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Viertes Kapitel.
Das Interdikt.

Am nächsten Samstag waren in der Kilianskirche nicht viele Beichtende. In den kühlen, schmalen Hallen knieten da und dort einzelne Gestalten. Sie schauten alle von Zeit zu Zeit hinüber zu den Beichtstühlen, ob bald ein Platz frei werde. In der Nähe des Beichtstuhls, in welchem der Kirchherr Beichte hörte, kniete Frau Else. Sie hatte Hildegard aufgefordert, mitzugehen. Die Tochter aber hatte gebeten, sie ein andermal beichten zu lassen. Es war Frau Else auch so recht. Die Tochter sollte es nicht sehen, wenn sie heute vielleicht sehr lange am Beichtstuhl weilte. Und es währte allerdings lange, bis Frau Else, nachdem sie einmal niedergekniet war, sich wieder erhob. Sie kniete nieder als ein herzlich betrübtes Weib. Sie konnte vor Thränen kaum sprechen, und sie hatte doch so viel zu sagen. Sie bekannte vor dem Priester des Herrn, daß ihr Ehegemahl schwer gesündigt habe. Mit harten Worten bestätigte ihr das der Kirchherr. Sie bekannte, daß sie an der Schuld ihres Mannes keinen Anteil gehabt habe und keinen haben wolle. Sie fragte schluchzend, was sie thun solle, damit nicht etwa der Fluch Gottes über sie und ihre Kinder komme. Hinter dem Beichtgitter war es lange still. Da endlich fragte der Kirchherr: »Wofür hieltest Du Deinen Mann, als Du durch das Sakrament der Ehe mit ihm verbunden wurdest?«

»Für einen guten Christen, und das ist er bis vor wenig Tagen gewesen.«

»Was ist er geworden, wenn er Ketzer aufnimmt in sein Haus, und wenn er des hl. Vaters Bannbrief zerreißt?«

Frau Else schwieg. Der Beichtiger fuhr fort: »Er ist selbst ein Ungläubiger geworden, selbst ein Ketzer! Willst Du Deine Seele und die Seelen Deiner Kinder bewahren vor dem Gift, das Deines Mannes Seele zerfrißt und tötet, so mußt Du mit Deinen Kindern weggehen von Deinem Manne.«

»Nein, nein, das fordert nicht von mir!« rief lauter als es sich für den Beichtstuhl ziemt, Frau Else. »Wir haben einander Treue gelobt bis in den Tod. Ich kann von ihm nicht lassen!«

»Einem Ketzer brauchst Du die Treue nicht zu halten. Dein Mann lehnt sich auf gegen die Kirche; damit zerreißt er selbst das Band, das Dich mit ihm verknüpfte. Du bist frei von ihm, und Du mußt mit Deinen Kindern aus seiner Nähe fliehen, sonst zieht der Fluch, den er auf sich geladen, Dich mit den Kindern hinab in den Abgrund des ewigen Verderbens.«

»Wohin, wohin soll ich gehen?« jammerte Frau Else.

»Geh' mit den Töchtern zu den Klarissinnen, die Söhne kannst Du ja uns bringen. Da wartet ab, ob Deines Mannes stolzes Herz sich beugt und er die Vergebung der Kirche sucht.«

»Mein Mann allein, allein in seinem Hause! Nein, das kann ich nicht. O, ehrwürdiger Vater, fordert von mir, was Ihr sonst wollt; nennt eine Buße, und wäre sie noch so schwer, ich will sie um meines Mannes willen auf mich nehmen. Aber von meinem Mann kann ich nicht gehen.«

»Sieh', wie der Trotz Deines Mannes Dein Herz schon angesteckt hat!«

Frau Else wand sich vor dem Beichtstuhl. Von den Frauen, die sonst noch in der Kirche waren und warteten, betete wohl keine mehr, sondern alle sahen neugierig und staunend auf des Ratsherrn beichtendes Weib.

