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Erstes Kapitel.
Am Sonnenbronnen.

Die Heilbronner sind an den hohen Festen immer gerne in die Kirche gegangen. Als aber am Feste Mariä Heimsuchung im Jahre 1345 die Pfarrherren in St. Kilian und die Barfüßer in ihrer Kirche anfingen, Messe zu lesen, da konnten die Gläubigen nicht in die Gotteshäuser gelangen, denn es sah aus, als wollte eine zweite Sintflut kommen. Am frühen Morgen schon zogen gewaltige, dicke Wetterwolken vom Heuchelberg her über die Stadt, und jedesmal, wenn sie über den Zinnen und Dächern von Heilbronn standen, öffneten sie ihre Schleusen und ließen ganze Fluten niederrauschen. Nein, wer unter solchen Güssen hinlaufend zur Messe geeilt wäre, wie hätte der, bis auf die Haut durchnäßt, andächtig beim heiligen Amte mitbeten können! So blieben denn die Heilbronner zu Hause und sahen durch die meist schmalen, kleinen Fenster dem Regen zu, sahen, wie in den engen, krummen, ungepflasterten Gassen die Bäche dahinschossen, die sich vom Ablauf der strohbedeckten Häuser und aus dem Erguß der vielen kleinen Höfe gebildet hatten. Manch ein Heilbronner Weingärtner aber und manche um ihre Gartengewächse besorgte Frau seufzte: »Wenn's nur nicht an Mariä Heimsuchung wäre! Denn geht Unsre liebe Frau im Regen über's Gebirg, so muß sie auch im Regen zurück.«

Und es regnete fort tagelang. Nicht war's ein ununterbrochener Landregen. Aber keine Stunde war man sicher davor, daß nicht von Sontheim oder von Böckingen ein neues Gewitter hereinzog, und neue Wassergüsse niederfielen. Das war dem Neckar, so nieder er vor dem Regenwetter gewesen, doch endlich zu viel. Höher und höher schwollen die rotbraunen Fluten. Sie stürmten dahin wie galoppierende Rosse; sie trugen auf ihrem Rücken weggerissenes Gesträuch, fortgenommenes Heu und manches Holzstück, das irgendwo droben am Oberlauf friedlich am Ufer gelagert gewesen, aber nun vom gewachsenen Strom tückisch geraubt worden war und gezwungen wurde, die rasend schnelle Reise mitzumachen zum Vater Rhein und zur Nordsee. So schoß der Neckar dahin an der westlichen Mauer der Stadt. Auf der Mauer selbst aber und auf den Türmen stand viel Volks, so oft die Wolken sich auf einige Stunden verzogen, und eine weiße, stechende Sonne aus den unendlich vielen Pfützen und Lachen der Gassen und Höfe, aus den durchnäßten Dächern und aus den überall offen in den Gassen vor den Häusern ausgebreiteten Dunglegen einen Brodem zusammenbraute, der auch die wenig verwöhnten Bewohner kräftig einlud, eine bessere und freiere Luft zu suchen.

Aber auch die Neugierde trieb die Heilbronner auf die Mauer. Noch nicht allzulang hatte der Neckar seinen Lauf längs der westlichen Stadtmauer, um sich unten an der nordwestlichen Ecke der Stadt über das Wehr zu stürzen. Viel weiter oben, gegenüber von Böckingen, war früher das »Fach« gewesen, das Wehr, an welchem die Herren vom Deutschorden ihre Mühle gehabt hatten. Unterhalb des alten Wehrs war der Neckar fast ganz am westlichen Rande des Thales dahingeflossen in seichtem, breitem Bett. Sandten aber Schwarzwald und Alb ihre Schneeschmelzen, oder fiel irgendwo am oberen Lauf des Flusses ein Wolkenbruch, oder regnete es nur zwei Tage hintereinander, dann trat der Neckar bei Heilbronn aus und machte das ganze Thal zu einem See, verdarb unzähligemal die Wiesen und schloß die Stadt oft auf Wochen hinaus ab vom Verkehr mit den jenseitigen Orten.

Daß es jetzt anders war, das hatte Kurt Hartmut zu stande gebracht.

Kurt Hartmuts Familie gehörte zu den Patriziergeschlechtern, war aber beim gemeinen Mann, bei den Weingärtnern und Handwerkern sehr beliebt. Schon der alte Veit Hartmut, Kurt's Vater, hatte sich viel Mühe gegeben, dies und das in der Stadt zu bessern und zu ändern; schon er hatte viel Verkehr gepflegt namentlich mit den Weingärtnern. Gehörten ihm doch die schönsten Rebgelände am Wartberg und am Lerchenberg. Und auch drüben über dem Neckar am Sonnenbronnen hatte Veit Hartmut ein hübsches Landgut sich angelegt und ein Sommerhaus dort erbaut. Veit Hartmut hatte aber auch eine Handelschaft angefangen. Er war in Köln gewesen, und er zuerst hatte es gewagt, regelmäßig ein Schiff von dort den Rhein und den Neckar heraufziehen zu lassen bis nach Heilbronn. Kurt, sein einziger Sohn, sollte noch weiter in die Welt hinauskommen. Nach Venedig und nach Holland machte er Reisen, lernte fremde Menschen und ihre Sitten kennen und sah, als er seine Wanderjahre beendet hatte und in die Vaterstadt zurückgekehrt war, vieles mit andern Augen an als zuvor. Bald nach seiner Rückkehr hatte er des Ratsherrn Werner Spönlin älteste Tochter, die Else, heimgeholt. Schon im nächsten Jahre aber mußte Kurt Hartmut Haus und Hof, Hab und Gut, Arbeit und Sorgen des Vaters übernehmen, denn diesen raffte eine hitzige Krankheit in wenig Tagen weg.

