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Drittes Kapitel.
Der König gebannt.

War während der Meßtage im Hause und Hofe Kurt Hartmuts ein großer Umtrieb, ein Kommen und Gehen, ein Rennen und Laufen, so war zwei Tage nach dem Schluß der Messe in der Präsenz auch ein Umtrieb, eine Unruhe in dem sonst ruhigen Hause, wie wenn eines Wanderers Stock unversehens sich in einen Ameisenhausen gebohrt hat. Zwei Tage, nachdem die letzten Krämer und Handelsleute die Neckarstadt wieder verlassen hatten, kam von Würzburg her ein bischöflicher Bote in die Präsenz. Er gab beim Kirchherrn einen Brief ab, an dem das Siegel des Bischofs von Würzburg mit dem hl. Kilian herabhing.

»Endlich, endlich!« sagte der Kirchherr vor sich hin, als er den Brief geöffnet und überflogen hatte. »Es ist höchste Zeit, daß der heilige Vater etwas thut.«

Da sah man denn nun, wenn man in den Hof der Präsenz schaute, die Geistlichen hin- und hereilen; sie gingen zu zwei und drei in die Stube des Kirchherrn, sie standen zusammen und liefen wieder auseinander. Einer eilte ins Deutsche Haus zum Kommentur, ein anderer zum Prior bei den Barfüßern, wieder ein anderer hinaus in die umliegenden Dörfer. Auf den Abend kamen von allen Seiten Mönche und Geistliche zusammen in die Präsenz.

Dort that der Kirchherr von St. Kilian, Arnoldus Linck von Winsheim, den Zusammengekommenen kund, was der Bischof von Würzburg durch den Boten hatte überbringen lassen. Es war eine Abschrift des Banns, welchen der heilige Vater in Avignon, Clemens VI., über den deutschen König Ludwig ausgesprochen hatte. Das gab eine große Bewegung unter den Zuhörenden. Der Kommentur des Deutschen Hauses, Diether von Ehrenberg, knirschte während der Verlesung mit den Zähnen, und als der Kirchherr geendet, stampfte er auf den Boden und sagte: »Wenn Ihr, Kirchherr von St. Kilian, glaubet, daß wir in der Kirche zu St. Peter und Paul diesen Bann den Rittern und Ordensangehörigen verkünden, dann täuschet Ihr Euch. Wir wollen dem hl. Vater allen schuldigen Gehorsam erweisen, aber unsern König und Herrn lassen wir uns von ihm nicht nehmen. Wenn Ihr uns sonst nichts zu melden habt, kann ich gehen. Thut, was Ihr wollt; der Deutschorden thut, was ihm gutdünkt!« Sprachs und verließ ohne Gruß die Präsenz.

Aber auch der Prior der Barfüßer war mit dem Bann gar nicht einverstanden. Nicht so stürmisch, wie der Kommentur, aber wenn auch mit sanfter Stimme, so doch nicht weniger bestimmt, erklärte er, daß er den Bann in seiner Klosterkirche nicht verlesen werde. Denn der König Ludwig habe den Barfüßern stets viel Liebes und Gutes erwiesen. Der hl. Vater sei gewiß nicht recht unterrichtet und wisse nicht, wie fromm des Königs Herz und Gemüt sei. Auch der Prior ging. So waren denn die vom Bistum Würzburg unmittelbar abhängigen Priester noch allein beisammen, die Pfarrer der Stadt und der Dörfer.

»Seht Ihr wieder,« hub der Kirchherr mit bebender Stimme an, »wie diese Ordensleute falsche Brüder sind! Dieser freche Stolz der Deutschherren, diese scheinheilige, heuchlerische Demut der Minoriten! Brüder, wir haben nur einen Herrn, den Papst. Wir thun, was er befiehlt. Wir verkündigen dem christgläubigen Volk des Papstes Bann über den gottlosen König.«

Etliche der Pfarrer nickten. Sie hatten ihr Leben lang nichts anderes gewußt und gelernt, als daß man zu nicken habe, wenn die Vorgesetzten etwas sagen. Der Pfarrherr Sifrit Busenhart aber seufzte. Bei der feierlichen Stille, die nach des Kirchherrn Rede eingetreten war, hörte Jedermann das Seufzen. Der Kirchherr blickte unwillig auf und rief: »Wie, sind auch unter uns Ungehorsame? Bruder Sifrit, Du wirst doch nicht Dich sperren, zu thun, was der hl. Vater durch den Bischof, Deinen gnädigen Herrn und durch mich Dir gebietet?«

Sifrit Busenhart trat vor und sagte: »Kirchherr und Ihr Brüder alle, Ihr wißt, daß ich nach den Welthändeln nicht viel frage, und daß ich Gott und seinen lieben Heiligen danke, wenn ich ruhig meines hohen Priesteramtes warten darf. Ich wollt' auch jetzt ohne Weigerung thun, was der hl. Vater befiehlt. Aber ich muß an unsere Stadt und ihre Bürger denken. Noch mehr als bei den Deutschherren und den Franziskanern hat der König Ludwig Anhänger unter den Bürgern. Denkt nur an unseren Nachbar drüben, an Kurt Hartmut! Werden unsere Heilbronner gehorchen, werden sie es sich gefallen lassen, wenn der Bann über den König bekannt gemacht wird? Nein, das giebt Verwirrung, Zorn, Hader, und darüber mußte ich seufzen.«

Jetzt nickten einige andere der Pfarrherren. Sie konnten es schon wagen, weil der Kirchherr auf Sifrit etwas gab und ihm gegenüber weniger den Herren und Vorgesetzten spüren ließ, als gegenüber den andern.