»Ich kann nicht, nein, ich kann nicht!«

»Sag«, fuhr der Kirchherr lispelnd fort, »wenn Dein Mann gestorben wäre dem Leib nach, würdest Du dann auch sagen, ich kann von meinem Mann nicht lassen? Würdest Du die Leiche an den Tisch setzen, würdest Du mit dem Leichnam das Lager teilen? Dein Mann ist so gut wie tot, er hat sich selbst getötet in der Stunde, da er aus meiner Hand den Bannbrief riß. Er ist ein stinkender Leichnam.«

Frau Else hörte auf, sich vor dem Beichtstuhl zu winden. Sie kniete aufrecht; flammende Röte überzog das vorher bleiche, abgehärmte Gesicht, und es war eine ganz andre Stimme als bisher, mit der sie antwortete.

»Ehrwürdiger Vater, ich habe das Unrecht meines Mannes erkannt und mit blutigen Thränen beweint. Aber seine Sünde ist doch auch nur eine Sünde wie tausend andere bei anderen Menschen. Mein Ehgemahl ob seiner einen Sünde also zu schmähen, dazu habt Ihr kein Recht. Ich kann heute nicht weiter beichten, ich bitte auch nicht um die Absolution.« Frau Else erhob sich leicht und rasch und verließ, ohne die verwunderten Augen, die auf sie gerichtet waren, zu beachten, die Kirche. Hinter dem Gitter des Beichtstuhls aber saß ein Priester, der sich vor die Stirne schlug und vor sich hinmurmelte: »Heillos, hab' ich einmal wieder des Weibes Natur verkannt!«

Die nach Frau Else beichteten, kamen an jenem Tage mit sehr leichter Buße weg; denn der Kirchherr hörte kaum auf die Bekenntnisse der belasteten Gewissen.

Als Frau Else heimkehrte, begegnete sie ihrem Mann auf der Treppe. Sie fiel ihm um den Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Vergieb, daß ich in den letzten Tagen so garstig gegen Dich gewesen bin!« Kurt Hartmut war höchlich erstaunt über die Veränderung bei seiner Frau. Er hielt es für besser, nach den Gründen der Änderung nicht zu fragen. Er küßte sie auf die Stirne und sagte nur: »Wie freut es mich, meine alte Else zu haben!«

Tags darauf, am Sonntag, saßen Mutter und Tochter allein in der Stube. Hildegard fragte: »Darf ich Dir aus dem Evangelienbuch vorlesen?« Die Mutter war damit einverstanden. Da las denn, den lateinischen Text langsam übersetzend, Hildegard die Geschichte vom Zinsgroschen.

Wie horchte doch Frau Else auf, als das Wort aus dem Munde des Herrn Christus ihr von der Tochter übersetzt wurde: »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.« Hatte das nicht ihr Kurt befolgt? Dem Kaiser hatte er Treue bewahrt und Ehre gegeben; gegen Gottes Ehre hatte er nie etwas gethan, so lang sie sich erinnern konnte, außer dem, was der Kirchherr als Frevel ansah.

Dieser aber, der Kirchherr Arnoldus Linck von Winsheim, schrieb, als er am Sonntag seine Messe gelesen hatte, einen langen Brief an den Bischof von Würzburg, eine Anklage gegen Rat und Gemeinde von Heilbronn; mit den schwärzesten Farben malte er aus, was geschehen war, und die schärfsten Strafen beantragte er gegen die ungehorsame Stadt.

Der Bote ging am Montag ab, das Schreiben in die Bischofsstadt zu bringen. Indessen ging in der Neckarstadt zunächst alles wieder seinen gewohnten Gang. Aus dem Hause Kurt Hartmuts besuchte nur Bruno die Messe in der Kilianskirche. Frau Else mit ihren Töchtern ging hinüber, zu den Klarissinnen. Bruno war der Einzige im Kaufherrnhause, der nicht darüber erfreut war, daß Vater und Mutter wieder im Frieden neben einander hergingen. Nur mit innerem Widerstreben gehorchte er den Befehlen des Vaters. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten war er noch schweigsamer als sonst.

