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Achtes Kapitel.
Der König stirbt, die Erde bebt.

Kurt Hartmut durfte immer wieder Erfolge seiner Arbeit sehen in seiner Handelsschaft, in der Bebauung seiner Güter, im Rate der Stadt. Er hatte es dahin gebracht, daß der Rat in seiner Mehrzahl an den Kaiser die Bitte gehen ließ, er möge dem Übermaß der Stiftungen wehren. Kurt Hartmut wurde dazu auserlesen, dem König Ludwig die Bitte des Rats persönlich zu überbringen. Wie gerne that er das! Im März 1347 machte er sich zu Roß auf nach München. Er konnte unterwegs in Ulm und Augsburg Geschäftsfreunde besuchen, konnte sich im Verkehr mit Gleichgesinnten stärken in der Liebe zu dem guten alten Herrn.

So kam Kurt Hartmut nach vierzehntägiger Reise nach München. König Ludwig war gerne bereit, den Ratsherrn von Heilbronn, dessen er sich noch wohl erinnerte, zu empfangen, und die Bitte des Rats aus seinen Händen entgegenzunehmen. Als Kurt Hartmut den König erblickte, war er zuerst ganz betreten. Der alte Herr trug keinen Bart mehr. So traten seine scharfen Gesichtszüge noch mehr hervor. Aber die Bewegungen des Einundsechzigjährigen waren immer noch rasch, und als Kurt Hartmut, nachdem er sich tief verbeugt hatte, dem König ins Auge schaute, da wurden seine eigenen Augen feucht, und in seinem Herzen stieg das neue Gelöbnis auf: »Diesem König treu bis in den Tod!« Trotzdem, daß beim Herrscher ein größerer Hofstaat war, gewann der Heilbronner Ratsherr doch den Mut, die Angelegenheit der Stadt mit allem Nachdruck auch mündlich zu vertreten. Der König, der für seine Person ein frommer Mann war und so gerne mit der Kirche im Frieden gelebt hätte, ja der, wie seine besten Freunde oft beklagten, der Kirche viel zu demütig und nachgiebig entgegenkam, fürchtete, es könne ein Verbot der frommen Stiftungen frommen Herzen ein schweres Ärgernis bereiten. Hartmut aber wies darauf hin, daß die Kirche in Heilbronn schon so reichlich mit Gütern ausgestattet sei, daß auch der treueste Freund der Kirche von ungenügendem Besitz derselben gewiß nicht reden könne. »Ich möchte«, sagte Kurt Hartmut am Schluß seiner Darstellung, und des Königs Auge ruhte dabei mit Wohlgefallen auf der männlichen, kräftigen Erscheinung des Ratsherrn, »ich möchte, daß meine Vaterstadt wachse, gedeihe, blühe, daß die Bürgerschaft in ihrem Besitz, in ihrem Handel und Wandel vorankomme. Wie aber ist das möglich, wenn unsere Bürger unversehens immer mehr Hörige der Kirche werden?«

Der König entließ den Ratsherrn gnädig und versprach ihm, daß ihm in wenig Tagen aus der Kanzlei eine Antwort zugehen werde. Wie leuchteten die Augen Kurt Hartmuts auf, als er am Samstag vor Palmsonntag das königliche Privilegium in Händen hatte, das der Stadt das Recht gab, zu verbieten, daß kein Bürger, noch ein anderer Einwohner, Güter, die in der Stadt-Markung liegen, zur Kirche, zu Messen und Präsenz stiften darf, und daß künftighin Güter, die von altersher steuerbar waren, steuerfrei werden.

»Das wird eine schöne Ostergabe werden für unsere Stadt«, sagte Hartmut zu dem Schreiber, der das Privilegium ihm überbrachte.

»Aber nicht für die Pfarrherrn«, entgegnete der Schreiber. »Gebt acht, bei denen bekommt Ihr diesmal etwas Tüchtiges aufs Kerbholz.«

»Ich habe mir aus dem Haß der Pfaffen noch nie etwas gemacht!« erwiderte stolz der Heilbronner Ratsherr.

