu sein. Als aber das Thor geschlossen wurde, eilte sie in ihre Kammer und öffnete zitternd die Schnur, welche das Röllchen zusammenhielt. Ihr Herz sagte es ihr, von wem der Streifen komme; von niemand anders als von denen, welche vor einem Jahr gerade in diesen Tagen in ihrem Hause als Gäste geweilt hatten. Hildegard täuschte sich nicht. In lateinischen Buchstaben standen die deutschen Worte aus dem Zettelchen: »Die das Wort verkündigen, das von Anfang war, die sind bei Meister Vaihinger. Um Mitternacht kommen dort die Brüder zusammen. Man klopft dreimal leise an die Thüre und sagt: »Ihr seid das Salz der Erde.«

Purpurröte ergoß sich über das Angesicht Hildegards; ihr Herz schlug hörbar. So waren sie also wieder in Heilbronn, Pietro und Giovanni, waren wieder unter dem Schutze der großen Messe hereingekommen! Und beide trauen es ihr zu, daß sie einer Einladung zur Brüderversammlung Folge leiste! Wie können sie solches Vertrauen zu ihr haben? Es wird ihr klar: jene haben es an sich selbst erfahren, welche Kraft das Gotteswort hat, jene wissen, daß auch sie dem Worte Gottes Einfluß auf ihr Herz gestattet hat, so trauen sie es dem Worte Gottes zu, daß es ihr Herz mutiger und opferwilliger gemacht habe. Sie sollen sich in ihr nicht getäuscht haben. Sie weiß wohl, was sie aufs Spiel setzt, alles, ihren guten Namen, ihr Glück im Elternhause, ihr Leben. Aber sie hat gelernt, nach einem andern zu fragen. Und in dem Ruf der Waldenser hört sie den, nach dem allein sie zu fragen pflegt; sie hört die Stimme Christi, der sie beruft, damit sie gefördert werde in der Erkenntnis des Wortes. Was sie längst gewohnt war, das thut sie auch jetzt. Sie kniet in ihrer Kammer nieder und betet zu dem, der täglich in seinem Wort zu ihrer Seele spricht. Sie befiehlt sich in seine Gnade, bittet um seinen Geist, bittet um Kraft und Mut, um Beständigkeit und um Weisheit. Als sie nach dem Gebet in die Stube eilte, um den Tisch zum Abendbrot zu richten, da liegt auf ihrem Gesicht ein stiller Friede. Sie kann ruhig mit den Ihrigen reden, wie wenn nichts geschehen wäre.

Alles im Hause geht um der Meßarbeit willen früher zur Ruhe. Hildegard schläft nicht. Sie hat sich einen der Thorschlüssel verschafft. Sie sieht darin kein Unrecht. Die Mutter würde ja nur Herzeleid empfinden, der Vater würde sie nicht verstehen, Bruno würde sie hassen. Sie muß allein ihren Weg gehen. Hildegard weiß, daß um Mitternacht der Wächter ruft, daß er die Kirchbronnengasse heraufkommt, unten an der Klostergasse vorübergeht und sich dann zur Sülmergasse wendet. Wenn er drüben in der Kirchbronnengasse die Mitternachtsstunde anruft, dann will sie sich zum Thor hinunterschleichen und hinter ihm drein in gehöriger Entfernung zur Rappengasse eilen. Das überlegt Hildegard, indem sie wachend auf ihrem Bette liegt. Demnach handelte sie auch, und so gelangte sie um Mitternacht an das Haus des Meisters Vaihinger. Sie klopfte leise dreimal und sagte, allerdings mit stockender Stimme: »Ihr seid das Salz der Erde.« Daß es eine fremde Frauenstimme war, fiel drinnen auf. Hildegard hörte, daß man sich besprach. Da vernimmt sie deutlich die Stimme Pietros, der sagt: »Öffnet, es ist eine Schwester!« So that man ihr auf. In der Hausflur brannte ein kleines Öllämpchen, das kaum mehr als eben nur den Weg zeigte, den man ins Innere des Hauses zu gehen hatte. Hinten führte eine kleine Treppe in den Oberstock; unter der Treppe war eine zweite Hausthüre, die nach hinten in einen Hof sich öffnete. Aus die Treppe zu geleitete die Frau des Meisters Vaihinger die zagende Hildegard. An der Treppe aber stand Pietro, ergriff freudig die Hand der Jungfrau und sagte zu ihr: »Der Herr sei mit Dir, meine Tochter! Gelobt sei sein Name, daß Dein Herz fest geworden ist!« Mit Hildegard ging Pietro die Treppe hinauf und führte sie durch ein Wohnzimmer in eine geräumige Kammer, in welcher um einen einfachen Tisch Bänke aufgestellt waren. Auf dem Tisch stand eine Lampe. Es war durch einen Schirm dafür gesorgt, daß von ihr kein Strahl ins äußere Zimmer und durch das Fenster desselben auf die Gasse fallen konnte. In der Kammer roch es stark nach Pech und Leder; auch die an die Wand gerückten niederen Tische und Schemel bekundeten es, daß hier bei Tage des Meisters Werkstätte sei. Es waren schon mehrere Männer, auch einige Frauen versammelt, als Hildegard, von Pietro geführt, schüchtern eintrat.

