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Neuntes Kapitel.
Der schwarze Tod.

An einem Septemberabend saß die Familie Kurt Hartmuts um den Tisch. Der Abendimbiß war vorüber. Beim schwachen Schein der Öllampe suchte doch jedes noch sich zu beschäftigen. Hildegard hatte den Spinnrocken vor sich und ließ fleißig die Spindel tanzen. Die Mutter besserte mit kunstfertiger Hand den Schaden aus, den Diezens Lebhaftigkeit seiner Jacke zugefügt hatte. Er selbst schnitzelte mit einem Messer an einem Scheitchen Birkenholz und gab ihm mehr und mehr die Form eines Nachens. Anna hatte den Strickstrumpf in Händen, der Vater und Bruno rechneten. Da stolpert es in Hast die Treppe herauf. Die Thür wird aufgerissen, und Uz erscheint bleich, mit offenem Mund, nach Luft schnappend. Aller Augen wenden sich dem Eintretenden zu.

Diez lacht, er glaubt der Knecht mache einen dummen Spaß. »Hast Du ein Gespenst gesehen?« ruft Hartmut. Uz aber stößt, immer noch nach Atem ringend, heraus:

»Der Imlin! der Imlin!«

»So sag, was ist mit ihm!« ruft nichts Gutes ahnend Hartmut.

»Den Imlin, den Bäcker an der Lammgasse, den hat's!«

»Mensch, so red doch vernünftig! Was ist's mit ihm?« sagte ärgerlich der Hausherr.

»Der schwarze Tod hat ihn!« stößt Uz heraus.

»Was schwatzst Du für dummes Zeug!« ruft Hartmut.

Aber schon sind die Kinder und Frau Else aufgesprungen. Else streckte abwehrend, als brächte Uz den Tod schon selber mit, die Hände aus. Diez ließ den halbfertigen Kahn fallen und konnte kaum mehr vor Zittern das Messer festhalten.

»Er wird einen Schlagfluß erlitten haben«, sagte Kurt mit erzwungener Ruhe. »Warst Du denn dabei?«

»Herr, ich habe, wie Ihr befahlt, dem Bäcker das Säckchen Salz hingetragen. Er selber nahm's aus meiner Hand und trug's in die Backstube. Dann stellte er mir einen Becher Most hin und fragte, wie es Euch gehe. Auf einmal wird er weiß wie die Wand, stemmt seine Hände in die Hüften und schreit vor Schmerz hinaus. Seine Leute eilen herbei; man läßt ihn auf die Bank nieder. Schwarzes Blut fließt ihm aus Nase und Mund, er verdreht die Augen, und aus ist's mit ihm.«

»Das ist ja offenbar ein Schlagfluß«, sagte erleichtert aufatmend Kurt Hartmut. Es ist die größte Thorheit, Angst zu haben, und es ist ein Unrecht, andern Angst zu machen.

»Aber alle, die in der Stube bei Imlin waren, seine Leute und die Gäste in der Wirtschaft schrien zusammen: der schwarze Tod!«

»Er ist's, er ist's«, jammerte Frau Else.

»Woher willst Du denn das wissen?« fragte Kurt vorwurfsvoll. »Unsere Aufgabe ist es, Mut zu zeigen und anderen Mut zu machen. Uz, du gehst an deine Arbeit im Stall! Und Ihr nehmet alle Eure Arbeit wieder auf! Ich will es.«

Das Gebot war gegeben, aber wie schwer wurde es allen, außer Hildegard, dasselbe zu erfüllen!

Hartmut fing nach einer Weile wieder an: »Solange ich als Jüngling in Venedig weilte, brach auch eine böse Seuche aus, die viele dahinraffte. Da erzählte mir der Kaufherr, in dessen Handlung ich war, um mir Mut zu machen, eine Sage, wie sie bei den Arabern verbreitet ist. Die Pest kam zu Gott und hielt ihm vor, er habe ihr schon lange nichts mehr zu thun gegeben. Gott sah herab auf die Menschen und fand, daß die Gottlosigkeit derselben wohl eine Strafe verdiene. Gut, sprach Gott zur Pest, gehe hin und töte zehntausend, aber ja nicht mehr. Die Pest ging. Bald aber meldeten die Engel dem himmlischen Herrn, daß unzählige Menschenseelen von der Erde zur Ewigkeit herüberwallen. Der Herr zählte nach, und siehe da, es waren in wenig Tagen fünfzigtausend gestorben. Zornig ließ Gott die Pest vor seinen Thron kommen und fuhr sie an: Wie konntest du so sehr mein Gebot überschreiten? Demütig verbeugte sich die erdfahle Pest vor dem Throne des Höchsten und sagte: Ich habe, o Herr, mich genau an dein Gebot gehalten, nicht einen einzigen mehr als zehntausend habe ich weggerafft. Die andern alle hat die Angst vor mir getötet. – »Daraus lernt«, fuhr Hartmut fort, »daß Furchtlosigkeit das beste Mittel gegen alle Pest ist.«

Ach, wenn nur ein Geschichtchen Mut einflößen könnte! Else und die Kinder außer Hildegard hörten nur mit halbem Ohr. Hildegard aber dachte: Wenn nur mehr Menschen wüßten, woher der Mut kommt! Ihr Herz hatte auch gebebt, als der schreckliche Name aus Uzens Mund kam; es war ihr wohl bewußt, welch Elend durch eine Pest über die Stadt, über ihr Vaterhaus, über sie selbst kommen konnte. Aber sie hatte gelernt, in allen Anliegen ihren ersten Gedanken auf den hinzulenken, der ihr kund geworden war als die Quelle des Friedens. Kaum hatte Uz vom schwarzen Tod geredet, da meinte sie in ihrem Innern die Stimme ihres Herrn zu hören: Fürchte Dich nicht, glaube nur!