Auch im Rate der Stadt wurde Kurt der Nachfolger des Vaters. Der junge Ratsherr war noch nicht lange in die Zahl der Väter der Stadt aufgenommen, da begann auch schon der Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen dem hergebrachten Guten und dem neuzuschaffenden Besseren. Heilbronn war eine königliche Stadt, ihr Herr der deutsche König. Dieser aber hatte die Vogtei, die Aufsicht über die Stadt, den Grafen von Württemberg übergeben. Sie bestellten in Heilbronn den Schultheißen und nahmen dazu meist einen ihnen ergebenen adeligen Mann aus dem Gebiete der Grafschaft. Schultheiß war, als Kurt Hartmut Ratsherr wurde, Huglin Brodbeck, ein Stuttgarter. Der war ein bedächtiger Herr; langsam redete er, und langsam schritt er durch die Gassen der Stadt. Sehr gründlich ließ er alle Fragen auf dem Rathause durchberaten, und wenn der Rat einmal einen Beschluß gefaßt hatte, so war damit durchaus noch nicht gesagt, daß das Beschlossene am andern Tag schon durchgeführt sei. Nur die Übelthäter ließ er sehr schnell richten. Wenn ein Dieb des Morgens in Heilbronn etwas stahl und auf frischer That ertappt wurde, so konnte er darauf rechnen, noch am Abend desselbigen Tags droben auf dem Galgenberg Hochzeit machen zu müssen mit des Seilers Tochter.

Mit Huglin Brodbeck, dem Schultheißen, stieß Kurt Hartmut schon in den ersten Jahren oft scharf zusammen, nie aber schärfer, als an dem Tage, da Ratssitzung gewesen war nach einer großen verheerenden Überschwemmung. Da saßen die Ratsherren und ließen ihre Köpfe hängen und dachten an die schönen Heuschochen, die ihnen vom tückischen Wasser geraubt worden waren, an die mit Sand und Kies überzogenen Wiesen, die in Jahren kein gesundes Futter mehr geben konnten. Als die älteren Herren lange genug geklagt und gejammert hatten und Huglin Brodbeck langsam und feierlich fragte: »Ja, was sollen wir denn nun thun?« da rief Kurt Hartmut laut, scharf und kurz: »Uns wehren gegen das Wasser!«

Der Schultheiß war zusammengefahren, wie wenn ihn eine Schlange gestochen hätte. Ihm hatte das Wort des jungen Ratsherrn geklungen wie eine Gotteslästerung, wie wenn Kurt Hartmut unsern Herrgott herabgefordert hätte in die Ratsstube in Heilbronn, damit er sich rechtfertige wegen des Hochwassers. Aber Kurt Hartmut hatte sich weder durch das Entsetzen des Schultheißen noch durch spöttische Bemerkungen der älteren Ratsherren irre machen lassen. Ruhig, mit klaren Worten that er dar, daß ja wohl niemals ein Mensch werde den Regen des Himmels aufhalten können, daß aber dem Neckar könne ein anderer Lauf gegeben werden, bei welchem die Gewässer mehr zusammengehalten sicherer dahinflößen. Das Fach des Deutschordens sei vom Übel. Man leite den Neckar an der Stadtmauer dahin in tiefem Bett, dann habe die Stadt den besten Schutz gegen heranziehende Feinde und nur selten noch schädliche Überschwemmung. Es dauerte drei Tage, bis Huglin Brodbeck eine Antwort auf den Antrag Kurt Hartmuts fertig gebracht hatte. Man wolle, sagte er in der nächsten Ratsversammlung, unserem Herrgott doch ja nicht freventlich die Hände binden, man wolle mit den Herren vom Deutschen Haus keine Händel anfangen, man wolle deshalb alles beim Alten lassen und Gott und seine lieben Heiligen bitten, daß sie die Stadt künftighin vor Wasserschaden bewahren mögen. Die Antwort gefiel dem größeren Teile des Rats, und so schien es, als sei des jungen Ratsherrn Plan begraben. Aber so schnell ließ sich der lebhafte Mann nicht einschüchtern. Wohl hatte er einen schweren Stand, aber vor Kämpfen fürchtete er sich nicht.

Der größte Teil der Bürgerschaft hielt es mit König Ludwig, dem Baiern; auf seiner Seite standen auch die Barfüßer und der Deutschorden. Gegner Ludwigs waren teils freiwillig, teils gezwungen die Geistlichen der Pfarrkirche, die Präsenzherren. Kurt Hartmut war unter den Anhängern Ludwigs einer der feurigsten. Nun wußte er wohl, wie sehr er die Deutschherren vor den Kopf stoße mit seiner Forderung, daß sie ihre Mühle aufgeben und das ihnen so günstige Wehr verlegen lassen sollen. Aber er hoffte auch diese Schwierigkeit zu überwinden, ohne die Deutschherren auf die Seite der Gegner seines Königs zu treiben. Wie oft war Hartmut im Deutschen Hause, wie oft brachte er in den Ratssitzungen die Sprache auf seinen Plan, wie oft seufzte Huglin Brodbeck, wenn er das Rathaus verließ und in sein Haus ging, tief auf und sagte vor sich hin: »O dieser hitzige Franke!« Wie oft kam aber auch über Kurt Hartmuts Lippen bald laut, bald leise der Ausruf: »O, dieser schwäbische Dickkopf!«