Am Samstag vor Quasimodogeniti traf Hartmut glücklich mit seinem königlichen Brief in Heilbronn ein. Frohgemut, wie ein Krieger aus siegreicher Schlacht, betrat er sein Haus und wurde von den Seinigen mit lauter Freude begrüßt. Bald aber merkte er, daß auf dem Gemüt seiner Frau etwas laste. Es stieg ein Groll in seinem Herzen auf. »Muß denn«, sagte er sich selbst, »so oft ich im öffentlichen Leben eine Freude erlebe und einen Erfolg errungen habe, durch mein Haus mir die Freude vergällt werden!« Doch ließ Hartmut den grollenden Gedanken nicht laut werden; von ihm sollte nicht die erste Trübung der Freude des Wiedersehens ausgehen. Er erzählte viel von seiner Reise, von dem König und seinem Schloß in München, von den Rittern an des Königs Hof und von den Edelfrauen mit ihren prächtigen Gewändern. Als er dann abends zu Bett gegangen war, that er, als ob er alsbald fest eingeschlafen wäre.

So mußte denn die arme Frau Else ihre Last bis zum andern Morgen tragen. Da aber hielt sie nicht länger an sich. Hildegard war's, die ihr so großen Kummer bereitete, daß sie glaubte, nie in ihrem Leben betrübter gewesen zu sein. Frau Else erzählte jammernd ihrem Mann, daß sie schon lange merke, wie die Tochter gar keinen Eifer für Kirche und Frömmigkeit zeige. Jetzt aber sei sie, so lange Kurt in München gewesen, zu ihrem Schrecken dahintergekommen, daß das Mädchen an Ostern nicht gebeichtet und nicht das Sakrament des Altars empfangen habe.

Dies zu hören war Hartmut nicht eben angenehm. Er wußte es von Jugend aus nicht anders, als daß man an Ostern beichte und kommuniziere. Er machte das ab, damit es geschehen sei; über seine Gedanken dabei hatte er ja keinem Priester Rechenschaft zu geben. So hatte er auch auf der Heimreise von München seine kirchlichen Pflichten in Augsburg erfüllt. Daß die Seinigen in diesem Stück an die Ordnung sich halten, war sein Wunsch. Und doch hatte er gefürchtet, Unangenehmeres aus dem Munde seiner Frau zu hören. Darum fragte er erleichtert: »Ist das alles, was dich quält?«

»Ist es nicht genug, übergenug?« gab Else klagend zurück.

»Was giebt sie denn als Grund dafür an, daß sie ihrer Pflicht nicht nachkommen will?«

»Sie sagt, im Evangelium sei die Beichte nicht geboten, und die Kirche habe den Tisch des Herrn anders zugerichtet, als der Herr Christus es gewollt habe.«

»Was doch das Mädchen immer mit dem Evangelium will!« rief ärgerlich Hartmut. »Ich hab' es schon manchmal bereut, daß wir das junge Ding haben Lesen und Latein lernen lassen. Die Nadel und der Rührlöffel sind doch für das Frauenzimmer viel nützlichere Dinge als Buchstaben und Wörter einer fremden Sprache! Doch sag', was gedenkst du mit dem Mädchen zu thun?«

Frau Else seufzte und schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Hildegard hat einen Hartmutischen Kopf. Mit Gewalt läßt sich bei ihr nichts erreichen.«

»Ich denke«, erwiderte der Mann und trommelte nach seiner Art auf eine der Butzenscheiben am Fenster der Schlafkammer, »es ist Zeit geworden, das Mädchen zu verheiraten. Wir müssen ihr einen Freier schaffen, der ihr im Ehestand bald den Kopf zurecht setzen wird.«

Frau Else seufzte wieder und sagte: »Vom Heiraten will sie schon gar nichts wissen. Den jungen Gesellen geht sie aus dem Weg.«

Hartmut trommelte heftiger auf die Scheiben und sagte dann, ohne sich zu seiner Frau zu kehren: »Wenn Meister Reinold um sie anhalten würde, ihm würd' ich das Mädchen nicht abschlagen.«

»Dem würdest Du Deine Tochter geben?!« rief entsetzt Frau Else.

»Ja, warum denn dem nicht?« fragte Hartmut, wandte sich und sah verwundert seine Frau an.