Kurt Hartmut hielt es nicht lange zu Hause aus. Er sprang auf und sagte in der Stube auf und abgehend: »Ich muß der Sache auf den Grund kommen! Ich gehe selbst hin und will mit eigenen Augen sehen, was es mit dem Tode des Bäckers für eine Bewandtnis hat.«

»Du wirst doch dein Leben nicht so aufs Spiel setzen wollen! Das ist, wenn jemand sich dreinmischen will, doch Sache des Schultheißen!« rief aufspringend und voll Angst den Mann anblickend Else.

»Den werde ich abholen, und den Meister Reinold nehmen wir auch mit«, sagte Kurt und machte sich, ohne weiter auf die Bitten seiner Frau und das Jammern seiner beiden jüngsten Kinder zu hören, auf, seinen Vorsatz auszuführen. Als er an dem Chor der Kilianskirche vorüberging, sah er den Pfarrherrn Philippus Helt mit einem Ministranten und begleitet von einem heulenden erwachsenen Mädchen vor sich hereilen dem Marktplatz zu. Er holte sie schnell ein und ließ sich von dem Mädchen, das kaum die Worte hervorbrachte, sagen, daß im Hause Imlins schon zwei andere Personen, eine erwachsene Tochter und ein Bäckergeselle, im Sterben liegen. Da überlief es den Ratsherrn einen Augenblick eiskalt.

»Also doch!« sagte er halblaut. Dann aber eilte er mit verdoppelter Schnelligkeit zum Schultheißen.

Dieser wußte noch nichts vom Tode Imlins. Als dann Kurt Hartmut die Sache bei dem rechten Namen nannte, da fuhr der Schultheiß entsetzt zurück. Dann sagte er: »Läßt sich nicht vielleicht die Seuche noch eindämmen?«

»Das eben hoffe ich, darum möcht' ich vorschlagen, daß Ihr den Meister Reinold holen lasset, daß der seine Meinung sage und uns berate.«

Alsbald ließ der Schultheiß den Arzt zu sich entbieten.

»Während die beiden auf sein Kommen warteten, sagte der Schultheiß: »Höret, Hartmut, um das schnelle Sterben ist es doch eine sehr heikle Sache!«

»Darauf muß jeder Mensch gefaßt sein!« gab der Ratsherr trocken zurück.

»Ja wohl, aber doch ist's ein eigen Ding, wenn es einem gleichsam unter die Nase gerieben wird: in der nächsten Stunde schon siehst du nichts mehr, hörst du nichts mehr, schlägt dein Herz nicht mehr, fängt dein ganzer Leib an zu faulen. Wo bin ich dann, ich, der ich mit Euch, Kurt Hartmut, jetzt rede, der ich denke und fühle?«

»In der Hölle, im Fegfeuer, oder im Paradies, wie die Priester sagen; ein viertes giebt es nicht.«

»Hört, Freund, vor der Hölle schaudert mir's, wie wohl ich mir keiner Todsünde bewußt bin und erst vor vierzehn Tagen gebeichtet habe. Vor dem Fegfeuer habe ich Angst, weil ich nicht weiß, wie lang es dauert, und von dem Paradies weiß ich so wenig, daß mir's alleweil noch in Heilbronn lieber ist. Darum mein' ich eben, das Sterben sei so eine heikle Sache.«

»Nun wir wollen hoffen«, sagte Kurt Hartmut, »es geht der Tod an uns und den Unsrigen vorüber.« Aber nicht aus großer Zuversicht heraus redete der Ratsherr. Ihm war, was der Schultheiß gesagt hatte, ungemein widerwärtig gewesen. Warum? Weil es so ziemlich seinen eigenen Gedanken entsprach, weil ihm das Wort Sterben mit allen seinen Fragen und Rätseln Seelenpein machte. Der Arzt kam. Auch zu ihm war die Kunde vom Tode Imlins noch nicht gekommen; auch er zuckte zusammen, als er erfuhr, daß ohne Zweifel der schwarze Tod in Heilbronn eingezogen sei.

»Es wird jetzt wohl Euer Klagen verstummen, daß Ihr zu wenig zu thun habt«, sagte der Schultheiß. »Nun zeiget der ganzen Einwohnerschaft, was Ihr auf der hohen Schule gelernt habt.« Etwas kleinlaut erwiderte der Arzt: »Ich kenne die Krankheit noch nicht. Wahrscheinlich ist es dieselbe, die der große Hippokrates beschrieben hat, und ich will die Mittel versuchen, die er anriet.«

»Nun denn, in Gottes Namen auf, und hin zu der Unglücksstätte«, sagte der Schultheiß.

»Nehmet, ich bitte Euch, zuvor einige dieser Wachholderbeeren, und zerkaut sie langsam,« bat Meister Reinold und hielt den beiden Männern ein kleines Büchslein, gefüllt mit den genannten Beeren hin. Sie folgten der Aufforderung, dann gingen sie hinüber in die Lammgasse. Im Hause des Bäckers sah man in verschiedenen Gelassen Licht. Die drei traten in die Wirtsstube. Da lag auf zwei zusammengeschobenen Bänken die Leiche des Bäckers. Mit einem Tuch war das Gesicht zugedeckt. Der Arzt zog es, nur mit den Fingerspitzen es berührend, weg. Alle drei fuhren zurück. Ein furchtbarer, sofort im Mund den bittersten Geschmack hervorrufender Geruch drang auf sie ein, und ihren Augen zeigte sich ein entsetzliches Bild. Das Gesicht des Bäckers war schwarz, wie das eines Negers, und immer noch drang schaumiges Blut aus Nase und Mund.