Aber dann war endlich der Tag gekommen, an dem Kurt Hartmut seinen Sieg feiern sollte. Der König Ludwig zog in seiner getreuen Stadt Heilbronn ein und stieg bei den Herren vom Deutschorden ab. Nicht mehr freilich war der Herrscher die hohe schlanke Gestalt mit dem feurigen Auge und mit zurückgeworfenem Haupte, die einst in den Anfängen seiner Regierung die Süddeutschen bezaubert hatte, aber noch leuchtete der edle Geist aus den feinen Gesichtszügen, noch fühlte jeder es dem Herrscher ab, daß er das Wohl des Reiches und besonders der Getreuen auf seinem Herzen trage. Von ihm, dem König, erbat sich Kurt Hartmut Gehör, von ihm Vermittlung gegenüber dem Deutschorden. Dem König gefiel der Plan des Ratsherrn gar gut, und als der Herrscher die Stadt nach etlich Tagen wieder verließ, da hatte er zuvor seinen Namen geschrieben und sein Siegel gedrückt unter den Vertrag, welcher der Stadt erlaubte, den Neckar zu wenden, wie es ihr gut däuchte, und welcher feststellte, was die Stadt dem Deutschorden als Entschädigung zu zahlen hatte. Der Schultheiß Huglin Brodbeck aber war bald darauf in die Grafschaft Württemberg zurückgekehrt und hatte in seiner Vaterstadt Stuttgart in alten Tagen noch einmal angefangen, Kohl zu bauen unangefochten vom hitzigen, jungen Heilbronner Ratsherrn.

Unter seinem Nachfolger im Schultheißenamt, Martin Reichlin von Möhringen, war das Werk begonnen worden. Aber keineswegs waren alle Heilbronner damit einverstanden. Alle diejenigen, die von ihren Wiesen ein Stück abtreten mußten und glaubten, nicht genug Geld dafür erhalten zu haben, wurden nun auf einmal Lobredner des weggezogenen, so bedächtigen und ruhigen und alle unnötige Bewegung vermeidenden Huglin Brodbeck. Dennoch kam es soweit, daß der Neckar gezwungen wurde, sein altes, breites Bett zu verlassen und in dem neuen tiefgegrabenen längs der Stadtmauer dahin zu strömen. Die hölzerne Brücke, die über den früheren Stadtgraben geführt hatte, war verlängert worden; es war aber auch auf den Vorschlag Kurt Hartmuts die Brücke über den alten Lauf des Flusses erhalten worden. Die Gegner Kurt Hartmuts hofften ganz bestimmt, daß das nächste Hochwasser alle Änderungen über den Haufen werfen, daß der Neckar dann sein altes, natürliches Bett wieder aufsuchen werde. Aber merkwürdig, es ging ein Jahr um das andere dahin, ohne daß ein Hochwasser kam. Ja manchmal schwoll der Fluß wohl an, aber nie trat er aus den ihm von den Heilbronnern angewiesenen Ufern.

Jetzt endlich im Jahr 1345, bei dem Regenwetter, das Unsere liebe Frau bei ihrem Gang übers Gebirge mitgebracht hatte, jetzt war das Hochwasser da, und deshalb standen auch, wenn die Wolken auf einige Stunden auseinandergingen, und die Sonne auf die nasse Erde ihre stechenden Strahlen niedersandte, so viele Heilbronner auf der Stadtmauer und sahen dem dahinschießenden Neckar zu. Bis jetzt war das Wasser im neuen Bett geblieben, aber auf engerem Raum zusammengedrängt zeigte es immer ungestümere, immer wildere Kraft.

»Ihr werdet sehen«, rief Eustachius Jörg, der Bäcker, der nahe am Brückenthore neben dem Spital der heiligen Katharina stand, »Ihr werdet sehen, die Brücke wird weggerissen!« »Hei! dort kommt ein Stamm, dort wieder einer; da ist ein Floß losgerissen«, schrie Melchior Hüngerlin, der Schmied, »jetzt schlägt gewiß das letzte Stündlein für die Brücke!« Alles hielt den Atem an. Gerade auf das mittlere Joch wurde in grausiger Schnelligkeit der erste große Stamm zugetrieben. Aber im letzten Augenblick, als jedermann schon glaubte, das Krachen der Brücke zu vernehmen, schob eine Welle des Stromes den Stamm haarscharf links am Joch vorüber, und im Nu lag die Brücke hinter dem dahinschießenden Stamm. Und auch die nachfolgenden Schwarzwald-Tannen hielten es wie ihr vorauseilender Kamerad, sie vermieden einen Zusammenstoß mit den Jochen der Brücke.

Vom oberen dicken Stadtturm her hörte man jetzt lautes Geschrei. Dort sah man, wie plötzlich oben am alten Fach das Wasser den neugewiesenen Weg verließ und über das Land hin sich ergoß.