»Aber Bruder Sifrit, haben wir denn nach den Menschen zu fragen? Wie heißt's doch im Evangelium? Wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater; wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. Wenn nur wir gehorsam sind, dann mag in der Stadt und unter dem Volk entstehen was da will, das geht uns nichts an. Von Kurt Hartmut hast Du geredet? Nach dem frag ich schon gar nichts mehr. Mir ist gewisse Kunde geworden, daß er auch in andern Stücken der Kirche ungehorsam ist. Da soll nur seines Herzens Trotz sich offenbaren.«

Pfarrherr Sifrit Busenhart seufzte noch einmal und sprach dann noch zagender als das erstemal: »Um Kurt Hartmut wäre es mir sehr leid. Er ist ein edler Mann, und kaum ein anderer gilt bei unseren Bürgern so viel wie er. Ich glaube, er ließe sich eher verbrennen, als daß er dem König Ludwig untreu wird. O, Kirchherr, ich kann nicht anders, ich muß noch einmal seufzend sagen: Würde uns doch diese Sache erspart! Sie schlägt uns und der Stadt zum Unheil aus.«

Es seufzten mit Sifrit noch zwei oder drei andere Pfarrherrn. »Ob mit Seufzen oder mit Freuden,« fuhr der Kirchherr ungerührt von den Bedenken Sifrits fort, »morgen wird in den Kirchen der Bann verlesen, und nun setzt Euch nur gleich hin in der Konventsstube und schreibet, was ich Euch diktiere!«

Die Pfarrherrn gehorchten. Der Kirchherr diktierte, und die Untergebenen schrieben Wort um Wort den Fluch, den der Stellvertreter Christi und Nachfolger des hl. Petrus aus dem babylonischen Gefängnis in Avignon dem bejahrten deutschen König Ludwig ins Gesicht schleuderte. Sie schrieben. Keine hundert Schritte von ihnen entfernt ließ ein anderer das Schreiben in seiner Schreibstube gehen und fing an, denen, die in der Präsenz schrieben, entgegenzuwirken.

Kurt Hartmut hatte es wohl bemerkt, daß in der Kloster- und in der Präsenzgasse heute etwas Besonderes vor sich gehe, aber er hatte von der Messe her noch zu viel Arbeit, als daß er dem Gelaufe der Priester und Kuttenträger weiter nachgedacht hätte. Da kam der Kommentur des Deutschordens, Herr Diether von Ehrenberg in die Schreibstube des Ratsherrn und erzählte ihm, was er eben drüben in der Präsenz gehört und erlebt hatte. Hartmut sprang auf und rief: »Das dulden wir nicht! Sind wir denn der Pfaffen Knechte? Ich eile sofort zum Schultheißen, er muß heute noch den Rat zusammenrufen; wir müssen heute noch den Pfaffen verbieten, den Bann zu verkünden.«

»Thut was Ihr könnt, um die Bürgerschaft in der Treue zum König zu erhalten. Es wird Euch gewiß gelingen!«

Bald nachher war Kurt Hartmut schon im Hause des Schultheißen Martin Reichlin, vorn an der Ecke des Markts gegen die Kramgasse. Dieser hatte auch schon von dem gehört, was in der Stadt bevorstand; aber so sehr wie Kurt Hartmut hatte er sich doch nicht in den Harnisch bringen lassen. Als dieser den Schultheißen bat, den Rat alsbald sich sammeln zu lassen und mit Gewalt die Pfaffen an ihrem Vorhaben zu hindern, sagte Reichlin: »Ihr wißt, daß mein Herz ebenso warm wie das Eurige für unsern König schlägt. Aber ich glaube, es ist klüger, wir lassen die Pfarrherrn thun, was sie thun wollen oder thun müssen. Daß doch die Bannworte recht kräftig lauten möchten, dann werden gewiß noch manche, die jetzt schwanken, in die Treue zu dem vom Papst angegriffenen König zurückgeführt werden. Wenn wir aber jetzt sogleich mit Gewalt den Männern der Kirche entgegentreten, dann erscheinen sie als die Unterdrückten, und es wenden sich manche Herzen vom König ab und dem Papste zu.«

Kurt Hartmut mußte zugeben, daß der Schultheiß recht habe, aber dennoch rief er schmerzlich bewegt aus:

»So soll also morgen der König in unserer Stadt geschmäht werden! Aber ich will sehen, ob nicht ein treuer Mann so vor den Namen des Geschmähten seinen Schild hält, daß alle Blitze des Papstes wie stumpfe Pfeile abprallen!«

»Der Rat wird morgen berufen, sobald die Pfarrherrn den Bann verkündigt haben. Wir wollen hoffen, daß auch die im Rate, die mehr auf der Priester, denn auf des Königs Seite stehen, noch gewonnen werden«, sagte der Schultheiß und reichte dem immer noch Erregten die Hand zum Abschied.