Der Arzt ließ das Tuch wieder aufs Gesicht des Toten fallen und sagte: »Das ist kein Schlagfluß, das ist eine Krankheit, die ich noch nie gesehen habe.«

In der Wirtsstube war nur ein Bäckergeselle; er sah unheimlich blaß aus. Aber auch die drei Männer erblickten, wenn sie sich gegenseitig ansahen, nur aschfahle Gesichter. Ja, es war vom ersten Auftreten der schrecklichen Krankheit an, als hätte sich alle gesunde Gesichtsfarbe aus der Welt geflüchtet. »Was ist denn sonst im Hause geschehen?« fragte der Schultheiß. Die Zähne aufeinanderschlagend sagte der Geselle: »Mein Genosse ist vor wenig Augenblicken in seiner Kammer gestorben; des Meisters Tochter wird nicht mehr lange leben; sie erhält gerade die letzte Ölung.« Die drei Männer stiegen die Treppe hinauf. Ja, der Geselle war tot; er lag mit entblößter Brust auf seinem Bette; in der Mitte der Brust war eine faustgroße blauschwarze Beule.

»Dem ist ja nicht mehr zu helfen!« sagte der Arzt. »Nun zu der kranken Tochter!« Der Pfarrherr war soeben mit seiner heiligen Handlung fertig geworden. Auch er sah so bleich aus, als ob er jeden Augenblick umfallen wollte. Das Mädchen röchelte schon. Ihr trieb es am Hals dicke dunkle Anschwellungen hervor. Es schien, als ob sie unter dem Drucke derselben ersticken würde. Noch einige schnappende Bewegungen des Mundes, und es war auch bei ihr vorüber. Am Lager stand die Mutter; es war alles so entsetzlich schnell gekommen, daß sie vollständig betäubt war.

»Es ist kein Zweifel«, sagte Meister Reinold, »daß dies die Pest ist. Da wollen wir denn zuerst das ganze Haus durchräuchern; es wird auch für uns selbst gut sein. Pfarrherr Helt, Ihr bleibet auch hier, bis Ihr Euch habet durchräuchern lassen!« Der Arzt holte selbst eine eiserne Pfanne in der Backstube und zündete ein kleines Feuerchen darauf an. Als die Flammen erloschen waren, blies er die Kohlen zur Glut an, warf von den Wachholderbeeren darauf und träufelte außerdem aus einem Fläschchen, das er bei sich getragen, einige Tropfen hinein, die einen sehr starken und belebenden Geruch verbreiteten. Mit der Pfanne ging er durch das Haus. Dann stellten sich die drei samt dem Pfarrherrn um die Pfanne und ließen, nachdem die Glut wieder angeblasen war, ihre Kleider von den Dämpfen durchdringen.

Darauf traten alle auf die Straße. »Ich rate,« sagte der Arzt, »daß hier vor dem Hause heute nacht noch ein Feuer angezündet und die ganze Nacht hindurch unterhalten werde.« Er blickte dabei von der Ecke der Lammgasse die Judengasse hinaus. Dort drüben hinter dem Brunnen wohnt der reiche Nathan. Es steigt in Meister Reinolds Seele ein abscheulicher Gedanke auf, und er bekämpft ihn nicht, der Gedanke nämlich, daß die Pest ins Judenhaus nicht weit habe, und daß sie ihn und andere, wenn sie dort einen Besuch abstatten würde, der Schulden los und ledig machen könnte. Doch zu viele Zeit hat der Arzt nicht, diesem Gedanken nachzuhängen, denn eben kommt vom Marktplatz her ein Ratsdiener, der den Schultheißen sucht, um ihm zu melden, daß droben am Fleinerthor im Hause des Weingärtners Beuttinger drei Leute auf einmal in wenig Augenblicken gestorben seien.

»So wissen wir es denn gewiß«, sagte Kurt Hartmut, »daß der schwarze Tod in unserer Stadt sein grausig Werk begonnen hat. Wer kann da dämmen, wenn an den verschiedensten Orten der Stadt die Krankheit zugleich ausbricht!«

»Laßt auch dort auf der Straße alsbald Feuer anzünden; einen anderen Rat weiß ich vorerst nicht zu geben. Ich will sogleich dorthin eilen und das Haus räuchern«, sagte Meister Reinold und wandte sich zum Gehen.

»Ich begleite Euch«, rief Hartmut und ging mit dem Arzt die Judengasse hinaus.

»Was werdet Ihr selbst thun, um Euch vor der Krankheit zu schützen?« fragte unterwegs Hartmut den Arzt.