In diesem Augenblick glaubte von den Zuschauern niemand mehr an die Nützlichkeit der von Kurt Hartmut durchgesetzten Änderung, als er selbst ganz allein. Er stand auch auf dem Stadtturm, er hatte seit Stunden hinaufgeblickt zum alten Fach; er hatte wohl wahrgenommen, wie das Wasser immer noch langsam stieg, er wußte, daß nun bald das neue Bett die Wassermenge nicht mehr fassen könne, aber er hoffte bestimmt, daß, wenn die Wasser zum Durchbruch kommen, nicht mehr die ganze Thalfläche überschwemmt werde, sondern daß das verlassene Flußbett genügen werde, den Überlauf aufzunehmen und ohne weiteren Schaden abzuführen. Da stand er, der hochgewachsene, breitschultrige Mann, beschattete mit der Linken seine Augen und spähte scharf hinüber zu der Stelle, wo bald die Entscheidung kommen mußte. Er hörte nicht auf die albernen, nicht auf die spöttischen und spitzigen Reden der anderen Zuschauer. Plötzlich zieht er die Hand vom Gesicht zurück und ruft, das Tosen des Flusses, das Stimmengewirr der Zuschauer übertönend: »Es ist gewonnen!«

Ja, nun sahen es auch die Andern, daß die Wasser, nachdem sie dahin und dorthin wie tastend und suchend sich ergossen, den alten Weg gefunden hatten und das große, weite Gebiet zwischen dem alten und neuen Flußbett mit seinen schönen Gärten und Wiesen verschonten. Wie um die Freude Kurt Hartmuts zu erhöhen, begann nun auch ein kühlerer Wind von Neckarsulm her zu wehen, das Gewölke wurde gleichmäßiger, die Regengüsse ließen nach, und schon nach einigen Stunden konnte man bemerken, daß der Fluß nicht weiter stieg. Nun spottete niemand mehr über den Ratsherrn, der einst den guten Gedanken zuerst gehabt und ihn mit so viel Mühe und Kampf durchgeführt hatte.

Am Fest des heiligen Jakobus war wieder seit Mariä Heimsuchung der erste schöne Tag. Die Wasser hatten sich verlaufen, nur im alten Bett des Neckars standen da und dort noch Lachen; an den Jochen der Brücke am Thor und der alten Neckarbrücke hingen noch Büschel von Heu und weggerissenen Sträuchern, deren Belaubung verwelkt war. Jetzt konnte man ohne alle Beschwer wieder hinaus ins Freie, und auch Kurt Hartmut, der Ratsherr, sagte nach dem Hochamt zu seiner Ehefrau Else, sie solle sich auf den Nachmittag rüsten, mit den Kindern zu froher Rast hinauszuziehen zum Sommerhaus und zum Garten am Sonnenbronnen.

Neunzehn Jahre waren es jetzt, daß der damals junge Patrizier den Bund der Ehe geschlossen hatte. Vier Kinder waren ihm herangewachsen und treulich erzogen worden von seinem tüchtigen Weibe. Hildegard, die älteste, zählte achtzehn Lenze. Sie war über die Mutter schon hinausgewachsen, hatte vom Vater das dunkle Haar geerbt und das Feuer der Augen, von der Mutter aber die sanfte, melodische Stimme. Dann kam Bruno; er war ein rasch aufgeschossener Jüngling von fünfzehn Jahren, er hatte vom Vater das scharfgeschnittene Gesicht und die dünnen Lippen, aber sonst gar nicht des Vaters Art. Er war überaus schüchtern, so daß die natürliche Ungelenkigkeit schnell gewachsener junger Leute noch mehr als sonst in die Augen fiel. An des Vaters Handelschaft hatte er keine große Freude, wenn er aber irgendwie ein altes geschriebenes Buch, sei es ein deutsches, sei es ein lateinisches, von einem der Pfarrherren entlehnen konnte, dann saß er stundenlang auf dem obersten Boden des Hauses und vergaß Essen und Trinken, Eltern und Geschwister. Nach ihm kam Diez, ein zehnjähriger Bursche, nach Leib und Seele anders geartet, als der ältere Bruder. Vom Latein wollte er nicht viel wissen, aber wenn ein Schiff des Vaters den Neckar heraufkam, oder wenn im Hofe die Waren umgepackt wurden, wenn die Krämer ihre Karren oder ihre Esel beluden, wenn vollends die Herbstgeschäfte kamen im Weinberg, in der Kelter und im Keller, dann war der rotbackige, blonde, untersetzte aber doch gewandte Diez bei der Hand und war zu allem zu brauchen. Das Nesthäkchen aber, die kleine sechsjährige Anna, dem Bruder Diez am ähnlichsten, war aller Liebling; sie vermochte es noch am ehesten, dem stillen Bruno ein Lächeln zu entlocken und ihn zu einem Spiel oder Spaß durch ihr neckisches Wesen mitzureißen.

Mit Weib und Kind verließ nach dem Mittagsbrot Kurt Hartmut sein Haus in der Klostergasse, ging vorüber an der benachbarten Kirche zu St. Kilian, die schmal und hoch zwischen ihren beiden niederen Chortürmen dalag, am Spital vorüber, durchs Brückenthor hinaus, hin durch die Gärten und Wiesen, die diesmal nicht überschwemmt worden waren, hinüber über die Holzbrücke am alten Neckar. Im hellen Licht der Julisonne lag der kleine Hügel mit dem Sonnenbronnen, mit dem Garten des Ratsherrn, vor den Dahinschreitenden. Sie alle freuten sich, wieder einmal herauszukommen aus den dumpfen Gassen und engen Höfen unter Gottes freien Himmel. Aufrecht, mit etwas zurückgeworfenem Kopf, von Zeit zu Zeit den spitzgeschnittenen Bart sich streichend, schritt Kurt Hartmut dahin. Seine Neider, und er hatte deren manche in der Stadt, wenn sie gerade auch jetzt schwiegen, hatten schon manchmal gesagt, er habe einst, als König Ludwig in Heilbronn gewesen, sich von dessen Rittern sagen und weisen lassen, wie einst der König in seinen rüstigen Jahren dahingeschritten sei, und seither suche der Ratsherr den König, nachzuahmen. Die solches lästernd sagten, die kannten Kurt Hartmut nicht. Darüber, wie er ausschritt, oder wie er den Kopf trug, hatte er sich noch nie einen Augenblick besonnen.