Hartmut ging heim, aber er war zu bewegt, um jetzt weiter arbeiten zu können; ja in seiner Erregung bemerkte er nicht einmal, daß sein Bruno, der immer noch in der Schreibstube saß, verweinte Augen hatte. Während der Vater beim Schultheißen war, kämpfte der Sohn mit sich selbst einen Kampf in derselben Sache. Ehe der Kommentur gekommen war, hatte Hartmut eben sehr freundlich mit seinem Sohne geredet, hatte ihm Mut zugesprochen, als er, Bruno, selbst seine Ungeschicklichkeit im Geschäft beklagte. Das hatte dem Herzen des Jünglings wohlgethan. Aber dieses selbe Herz glaubte noch so ganz, fest und unerschüttert, daß die Priester Stellvertreter Gottes seien, daß des Priesters Wort am meisten zu gelten habe unter allen Worten, die an eines Menschen Ohr kommen. Und nun war der Vater ganz und gar uneins mit den Pfarrherrn, wollte, daß Gewalt gegen sie angewendet werde! Konnte er einen Vater lieben, der den Priestern feind war? Konnte er den Vater, der so lieb gegen ihn, den Sohn, war, den Priestern verraten, die Gottes Diener sind? Da kam zum erstenmal das ganze Weh des Menschenlebens über ihn, und weil er nicht wußte, was er thun sollte, so weinte er, weinte, bis er den Vater kommen hörte. Wie froh war er, als dieser ihm befahl, im Geschäft zu bleiben; er selbst wolle noch einen Gang in die Weinberge machen. Nein, wenn Bruno jetzt mit dem Vater hätte gehen müssen, er hätte es nicht ausgehalten, es wäre zu einem Zusammenstoß gekommen!

Kurt Hartmut mußte Luft haben, freie Luft; es war ihm in der Klostergasse zu enge geworden. Die Nähe der Präsenz fühlte er heute mehr denn je als eine drückende, atemraubende Last. Er ging auf den Wartberg zu, hindurch zuerst durch die Baumgärten, die im Thale sich ausbreiteten. Wohl drängte sich ihm der Duft auf, der von dem Öhmd der Wiesen aufstieg, wohl zogen die Bilder der reichlich behangenen Obstbäume an seinen Augen vorüber, aber er konnte sich über allen diesen Segen nicht freuen. Die alte Frage, die schon so viel Jammer über das Deutsche Reich hereingebracht, über deren Beantwortung schon so viel Blut geflossen, sie stand nun auch wieder gewaltig vor der Seele des Heilbronner Kaufmanns und Ratsherrn: Wer soll in Deutschland gebieten, Papst oder Kaiser? Mögen die Priester sagen, was sie wollen, mag Weib und Kind es beklagen und bejammern, er, Kurt Hartmut, steht auf seines Königs Seite. Wann, wann werden die Priester nicht mehr nach Rom oder nach Avignon hören, sondern deutsch denken, deutsch fühlen, deutsch handeln? Kurt Hartmut war an seinem Weinberge angelangt, der vom Fuß des Berges bis zu dessen Scheitel in schöner Breite sich erstreckte. Schon färbten sich die Trauben; die frühesten, nach dem heiligen Laurentius genannt, waren beinahe reif. Kurt Hartmut wollte in der Furche durch die Reben hinauf zur Höhe des Berges steigen, da sieht er zwischen den Reben etwas Braunes herumkriechen. Ja, da will offenbar etwas oder jemand vor ihm sich ducken und verbergen. Er geht rasch auf das Braune zu, da erhebt sich vor ihm zwischen den Reben ein Mönch, ein Franziskaner, und hat einige abgeschnittene Laurenzertrauben in der Hand.

»Wie, Ihr seid's, Bruder Johannes?« rief erstaunt Kurt Hartmut. »Schmecken Euch die Trauben?«

»Wollt Ihr sie selbst versuchen, Herr Hartmut?« entgegnete etwas verlegen und doch treuherzig dreinschauend der Mönch. »Ich habe keine Beere angerührt und werde auch keine kosten.«

»Immer die alte Geschichte, nicht wahr, Bruder Johannes? Ihr stehlet, und das Gestohlene kriegen Eure Kranken. Da glaub ich wohl, daß Meister Reinold, der Arzt, neben Euch nicht recht auskommen kann. Würde der es machen, wie Ihr, er hänge schon lange am Galgen.«

»O, Herr Hartmut, wenn Ihr das Mädchen sehen könntet! Drunten in der Schäfergasse liegt es, abgezehrt, nur Haut und Knochen, und der Husten, der immer wieder das arme Geschöpf erschüttert, daß man meint, das letzte Stündlein komme. O, die glänzenden Augen, die so bitten und flehen, daß das fünfzehnjährige Leben noch nicht ausgehen soll! Heute sagte sie: »Wenn ich nur eine Traube hätte, dann würde ich gesund« und sieht mich dabei an, als wär' ich der Herrgott selbst und könnte ihr Trauben wachsen lassen auf meiner flachen Hand. Da fällt mir ein, daß Ihr Laurenzer habt. Herr Hartmut, jetzt wißt Ihr es, wie ich in Euren Weinberg gekommen: Hier habt Ihr Eure Trauben!« Er hielt sie dem Ratsherrn hin mit einem Gesicht, in welchem Trauer und Schelmerei, Treuherzigkeit und Verschlagenheit wunderbar gemischt waren. Anstatt einer Antwort ging Kurt Hartmut einige Zeilen weiter, schnitt dort an einem Stock noch mehr Trauben, brachte sie dem Mönch, der diese Wendung der Dinge erwartet hatte, und sagte: »Da, nehmet auch diese dem kranken Mädchen mit; Gott gesegne es ihr!« »Und Euch!« rief Bruder Johannes, lief aber schon die Furche hinab und eilte der Stadt zu.