»Ich traue vor allem auf meinen guten Stern; dann werde ich essen und trinken wie sonst, und endlich werde ich von jetzt ab gar keine Zeit mehr haben, mich auf mich selbst zu besinnen. Doch was ist das, dort bewegen sich Laternen, dort scheinen Leute sich zusammenzuscharen!« Die beiden waren die Sülmerstraße heraufgekommen. Da standen allerdings am Ausgang der Präsenzgasse Leute umher im Kreise. Hartmut vernahm deutlich die Stimme des Kirchherrn, der sagte: »So greifet doch an und traget ihn zu uns herein!« Eine rohe Stimme antwortete laut: »Warum langet Ihr nicht selbst zu, Kirchherr? Es ist doch einer von Euch Pfaffen, da seid Ihr ihm näher als wir.«

Kurt Hartmut und der Arzt drängten sich durch den Kreis der Neugierigen. Da sahen sie den Pfarrherrn Philippus Helt am Boden liegen. Er war über den Marktplatz zurückgekehrt, und unterwegs hatte ihn die Krankheit gepackt.

»Geht heim, Leute!« rief gebieterisch Kurt Hartmut. Dann wandte er sich zum Arzt und sagte: »Kommt, Meister, wir tragen den Priester in die Präsenz!« Der Arzt machte kein sehr erfreutes Gesicht. Doch griff er zu, und bald lag der schweratmende Pfarrherr in seiner Zelle. Vor ihr stand in großer Verlegenheit der Kirchherr. »Leget ihm heiße, nasse Tücher auf Brust und Leib! Das ist das Einzige, was ich Euch raten kann!« rief der Arzt dem Kirchherrn zu, »und räuchert immer wieder mit Wachholder!« Dann eilten der Arzt und Hartmut zur Präsenz hinaus, dem Kirchherrn es überlassend, mit sich selbst darüber ins Reine zu kommen, daß er den erkrankten Bruder nicht zu berühren gewagt hatte.

Am Fleinerthor fanden die beiden alles genau so wie an der Ecke der Lamm- und Judengasse. Sie ließen auch dort im Hause räuchern, und bald warf ein großes Feuer von der Straße aus seine roten, flackernden Lichter auf den Turm des Fleinerthors und auf die umliegenden Häuser. Die Schatten aber, die beim Hinundherflackern der Flammen über die Häuserflächen hinhuschten, waren einigemale wie ein grinsendes Gesicht. Ja, der schwarze Tod, der mit einem Sprung in der Stadt gewesen war, nichts fragend nach Thoren und nach Mauern, er lachte und spottete der Flammen, die ihn vertreiben sollten.

Kurt Hartmut kam spät heim. Mit ängstlicher Spannung erwarteten ihn die Seinigen.

»Es ist ernst, sehr ernst!« sagte er. »Mehr als je müssen wir uns sagen, daß zwischen dem Tode und uns nur ein Schritt ist. Aber je mehr wir uns fürchten, desto sicherer ist, daß wir der Krankheit verfallen. Darum Gott befohlen! Ein jegliches suche jetzt sein Lager auf!«

Hildegard lag lange auf den Knieen vor ihrem Bette. Sie machte sich in jener Abendstunde fertig, auch dem Tode zu begegnen. Sie überschaute ihr ganzes Leben. Sie dankte, daß ihr das Licht des Evangeliums aufgegangen war. Dem gegenüber, was sie als Unrecht und Sünde in ihrem Leben erkannte, hielt sie den Spruch: »Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christ worden.« Wie trat doch jetzt als eine handgreifliche Wahrheit das ihr so liebe Wort vor die Seele: ›In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen‹. Wo er ist, der das Leben ist, da darf der schwarze Tod mit seinem Schrecken nicht hindringen. Sie gedachte an jenem Abend auch mit besonderer Innigkeit der beiden, die ihre Führer zum Licht und Leben geworden waren und derer, mit denen sie durch die Liebe zum Evangelium verbunden worden war. Dann aber schlief Hildegard so ruhig, wie wenn der Maikönig und nicht der König der Schrecken in seiner entsetzlichsten Gestalt in die Stadt eingezogen wäre.

Die Ehegatten dagegen fanden nicht so bald den Schlaf. Kurt Hartmut besprach mit seinem Weibe in scheinbar großer Ruhe, was sie thun sollte für den Fall, daß er vor ihr von der Krankheit weggerafft würde. Das alles zu hören, war der Frau schrecklich. Dann sprach auch Kurt davon, was sie miteinander thun wollten, um die Krankheit möglichst zu meiden. Sie wollten möglichst viel im Freien sein. Die Frau und die Kinder sollten, solange es die Witterung erlaube, auf dem Sonnenbronnengut leben, dort sei gesundes Wasser, und dort komme man nicht so viel mit andern Menschen in Berührung. So sprachen die Ehegatten lange hin und her; die Sorgen, die Aufregungen ließen sie tief in die Nacht hinein wach bleiben.

Der Morgen kam, an dem jeder Heilbronner wußte, daß die gefährlichste Zeit seines Lebens angebrochen sei. Merkwürdig, auf die sechs ersten fast ganz jähen Todesfälle war in der Nacht kein weiterer gefolgt; als aber der Rat zusammenkam, da hörte man von vielen Erkrankungen; waren doch vom Rate selbst schon zwei Mitglieder krank geworden.

Während Hartmut auf dem Rathause war, hatte Frau Else mit Hildegard eine lange Unterredung.

Frau Else war in die Kammer Hildegards getreten, als diese eben damit beschäftigt war, dort alles in Ordnung zu bringen.

Mit besonderer Zärtlichkeit ergriff die Mutter die Hand der Tochter und zog sie neben sich auf das Bett.