Alsbald aber kam ihr aus dem Halbdunkel der Kammer Giovanni entgegen und ergriff mit freudigem Blick die Rechte Hildegards. »So habt Ihr, Jungfrau, den Weg hieher gefunden! Der in Euch angefangen hat das gute Werk, der wird es vollenden!«

»Wie freut es mich, daß der Herr Euch beide behütet und nun wieder in unsere Stadt geleitet hat!« sagte Hildegard leise und mit gesenkten Augen.

Bald waren alle versammelt, die erwartet worden waren. Es waren noch einmal soviel Leute, namentlich mehr Frauen als damals, da Uz den Giovanni zu dem Meister Vaihinger geführt hatte. Das Interdikt hatte den Liebhabern des göttlichen Worts manchen Freund in der Stille gewonnen.

Pietro fing an zu reden. Es fiel Hildegard alsbald auf, daß er viel leichter der deutschen Sprache sich bediente, als das Jahr zuvor. Er sagte: »Der Herr hat mich und meinen Neffen nach manchen Wanderungen glücklich wieder hieher gebracht; er hat uns einigemal aus dem offenen Rachen des Todes gerettet. Er hat uns, wenn wir verzagen wollten, neu gestärkt; er hat unser Leben vom Verderben erlöset, er hat uns gekrönt mit Gnade und Barmherzigkeit. Er hat auch in dieser Stadt wieder Seelen zur Erkenntnis der Wahrheit geleitet und hat hinzugethan solche, die den Namen des Herrn Jesu lieb haben. Dafür wollen wir zu allererst ihm Lob und Dank sagen!« Mit diesen Worten ließ sich Pietro auf die Kniee nieder; alle folgten seinem Beispiel. Und nun redete Pietro mit seinem Gott, wahrhaft wie ein Kind mit seinem Vater. Was er anbetend, lobend und dankend, bittend und flehend vor dem Thron Gottes niederlegte, das hatte in allen Herzen Widerhall gefunden, das floß aus allen Herzen zusammen zu einem Strom im Geist und in der Wahrheit. Pietro schloß; mit ihm erhob sich die Versammlung und verteilte sich dann auf den Bänken, die in der Kammer standen. Am Tische ließen sich mit den beiden Waldensern Meister Vaihinger, Schmied Büttinger und der Weingärtner Bobach nieder. Giovanni schlug ein Evangelienbuch auf und las, was der Evangelist Johannes schreibt über Jesum, den guten Hirten. Er redete darüber so einfach, daß ein jedes Kind es verstehen konnte. Hildegards Augen hingen an den Lippen Giovannis. Sie sah im Geist Jesum vor sich, nicht wie er in der Kirche gemalt war mit starrem, strengem Gesicht, den großen Heiligenschein ums Haupt, sondern in schlichter Gestalt, in einfachem Gewand, aber mit Augen voll suchender Liebe; ja, er hat seinen Hirtenstab auch über sie ausgestreckt. Wenn Jesus spricht: ›Ich habe noch andere Schafe, dieselben muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden‹, dann weiß es Hildegard – Giovanni bezeugt es ja so nachdrücklich – daß auch sie dazu gehört.