»Kurt, Du kennst doch sonst die Menschen und durchschaust sie; fühlst Du es denn dem Arzt nicht ab, daß er ein« – Frau Else stockte. »Nun was soll er sein?« fragte Kurt heftig. »Daß er ein schlechter Kerl ist!« platzte Frau Else heraus. Kurt wurde zornig. Er stampfte auf den Boden und rief: »Mit Eurem Fühlen, Eurem verkehrten, weibischen, schneidet Ihr Männern die Ehre ab, wie wenn die Ehre nichts besseres wäre, als ein zu langes Haar oder zu lange Fingernägel. Beweis einmal, wenn Du kannst, daß der Meister ein schlechter Mensch ist!«

»Frag einmal«, sagte spitzig Frau Else, »des reichen Nathan Rahel!«

»Ach was, das Judenmädchen!« erwiderte verächtlich Hartmut, wurde aber doch etwas stutzig. Dann aber fuhr er fort: »Ich bleibe dabei, wenn der Arzt um Hildegard anhält, spreche ich sie ihm zu.«

»Und so lange ich lebe, erhält Meister Reinold unsere Tochter nicht!« gab Frau Else ebenso entschieden zurück.

Kurt schwieg einen Augenblick, dann sagte er kalt und mit künstlicher Ruhe: »Gut, nimmst Du die Tochter in Schutz gegen den Arzt und gegen meine Wünsche, so nehme ich sie in Schutz gegen die Pfaffen und gegen Deine Wünsche. So lange ich lebe, wird Hildegard darüber nicht angefochten, daß sie sich weigert, zur Beichte zu gehen.«

Das war ein böses Zwiegespräch der Eheleute in der Schlafkammer am Morgen nach der Rückkehr Hartmuts. So heftig waren sie in ihrem ganzen Ehestand noch nie aneinander geraten. Frau Else weinte, Hartmut ging übel gelaunt seines Weges. Während er aber bald durch seine Botschaft an den Rat wieder mit andern Gedanken beschäftigt war, und das Bewußtsein des Siegs gerade auch in der Ratsversammlung sein Herz mit Freude erfüllte, war Frau Else mit ihrem Kummer allein.

Hildegard hatte keine Ahnung, daß die Eltern um ihretwillen sich entzweit hatten. Sie begegnete beiden mit immer neuen Erweisungen kindlicher Liebe und Dienstwilligkeit. Frau Else mußte sich sagen, daß, seit die Tochter ihre eigenen Wege gehe, sie nur noch eifriger und tüchtiger im Hauswesen sei, als zuvor. Und weil Frau Else wußte, daß ihr Wille die Tochter schütze gegen einen ungeliebten Mann, so wallte eben immer wieder mütterliche Liebe in ihrem Herzen auf, wenngleich dies Herz betrübt war durch den Ungehorsam der Tochter gegen die Gebote der Kirche. Weil aber Kurt Hartmut wußte, daß sein Wille die Tochter schütze gegen Anfeindungen der Kirche, so konnte er sich insgeheim freuen an der Selbständigkeit der Tochter, wenn er gleich es lieber gesehen hätte, sie wäre geneigt, vom Vater sich einen Mann seiner Wahl geben zu lassen.

So war durch den Zwist der Eltern die Freiheit der Tochter gewahrt, ohne daß diese es ahnte, und die Tochter selbst wieder füllte mit ihrer Liebe den Zwiespalt der Eltern allmählich aus. Ein merkwürdiges Verhältnis im Hause an der Klostergasse! Aber auf dem Grunde dieses Verhältnisses bestand ein leidlicher Friede. Einen solchen hatte Hartmut zu Hause nötig; denn sein Sieg brachte ihm viel weniger Freude als er gehofft hatte. Viel Mühe, viel Überredung hatte es Kurt Hartmut gekostet, den Rat davon zu überzeugen, daß das Überhandnehmen der Stiftungen den Wohlstand der Stadt gefährde. Aber wenn er zum gemeinen Mann drei Tage lang ohne Aufhören fortgeredet hätte, es wäre vergeblich gewesen. Die Gedanken des gemeinen Mannes, noch mehr die Gedanken der Frauen, waren in diesem Stück von wunderbarer Einfachheit. Durch Stiftungen baut der Christ sich Staffeln in den Himmel, jede Stiftung ist eine Bürgschaft dafür, daß der Aufenthalt der Seele im Fegfeuer abgekürzt, daß die Pforten des Paradieses früher geöffnet werden. Kurt Hartmut hat das Verbot der Stiftungen herausgeschlagen. Also hat er die Seelen der Heilbronner an ihrem ewigen Heil geschädigt. Von diesem Schluß brachte keine Macht der Welt den gemeinen Mann ab. Was fragte der nach der Zukunft der Stadt, wenn das ewige Heil der eigenen Seele in Frage kam? Nicht selten hörte Hartmut, wenn er durch die Gassen ging, hinter sich bittere Worte des Hasses und der Verachtung. Er machte wohl sein Herz fest gegen derartige Vorkommnisse. Er sagte sich, daß es beim Interdikt auch so gegangen sei, und daß doch zuletzt die Vernunft gesiegt habe. Aber er konnte sich nicht verbergen, daß die Unzufriedenheit mit dem Weg, den er eingeschlagen, täglich wuchs.