»Kind,« hub Frau Else an »ich gehe nachher zur Beichte. Willst Du nicht mitgehen? Siehe, der Tod lauert jetzt in allen Ecken und Winkeln auf uns. Welch bessere Vorbereitung für alle Fälle giebt es doch als die Beichte? Komm, hole Dir vom Munde des Priesters die Absolution. Ich kann viel leichter die Angst in meinem Herzen unterdrücken, wenn ich weiß, daß meine liebe Tochter alles gethan hat, um die ewigen Strafen zu meiden.« Hildegard fiel der Mutter um den Hals und sagte: »Lieb Mütterlein, alles will ich Dir zu Gefallen thun, alles, was ich Dir nur an den Augen absehen kann, aber vor einem Priester beichte ich nicht. Weil wir nicht wissen, wenn Gott der Herr uns durch die schreckliche Krankheit von einander reißt, so will ich Dir, liebe Mutter, mein ganzes Inneres offenbaren.«

»Dem Priester thue das, dem Priester, dann hast Du meinen sehnlichsten Wunsch erfüllt! Und wenn Du mir alles sagst, wie kann ich Dich freisprechen?«

»Nicht um eines Priesters Freisprechung, nicht um menschliche Vergebung ist es mir zu thun; Vergebung erflehe und erhoffe ich von meinem Gott und Heiland; sondern meine Mutter soll in mein Herz schauen, und vor ihr will ich kein Geheimnis haben, wenn ich von der Erde scheide.«

Und nun erzählte Hildegard alles, wie es gekommen war, von ihrer ersten Unterredung mit den Waldensern an. Als sie die Namen der Fremden nannte, da sprang die Mutter auf und rief: »So haben diese Unholde doch meines armen Kindes Herz verführt!« Hildegard fuhr ruhig fort, weiter zu erzählen, und obgleich die Mutter mehreremal die Hände rang und geradezu hinausschrie vor Entsetzen, als Hildegard ihre nächtlichen Besuche in der Rappengasse schilderte, so hörte die Tochter nicht auf, bis sie alles berichtet hatte.

»Das ist ärger als die Pest!« stöhnte die Mutter.

Hildegard suchte die Mutter wieder zu umarmen, aber Frau Else stieß sie zurück.

»Mutter, glaub mir, ich wäre das glücklichste Geschöpf in der Welt, wenn Du mich verstehen würdest. Daß ich Dir Schmerzen bereite, das ist der bittere Kelch, den ich jeden Tag trinken muß. Aber wenn Du mich zum Hause hinausjagst, wenn Du mir verbietest, daß ich mich Deine Tochter nenne, ich kann doch von dem nicht lassen, was ich als die Wahrheit erkannt habe.«

Frau Else verstand ihre Tochter nicht, aber während sie ganz zusammengedrückt vom Jammer auf dem Bette der Tochter saß, kam ihr plötzlich der Gedanke, ob sie selbst wohl beichten würde, wenn in Heilbronn nur der eine Kirchherr als Priester wäre. Frau Else zürnt auf sich selbst, daß ihr jetzt gerade dieser Gedanke kommt, sie möchte ihn abschütteln, aber sie bringt ihn nicht weg, sie muß sich die Antwort geben, daß sie nicht zur Beichte ginge, wenn nur der Kirchherr Beichte hören würde.

Hildegard sitzt neben der schweigenden Mutter. Sie versucht noch einmal die Mutter zu umarmen. Frau Else läßt es jetzt geschehen. Da sagt Hildegard: »Mutter, wenn jetzt die Pest uns beide überfallen würde, wenn wir plötzlich weggerafft würden, wärest Du jetzt, in diesem Augenblick, Deiner Seligkeit gewiß?

»Nein, nein!« rief die Mutter, »eben deshalb will ich beichten.«

»Aber sieh, liebe Mutter, ich bin ganz gewiß, daß, wenn ich jetzt oder später sterbe, ich durch meinen guten Hirten, den Herrn Jesum Christum, ins himmlische Paradies geführt werde.«

Frau Else schauderte zusammen; ohne priesterliche Absolution der Seligkeit gewiß sein, das erschien ihr eben immer wieder wie eine entsetzliche, frevelhafte Anmaßung. Aber ihr Herz war doch weicher geworden. Sie wußte ja, daß es kein stilleres, willigeres Mädchen geben könne, als ihre Hildegard; frevelhafte Anmaßung lag ihr sonst so fern. Hildegard fuhr fort und sagte: »Liebes Mütterlein, laß mich meinen Weg gehen; ich bin gewiß, daß es der richtige ist. Suche Du auf Deinem Weg Vergebung; Gott möge Dir Gewißheit schenken! Eines weiß ich auch ganz gewiß, daß Du mich noch verstehen wirst und wenn nicht in diesem Leben, so doch sicher in jenem.«

Die Mutter ging zur Beichte. Es drängten sich viele dazu; die Todesfurcht jagte die Heilbronner in Scharen zu den Beichtstühlen; und wem es je beim Beichtgang noch nicht ganz ernst gewesen wäre, dem konnte in der Kirche selbst der Schrecken in die Glieder fahren; denn an dem Vormittag, an welchem Frau Else zur Beichte ging, wurden nacheinander im Gotteshause vier Personen von der Krankheit überfallen. Solange die Mutter in der Kirche war, lag Hildegard in ihrem Kämmerlein auf den Knieen. Sie dankte Gott, daß sie Gelegenheit bekommen habe, ihr Herz vor der Mutter auszuschütten; sie suchte ohne Vermittlung des Priesters Absolution und befahl sich für den Tag in Gottes Schutz. Ihr war so leicht ums Herz, daß sie zur höchsten Verwunderung des alten Eberhard, der nur mit der größten Angst im Herzen seinem Geschäft nachging, mit frischer Stimme ihr Lieblingslied sang:

Schönster Herr Jesu, Herrscher aller Enden,
Gottes und Mariens Sohn:
Dich will ich lieben, dich will ich ehren.
Du meiner Seele Freud und Kron!