Pietro redete, nachdem Giovanni seine Erklärung geschlossen, zu dem Gelesenen, aber auch der Schmied Büttinger gab Zeugnis davon, daß die Worte des Evangeliums in seinem Herzen Wurzel gefaßt hatten, daß eine neue Erkenntnis in ihm herangewachsen war. So sprachen die Freunde des göttlichen Worts wohl eine Stunde lang, und die Frauen lauschten. Da war kein Wort der Anklage gegen die Kirche, kein herbes Urteil über die Priester, kein geringschätziges Absprechen über die, welche durch die Priesterschaft sich bevormunden und gängeln ließen. Aber zum Angesicht Jesu Christi schauten sie alle auf, und vom Geiste Jesu Christi wurden sie alle gesegnet. Den Schluß machte der Weingärtner Bobach mit einem Gebet, zu welchem die ganze Versammlung wieder niederkniete. Dann gaben die Männer sich den Bruderkuß, auch die Frauen umarmten sich.

Hildegard stand noch etwas zagend auf der Seite. Keine der Frauen wagte, sie zu umarmen. Da trat Pietro auf sie zu, legte die Hand auf ihr Haupt und sprach: »Der gute Hirte reiht auch Dich ein in die Schar seiner Gläubigen.« Und zu den Frauen gewandt, sagte er weiter: »Nehmet sie auf als eine Schwester im Herrn!« Und nun traten sie alle hinzu, die einfachen Frauen aus dem Volk und küßten die Ratsherrntochter aus die Wange. »Morgen um dieselbe Stunde wieder!«, sagte Meister Vaihinger, »und unser Losungswort morgen: Jesus der gute Hirte! Er selbst aber geleite Euch alle sicher heim!«

Eines um das andere verließ das Haus, teils durch den Hof, teils durch die vordere, gegen die Rappengasse gelegene Thüre. Bald huschten sie wie die Schatten so leise dahin durch die verschiedenen Gassen der oberen und unteren Stadt. Bald war auch Hildegard wieder glücklich in ihrer Kammer. Ihr übervolles Herz ließ sie nicht so bald einschlafen. Aber der wundersame Friede, der in der Versammlung bei ihr eingezogen war, gab ihr Kraft, am nächsten Tage all' ihren Verpflichtungen nachzukommen, gerade so, wie wenn sie die beste Nachtruhe gehabt hätte. Niemand der Ihrigen bemerkte die geringste Spur von Übermüdung; freundlich und friedlich gegen jedermann war sie den ganzen Tag thätig, und stille Freude auf die kommende Nachtversammlung erfüllte ihr Herz.

Ohne jede Störung oder Hemmung konnte Hildegard an der zweiten und dritten Versammlung teilnehmen. Sie wollte zum viertenmal zu der Vereinigung der Brüder und Schwestern; sie wollte jede Gelegenheit benützen. Denn nicht mehr allzulang konnten die beiden Waldenser in Heilbronn weilen; am letzten Meßtage gedachten sie die Stadt zu verlassen. Hildegard war glücklich bis an die Ecke gekommen, wo die Rappengasse in die Sülmergasse einmündet. Da vernimmt sie Schritte in der unteren Sülmergasse. Sie drückt sich bei der nächsten Hausthüre an den Thürpfosten und regt sich nicht mehr. Sie hört dann keine Schritte mehr. Sie glaubt, sie habe sich getäuscht und sucht nun möglichst leise und behend zum Hause des Schuhmachers Vaihinger zu kommen. Aber sie hatte sich nicht getäuscht. Meister Reinold war es gewesen, der von einem Kranken in der Sülmergasse kam und in seine nahe Wohnung in die Jakobsgasse zurückkehren wollte. Ihm war die huschende Frauengestalt aufgefallen. Er dachte, er könne Kurzweil haben, wenn er den Nachtschmetterling zu haschen suche. So schlich auch er dem Orte zu, da er zuletzt die Gestalt gesehen. Er sah sie auf das Haus zueilen, hörte das Pochen, hörte einzelne Worte. Je näher er kommt, um so mehr erinnert ihn die Gestalt an Kurt Hartmuts Tochter. Aber ehe er sich Gewißheit verschaffen kann, hat sich die Thüre wieder leise geschlossen. Doch schon schleicht von der Lammgasse her wieder eine Gestalt dem Hause zu, ja bald eine dritte und vierte. Immer das leise Pochen, immer das Flüstern.