So gingen die Wochen und Monate dahin. Es war wieder Herbst geworden, die Weinlese stand vor der Thüre, überall wurden die Zurüstungen auf den Herbst gemacht. Da eines Tages, kurz vor dem Mittagsmahle, war plötzlich ein Zusammenlaufen der Leute. Durchs Fleinerthor war ein Bote eingeritten, der hatte keine gute Nachricht gebracht; bald rief es einer dem andern zu, wie die Botschaft laute: König Ludwig ist gestorben! Kurt Hartmut vernimmt es im Hof seines Hauses, da er eben dem alten Eberhard Anweisungen giebt über Waren, die vor dem Herbst noch fortgeschafft werden sollen. Die Schiefertafel, auf welcher er sich Bemerkungen aufgeschrieben hat, entfällt seinen Händen und liegt als ein Häuschen Scherben zu seinen Füßen.

Bleich und verstört, im Arbeitsgewand, eilt er hinüber zum Rathaus, wohin der Bote geritten ist. Es vergeht einige Zeit, bis er wieder heim kommt. Die Hausgenossen haben sich schon um den Mittagstisch versammelt. Da kommt der Hausherr, bleich und ernst. Er setzt sich an den Tisch, schiebt seinen Teller auf die Seite, stützt die Ellbogen auf und bedeckt mit beiden Händen sein Gesicht. Seinen Kindern und seinem Hausgesinde ward ein ungewohnter Anblick zu teil, als er, während alles lautlos schwieg, seine Hände wieder sinken ließ.

Kurt Hartmut weinte.

Mit thränenerstickter Stimme sagte er: »Unser guter Herr ist nicht mehr.« »War er denn krank? Man hörte doch nichts davon«, sagte auch tief ergriffen von der Botschaft und gerührt vom Schmerze des Mannes Frau Else.

»Keinen Tag war er krank«, berichtete Hartmut. »Gestern vor acht Tagen saß der König in seiner Burg zu Tische. Das Mahl mundete ihm. Fröhlich unterhielt er sich mit seinen Rittern, und heiter scherzte er mit den Damen, die auch zu Tische geladen waren. Wein wurde kredenzt. Dem König gegenüber saß ein Edelfräulein, das zum erstenmal zu Hof hatte kommen dürfen. Ihr nickte der König freundlich lächelnd zu. Kaum hat er getrunken, so preßt er seine Hand aufs Herz und wird bleich. Die Ritter und Edelfrauen sehen erschrocken auf ihn. Er aber steht aus und sagt: ›Es ist schon wieder besser. Ich will meine Arznei brauchen, die mir schon oft geholfen. Laßt mir mein Roß vorführen, und begleitet Ihr Ritter mich zur Jagd!‹ Nicht gerne gehorcht man dem königlichen Herrn; es wäre den Rittern lieber gewesen, man hätte die Ärzte geholt, und der König hätte sich zur Ruhe begeben. Aber er setzt seinen Willen durch. Man reitet gen Fürstenfeld. Dort nahe beim Kloster ist eine schöne Wiese. Da giebt der König dem Pferd die Sporen und läßt es über die Wiese rennen. Plötzlich sehen seine Begleiter, daß er im Sattel wankt. Sie sprengen herzu, aber schon ist der König vom Pferd gesunken. Wie die abgesprungenen Ritter ihn aufheben wollen, da blicken sie in ein gebrochenes Auge. Das Herz schlägt nicht mehr. Der König ist tot.« Wieder bedeckte Kurt Hartmut sein Gesicht und schluchzte.