»Wenn sie doch alle so wären, wie der, die Priester und Mönche,« sagte halblaut Kurt Hartmut und dachte dann daran, wie dieser Barfüßer Johannes schon lange es in Heilbronn trieb. Dem waren die Welthändel längst alle miteinander gleichgiltig geworden. Für ihn gab es nur eines, das war, den armen Kranken, den Witwen und Waisen zu helfen. Es war nicht das erstemal gewesen, daß er zum eigentlichen Dieb wurde, nur um seinen Armen eine Freude machen zu können. Wie oft es ihm auch sein Prior schon verboten hatte, den hl. Crispin nachzuahmen, der Leder stahl, um Armen Schuhe zu machen, wenn er wieder Elend und Jammer sah, dann fragte er nichts nach dem Prior und nichts nach dem Rate der Stadt, er holte, was er brauchte und noch nie hatte ihm jemand ernstlich übel genommen, was er that. Die Armen, die Witwen, die Waisen, aber auch die Kinder alle, sie sahen niemand lieber, als den Bruder Johannes.

Das kleine Erlebnis mit dem Mönche hatte auf den Ratsherrn beruhigend eingewirkt. Er stieg zur Höhe des Bergs hinan, und als er von dort niederschaute auf die Stadt, da wurde sein Herz weich und seine Augen beinahe feucht. Eng im Geviert von den Mauern zusammengedrängt, lag Heilbronn vor seinen Augen. Trutzig heben sich die Ecktürme ab als Wächter der Sicherheit, und dort zieht sich, von Süden kommend, der Neckar an der Stadt hin als ein silberhelles, schützendes, starkes Band; der Neckar, dem er den neuen, schönen Lauf gegeben. Diese von Gottes Sonne so hell beschienene, von Gottes Güte ringsum reich gesegnete Stadt, sie soll morgen in Treue fest sein. Würde sie vom König, ihrem Herrn, sich abwenden, sie wäre nicht mehr wert, daß die Sonne ihr leuchten, daß der Weinstock noch Frucht tragen würde auf ihren Hügeln. Ruhiger als er die Stadt verlassen hatte, kehrte er dahin zurück, und ruhiger als der Kirchherr Arnoldus Linck in der Präsenz schlief der Ratsherr Kurt Hartmut in der Klostergasse.

Ein wolkenloser Himmel spannte sich über das Neckarthal aus, und die Sonne drang siegreich herein in die engen und krummen Gassen der Stadt; umflossen vom goldenen Licht waren schon die Chortürme der Kirche St. Kilians, als die Glocken die Gläubigen zur Messe riefen. Daß etwas Besonderes heute geschehen werde, das war in der Stadt bekannt geworden. Mehr als sonst eilten nicht bloß Frauen und Mädchen, sondern auch Männer zur Messe. Der Eingang durch die Taufkapelle unter dem südlichen Chorturm war geschlossen. So drängten sich die Leute am nördlichen Eingang. Dort stand Kurt Hartmut, und wo er nur einen Mann erhaschen konnte, zog er ihn an sich und raunte ihm ins Ohr: »Mag drinnen in der Kirche geschehen was da will, seid ruhig! Aber nachher tretet hier außen her zu mir!«

Die Messe begann; sie wurde vom Kirchherrn selbst gesungen. Das Amt verlief wie sonst. Als es vorüber war, ging der Kirchherr nicht zur Sakristei, sondern trat vor an die Schranken des Chors. Die Pfarrherrn stellten sich zu seiner Rechten und Linken. Pfarrherr Sifrit Busenhart gab gesenkten Haupts dem Kirchherrn das bischöfliche Schreiben in die Hand. Mit lauter, harter Stimme rief dieser über die Gemeinde hin: »Höret knieend an, was der heilige Vater der Christenheit verkündet!« Nur einzelne ließen sich sofort auf die Kniee nieder, andere folgten langsam, nicht wenige Männer blieben stehen, Kurt Hartmut ziemlich weit vorne, in der Nähe des Kirchherrn, hoch aufgerichtet mit zurückgeworfenem Haupt. Zornesblitze fuhren aus den Augen des Kirchherrn, sie wurden kühl aufgefangen von den Augen Hartmuts. Die Stimme des Kirchherrn bebte, als er das Schreiben nunmehr verlas; der Bannspruch des Papstes ertönte in deutscher Übersetzung gegen den König der Deutschen. Der Schluß lautete:

»Wir flehen die göttliche Allmacht an, daß sie Ludwigs, der sich ohne alles Recht deutscher König nennt, Raserei zu Schanden machen, seinen Hochmut zu Boden werfen, ihn durch Kraft ihres rechten Armes niederstürzen und ihn den Händen seiner Feinde und Verfolger wehrlos übergeben wolle. Sie lasse ihn in ein verborgenes Netz fallen! Sein Eingang und Ausgang sei verflucht! Der Herr schlage ihn mit Narrheit, Blindheit und Raserei! Der Himmel verzehre ihn durch seinen Blitz! Der Zorn Gottes und seiner heiligen Apostel Peter und Paul, deren Kirche er zu unterdrücken sich unterstanden, entzünde sich über ihn in dieser und jener Welt! Die ganze Erde waffne sich gegen ihn; der Abgrund thue sich auf und verschlinge ihn lebendig! Sein Name müsse nicht über ein einziges Geschlecht dauern, und sein Andenken erlösche unter den Menschen! Alle Elemente seien ihm zuwider, sein Haus müsse wüst gelassen und seine Kinder aus ihren Wohnungen vertrieben werden und vor den Augen ihres Vaters durch seine Feinde umkommen!«

Die entsetzlichen Fluchworte des Priesters verhallten in der Kirche. Lautlose Stille herrschte darauf im Gotteshause. Da nickte Kurt Hartmut einigen Männern zu, die in seiner Nähe stehen geblieben waren. Sie schlossen sich dem Ratsherrn an, als dieser stumm die Kirche verließ. Aber auch die Knieenden erhoben sich und drängten wortlos dem Ausgange zu. Vor der Kirche aber stand Kurt Hartmut und rief: »Bleibet, Ihr Männer und Frauen von Heilbronn, und laßt uns sehen und hören, was weiter geschieht!«

Die lautlose Stille, mit welcher die Gemeinde die Verlesung des Bannfluchs aufgenommen hatte, sah der Kirchherr als einen Sieg des päpstlichen Worts über die Gemüter des Volks an. Deshalb zeigte er ein zuversichtliches Gesicht, als er nun, begleitet von den Pfarrherrn, vor die Kirche trat und den Befehl gab, den Bannbrief an der Thüre anzuschlagen.