Wann einst ich sterbe, daß ich nicht verderbe.
Laß mich dir befohlen sein!
Wann's Herz wird brechen, laß es dann sprechen:
O Jesu, Jesu, Jesu mein!

Der Vater aber war indessen auf dem Rathause. Schwere, ernste Fragen stürmten jetzt auf den Rat ein. Wo sollten die an der Pest Gestorbenen begraben werden? Inmitten der Stadt nicht, auf dem Kirchhof von St. Kilian nicht, noch weniger in der Kirche selbst; aber wo dann? Man beschloß, außerhalb der Stadtmauer, rechts von der Straße nach Weinsberg, einen Gottesacker anzulegen. Nun wollte aber niemand sich dazu hergeben, die Toten zu bestatten. Alles fürchtete sich vor dem greulichen Anblick und dem entsetzlichen Geruch. Der Rat mußte mit Androhung schwerer Strafen vorgehen, nur um die nötigen Leute aufzubringen. Mehr noch aber als die Drohungen des Rats fruchtete das Beispiel von völliger Unerschrockenheit, das Hartmut gab. So viele mit ihm in der letzten Zeit nicht einverstanden gewesen waren, sein männlicher Mut zwang auch seine Gegner zu neuer Bewunderung.

Die Sterbefälle häuften sich. Alle, die nach dem ersten Auftreten der Krankheit befallen worden waren, starben nach drei Tagen. Am ersten Tage schüttelte die Kranken ein fürchterliches Fieber, dann zeigten sich unter unerträglicher Hitze Beulen am Hals, an der Brust, unter den Armen. Die Kranken spuckten Blut. Am dritten Tag waren viele bewußtlos, bei andern kamen Wutanfälle, wieder andere stöhnten unter martervollen Schmerzen in der Herzgegend. Am dritten Tag trat der Tod ein. Von all denen, die in den ersten Wochen befallen wurden, kam auch nicht ein einziger davon. So hatten denn die Pfarrherrn nicht bloß den neuen Gottesacker einzuweihen, sondern auch in die erste Reihe ihren Bruder Philippus Helt zu legen. Aber wie unheimlich schnell wuchsen doch die Reihen! Die ordentlichen Leichenbegängnisse hörten bald auf. Immer häufiger sah man, wie namentlich des Abends in unwürdiger Hast Särge hinausgetragen wurden, nur von den nächsten Angehörigen, ja manchmal nicht einmal von diesen begleitet.

Kurt Hartmuts Familie, das heißt, die Mutter, die beiden Töchter und Diez, brachte nach dem Willen des Vaters den größten Teil des Tages am Sonnenbronnen zu. Aber Frau Else wurde fortwährend von einer zwiefachen Angst geplagt. Fürs erste bangte sie immer für die Zurückgebliebenen. Wie schrecklich wäre es doch, wenn der Mann, der Sohn während ihrer Abwesenheit von der Krankheit überfallen würden! Zum andern aber konnte sie die Angst nicht wegbringen, es möchte die Krankheit eines von ihnen selbst am Sonnenbronnen ergreifen. Wie sollte man dann das Erkrankte in die Stadt hineinbringen? Und zudem war auch im Garten selbst so wenig Freude zu haben. Das traurige Jahr hatte fast keine Früchte gedeihen lassen und gezeitigt. Wie wehe aber thut doch einer Hausfrau ein unfruchtbarer Garten! Mit Näharbeiten waren Mutter und Töchter meistens beschäftigt. Diez machte sich Bogen und Pfeile und schoß nach einer Scheibe. Während der Arbeit erzählte Hildegard viele Geschichten aus den Evangelien. Sie konnte ja die meisten auswendig. Das war Anna eine besondere Freude, aber auch die Mutter hörte gerne zu, und auch sie freute sich von Herzen über den, dem die Seuchen und Krankheiten, ja der Tod selbst gehorchen mußten.

Wenn dann die Familie gegen Abend wieder in die Stadt heimzog, so war es immer derselbe schreckliche Eindruck. Die Feuer, die auf Befehl des Rats in den Abendstunden auf den Straßen gen Himmel loderten, das Wehegeschrei, wenn in einem Hause wieder jemand neu von der Krankheit ergriffen wurde, oder wenn der Tod seinen Raub davonnahm, das unheimliche Vorübereilen eines Leichenzugs dem Sülmerthore zu, das Zusammenbrechen eines Menschen auf der Straße, sein Schreien um Hilfe, das Zaudern der Vorübergehenden, dem Zusammengebrochenen zu helfen, das waren die herzbeklemmenden Bilder, welche dem sich darboten, der die Stadt betrat.

Es war ein Monat der schrecklichen Zeit dahingegangen; schon waren über dreihundert Opfer der Seuche draußen an der Weinsbergerstraße in die Erde gebettet; aber noch war kein Nachlassen der Krankheit zu spüren. Die Zeit der Weinlese war gekommen. Was draußen in den Weinbergen trotz der schlechten Witterung reif geworden war, ach, es war blutwenig. Aber auch wenn es hundertmal mehr gewesen wäre, einen fröhlichen Herbst hätte es doch nicht gegeben. So hörte man denn im Jahre 1348 keinen Gesang der Winzer und Winzerinnen, keine Glocken der Kärcherpferde; manche Kelter wurde gar nicht geöffnet, viele Kelterbäume blieben in träger Ruhe liegen.