»Schrecklich, schrecklich!« klagte Frau Else, »so schnell, so unvorbereitet!«

Rasch schaute Kurt Hartmut wieder auf und sagte herb: »Er war wohl bereiteter als mancher, der vom Priester sich ölen läßt.« Dann sprang er auf und rief: »Gleich nach dem Becher Wein kam die Übelkeit. Wenn es offenbar wird, daß Pfaffengift im Becher war, dann fahr' hin Klerisei im deutschen Reich, dann giebt es kein besser und edler Geschäft, als alle Pfaffen zum Papste zu jagen, daß er sie füttere bis an ihren seligen Tod!«

Der Erregte ging im Zimmer auf und ab, das Mahl, das auf dem Tisch stand, verschmähend. Dann blieb er hinter dem Stuhl Hildegards stehen. Die Tochter sagte halblaut vor sich hin: »Weder Tod noch Leben kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unsrem Herrn.«

»Was sagst Du?« fragte gespannt Hartmut.

Sanft erwiderte Hildegard: »Nicht ich sage es, es ist der hl. Paulus, der es sagt.«

Hartmut schwieg. Er konnte sich der beruhigenden Macht des Wortes nicht entziehen. Dann aber war es, als schüttelte Hartmut allen weichen Schmerz von seiner Seele ab. »Uz«, sagte er wieder völlig gefaßt, »füttre den Rappen, sattle ihn nachher, und halt ihn bereit, daß du mir ihn jeden Augenblick vorführen kannst. Ich werde heute noch wegreiten.«

»Wohin denn? Es wird doch morgen die Weinlese beginnen!« sagte besorgt Frau Else.

»Wie wenn nicht auch einmal ein Herbst vorbeigehen könnte, ohne daß ich dabei bin! Wohin ich reite, das weiß ich noch nicht gewiß, nach Eßlingen, nach Ulm, vielleicht auch noch weiter.«

»Willst Du nicht wenigstens etwas zu Dir nehmen, Vater? Du brauchst doch Stärkung!« sagte besorgt Hildegard.

»Ich habe keine Zeit, mich zu Tisch zu setzen«, erwiderte Hartmut. Schon aber hatte Frau Else ihm auf dem Teller Fleisch zurecht geschnitten. Hildegard hielt dem Vater Brot dar. Kurt nahm stehend von beidem einige Bissen. Dann zog er sein Amtsgewand an und verließ wieder sein Haus.

Er hatte mit dem Schultheißen und einigen Ratsherren Besprechungen. Der König war tot. Sollte man ohne Weiteres sich dem Pfaffenkönig Karl unterwerfen und damit noch über der Gruft des Königs Ludwig sich von diesem lossagen? Aber was konnte Heilbronn allein für sich machen? Darum, meinte Hartmut, gelte es, sich mit anderen Städten zu vereinigen. Ehe der Abend hereinbrach, war vereinbart, daß Hartmut mit dem Ratsherrn Rosenblatt wegreiten und in dieser Sache verhandeln solle.

So mußte denn die Hartmut'sche Familie einmal den Herbst halten ohne den Vater. Meister Reinold wurde nicht zur Herbstfeier eingeladen. Die Heilbronner Ratsherren aber waren in Ulm dabei, als dort die Abgesandten von zwanzig süddeutschen Städten den Bund erneuerten, zusammenhalten zu wollen, bis ein König allgemein anerkannt sei.

Wie ganz anders als im Hause Hartmuts wurde drüben in der Präsenz die Kunde vom Tode König Ludwigs aufgenommen!

»Ein Gottesgericht!« so rief der Kirchherr aus. »Des heiligen Vaters Bann hat seine Wirkung gezeigt, der Höchste hat sich zu den Worten seines Stellvertreters auf Erden bekannt!«

»Ach, daß der fromme Mann sich nicht zuvor mit dem heiligen Vater ausgesöhnt hat!« sagte mitleidig Sifrit Busenhart.