Aber daß er am Feste des heiligen Jakobus bei seinem Gang zum Sonnenbronnen von allen Begegnenden lebhafter und ehrerbietiger als sonst begrüßt wurde, das erfüllte ihn mit stolzer Freude, das ließ ihn noch aufrechter als sonst dahinschreiten, das machte, daß er noch häufiger als sonst sein Haupt zurückwarf.

In den Garten war Uz, der Knecht, vorausgeschickt worden. Das war ein Sonderlicher vor andern. Wie alt er war, das wußte niemand genau, er selbst nicht. Eine alte Großmutter, die mit Betteln ihr Leben fristete, hatte ihn in Flein aufgezogen, mit ihr war er schon als Kind in die umliegenden Dörfer und oft auch nach Heilbronn gekommen. Einstmals, in der Woche vor Ostern, war die Großmutter in Heilbronn nahe an der Kilianskirche zusammengestürzt und nicht mehr aufgestanden. Der Tod hatte mitleidig ihr langes Bettelleben schnell geendet. Als schon Neugierige die tote Alte und den weinenden Knaben umstanden, trat eben Frau Else aus der Kirchthüre. Sie hatte gebeichtet, und der Buße, welche ihr der Pfarrherr von St. Kilian auferlegt hatte, fügte sie in frommer Herzensbewegung die weitere hinzu, sich des verlassenen Knaben anzunehmen.

So war Uz in Hartmuts Haus gekommen. Der Knabe wuchs am Leib, aber sein Geist entfaltete sich langsam und spärlich. Er sprach stockend, undeutlich; er hörte auf zu zählen, wenns über seine zehn Finger hinausging. Er war vielleicht zwei oder drei Jahre älter als Hildegard. Wenn andere Kinder Hartmuts Kindern etwas thun wollten, dann freilich war Uz wütend wie ein Kettenhund, dann schlug er mit seinen derben Fäusten drein und brachte seiner Herrschaft Kinder in Sicherheit. Mit allen Tieren aber, die in Hartmuts Haus und Hof sich fanden, stand er auf dem besten Fuß. So wurde er denn meist im Stall beschäftigt, auch bei der Gartenarbeit konnte ihn Frau Else gut brauchen. Wenn hinter seiner etwas niederen Stirne und unter seinen borstigen Haaren auch nicht viel Denkvermögen wohnte, in seinem Herzen war doch unauslöschliche Dankbarkeit gegen das Haus, das ihn aufgenommen hatte, und ein stets fröhlicher Sinn und ein sonniges Lächeln ließ das unschöne Gesicht doch oft weniger abschreckend erscheinen.

Uz hatte einen Korb mit Speisen und Wein in den Garten getragen, hatte die Thüre und Läden des Sommerhauses geöffnet und erwartete jetzt die Familie. Als die vorauseilenden beiden jüngsten Kinder beinahe den Garten erreicht hatten, drückte sich Uz schnell nieder und verbarg sich hinter dem Gartenhause.

»Bst, Bst! Eine Wachtel!« stieß Diez halblaut hervor und hielt seine auf den Garten zueilende Schwester zurück. »Da schleichen wir uns heran und suchen den Vogel zu fangen!« Auf den Zehen gehend, näherten sich die Kinder dem Gartenhause, hinter dem bald mehr rechts, bald mehr links immer wieder der taktfeste Schlag sich hören ließ. Die Kinder umschlichen das Gartenhaus. Als aber Diez hoffte, beim nächsten Schritt den Vogel sehen und vielleicht auch fassen zu können, schlug ihm das quickende Geschrei eines an den Ohren fortgeschleppten Schweines entgegen. Einen Augenblick fuhren die Kinder zurück, dann aber sprangen sie laut lachend vor und packten den am Boden hinter einem Beerenstrauch kauernden Uz.

»Warte nur. Du bist also wieder die Wachtel gewesen!« rief Anna.

»O Uz, schnell, schnell geh dort hinüber ans Salatland und laß Enten quacken, wenn die Mutter in den Garten hereinkommt!« rief, sein Schelmengesicht verziehend, Diez, und grinsend gehorchte Uz. In dem Augenblick, da Kurt Hartmut mit seiner Gattin den Garten betrat, thaten die Kinder, als jagten und scheuchten sie eine Schar Enten, deren aufgeregtes, ängstliches und doch auch wieder frech Widerstand leistendes Geschrei aus dem Salatlande deutlich hervortönte.

»Hilf heilige Notburg! Da sind ja Enten, vielleicht von der Überschwemmung her, in den Garten verirrt und fressen meinen Salat!«, rief entsetzt, ihrem Mann vorauseilend und schneller, als es die Rundung ihres Körpers eigentlich erlaubte, den steilen unteren Gartenweg hinauflaufend Frau Else. Als sie aber keuchend oben am Salatbeet angekommen war, da hörte plötzlich das Quacken auf und ausgelassen hüpfend und in helles Lachen ausbrechend, zeigten Diez und Anna auf Uz, der schnell sich davonmachte. Die ganze Familie hatte sich jetzt zusammengefunden und auch Bruno nahm an der allgemeinen Heiterkeit teil, mit welcher das neueste Kunststück des Uz belacht wurde. Ja, darin war er ein Meister, die Stimmen der Tiere nachzuahmen und immer wieder gelang es ihm, Menschen und Tiere zu täuschen.