Frau Else war mit den Kindern im Weinberg am Wartberg gewesen. Sie hatte dort die besten der genießbaren Trauben geschnitten; ach, sie hatten nur ein kleines Körbchen gefüllt! Nun kehrten sie zurück. Wie sie dem Sülmerthor sich nähern, kommt ein Leichenzug heraus. Barfüßer tragen den Sarg, Barfüßer folgen ihm und nach den Barfüßern eine größere Zahl von anderen Begleitern, meist einfache, ärmere Leute. Frau Else ist neugierig, zu erfahren, wer hinausgetragen wird. Gerne sagt es ihr eine der letzten Frauen im Zug. Es ist der Bruder Johannes von den Barfüßern. Er hatte vom Ausbruch der Seuche an mit rührendem Eifer und ohne alle Angst gerade der ärmeren Kranken sich angenommen; er hatte, wo die Angehörigen flohen vor den Schrecken der Krankheit, ausgehalten bis zum letzten Augenblick, er hatte manchem die Augen zugedrückt. So half er auch in einem Hause der Mezgergasse bei einem armen Seiler. Der Mann, die Frau, die Kinder wurden krank und starben nacheinander bis auf ein dreijähriges Büblein. Niemand will das Kind, das auch schon vom Fieber verbrannt wird, aufnehmen. Neben den Leichen kann es Bruder Johannes nicht liegen lassen. So nimmt er es denn auf seinen Arm und trägt's in seine Zelle und pflegt es bis zum andern Morgen, bis der Tod das Kind mit den Seinigen wieder vereinigte. Aber noch am selben Tage wurde auch Bruder Johannes befallen, und nun ist er auch dahin, er, dessen ganzes Leben nur Liebe gewesen, oft einfältige Liebe, aber reine Liebe.

Frau Else wischt sich die Augen, Hildegard aber sagte mit thränenerstickter Stimme: »Wer ein solches Kind aufnimmt, der nimmt mich auf, spricht der Herr Christus.«

Frau Else kam mit ihren Kindern am Franziskanerkloster vorüber; vor der Klosterpforte brannte ein Feuer. Anna blieb plötzlich stehen und griff nach der Hand der Mutter. Frau Else schaute ihr Kind an und erschrak tödlich. Ihr Kind hatte die aschgraue Farbe, mit welcher die Krankheit zu beginnen pflegte. Mit einem Schrei sank Frau Else neben ihrem Töchterchen auf die Kniee. Hildegard aber hatte den Korb alsbald ihrem Bruder allein überlassen, hatte die Schwester auf die Arme genommen und war dem Elternhause zugelaufen. Frau Else erhob sich und wankte hinter den beiden drein. Bis die Mutter heimkam, lag das Kind schon zu Bett, von Fieberfrost geschüttelt. Als dann Frau Else jammernd am Bett niedersank, als der Vater kam und erschüttert auf seinen Liebling niederblickte, da trat Hildegard zwischen die Eltern und sagte: »Wir wollen nicht verzagen, es ist nicht die Krankheit, es ist der Herr, der bei uns einkehrt.«

Den Diez schickte der Vater zu Meister Reinold. Der war nicht so bald zu finden. Von einem Unglückshaus zum andern mußte der Knabe laufen, bis er endlich den Arzt traf. Dieser eilte ins Hartmut'sche Haus. Er sagte dort zum Trost, es sei ihm jetzt doch schon bei zwei Kranken gelungen, sie zu retten. Man dürfe jetzt also nicht mehr glauben, jeder Befallene sei verloren. Aber trotz des Trostes stieg bei Anna die Krankheit von Stunde zu Stunde, und so pünktlich Hildegard auch alles that, was der Arzt angeordnet hatte, das zarte Leben konnte der Macht der Krankheit nicht widerstehen.

Das Kind litt am meisten unter den Herzbeklemmungen. Da glaubte es alle möglichen schrecklichen Gestalten zu sehen. »Uz, Uz«, schrie es hinaus, »jage doch den Bären fort, er springt mir nach, er brummt so arg!« Dann sah das arme Kind wieder Schlangen und Teufel. Frau Else rief weinend alle Heiligen an, daß sie ihr Kind schützen möchten vor den Ungetümen der Hölle. Hildegard aber saß neben dem Bett der Schwester, hielt ihre brennend heißen Hände und sagte langsam und deutlich, doch nicht allzu laut: »Annale, der Heiland jagt alle die Bösen davon. Er ist bei dir; er hat die kranken Kinder lieb; er nimmt dich auf den Arm, wie Bruder Johannes das kranke Büblein, er trägt dich heim in sein schönes Himmelsschloß.« Die Kranke wurde ruhiger, aber immer wieder stieß sie unter heftigem Husten Blut aus, das Hildegard ihr sanft wegwischte. Da preßt Anna die kleine Hand aufs Herz und ruft: »Der Heiland und der Bruder Johannes, sie kommen miteinander, der Heiland winkt; der Bruder Johannes sagt, ich soll mit dem Büblein spielen, das er an seiner Hand führt. Mutterle, darf ich zu ihnen gehen? Mutterle gelt, ja!« Noch einige harte Stöße des Herzleins, dann ein kurzes Röcheln, und das Kind war hinüber zu Bruder Johannes und zu dem Büblein, das er an der Hand hielt, und zu dem Heiland, der dem Annale winkte.