»Kirchherr,« ries jetzt laut Kurt Hartmut, »es sind viele Heilbronner nicht in der Kirche gewesen, und viele auch können nicht lesen. Wollt Ihr nicht noch einmal kund thun, was der hl. Vater uns sagen läßt?«

Einen Augenblick zauderte der Kirchherr. Weil aber in der ganzen großen versammelten Menge nirgends eine Spur von Spott oder Widerspruch zu merken war, so folgte der Kirchherr der Aufforderung und las die Fluchworte noch einmal. Kaum aber hatte er geendet, so sprang Kurt Hartmut vor und ries: »In der Kirche hat der Priester allein das Wort; darum haben wir auch in der Kirche geschwiegen. Aber nun habt Ihr, Männer von Heilbronn, es unter Gottes freiem Himmel gehört, jetzt haben es unsere Häuser und unsere Gassen vernommen, wie unser König, der fromme, treue Herr, verflucht worden ist. Kennt ihn der Papst, wie wir ihn kennen? Hat der Statthalter Christi dem König in seine guten, milden Augen geschaut, wie wir? Warum verflucht ihn der Papst? Weil er einen deutschen König haben will, der sich vor ihm bückt und duckt. Heilbronner, hier, außerhalb der Kirche, sagen wir: Wir lassen unsern König nicht schmähen. Dem Fluch des Papstes entgegen rufen wir: Heil unserm König Ludwig, Gott schütze den König!«

Nun brach es los wie ein Sturm: »Heil, Heil dem König!« Kurt Hartmut aber war auf den Kirchherrn eingedrungen, hatte ihm den Bannbrief aus der Hand gerissen und denselben in wenig Augenblicken zerfetzt. Das Geschrei des Volkes suchte der Kirchherr zu übertönen mit dem zornigen Gebrüll: »Kurt Hartmut, das werdet Ihr in Zeit und Ewigkeit zu büßen haben!« Aber die Stimme des Einzelnen, von dem, dem es galt, wohl verstanden, wurde verschlungen vom Getöse der Menge.

Da erscholl vom Rathause drüben der schrille Ton des Glöckleins, das die Ratsherren zur Versammlung rief.

Kurt Hartmut stieß eben die letzten Fetzen des zerrissenen Bannbriefs mit dem Fuße vom Kirchplatz weg in den Staub der Straße. Als er sich mit glühenden Wangen durch die Menge drängte, um so schnell wie möglich hinüber zum Rathause zu gelangen, hatte er nicht bemerkt, wie sein Weib, von Hildegard und Bruno geführt, mühsam nach Hause sich schleppte. Sie sah aschfahl aus und stöhnte fortwährend: »Der Vater, ach der Vater! Ach Gott, daß Du das geschehen lässest! Ach der Vater!« Bruno aber schlug die Zähne aufeinander wie im Fieber. Nein, nicht wie im Fieber; er fieberte wirklich; ihn fror es wie mitten im Winter. Hildegard sah starr vor sich hin.

Auf dem Rathause sammelte sich der Rat. Der Schultheiß hatte Recht gehabt. In dem Stimmengewirr der Anwesenden und der Hinzukommenden war auch nicht ein Laut zu vernehmen, der dem Papste oder den Priestern günstig gewesen wäre. Diese Häufung von Fluch auf ein ehrwürdiges Haupt war auch dem ergebensten Sohne der Kirche zu stark. Darum brauchte Kurt Hartmut, nachdem der Schultheiß die Beratung eröffnet und mitgeteilt hatte, wozu der Rat zusammenberufen sei, nicht viele Worte zu machen, um seinen Antrag zu begründen. Er beantragte, der Rat solle den Priestern verbieten, den Bann an der Kirche anzuschlagen, zu irgend jemand von dem Banne zu reden, ein unehrerbietiges Wort gegen den König zu gebrauchen und irgend jemand zum Ungehorsam gegen den König aufzufordern. Damit war männiglich einverstanden. Als aber nun Kurt Hartmut weiter beantragte, man solle den Kirchherrn aufs Rathaus entbieten, damit er hier den Willen des Rats höre und entgegennehme, da zeigte es sich, daß doch unter den Ratsherren noch manche waren, die zwar des Papstes Fluch nicht weiter hören, aber den Dienern der Kirche jede Beschämung ersparen wollten. So wurde denn beschlossen, den Willen des Rats dem Kirchherrn und seinen Pfarrern schriftlich kund zu thun.

Hartmut hätte dem Kirchherrn eine gründliche Demütigung von Herzen gegönnt, aber er wollte nicht weiter streiten. War doch erreicht, was ihm die Hauptsache gewesen. Heilbronn war dem König treu geblieben. Das Pardeltier an seines Hauses Ecke schien dem vom Rathause Heimkehrenden heute die Züge des Kirchherrn zu tragen. Aber nicht eine weiße Taube nur, nein, ein ganzer Zug schwebte oben in der Luft hoch über allen Dächern, glänzende weiße Punkte am tiefblauen Himmel.