Gespannt wartete der Kirchherr auf die Rückkehr des Boten von Würzburg. Endlich kam er und brachte, was der beleidigte Priester erwartet hatte, das Interdikt für die ganze Stadt und ihre Dörfer. Den Franziskanern, den Klarissinnen, den Deutschherren sollte es gestattet sein, in ihren Kirchen bei verschlossenen Thüren Gottesdienst zu halten. Aber auch bei ihnen mußten die Glocken und Glöcklein schweigen. Die Kilianskirche und alle städtischen Kapellen wurden, nachdem das ewige Licht in ihnen ausgelöscht war, geschlossen. Dem Rate teilte der Kirchherr es triumphierend mit, was der Bischof befohlen hatte und ließ zugleich melden, daß die Strafe alsbald eintrete.

Dem Rat und insbesondere Kurt Hartmut war die Strafe des Bischofs nicht unerwartet gekommen. Wenn auch dem Schultheißen und einigen Ratsmitgliedern es bange war vor den Folgen, Hartmut war überzeugt, daß, wenn die Priester Ernst machen, es zuletzt nur ihnen selbst zum Schaden ausschlagen werde. Aber es ging doch auch durch Kurt Hartmuts Seele ein eigentümliches Gefühl, als am nächsten Morgen keine Glocken weckten, keine Glocken zur Messe einluden.

Und nun Frau Else! Auch für sie und ihre Töchter waren die Pforten der Klarissinnen geschlossen; vom Allerheiligsten, von dem in Brotgestalt sonst im Heiligtum gegenwärtigen Erlöser war sie geschieden und wie sie, so alle die frommen Leute in der ganzen Stadt. Daß es so gekommen war, daran war ihr Mann schuld! Da gab es doch bald wieder offene und noch mehr heimliche Thränen.

Bruno aber war am ersten Morgen, an dem die Glocken schwiegen, an dem die Kirchenthüren geschlossen blieben, in die Präsenz hinübergeschlichen und hatte, das Gelaß des Kirchherrn ängstlich meidend, die Zelle seines Freundes, des Pfarrherrn Sifrit Busenhart, aufgesucht.

Dort fiel er dem milden Priester zu Füßen, umschlang seine Kniee und rief, indem Herzstöße seinen Körper erbeben ließen: »Helft mir, ehrwürdiger Vater, helft mir, ich verzweifle!« Der Pfarrherr löste sanft die Hände des Jünglings und zog ihn zu sich empor. Bruno barg nun sein Haupt an des Priesters Brust und klagte weiter: »Ich bin eines Verfluchten Sohn. Wenn jetzt Seelen abgerufen werden und ohne Absolution dahinfahren in die Hölle, mein Vater ist daran schuld! Wenn Kinder nicht getauft werden und als Heiden aufwachsen, mein Vater hat es zu verantworten, und ich bin sein Sohn. O, sprecht mich los vom Fluch, der auf mir lastet!«

»Bruno, mein lieber Sohn, so faß Dich doch! Ja, Dein Vater ist auf einem Irrweg und hat gegen die Kirche gesündigt, aber nicht er allein. Er hat nicht alle Schuld. Er kann und er wird auch wieder umkehren. Gott sieht, wie leid es Dir ist, daß Dein Vater sich versündigt hat. Darum läßt Gott die Strafe nicht auf Dich kommen, sondern Dein Gehorsam wird ein Opfer für Deinen Vater sein. Wenn Du jetzt auch nicht in die Kirche kannst, so bete zu Hause, flehe die hl. Gottesmutter an, daß sie Deines Vaters Sinn ändere!«

»Ach, ehrwürdiger Vater, mir ist so weh im Hause des Vaters. Ich möchte am liebsten fliehen. Saget, darf ich mich nicht zu den Dominikanern nach Wimpfen flüchten? Sie sind dem hl. Vater gehorsamer als unsre Franziskaner.«

»Nein, Bruno, denk' an Deine fromme Mutter! Wie würde sie sich um Dich ängsten!«

»O, ehrwürdiger Vater, die Mutter ist nicht mehr so sehr betrübt über das, was der Vater gethan hat. Auch Hildegard versteht mich nicht. Ach, ich bin in einem dem Fluch verfallenen Hause. Mir träumt fast jede Nacht, daß unser Haus brennt, oder daß sich ein Abgrund öffnet und vor Euer, der Pfarrherrn Augen sinkt es mit uns allen in den Höllenpfuhl.«

Wieder schluchzte der Jüngling, wieder umschlang er krampfhaft den Priester.