Noch stand Kurt Hartmut am Sterbebett seines Kindes, und heiße Thränen rannen über seine Wangen, noch kniete schluchzend Frau Else neben ihrem Mann, noch hielt Hildegard die erstarrende Hand der Schwester in der ihrigen, da trug Uz den Diez in die Stube.

»Hilf, heilige Jungfrau, ist's denn nicht genug mit diesem Opfer?!« schreit Frau Else aufspringend, und starren Gesichts eilt Hartmut hinaus, um den Sohn von den Armen des Knechtes zu nehmen. Hildegard hat die Hand des toten Schwesterleins aufs Bett niedergleiten lassen und folgt zitternd den Eltern.

Diez hatte sich vor dem Sterben der Schwester gefürchtet; er war in den Hof hinabgegangen, dann zu Uz in den Stall und hatte dem weinend erzählt, daß Anna sterbe. Dann ging er wieder in den Hof und setzte sich auf eine Kiste. Als Uz nach dem Knaben einmal hinüberblickte, sah er, daß er mit heraufgezogenen Beinen auf der Kiste lag. Er sprang ihm bei und merkte alsbald, daß die Seuche den Knaben ergriffen habe. In dem kleinen Gelaß neben der Eltern Schlafkammer, in welcher auch Annas Bettlein stand, wurde Diez zu Bett gebracht. Ehe aber Meister Reinold kam, eilte ein Ratsbote herbei und meldete Hartmut, der Schultheiß liege schwer darnieder und lasse den Ratsherrn zu sich bitten.

Von der Leiche des Töchterleins, von des Sohnes Lager weg ging Hartmut hinüber zum Schultheißen. Heute fühlte er den Boden viel mehr unter seinen Füßen wanken als beim Erdbeben. Als er in das Zimmer des Schultheißen trat, standen dessen Angehörige in ziemlicher Entfernung vom Bett weg. Hartmut sah sofort, daß beim Schultheißen die Krankheit in besonders heftiger Weise aufgetreten sei. Namentlich war der Geruch ganz unerträglich. Aber den Rest seiner Kraft zusammenraffend näherte sich der Ratsherr dem Totkranken.

Der Schultheiß schlägt die Augen auf und sucht zu lächeln – es macht dieser Versuch das schwarzblaue Gesicht nur um so gräßlicher – und sagt mit heiserer Stimme: »Hartmut, mit mir ist's aus. Meldet meinen Tod dem Grafen nach Stuttgart, und führet die Geschäfte, bis ein anderer Schultheiß eingesetzt ist. Aber wohin jetzt? In die Hölle, ins Fegfeuer oder ins Paradies?«

»Gott helf' Euch ins Paradies!« sagte erschüttert der Ratsherr.

»Ins Paradies soll mir jetzt auch der Priester helfen. Ich habe nach dem Kirchherrn geschickt; er soll mir die letzte Wegzehrung geben.«

Man hörte schon unten vor dem Hause das Glöcklein des Ministranten.

Da stemmt der Schultheiß die Hände in die Weichen, thut einen Schrei: »Wie sind die Flammen so heiß, so heiß!« streckt sich und ist verschieden.

Der Kirchherr tritt ins Zimmer. »Ihr kommt um ein paar Atemzüge zu spät!« sagte der Ratsherr und ließ den Priester mit der Leiche und mit den Angehörigen des Verstorbenen allein. Auf dem Heimweg aber zurück zu seinem häuslichen Jammer tönte ihm in den Ohren der letzte Schrei des Schultheißen: »Wie sind die Flammen so heiß, so heiß!« Der Schultheiß war doch ein wackerer, ehrbarer, gerechter Mann gewesen!

Nicht die Beerdigung seines Töchterleins, nicht die Verpflegung seines kranken Sohnes durfte jetzt dem armen Ratsherrn die Hauptsache sein. Er mußte den Rat zusammenrufen. Gerne überließen in so schwerer Zeit alle andern das dornenvolle Amt dem, der in Wirklichkeit schon lange mit seinem lebhaften Geist die Stadt regiert hatte. Es wurde der Bote nach Stuttgart abgeordnet; es wurde die Bestattung des Schultheißen festgesetzt. In derselben Stunde, in welcher der Schultheiß beerdigt wurde, trug man auch Hartmuts Anna zu Grabe, und als der Vater und Bruno wieder in die Klostergasse zurückkamen, da war auch Diez in den Armen Hildegards verschieden.

Wie oft hatte Hartmut früher sich in seinen Gedanken das Bild vorgezaubert: Heilbronn unabhängig von der Vogtei der württembergischen Grafen, wählt seinen eigenen Bürgermeister, steht unmittelbar unter dem Kaiser als eine Reichsstadt. Und Bürgermeister – nun ja, die Heilbronner werden schon dafür sorgen, daß sie den rechten wählen; vielleicht wählen sie Kurt Hartmut. Das waren Träume, wie sie auch in eines sonst nüchternen Mannes Seele aussteigen; das war ein Spiel des Geistes mit den Möglichkeiten der Zukunft. Jetzt war er sozusagen Bürgermeister auf etliche Zeit, denn der Graf von Württemberg hatte in diesen schrecklichen Zeitläuften an anderes zu denken als daran, nach Heilbronn wieder recht schnell einen Schultheißen zu entsenden. Aber wie so gar nicht konnte der in seinem Herzen tiefverwundete Mann sich der Aufgabe freuen, die ihm zugefallen war! In welchem Wirbelsturm, in welch' brandenden Gewässern sollte er das Steuer führen am Schifflein der Stadt!


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