In der langen Regenzeit war im Garten manches verwildert und verdorben. Das übersah Frau Else mit Sorgen und Bedauern und besprach mit Hildegard, was, wenn der Feiertag vorüber, zu richten und zu bessern sei.

Diez aber und Anna überließen der Mutter und Schwester gerne die Sorgen; sie machten sich hinter die Johannis- und Stachelbeerbüsche und fanden zu ihrem großen Behagen, daß die völlig ausgereiften Früchte trotz der vorangegangenen Nässe köstlich mundeten. Am höchsten Punkt des Gartens stand ein großer Apfelbaum, an dessen Stamm eine einfache Bank angebracht war. Dorthin hatte sich bald Bruno begeben und vertiefte sich in ein Büchlein, das er mitgenommen hatte. Am unteren Ende des Gartens aber, wo dieser gegen eine grasbewachsene Böschung mit einer Rosenhecke abgeschlossen war, stand Kurt Hartmut und schaute schweigend auf die sonnenbeschienene Landschaft, hinüber zu den Mauern und Türmen der Stadt und weiterhin zu den Rebenhügeln, welche im Norden und Osten die Stadt umlagerten. Der frische Ostwind trug die Töne der Vesperglocke vom nördlichen Chorturme der Kilianskirche klar herüber bis zum Sonnenbronnen. Die Glockentöne weckten im Gemüte des Ratsherrn eine ganze Reihe von Gedanken. Von der Kirche kam er in seinen Gedanken zu den Priestern, zu den Pfarr- und Präsenzherren und von ihnen zu den Schenkungen, welche in der letzten Zeit aus der Priester Anstiften der Kirche gemacht worden waren. Da mußte er denken an die Weinberge drüben, da wo unterhalb des Wartturms der Nordberg steil zum Neckar abfällt; sie hatte Jörg Lemlin sterbend der Kirche vermacht. Er mußte denken an die schönen Äcker auf der Bühn, die sein Nachbar in der Klostergasse, Hans Atzmann, den Clarissinnen bei seinen Lebzeiten geschenkt hatte. Wenn das so fort ging, würden ja Kirchen und Klöster immer reicher und die Bürger immer ärmer.

Kurt Hartmut dachte weiter daran, daß Kirche und Klöster von den geschenkten Grundstücken keine Steuern mehr zahlen wollten. Und die Stadt brauchte doch Geld! Ja, sie brauchte viel Geld, wenn das wahr werden sollte, was Kurt Hartmut längst als geheimen Gedanken in seinem Herzen getragen hatte und was jetzt im Zusammenhang mit seinen anderen Gedanken vor ihm auftauchte. Er sah im Geiste vom Brückenthor aus über den Neckar eine lange, schöne, steinerne Brücke, er sah oben, wo der neue Lauf des Neckars begann, zu noch besserem und sicherem Schutze einen breiten Damm aufgeworfen. Und noch einmal tauchte aus der geheimsten Tiefe seines Gemüts ein anderer Gedanke auf: »Weg muß der vom württembergischen Grafen gesetzte Schultheiß, Heilbronn muß eine freie Stadt werden, muß seinen Schultheiß und seinen Rat sich selber wählen dürfen.«

Kurt hatte in seinem Sinnen nicht bemerkt, daß der Rosenhecke entlang seine Ehefrau sich ihm genähert hatte. Als sie ihre Rechte leise auf seine breite Schulter legte, zuckte er ein wenig zusammen.

»Kurt, Du hast heute einen schönen Tag!«

»Gewiß, und Du mit; wir dürfen uns beide des Glückes unserer Kinder freuen.«

»Ich meine, es muß Dir eine große Freude sein, daß Jedermann heute Dich lobt und Deine Einsicht und Fürsorge preist.«

Kurt sah freundlich lächelnd seiner Else in die Augen. Da seufzte sie.

»Was hast Du zu seufzen, mein Lieb? Was für eine Sorge zieht durch Deine Seele?«

»Ach, ich fürchte, daß Du bald neue Dinge unternehmen wirst. Dann werden es Weib und Kinder zu fühlen bekommen. Deine Gedanken sind dann immer in der Ratsversammlung, und zu Hause haben wir einen zerstreuten Vater, der sogar die Namen seiner Kinder verwechselt.«

»Seit wann giebst Du Dich mit Weissagen ab, Du kleine Unholdin?« erwiderte Kurt lachend. »Ja, es ist wahr, was ich heute erlebt habe, das sagt mir nicht: Kurt, nun kannst Du ruhen. Du hast das Deinige gethan, – sondern das ruft mir zu: Auf, zu neuer Arbeit; noch kann gar manches anders und besser gemacht werden! Und warum glaubst Du, ich lebe dann nicht mehr Euch? Hat etwa mein Handel Not gelitten, als ich für unserer Stadt Bestes kämpfte? Hat sich nicht unser Besitz vermehrt? Glaubst Du, es sei Euch mehr gedient, wenn ich jeden Abend beim Schein der Öllampe am Tisch sitze und den Kindern alte Historien erzähle? Nein, nein, Else, wenn wir einmal alte Leutlein sind und ins Ausdingstüblein droben ziehen, dann sollst Du einen ganz ruhigen Kurt haben, solang ich aber noch Mark in den Knochen habe, so lange will ich auch wirken und schaffen und kämpfen!«

Die letzteren Worte hatte er weniger zu seinem Weibe gesprochen, er hatte sie vielmehr, wie wenn sie drüben in der Stadt gehört werden sollten, laut über den Hag hinausgerufen.