Der Ratsherr ging durch seine Geschäftsräume; aber sein Handel konnte ihn jetzt nicht festhalten; er stieg die Treppe hinauf zu seiner Wohnung. Er betrat das große, weite Wohngemach. Niemand war dort zu finden außer Bruno. Er saß am Ende der Fensterbank an der Wand, neben der Thüre, die in die Schlafkammer führte; er saß vornübergebeugt, die Hände zwischen den Knieen gefaltet.

»Wo ist die Mutter?« fragte Hartmut.

Bruno richtete sich langsam auf. War denn das des Sohnes Gesicht, was auf den Fragenden sich richtete? Hartmut erschrak. Ein Gemisch von Grauen und Haß war über das Gesicht des Jünglings gelagert. Mit hohler Stimme sagte Bruno: »Sie liegt in der Kammer auf dem Bett.«

Hartmut eilte hinein in die Kammer. Da lag Else auf der Seite; Hildegard saß neben dem Bette und hielt die rechte Hand der Mutter in ihren Händen. Als Else den Mann an ihr Bett treten sah, ging ein Schaudern durch ihren Körper.

»Was in aller Welt ist mit Dir, Weib?« fragte Kurt Hartmut angstvoll. »Du bist doch noch vor einer Stunde munter und frisch gewesen!«

Mit einem plötzlichen Ruck richtete sich Else auf und sagte mit scharfer Stimme: »Vor einer Stunde war mein Mann auch noch nicht ein Empörer gegen Gottes heilige Kirche. Geh, geh Kurt, Du bringst nur Gottes Fluch herein in unser Haus und in unsere Kammer!« Else sank wieder in die Kissen zurück und vergrub in diesen ihr Gesicht.

»Weib, Du hast Fieber! Du hast gestern zu viel gearbeitet, und heute bist Du erhitzt in die kühle Kirche gekommen. Wie kann mich denn Gottes Fluch treffen, wenn ich den König schütze gegen heimtückischen Angriff?«

»Das muß doch der heilige Vater wissen, warum er den König verdammt. Du hast Dich gegen des heiligen Vaters Worte aufgelehnt! Du bist ein Empörer gegen die Kirche!« Während dieser Worte hatte sich Else wieder aufgerichtet und streckte abwehrend die Hand aus gegen ihren Mann. Kurt aber gab Hildegard einen Wink, daß sie ihm den Platz an der Mutter Seite einräumte und ließ sich auf dem Stuhl neben dem Bette nieder. Else half ihr Widerstreben nichts. Mit festem Griff hielt Kurt die Hand seines Weibes und sagte: »Schau mich einmal an!« Einen Augenblick folgte Else dem gebietenden Wort, dann aber schloß sie ihre Augen wieder.

»Weib«, fuhr Kurt fort, »wer war die Frau, die, als einst vor Jahren König Ludwig in den Mauern unsrer Stadt weilte und wie mit andern ehrbaren Frauen, so auch mit ihr, so treuherzig redete, sagte: Für diesen König könnte ich durchs Feuer gehen? Wer war die Frau? War's nicht Kurt Hartmuts Weib?«

Else suchte ihre Hand aus der festen Umklammerung ihres Mannes zu lösen. Es war umsonst. Sie wand sich in ihrem Bett. Endlich sagte sie: »Damals hat kein Priester es verboten, dem König treu zu sein und ihn zu lieben.«

»Nein, nein«, rief Kurt, »Du wußtest ganz gut, daß auch damals der Papst den König nicht anerkannte. Aber Dein Herz erkannte ihn an, und weil die Priester dazu schwiegen, warst Du zufrieden. Warum läßt Du Dein Herz vom Priester regieren?«

»Er ist der Diener Gottes, und was er spricht, das spricht Gott durch ihn!« entgegnete Else.

»Weib, ich habe Dir am Tage unsrer Hochzeit Treue geschworen bis in den Tod«, fuhr Hartmut weicher fort. »Was würdest Du denken, wenn ich heute heim käme und würde Dir sagen, der Kirchherr habe mich meines Treuwortes gegen Dich entbunden, ich könne mir ein ander Gemahl suchen?«

»Das wird der Priester niemals sagen«, entgegnete Else rasch und lebhaft.

»Ist nicht dem Hochzeitstag vergleichbar der Tag, da das Volk dem erwählten Fürsten huldigt und Treue gelobt? Warum drängt zwischen Fürst und Volk der Priester sich ein und zerreißt ein Band, das auch im Namen der hl. Dreifaltigkeit geknüpft worden ist?« Else wurde verwirrt. Sie war deshalb froh, als Kurt ihre Hand losgab, aufstund und sich zu Hildegard wandte mit der Frage: »Was sagst Du, Töchterlein, zu dem, was ich heute gethan habe?«

So war Hildegard noch nie gefragt worden. Wie sollte sie Schiedsrichterin sein zwischen Vater und Mutter? Sie errötete; sie hätte am liebsten geschwiegen. Sie fühlte mit der Mutter und konnte andererseits auch den Vater in seiner Treue gegen den König verstehen. Was würde jetzt der alte Pietro antworten, was der junge Giovanni?