Die Neugierde des Arztes wird groß. Was wird hier getrieben? Wenn wirklich hier Hartmuts Tochter wäre! Er umschleicht das Haus; es liegt ganz still da, kein Laut ist vernehmbar, kein Lichtschimmer sichtbar. Doch halt! hat nicht dort ganz hinten an einem Laden ein dünner Lichtstrahl aufgeblitzt? Er drängt sich in dem Winkel, der des Schuhmachers Haus vom Nachbarhause trennt, vor und blickt forschend auf. Da sieht er oben an einem Laden wieder einen feinen Lichtstreifen. Wenn er nur oben wäre! Er tastet in dem Winkel weiter und findet am Nachbarhaus an einem vorspringenden Balken angelehnt einige Holzstangen, wie sie zum Stützen der Obstbäume verwendet werden. Er sucht sich mit tastenden Händen die stärkste heraus und stellt sie neben den Fensterladen an die Wand, wo sie an einem Pflock, der wohl zum Aushängen von Wäsche dient, Halt findet. Leise klettert der Arzt empor, bis sein Auge in der Höhe des Spaltes ist, der den Lichtschimmer durchfallen läßt. Da sieht er denn zu seiner größten Befriedigung die ganze Versammlung, sieht die Fremdlinge und die Einheimischen, sieht auch die Frauen. Aber die letzteren kehren ihm alle den Rücken, haben auch alle ein Tuch um den Kopf geschlungen. Es ist ihm unmöglich zu erkennen, ob Hildegard dabei ist. Die Frauen schweigen. Die Männer reden alle mit gedämpfter Stimme. Er strengt sich an, Worte zu erhaschen; er hört, wie der junge Fremde redet von der Angst in der Welt, hört auch den Jesusnamen einigemal, vermag aber keinen Zusammenhang zu erraten.

Da wirft eine der Frauengestalten den Kopf etwas nach hinten. Das ist Hartmutische Bewegung, das ist Hildegard! Meister Reinold hat genug gesehen. Er gleitet an seiner Stange wieder zum Boden ab.

»Eine Ketzerversammlung! Da also find' ich den Schlüssel zu dem Rätsel, warum Hartmuts Tochter mit dem Evangelium kommt, wenn man mit ihr redet«, dies waren die Gedanken des Arztes. Dann besinnt er sich, was er thun wolle. Eines weiß er, er hat Hildegard in seiner Hand. Aber wie will er seine Macht ausnützen? »Warte nur, Du sollst mir noch danken müssen!« spricht er leise vor sich hin. Während er aus dem Winkel schlüpft, stößt sein Fuß an einen Stein, der ins Rollen kommt und Lärm verursacht.

Dies wurde oben in der Versammlung gehört. Es trat alsbald in der Kammer Totenstille ein. Die geschärften Ohren glaubten, schnell sich entfernende Schritte zu hören. Hildegard teilt nun leise mit, sie glaube, schon auf dem Herweg beobachtet worden zu sein. Meister Büttinger erbot sich, vor dem Hause zu sehen, ob er etwas Verdächtiges finde. Er, der starke Schmied, fürchtete sich nicht; wenn es nötig war, nahm er es mit Dreien auf. So wurde die Versammlung fortgesetzt. Pietro sagte: »Ihr seht es, Brüder und Schwestern, daß wir immer wieder in der Welt Angst haben müssen. Es ist der Wille unseres Herrn, daß wir die Verfolgten seien und bleiben. Aber wenn nur er unser Friede ist!« Man sprach noch hin und her, wie sonst. Da eilt der Schmied die Treppe herauf und ruft: »Fort! fort! rettet Euch, die Scharwache kommt die Lammgasse vor!«

»Die Frauen voraus, zur hinteren Pforte, in den Hof!« ruft Meister Vaihinger.

Hildegard ist wie gelähmt. Wohin soll sie fliehen? Sie will bleiben. Man soll sie nur hier finden!

»Ihr müßt fort, Schwester Hildegard, Ihr dürft nicht hier bleiben,« ruft ihr der Weingärtner Bobach zu. Schon hat sie Giovanni an der Hand ergriffen und zieht die noch Zaudernde zur Kammer hinaus durch die Stube auf die Treppe zu. Während sie die Treppe hinabgeht, macht sie sich von der Hand Giovannis los und eilt auf die vordere Hausthüre zu. »Nicht doch, Hildegard!« ruft Giovanni. »In den Hof!« Aber schon hat das Mädchen die Hausthüre geöffnet und stürzt hinaus. Giovanni ist mit einigen Sätzen bei ihr. Die untere Rappengasse herauf hört man die Stimme des Arztes: »Auf! denen nach, die eben das Haus verlassen!« Aber die Todesangst beflügelt die Schritte der Jungfrau, so daß Giovanni kaum im stande ist, sich neben ihr zu halten. Einer plötzlichen Eingebung folgend, eilt Hildegard nicht dem väterlichen Hause zu, sondern biegt blitzschnell links in die Adelbergergasse ab. Das war geschehen, ehe die Verfolger aus der Rappengasse in die Sülmergasse gelangt waren.