»Bruno, thu, was ich Dir sage! Gehe heim, bete! Bete für Dich und Deine Eltern! Siehe, viel früher als Du denkst, kann alles wieder in Ordnung sein!«

»O, lieber Herr, gebt mir dann doch heute noch einen Trost! Nicht wahr, ich darf hieher kommen und Euch beichten, auch wenn die Kirchen geschlossen sind.«

Tief aufseufzend sagte der Pfarrherr: »Ach nein, auch dies ist vom Bischof untersagt. Aber die heiligen Engel Gottes wollen Dich behüten vor allen Todsünden, und unser lieber Herrgott helfe dazu, daß die Beichtstühle bald wieder offen stehen für reuige Christenmenschen!«

»Nicht beichten! Ach, es ist schrecklich!« jammerte Bruno weiter. Sifrit Busenhart aber sagte: »Bruno, als Priester des Herrn sage ich Dir: Geh heim und sei Deinem Vater und Deiner Mutter gehorsam. Viel leichter machst Du dadurch Deines Vaters Herz weich, als wenn Du im Trotz von ihm gingest.«

Während der Pfarrherr dies sagte, ließ sich der Ton eines Glöckleins, wie bei der Messe hören. »Eile, daß Du heimkommst, der Kirchherr ruft uns Pfarrer zusammen in die Konventstube. Es darf, während wir beisammen sind, kein Unberufener in der Präsenz weilen. Gott schütze Dich, mein Sohn, und entledige Dich bald Deines Kummers!« Bruno ging. Die Pfarrherrn beeilten sich, dem Zeichen ihres Vorgesetzten Folge zu leisten. In der Konventstube hielten sie, der Vorschrift des Bischofs gemäß, dreimal täglich Andacht.

Wie aber nahmen die Heilbronner das Interdikt auf? Schon am ersten Tag merkten viele zu ihrer Verwunderung, wie sehr das ganze Leben durchflochten war von kirchlichen Einrichtungen und Gebräuchen. Die Weingärtner, welche die Woche hindurch selten zur Messe gingen, waren so ganz daran gewöhnt, draußen im Weinberg ihre Ruhepausen nach dem Geläute der Glocken zu richten. Die Glocken schwiegen, und wie konnten jetzt die Alten den Jungen beweisen, daß diese mit den Ruhepausen zu bald anfingen und sie zu lange ausdehnten? Alle, die gewohnt waren, täglich zur Messe zu gehen, die vielleicht manchmal nur halb träumend am Gottesdienst teilgenommen hatten, fühlten jetzt, daß ihnen ein Stück ihres Lebens genommen sei. Schnell brach nun aber die eigentliche Verlegenheit, ja bald die bittere Not herein. Da waren Brautpaare, die hatten schon den Hochzeitstag ausgemacht. Ja, sie konnten die Hochzeit halten, aber wie wars mit dem Kirchgang? Wie sollten sie sich als christliche Eheleute ausweisen, auch wenn der Fürsprecher sie nach alter deutscher Sitte zusammengegeben hatte? Sie konnten vor keinem Priester erscheinen und das Sakrament der Ehe vollziehen.

Es wurden Kindlein geboren. Fast unwillkürlich wollten die Väter sich anschicken, sie alsbald zur heiligen Taufe in der Präsenz anzumelden. Aber die Thüren der Präsenz blieben für die Gemeinde geschlossen, so gut wie die Pforten der Kirchen. Es kamen auch Menschen zum Sterben. Wie eilten da sonst die Angehörigen, den Priester zu holen, zur letzten Beichte, zur hl. Wegzehrung, zur letzten Ölung. Aber ob auch die Angehörigen eines Todkranken noch so sehr an der Präsenz flehten, das Pförtchen blieb geschlossen; kein Lebenszeichen ließ sich drinnen hören. Wohl schnitten die Klagen der Geängsteten in Sifrit Busenharts Herz ein, dem Kirchherrn verschafften sie innere Befriedigung. Die Klagen verhallten an den steinernen Wänden der Präsenz, kein Priester kam, und die Kranken starben ohne die Sterbsakramente. Die Leichen sollten bestattet werden. Aber auch die geweihten Kirchhöfe waren geschlossen. Als es sich darum handelte, das erste Begräbnis nach dem Interdikt zu veranstalten (es war ein ehrsamer Zimmermeister Kunz Lachmann gestorben), da klopfte der Sohn des Verstorbenen so gewaltig an die Thüre der Präsenz, daß bald der Kirchherr sich oben am Fenster zeigte.