Da wurde es auf einmal licht in ihrer Seele, und der plötzlichen Eingebung folgend, antwortete sie: »Der Herr Christus hätte unsern König nicht verdammt. Ob er den Bannbrief zerrissen hätte, weiß ich nicht.«

Jetzt war der Vater betreten. Wer hat denn nach des Herrn Christus Meinung gefragt? Er, der Vater, bisher noch nie, aber auch die Mutter nicht.

»O Weibervolk, wer mag Euch verstehen?« rief halb ärgerlich, halb mitleidig Kurt Hartmut und verließ die Kammer. Als er durch die Stube schritt, saß Bruno noch auf derselben Stelle. Der Vater aber beachtete ihn nicht.

In den Schenken und in den Werkstätten, vor den Krämerbuden und draußen, wo Weingärtner bei ihrer Arbeit zusammenkamen, redete man von Kurt Hartmut und lobte seinen Eifer, mit welchem er dem Kirchherrn entgegen getreten war. Niemand ahnte, daß in seinem eigenen Hause der Bannbrief mehr Zwiespalt angerichtet hatte als sonst wo in der Stadt.

Während Kurt Hartmut in seiner Schreibstube den Versuch machte – er wollte ihm aber nicht recht gelingen – seine erregten Gedanken durch seine Rechnungsbücher zu besänftigen, trat in der Judengasse Meister Reinold in das Haus des Juden, den jedermann nur den reichen Nathan nannte. Dort war niemand krank, nicht der Hausherr, nicht sein Weib Rebekka, nicht Rahel, seine Tochter, nicht sein Sohn Isaak. Vielleicht war er selbst krank, der Meister Reinold, und suchte Hilfe beim reichen Nathan.

Die Gasse war durchflutet von der Hitze des Augusttags; im Hause des Juden aber war es angenehm kühl. In der geräumigen Hausflur saß Rahel, das siebzehnjährige Judenmädchen, und machte sich mit einer Näharbeit zu schaffen. Der Arzt trat keck auf sie zu, tätschelte sie auf die nur leicht bedeckte Schulter und sagte: »Nur nicht so gar fleißig, schönste Jungfrau!« Rahel beugte sich unwillig zurück und schlug Reinold auf seine allzukecke Hand. »Sucht ein ander Spielzeug, Meister, mich laßt in Ruhe, oder ich sage es dem Vater!«

»Dank schön für die Mitteilung, stolzes Edelfräulein! So brauch ich nicht erst zu fragen, ob der Vater daheim ist.«

»Ihr seid ein garstiger Mann, Meister!« rief das Judenmädchen dem Arzte nach, als dieser rasch die Treppe hinaufeilte.

Er wußte, wo der reiche Nathan sich aufhielt, wenn er im Geschäft war. Und um ein Geschäft handelte es sich für den Meister. Er ging einen schmalen Gang im ersten Stockwerk vor. Da war eine offenstehende eiserne Thüre, hinter dieser eine gewöhnliche hölzerne. Der Arzt pochte an. Innen ließ sich nichts hören, als der Ton eines zuklappenden schweren Deckels. Erst hierauf erhielt der Pochende Einlaß. Hinter einem starken, eichenen Tisch saß Nathan, ein kleiner, hagerer Mann, mit grauem Vollbart, kurzgeschorenen, grauen Haaren und einer echt jüdischen Nase. Er erhob sich nicht von seinem Sitz, als der Arzt eintrat, sondern legte seine Hand wie schützend auf einige Bündel Schriften und ließ zugleich seine unruhigen Augen ängstlich über den Eintretenden hingleiten.

»Nathan, ich brauche noch mehr Geld«, sagte ohne Umschweife der Meister.

»Gott, wie macht Ihr doch einen Spaß, Meister, einen schlechten Spaß mit einem alten Mann! Ihr kommt, um mir zu zahlen von dem, was ich Euch geliehen.«

»Ich wollte, es wäre so, Nathan! Wenn mich die Bürger fragen, wie es mir gehe, so muß ich ja wohl sagen, daß es immer besser gehe. Aber es ist nicht wahr. Die Barfüßer werden immer noch zu den meisten Kranken geholt; ich reite oft nur deshalb hinaus zur Stadt, daß die Heilbronner nicht sehen, wie gar nichts ich hier zu thun habe. Also, Nathan, Geld her! Ich will leben.«

»Und da soll ich darüber werden ein armer Mann, ein verlorener Mann, der seinen Kindern nichts hinterläßt als einen Bettelstab und einen Bettelsack!«

»Ja einen Bettelsack, um ihn mit Goldgulden so zu füllen, daß ihn der stärkste Mülleresel nicht tragen kann. Nathan, ich will Geld, hört Ihr's?«

»Meister, laßt mich reden mit Euch ein Wort, ein vernünftiges, ein gutes Wort! Warum habt Ihr Euch noch nicht umgesehen nach einem vermöglichen Schwäher? Habt Ihr einen gefunden, dann seid Ihr Eure Schulden los, und es wird Euch bald nicht mehr fehlen an Arbeit in den Krankenstuben der reichen Leute.«

»Das habt Ihr gut gesagt, Nathan«, rief lachend der Arzt, »das will ich mir alsbald merken. Ich hole Eure Rahel heraus und bitte Euch um die Hand Eurer Tochter und um die schönen künstlichen Schlüssel zu Euerm Geldschrank dort!«

»Das verhüte Gott der Gerechte und Barmherzige, daß ich mein Kind, meine Rahel, meiner Augen Freude, soll geben unter die Gojim. Nein, sie wird sich nicht taufen lassen auf den Namen des Gehenkten!«

»Jude, Du bist nicht in der Schule, widerrufe das Wort!« schrie in künstlichem Zorn der Arzt den reichen Nathan an.