»Nein, nein!« erwiderte zornig erregt der Kirchherr. »es ist jetzt von Gott selbst dargethan. daß der König nicht fromm war, sonst hätte ihn Gott nicht dieses Todes sterben lassen!« Es wagte keiner der Pfarrherrn etwas Weiteres zu entgegnen; sie ließen es sich gefallen, daß der Kirchherr vor ihnen die Worte des Psalms betete: Du setzest sie aufs Schlüpfrige und stürzest sie zu Boden. Wie werden sie so plötzlich zunichte! Sie gehen unter und nehmen ein Ende mit Schrecken.

Bei den Barfüßern aber ließ der Prior die Brüder zusammenkommen, teilte ihnen den Tod des Königs mit und ordnete an, daß vier Wochen lang jeden Tag eine Seelenmesse für den Dahingeschiedenen gelesen werden solle. Das gleiche geschah bei den Deutschherren.

Als aber Kurt Hartmut von Ulm zurückkehrte, mußte er zu seinem großen Ärger wahrnehmen, daß viel mehr Heilbronner auf der Seite des Kirchherrn standen. Es begriff sich eben so leicht, daß der jähe Tod des Königs ein göttliches Strafgericht sei, eine Erhörung der Bannworte des Papstes.

Das Schiff Kurt Hartmuts – nicht das, das er auf dem Neckar und Rhein fahren ließ, das machte nach wie vor gleichmäßig seine Thal- und Bergfahrten, sondern sein Lebensschiff, welches Jahre lang von frischem Wind vorwärts getrieben worden war – hatte fast plötzlich keinen Wind mehr, der die Segel schwellte; es war eine unheimliche Windstille. Und schon ging durch die Seele des Ratsherrn die Ahnung, daß Stürme kommen werden.

Man war in das Jahr 1348 hineingekommen. Ein dichter Schnee bedeckte in den ersten Wochen des Januar das Erdreich, und eine kernhafte Kälte machte den Schnee so hart, daß er knirschte. Das gab für das junge Volk manche Ergötzung auf Schlittenbahnen und Eisflächen. Da sahen die Straßen und Häuser der Stadt so viel lichter und freundlicher aus. Der Schnee deckte so säuberlich manche garstige Stelle in den engen Gassen, und das Eis hielt so manche schmutzige Flüssigkeit mit starken Fesseln zurück.

Da trat am 25. Januar des Morgens eine plötzliche Änderung ein. Von Flein her wehte in kräftigen Stößen ein lauer Wind. Der Himmel überzog sich zuerst mit lichten Federwolken, die aber zusehends schnell dichter wurden. Die warme Luft war beinahe unheimlich. Von allen Dächern begann es zu tauen, der Schnee schmolz rasch in den Gassen, und als nun dazu im Laufe des Vormittags ein warmer Regen kam, da nahmen überall die schmutzigen Gewässer wieder siegreich ihre alte Herrschaft ein. Manch ein wetterkundiger Weingärtner schüttelte zu solchem jähen Umschlag den Kopf. In den Häusern, in den Höfen war es noch kalt. Aber wo die Feuer in den Kaminen brannten, war es doch kein angenehmer Aufenthalt, denn die Windstöße, die von Süden her brausten, trieben den Rauch durch die Kamine herunter und ließen die unruhigen und unstäten Flammen in die Stuben hereinschlagen. Der Menschen und der Tiere bemächtigte sich am Nachmittag eine große Unruhe. Das Rindvieh brüllte in den Ställen, die Pferde sprangen häufig in ihren Ständen auf; das Hühnervolk drückte sich ängstlich in Ecken zusammen.

Früher als in den letzten hellen Wintertagen brach der Abend herein. Blauschwarzes Gewölk, wie im Sommer, zog über die Stadt hin. Da, ein zuckender Blitz und unmittelbar hinter ihm ein krachender Donnerschlag. Jeder denkt, es habe in seinem Hause eingeschlagen. Ein Baum neben dem Kirchbronnen lag vom Blitze zerrissen am Boden. Hinter dem Blitz und Donner drein ein Geräusch von kleinen Hagelkörnern und Wasserfluten. Plötzlich hält der Guß inne; eine unheimliche Stille bei fahlem Dämmerschein lagert sich über die Erde. Die Natur hält den Atem an, der Menschen Herzen wollen vor bangem Warten stille stehen.