»Schnell, lauft doch, nur immer der Klostergasse zu, wir müssen sie vorher abfangen!« hört man den keuchenden Meister Reinold rufen.

Hildegard bleibt plötzlich stehen und zwingt durch einen jähen Ruck ihren Begleiter dasselbe zu thun. Schon eilen die Verfolger unten an der Gasse vorüber, entlang dem Barfüßerkloster. Da ruft der Arzt: »Halt, sie sind nicht mehr vor uns!«

»Schnell, schnell!« flüstert Hildegard und beginnt wieder zu laufen. Sie eilt dem Adelberger Turm zu und gelangt an die Stufen, die zum Pförtchen führen, ehe die Verfolger wieder umgekehrt sind und die Adelberger Gasse heraufhorchen. Hildegard drückt an die Pforte, sie giebt nach. »Gott sei gelobt, wir sind gerettet!« entringt es sich der Brust der Jungfrau. Die beiden schlüpfen hinein, und drücken leise die Thüre hinter sich zu. Hildegard tastet nach einem Riegel, findet ihn und schiebt ihn vor. Schon kommen die Verfolger die Adelbergergasse heraus. Die Flüchtlinge hören, wie einer sagt: »Sind's Hiesige, so werden sie doch nicht in diese Sackgasse sich verstecken.«

»Sucht nur alle Ecken und Winkel ab«, mahnt der Arzt.

Sie suchten sehr genau; sie kamen zum Turm. Sie gingen in die beiden Winkel vor, welche der Turm mit der Stadtmauer bildete.

»Was ist's mit dem Turme selbst?« fragte Meister Reinold. »Die Pforte ist immer geschlossen«, antwortete eine Stimme. Der Arzt aber gab sich nicht zufrieden. Er rüttelte an der Thüre und wollte sich überzeugen, ob sie nicht vielleicht nur von innen zugehalten werde; aber beim Rütteln hörte der Arzt, daß Eisen sie schloß. So zog er mit seinen Begleitern ab. Wie pochte doch Hildegard das Herz, solange die Verfolger am Turme sich herumtrieben! Wie atmete sie auf, als ihre Schritte allmählich sich entfernten und verhallten!

Zunächst umgab undurchdringliches Dunkel die beiden Flüchtlinge. Giovanni tastete umher und fand dabei die Treppe.

»Ich habe hier einen Ruheplatz für Euch gefunden, Hildegard! Hier sind Stufen einer Holztreppe. Gebt mir Eure Hand, daß ich Euch herleite!« Er griff nach der Hand des Mädchens und zog sie sanft zur Treppe herüber. Hildegard ließ sich nieder, Giovanni blieb am Geländer stehen. Die Jungfrau hatte Ruhe nötig. Sie zitterte am ganzen Leib. Es kam jetzt auch eine plötzliche Angst über sie; es wurde ihr peinlich klar, in welcher Lage sie sich befand. Wenn der Mutter jetzt träumen würde, daß die Tochter in nächtlichem Dunkel allein mit einem jungen Manne in einem Turme eingeschlossen sei, müßte diese nicht vor Angst hinausschreien? Wenn der Vater wüßte, daß der gleiche Turm, in welchem die Pfarrherren mürbe geworden waren, seine Tochter mit einem Waldenser einschließe, würde er nicht vom Lager springen, herbeieilen und flammend vor Zorn die Tochter heimholen heraus aus Schimpf und Schande?

Da kam aus Giovannis Mund die ruhige Frage: »Ob wohl die andern alle gerettet sind?« Und sofort gab er selbst die Antwort: »Sie sind in unsres Herrn Hand, und ohne den Willen des Vaters im Himmel darf kein Haar von ihrem Haupte fallen.« Die Ruhe und Glaubenszuversicht Giovannis wehte wie ein frischer Morgenwind alle die ängstlichen, peinlichen Gedanken aus dem Herzen Hildegards.