Dieser zuckte zusammen und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Nein, sie wird nicht annehmen den Namen des Nazareners; sie wird bleiben im Gesetz ihrer Väter und in der Gemeinschaft ihres Volkes.«

»Nun, Nathan, wenn Ihr mir Eure Tochter nicht lassen wollet, dann ist das schon ein Beweis, daß Ihr dem Rate selbst nicht viel zutraut, den Ihr mir gebet.«

»Meister, ich habe gehört, daß Kurt Hartmut Euch freundlich gesinnt ist. Hat er nicht eine Tochter, schlank wie ein Reh, lieblich wie eine Blume? Habt Ihr diese gewonnen, dann braucht Ihr nicht mehr die Hilfe des armen Nathan, den die Thoren den Reichen heißen.«

»Nathan, wenn Ihr mir die verschaffen könnet, dann will ich noch einmal so viel Zins zahlen, als Ihr von mir verlanget. Aber sie will nicht, fürchte ich. Und der Vater, glaub ich, wird ihr nicht einen ungeliebten Mann aufzwingen.«

»Ihr habt doch in Salerno so große Wissenschaft gelernt; habt Ihr nicht auch gelernt, ein Tränklein zu kochen, das gewinnen kann einer widerstrebenden Jungfrau Herz?«

»Laßt diese Narrheiten, Nathan; das Tränklein, das ich brauche, ob ich sie oder eine andere gewinnen soll, ist Euer Geld. Also nur heraus damit! Laßt mich auf meinen Schuldschein fünfzig weitere Goldgulden schreiben! Ihr werdet schon dafür sorgen, daß aus ihnen hundert Euch in den Geldschrank wachsen.«

»Höre es der Allmächtige! Fünfzig Goldgulden! Woher soll sie nehmen der arme Nathan!« rief die Hände zusammenschlagend der Jude.

»Aus dem Kasten dort, woraus Ihr die vorigen auch geholt habt. Wenn Ihr aber wollet, daß ich Eure Reichtümer nicht sehen soll, so kann ich ja noch einmal zu Eurer Rahel hinab in die Hausflur gehen und sie fragen, ob sie nicht doch vielleicht den Arzt zum Mann nehmen will. Vielleicht ist sie anderer Meinung als ihr Vater.«

Der Jude sprang entsetzt auf und rief: »Bleibt, Meister, Ihr sollt nicht Euren Spott haben mit meiner Tochter; setzt Euch, ich will sehen, ob ich finde so viel Geld als Ihr wollt.« Nathan schloß seinen Schrank auf und tastete lange in ihm umher. Zuerst brachte er einen Brief hervor, der dem Meister wohl bekannt war, auf dem mehr als einmal schon in geschnörkelten Buchstaben der Name des Arztes stand. Dann zählte Nathan innerhalb des Schranks aus einem Beutel verschiedene Stücke weg und stellte den Rest im Beutel vor den Meister. »Zählet nach; es sind fünfzig Goldgulden, gute, vollwichtige Goldgulden! Ach, werde ich sie wiedersehen, werd ich nicht noch ein armer Mann werden, ohne alle Hab und ohne alles Gut?«

Der Arzt zählte nach; es stimmte. Dann setzte er die neue Schuldverschreibung unter die früheren und versprach denselben furchtbar hohen Zins.

Nachdem es geschehen war und Reinold den Beutel in seinem Gewand geborgen hatte, sah er lachend in das klägliche Gesicht des Juden und sagte: »Nathan, ich weiß Euch jetzt noch einen guten Rat, wie Ihr bald wieder von mir zu Eurem Gelde und zu Euren Zinsen kommt: lasset alle diejenigen, die von Euch Geld entlehnen, und an denen Ihr Euren Wucher treibet, unterschreiben, daß sie in Krankheiten und anderen Nöten des Leibes mich als Arzt holen müssen, dann sollt Ihr einmal sehen, was ich in der Stadt zu rennen und zu laufen habe, und wie das Geld in meine Taschen rollt!« Sprachs und ging lachend, ohne Gruß aus dem dunkeln, muffigen Wucherzimmer, um nach einigen Augenblicken seinen Spaß mit Rahel fortzusetzen. »Beinahe wäret Ihr meine Braut geworden, schöne Rahel. Geht nur hinaus und bittet den Vater noch recht schön, dann wird er es erlauben. Bis es aber soweit ist, hol ich mir einstweilen im Voraus einen Kuß.« Er trat schnell aus sie zu, umfing ihre Hüften mit dem Arm und suchte, sie an sich ziehend, ihr einen Kuß auf den Mund zu drücken. Rahel aber fuhr blitzschnell mit den gekrümmten Fingern ihrer Rechten dem Arzt über das Gesicht, daß dieser mit einem Fluch sie fahren ließ. »Teufelsdirne! Warte nur. Dir werden die Krallen schon noch geschnitten werden!«

Der Arzt wischte sich mit dem Ärmel über das zerkratzte Gesicht, verließ das Haus und warf die Thüre zu, daß der ganze Bau zitterte.

Oben aber in seinem Gewölbe stand der reiche Nathan, hob seine dürren Arme gen Himmel und sprach: »Gott unserer Väter, wann wirst Du die Schmach von Deinem Volke nehmen? Wie lange müssen wir uns treten lassen von diesen Gottlosen? Wie lange müssen wir uns höhnen lassen von diesen Ungläubigen? Gott unsrer Väter, räche die Schmach Deines Volkes an diesen Übermütigen!«


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