Da fängt unter einem furchtbaren Stoß, der aus der Erde zu kommen scheint, der Boden an sich zu heben und senken. Es geht ein Knistern, ein Ächzen, ein Knarren, ein Reißen durch die Häuser; Becher und Krüge fallen um; das Geschirr, das in den Rahmen an den Wänden steht, klappert. Die Menschen aber stürzen den Ausgängen zu. Frau Else, an welche sich die beiden jüngsten Kinder schon nach dem Blitz und Donner ängstlich angeklammert hatten, eilt mit dem Rufe: »Hilf, heiliger Georg!« die krachende Treppe hinab zum Thorweg hinaus. Hinter der Hausfrau drein jagt von Todesangst ergriffen die alte Barbara der Gasse zu und schreit mit krächzender Stimme zu den vierzehn Nothelfern. Aber auch Bruno und Uz, der Vater und die Handlungsdiener stürzen aus den Räumen, in welchen alles in Bewegung geraten ist, wo die Ballen übereinanderfallen, und die Tonnen und Fässer ins Rollen kommen. Von allen Seiten eilen die Menschen auf die Gassen, hinaus aus der Enge der den Einsturz drohenden Häuser.

»Wo ist Hildegard?« schreit in den allgemeinen Lärm hinein Frau Else und blickt mit Todesangst auf dem Gesicht in die dunkle Klostergasse. Da kommt die Vermißte ruhigen Schritts aus dem Thorbogen und sucht ohne alle Erregung die Ihrigen mit den Augen.

»Was hast Du denn mitgenommen?« fragt der bleiche Vater, indem er auf ein Päckchen schaut, das Hildegard fest an sich drückt.

»Das Evangelienbuch«, antwortet leise Hildegard.

»Hast Du denn keine Angst, wenn die Welt untergeht?« fragte die Mutter. Hildegard sagte ebenso leise und mit völliger Ruhe: »Ob ich schon wanderte im finstern Thal, fürchte ich kein Unglück.«

Wie doch die Angst und der Schrecken die Menschen zusammenführen! Neben Hartmuts Familie drängten sich auf dem freien Platz vor der Kirche die Pfarrherrn zusammen; alle bleich und bebend, alle so gut wie Hartmuts Leute nur den einen Gedanken im Herzen: Wir gehen unter!

Ein neuer Stoß von unten, ein Aufschreien, ein Kreischen der geängsteten Menschen! Die Chortürme wankten; wer sein Auge auf sie gerichtet hielt, der mußte ihren alsbaldigen Einsturz erwarten. Weiber lagen auf dem Boden hingestreckt und suchten mit ihren Armen, mit ihren Gewändern ihre Kinder, die neben ihnen auf dem Boden kauerten, zu decken. Männer knieten und hielten die gerungenen Hände zum fahlen Himmel.

Noch zweimal ging ein leichteres Rollen und Beben über den Boden hin; dann wurde es ruhig. Das Gewölk zerriß, und die Sterne schauten mit demselben ruhigen Glanz wie seit Jahrtausenden herab aus die Erde, die ihre Bewohner durch die Unruhe ihres Inneren in Todesschrecken versetzt hatte.

Die Ruhigen und Besonnenen wagten es, davon zu reden, man solle in die Häuser zurückkehren. Die Ängstlichen warteten immer noch auf eine Wiederholung der Stöße. Aber endlich trieb auch sie die wiederkehrende Kälte, der Nordwind, der fast unmittelbar nach dem Erdbeben den Föhn abgelöst hatte, in die Häuser zurück. Von den Erwachsenen hat in der nächsten Nacht niemand in Heilbronn geschlafen. Man saß und stand in den Stuben herum, jeden Augenblick bereit, durch Flucht ins Freie dem Verderben zu entrinnen.

»Das wird ein böses Jahr, dessen erster Monat schon so große Schrecken über die Menschen bringt!« jammerte in Hartmuts Stube die alte Barbara. Konnte der Ratsherr die Magd schelten wegen thörichter Rede? Nein; er hatte ja im selben Augenblick, da die Magd redete, den gleichen Gedanken gehabt und mit ihm fast jeder Heilbronner.