»Vater, von Großgartach her reitet Meister Reinold. Soll ich ihn einladen, abzusteigen und in den Garten hereinzukommen?« rief Diez von der Gartenthüre aus.

Als Hildegard die Frage des Bruders hörte, errötete sie. Der Vater aber eilte von der Mutter weg nach dem Eingang, und als er sah, daß wirklich Meister Reinold, der Arzt, auf der Heerstraße sich nahe, sandte er Uz hinab, den Reiter in seinem Namen zu bitten, ein wenig im Garten Rast zu halten. Nur langsam kam der Arzt näher. Die Straße, durch lauter Lehmboden führend, war in den letzten regnerischen Wochen an vielen Stellen beinahe zum Sumpf geworden. Manchmal schien es, als ob das Rößlein des Arztes die Hufe nicht mehr aus dem zähen Schmutze zu heben vermöge.

»Ich steige nur ab,« sagte der Arzt zu Uz, als dieser seinen Auftrag ausgerichtet hatte, »wenn Du im Garten etwas hast, mein Roß zuzudecken; Du siehst ja, mein Räpplein ist vor Anstrengung ganz naß.«

»Nur absteigen, Meister, nur absteigen!« antwortete Uz zuversichtlich und hatte auch schon sein Obergewand ausgezogen. Der Arzt gab es lachend zu, daß Uz den Rappen damit bedeckte.

Inzwischen hatte Hildegard ihren jüngeren Bruder hinter einen Hollunderbusch gezogen und ihn dort angefahren: »Weißt Du denn nicht, Du toller Bursche, daß ich den Meister nicht leiden mag; Du verdirbst mir ja den ganzen schönen Tag.«

Verlegen blickte Diez einen Augenblick zu Boden, dann aber schaute er wieder mit seinen Schelmenaugen die Schwester an und sagte: »Ach, weißt Du, mir ist es nicht um den Meister zu thun, sondern um seinen Gaul; das wird jetzt lustig, wenn Uz und ich den Rappen hüten und füttern dürfen.«

Mit diesen Worten entwischte Diez der Schwester und eilte der Gartenthür zu. Dort hatte das Ehepaar schon den Arzt begrüßt, Kurt mit aufrichtiger Freude, Else nur mit Höflichkeit. Auch sie fühlte sich innerlich von dem Arzt abgestoßen. Meister Reinold war um ein Gutes kleiner als Hartmut, rasch und gewandt in seinen Bewegungen. Sein dichtes Haar und sein kleiner Schnurrbart waren tiefschwarz. Fein vor Frau Else sich verneigend, begrüßte er die Ehegatten und dankte für die Einladung. Man geleitete ihn zu dem Gartenhause. Dort stand Hildegard. In ihrem rosaroten Kleide, das um den Hals eng anliegend ohne weitere Verzierung nur in vielen Falten und um die Hüften leicht gegürtet an ihr niederwallte, hob sie sich von den Büschen des Gartens ab, sie selbst eine Rose. Die Augen des Arzts funkelten, als auf der Mutter Geheiß die Jungfrau dem Gaste einen Becher Wein darreichte. Den stechenden Blicken des Meisters aber begegneten die Augen Hildegards kühl, ja fast unfreundlich, und auf die höflichen Worte desselben hörte sie kaum, machte sich vielmehr spielend mit den Zweigen des zunächststehenden Busches zu schaffen.

»Wo kommt Ihr her, Meister?« fragte Kurt.

»Von Schwaigern!«

»Habt Ihr denn dort auch Kranke?« fragte Frau Else weiter.

»Man hat mich zu einem Bauern geholt, dem bei dem Ausbau seiner Scheuer ein Balken das rechte Bein zerschmettert hat. Er hat sich selbst helfen wollen mit Salben und Kräutern, bis die Sache so arg wurde, daß er vor Schmerzen fast den Verstand verlor. Da endlich rief man mich. Ich habe ihm geholfen.«

»Nun, womit denn?« wollte Frau Else weiter wissen.

»Mit Pflastern und mit Salben nicht; ich hab' ihm das Bein geschwind abgesägt.«

»Pfui, wie arg!« rief Frau Else und Hildegard wandte sich entsetzt ab.