Man hörte wieder unten von der Sülmergasse her laute Stimmen. »Ihr habt uns für Narren gehabt!« schrie einer. »Ihr seid schläfrige, langsame Bursche!« rief ein anderer. »Ihr seid zu lange bei der Kanne gesessen!« schrie die erste Stimme. »Und Ihr habt Euren Rausch von vorgestern noch nicht ausgeschlafen!« gab die zweite Stimme heim.

»Es ist der Arzt«, sagte Hildegard; »er geht jetzt wohl unverrichteter Dinge heim. Wie doch wohl dieser Mensch auf meine Spur gekommen ist? Ich bin überzeugt, er ist an dem ganzen Überfall schuld.« Hildegard schauderte zusammen bei dem Gedanken, daß sie hätte in Meister Reinolds Hände fallen können.

Allmählich hatte sich das Auge einigermaßen an das Dunkel im Turme gewöhnt. Hildegard sah die sich immer noch am Geländer anlehnende Gestalt Giovannis, dieser konnte das Haupt Hildegards unterscheiden.

Giovanni sagte: »Morgen nacht sind wir beide, Pietro und ich, nicht mehr in den Mauern Heilbronns; wir wollen versuchen, mit dem Strom der Handelsleute aus der Stadt hinauszukommen.«

Hildegard seufzte.

»Es ist Euch leid, daß wir gehen?« fragte Giovanni, und seine Stimme zitterte.

»Wie gerne möchte ich mit Euch ziehen, und andere Brüder und Schwestern kennen lernen und immer mehr eine Jüngerin des Evangeliums werden!« antwortete Hildegard.

»Ihr, Hildegard, als Schwester mit uns ziehen!?« Wie ein Feuerstrom durchbrach ein ungeahntes Gefühl alle Schranken im Herzen des jungen Mannes. Wie vom Lichte des Blitzes erleuchtet stand vor seiner Seele das Wort des Apostels: Haben wir nicht auch Macht, eine Schwester zum Weibe mit umherzuführen, wie die andern Apostel und des Herrn Brüder und Kephas? Er ließ sich neben der zusammenschauernden Jungfrau auf die Treppe nieder, umschlang sie in stürmischer Erregung, küßte sie und rief: »Ja, zieh mit, Schwester! zieh mit, und werde mein Weib!«

Sanft entwand sich Hildegard der Umarmung Giovannis. »Laß, Lieber, laß!« hauchte sie.

Bei Giovanni aber war der Sturm der Erregung so schnell wieder verflogen, als er gekommen war. Er sprang auf und rief schmerzlich bewegt und tief erschüttert: »Mein Gott, mein Gott, was habe ich gethan! Wie konnte ich, der ich alle Tage vom Tode bedroht bin, mein Herz öffnen dem Strom irdischer Liebe!« Wieder ließ er sich nieder neben Hildegard. Er ergriff ihre Hände, und unter einem Strom von Thränen schluchzte er: »Verzeiht! Schwester, verzeiht! Nie, nie sollt Ihr mir etwas anders sein, denn eine Schwester!«

Auch durch Hildegards Seele war wie eine große lichterfüllte Welle der selige Wunsch gezogen: Sein auf ewig! Aber nur eine Welle wars; hinter ihr war die See wieder glatt, und auf den seligen Wunsch antwortete die klare feste Stimme ihres Gewissens: Du darfst ihn lieb haben bis in die Ewigkeit, aber die Seine kannst du aufs Erden niemals werden!

»Sei ruhig, Giovanni! Gott wird uns beide die Kraft geben, daß jedes seinen Weg so geht, wie er selbst, der Herr, uns führt!« Noch arbeitete die Brust Giovannis gewaltig, noch floßen seine Thränen. Hildegard aber lauschte hinaus in die Stille der Nacht. »Lieber«, fuhr sie fort, »es läßt sich kein Laut mehr vernehmen. Wollt Ihr mich jetzt nicht nach Hause führen?«

Giovanni erhob sich und schob leise den Riegel zurück, öffnete die Thüre ein wenig und horchte hinaus. »Ja, es ist alles still«, sagte er, »wir können es wagen.«

Unterwegs fragte Hildegard flüsternd: »Wo werdet Ihr Euch denn mit Pietro wieder zusammenfinden?«

»Bei Weingärtner Bobach; ich hoffe bestimmt, dorthin hat sich mein Oheim geflüchtet.« Die beiden waren glücklich in die Klostergasse gelangt. Noch einmal nahm Giovanni mit heftiger Erregung die Hand Hildegards und drückte einen Kuß auf sie. Auf Giovannis Hand aber fielen heiße Thränen aus Hildegards Augen.