Ein böses Jahr! Lag denn, als schon der Frühling seinen Einzug gehalten, das Erdbeben den Menschen immer noch in den Gliedern? Die alte Barbara hatte mit Uz draußen am Sonnenbronnen die Gartenländer zu richten. Sie kam abends heim und fand den Herrn des Hauses im Hofe. »Herr«, sagte sie schweratmend und Spaten und Hacke in die Ecke stellend, es ist heuer nicht mehr derselbe Himmel wie sonst. Herr, wir gehen bösen Zeiten entgegen.«

»Nicht mehr der gleiche Himmel, warum nicht gar!« sagte lachend Hartmut. »Dann war heute wohl der Himmel grün und die Wiese blau?«

»Herr, lachet nicht, seht doch einmal selbst zu, wenn Ihr aus den Gassen hinauskommt. Hier im Hof«, sie schaute nach oben, nach dem kleinen Fleckchen Himmel, das hereinschien, »nimmt man es freilich nicht wahr.«

Kurt Hartmut war einige Tage nachher, an einem Sonntag, mit seiner Familie am Sonnenbronnen. Wie er vom unteren Ende des Gartens über das Neckarthal hinschaute, mußte er an die Worte der Magd denken. Es war kein Rauch, kein Nebel, kein Dunst, was über der Stadt lagerte und sich bis zu den Bergen, bis zum Himmel hinzog, es war ein unbeschreibliches Etwas, das, je länger man es betrachtete und mit dem bisher gewohnten Bilde verglich, um so mehr dem Herzen banges Zagen, ängstliches Ahnen einflößte. Frau Else war alsbald von der beängstigenden Erscheinung ergriffen. Sie klammerte sich an ihren Mann an und sagte: »O, wenn doch dieses schreckliche Jahr schon vorüber wäre!«

Ihr Mann suchte sie zu beruhigen. Er sagte, daß alles unter der ungewöhnlich frühen Hitze leide. Das werde bald anders sein. Ja, es wurde anders. Aber eine ungewöhnliche Naturerscheinung löste die andere ab. Auf den März, der eine Hitze wie der Juni brachte, folgte ein April mit lauter trockenen Winden. Das junge Gras der Wiesen wurde welk und gelb, die Winterfrüchte bestockten sich nicht, die Sommersaat wollte nicht aufgehen; dann kam ein kalter Mai, der die Reben und Bäume verdarb. Die Angst und Sorge der Menschen wuchs.

Vor all dem Bangen wegen der Zukunft beachteten es in Heilbronn die wenigsten, daß der frühere Gegner Ludwigs des Bayern, daß Karl von Böhmen sich der Stadt Heilbronn gegenüber als König gebahrte, und daß der Rat sich auf Unterhandlungen mit Karl einließ. Wenn Kurt Hartmut warnte, wenn er auf das Ulmer Bündnis hinwies, wenn er hervorhob, daß Karl doch noch gar nicht anerkannter König sei, so hörte fast niemand mehr auf ihn, so gaben ihm Ratsherren, die sonst bald auf seine Seite gebracht waren, als Antwort eine Klage über das schreckliche Wetter, oder die Versicherung, daß man bald den Untergang der Welt erwarten müsse, daß der jüngste Tag vor der Thüre stehe.

In der Angst suchten viele die Kirchen viel häufiger als sonst. Aber auch in der Rappengasse kamen nächtlicher Weile die Freunde des Evangeliums oft zusammen, freilich stets mit großer Vorsicht und nie regelmäßig. Hildegard kam ab und zu. Die Brüder und die Schwestern suchten in brünstigem Gebet und im Ergreifen der göttlichen Gnadenverheißungen die Angst des Herzens zu überwinden. Frau Else holte immer nur auf kurze Zeit Beruhigung in der Kirche, Hildegard war stets ruhig, aber eben damit auch ihrer Mutter immer mehr ein Rätsel.

Hartmut sollte von Ulm her Waren erhalten, namentlich Pfeffer. Der Frachtfuhrmann brachte mit den Waren die böse Kunde, daß in Welschland ein großes, unerhörtes Sterben angefangen habe. Diese Botschaft blieb nicht die einzige. Jede Woche hörte man aufs neue, daß die furchtbare Seuche weiter schreite, von einer Stadt zur andern überspringe und die Menschen dahinraffe wie der erste Winterfrost die Fliegen des Sommers. Die Angst wuchs in Heilbronn.


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