»Was soll denn dabei so Arges sein?« sagte Kurt schnell. »Ihr Frauensleute seid doch sonderbare Geschöpfe. Wenn Ihr was Neues hört, kreischet Ihr auf, wie die Gänse am Siebenrohrbrunnen es thaten, als zum erstenmal das neue Rathausglöcklein geläutet wurde.«

»Schön Dank, Herr Gemahl, für den höflichen Vergleich,« erwiderte schmollend Frau Else. Aber das mitleidige Herz gewann doch bald wieder die Oberhand, und nochmals fragte sie:

»Ja, glaubt Ihr denn, Meister, daß jetzt dem unglücklichen Mann geholfen ist?«

»Wenn er nach meinen Vorschriften sich hält, dann hoffe ich, daß ich ihm noch vor der Weinlese einen Stelzfuß anschnallen kann.«

»Sagt mir, Meister Reinold«, wandte sich jetzt wieder Kurt zu dem Arzte, »findet Ihr nicht seit einiger Zeit etwas mehr Boden in unserer Stadt?«

Der Arzt zuckte die Achseln und sagte:

»Vielleicht; die Barfüßer zeigen sich immer noch sehr mißgünstig. Sie haben schon oft die Leute vor mir gewarnt, haben schon davon gemunkelt, daß ich die schwarze Kunst ausübe und in des Teufels Namen und Kraft die Kranken gesund mache. Aber trotzdem wollen doch immer wieder vernünftige Bürger sich von einem Arzte helfen lassen, der aus der hohen Schule zu Salerno die rechte Kunst gelernt hat. Doch verzeiht, wenn ich Euer schönes Landgut verlasse, ich habe noch nach etlichen Kranken in der Stadt zu sehen.«

Auf einen Wink des Vaters füllte Hildegard noch einmal den Becher des Meisters. Dieser erhob ihn mit zierlicher Handbewegung, wünschte dem Ehepaare und Hildegard Heil und leerte ihn auf einen Zug.

Während der Arzt im Garten sich aufgehalten hatte, waren Uz und Diez um das Pferd sehr beschäftigt gewesen. Uz hatte mit einem Stückchen Holz die Hufe des Tiers einigermaßen von den anhängenden Lehmklumpen gereinigt. Diez hatte das Kraut der Rettige, die oben verspeist worden waren, geholt und dem Rappen damit einen Schmaus bereitet. Dann hatte er es sich nicht versagen können, an dem Pack, der hinter dem hohen Sattel aufgeschnallt war, von der Gartenstaffel aus, herumzutasten. Er konnte das hüllende Leder etwas auseinanderschieben. Da lag vor seinen Augen ein Teil einer Säge, und an ihren Zähnen wahrhaftig, aber grausig zu sagen, blutige Fasern. Jetzt verging dem Schelm das Lachen; erbleichend und mit zitternden Händen nestelte er den Pack wieder zusammen, überließ den Gaul dem Uz und schlich sich innerhalb der Hecke des Gartens hin zu dem Apfelbaum, unter welchem Bruno immer noch saß und las. Ihm erzählte der Kleine die schauerliche Entdeckung. Da aber Bruno so halb und halb während seines Lesens die Unterhaltung der Eltern mit dem Arzte angehört hatte, so konnte er dem Bruder sagen, was Meister Reinold mit der Säge ausgerichtet habe.

»Hui! ich möchte kein Arzt werden«, sagte Diez und sah zugleich mit großer Befriedigung, daß der Meister, vor dem er sich jetzt fürchtete, den Garten verließ und bald darauf mit seinem Rappen auf der Brücke über den alten Neckarlauf dahinritt, dem Brückenthore zu.

»Was Ihr doch immer gegen Meister Reinold habt«, sagte Kurt Hartmut ziemlich unwillig zu Frau und Tochter. »Er ist ein geschickter Mann, nützt unsrer Stadt und hat feine Sitten.«

»Aber keine Augen, wie sie Menschen mit einem guten Herzen haben«, entgegnete Frau Else.

»Ach, Du denkst immer noch an seine dunkle, nicht ganz ehrliche Abkunft. Kann er denn etwas dafür, daß ihn Philipp, der Herr von Hohenrieth, aus dem Kriege mitgebracht, in welchem der Ritter unsrem König Ludwig gegen Friedrich von Oesterreich geholfen? Trägt er die Schuld daran, daß der Ritter den Knaben von seiner Burg entfernte und ihn zu den Dominikanern nach Wimpfen that, als Philipp eine Frau auf seine Burg heimführte? Ist denn das so arg, daß ihm die Welt lieber war, als das Kloster, ein freies lockiges Haupt lieber als ein geschorenes, unter das Joch gebeugtes? Und ist es nicht ehrenhaft gewesen, daß er mit dem Gelde, das ihm der Ritter ein für allemal auszahlte, in Welschland, in Salerno, aus die ärztliche Kunst studiert hat? Nein, nein, Ihr möget ihn nicht leiden, weil er sich mit Euren Pfarrherrn und mit Euren Barfüßern nicht so gut stellt!«

»Das hat mir kein Priester und kein Mönch gesagt, daß ich den Arzt nicht leiden soll, das sagt mir die Stimme meines Herzens. O, wie er vorhin so neben Dir stand, da war mir's, als wärest Du der hörnene Sigfrid, er aber der böse Hagen, der seine stechenden Augen schon auf die Stelle geheftet hat, da Du verwundbar bist.«

»Und Du hast am Ende gar schon in meinen Rock das rote Kreuzlein genäht, das Hagens Mörderhand den sichern Weg zur schwachen Stelle zeigt«, versuchte Kurt zu scherzen. »Willst Du denn heute zum zweitenmal die Zukunft weissagen? Laß Meister Reinold seine Wege gehen; gönne dem jungen Mann, wenn er sich mit seiner Kunst ehrlich sein Brot verdient. Hoffen wollen wir, daß er noch oft als Gast unser Haus betrete, aber recht lange uns und unsern Kindern fern bleiben möge als Arzt.

»Das, was Du eben zuletzt gesagt hast, das mache die heilige Dreifaltigkeit wahr! Aber laß uns jetzt mit den Kindern auch wieder an die Heimkehr denken!«


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