»Hier auseinander, dort für ewig verbunden!« flüsterte Giovanni. »Dort auf ewig Dein!« hauchte Hildegard. Dann verschwand die Jungfrau im leise erschlossenen Thorbogen. Giovanni aber stand noch lange in der Gasse. Ihm war, als wäre ihm ein irdisch Paradies aus wenige Augenblicke gezeigt, nun aber aus immer unerbittlich verschlossen worden.

Noch einmal nahm Hildegard am Morgen alle ihre Kraft zusammen, um den Ihrigen nicht aufzufallen. Es gelang ihr einige Zeit. Meister Reinold war nachts nach der vergeblichen Jagd wütend heimgekommen. Fluchend hatte er sich auf sein Bett geworfen. Er hatte es sich so schön ausgedacht gehabt, wie die Jungfrau, von den Häschern ergriffen, sich an seine Großmut wenden, wie sie dann von ihm unter seinen Schutz genommen werden würde, wie sie keine andere Wahl hätte, als entweder seine Werbung anzunehmen, oder unter dem Verdacht der Ketzerei dem Gericht zu verfallen. Und nun hatte er sie nicht in seine Gewalt bekommen! Ja, er hatte nicht einmal den kleinsten sicheren Beweis dafür, daß sie es wirklich gewesen, die er dort in der Versammlung gesehen. Er wird sich aber doch noch Gewißheit verschaffen. –

Hildegard hatte eben in der Küche zu thun gehabt; sie wollte einem Händler, der nicht ganz wohl war, aus seine Bitte eine Schale warme Milch bringen. Da hört sie die Stimme des Arztes im Hofe, der den Vater begrüßt. Ihr Puls stockt; sie stellt die Schale wieder nieder. Aber sie sagt sich, sie müsse jetzt vor dem Arzte sich zeigen. Einen inbrünstigen Seufzer sendet sie auf zu dem Throne ihres himmlischen Herrn. Dann ergreift sie die Schale, trägt sie ohne Zittern die Treppe hinab, geht mit einem ruhigen Gruß an Meister Reinold vorüber und fordert den Händler, der sich auf einer kleinen Tonne niedergelassen hat, auf, die Erquickung zu sich zu nehmen. Die unerschütterliche Ruhe und Sicherheit Hildegards brachte nun den Arzt in Verwirrung. Er mußte sich sagen, das Mädchen, das mit solcher Ruhe hier waltet, hat heute nacht kein Abenteuer erlebt, oder wenn doch, dann hat sie die Kraft einer Hexe. Nur um nicht gar zu sehr in Verlegenheit zu kommen, wechselte er einige Worte mit dem Händler, fühlte ihm den Puls und gab ihm die Versicherung, daß er sich bald erholt haben werde. Dann machte sich Meister Reinold davon.

Er war aber kaum aus der Klostergasse hinausgekommen, da sah Frau Else, wie Hildegard erblaßte.

»Mutter, meine Füße wollen mich nicht mehr tragen! Ich bitte dich, führe mich zu meiner Kammer!«

Frau Else eilte aus die Tochter zu, stützte sie und führte sie mit Hilfe der alten Barbara in ihre Kammer. Dort sank Hildegard ohnmächtig auf ihr Bett.

»Sie hat sich bei dem oftmaligen Laufen in den Keller erkältet!« sagte Barbara. »Ich will ihr einen Lindenblütenthee machen, der treibt Schweiß, dann wird ihr bald wieder besser.« Barbara ging, den Thee zu bereiten. Frau Else gelang es bald, die Bewußtlose wieder zu sich zu bringen. »O, liebe Mutter, laß mich ruhen, ich bin so arg, arg müde!«

Frau Else half der Tochter ins Bett; Barbara brachte bald den Thee. Gehorsam trank ihn Hildegard. Wie dankbar war sie, daß der Umtrieb des Tags Mutter und Magd wieder in Anspruch nahm, und niemand viel Zeit hatte, sich um sie zu kümmern. Sie sank bald in einen tiefen Schlaf. Sie schlief noch, als abends auf der Höhe zwischen Obereisesheim und Wimpfen Giovanni sich umkehrte und noch einmal, während Pietro hinter einem Zug von Kaufleuten weiter schritt, feuchten Augs zurückschaute auf die von der Abendsonne beleuchteten Türme und Zinnen der Stadt Heilbronn.


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