»Was tobt Ihr wie ein Unsinniger?« rief der Kirchherr herab.

»Ich will für meinen Vater ein ehrlich Begräbnis!« schrie der junge Heinz Lachmann hinaus.

»Der Kirchhof wird nicht geöffnet; verscharrt den Leichnam auf dem freien Feld!« antwortete der Kirchherr.

»Mein Vater ist kein Stück Vieh, Kirchherr!« entgegnete der Zimmermann entrüstet. »Laßt den braven Mann Ruhe finden in geweihter Erde!«

»Für Heilbronn giebt es keine geweihte Erde mehr; bedankt Euch dafür beim Rat!«

Der junge Zimmermann geriet jetzt außer sich vor Wut. Er ballte die Fäuste gegen den Kirchherrn und brüllte, daß es die ganze Präsenzgasse hinaufscholl: »Nein, bei Dir will ich mich bedanken, Pfaffe! Wenn Du mir unter die Fäuste kommst, sollst Du es erfahren, wie ein Zimmermann zuschlägt. Wenn Ihr Pfaffen nicht mehr weihet, dann weihen wir selbst und machen, was Ihr geweiht habt, zum Schindanger!«

Vor dem Fleinerthor hatte der Zimmermann Kunz Lachmann einen Garten gehabt. Dort ließ der Sohn ein Grab graben; dorthin bewegte sich der Leichenzug ohne Priester, ohne Kreuz, ohne Weihrauch und Weihwasser. Was nur in Heilbronn auf den Beinen war, das ging mit. Die Männer, die Frauen, sie beteten die Leichengebete. Der Sohn selbst forderte am Grabe die große Versammlung auf, das apostolische Glaubensbekenntnis und das Vaterunser zu beten.

Als die Menge nachher wieder zum Thor hereinströmte, da sagten die einen: »Es ist schrecklich, ohne Priester sterben und ohne Priester verscharrt werden,« und die andern: »Man sieht, daß man auch ohne Priester von dieser Welt abscheiden kann.«

Aber es blieben immer mehr Kinder ungetauft, und es jammerten darüber immer mehr Mütter; es starben immer mehr Christenmenschen, ohne durch den Priester Frieden mit Gott gemacht zu haben. Die Unruhe in der Stadt wuchs von Tag zu Tag. Und schon gab es nicht wenige Leute, die sagten, Kurt Hartmut habe es auch zu arg gemacht; hätte der den Bannbrief nicht zerrissen, so hätte der Kirchherr die Stadt auch nicht so hart beim Bischof verklagt. Aber viele andere wurden mit jedem Tag grimmiger gestimmt gegen die Präsenzherren. So kam es, daß die einen die Fäuste ballten gegen Kurt Hartmuts Haus, wenn sie die Klostergasse hinauf gingen, die andern, wenn sie in die Präsenzgasse hineinkamen, gegen der Pfarrherrn Wohnung.

Wenn aber der Bruder Johannes von den Barfüßern durch die Stadt ging, nach seinen Kranken zu sehen, wie oft wurde er da namentlich von Frauen gebeten, daß er, der doch auch Priester sei, sich der Kinder erbarmen und sie aus Heiden zu Christen machen möge. Auf der Straße mußte er alle diese Bitten abschlagen; aber es kam vor, daß Mütter, die über ihre ungetauften Kinder gejammert hatten, auf einmal mit dem Klagen aufhörten. Bruder Johannes war in der Gasse gewesen. Was er mit den Kindern gethan hatte, das konnte kein Prior und kein Bischof in Würzburg herausbringen; aber die Mütter wurden ruhig. Freilich, es waren nur wenige, denen dies Glück zu teil wurde.

Man sah auch den Schuhmacher Vaihinger, den Schmied Büttinger und den Schneider Atzmann manchmal unterwegs in der Stadt, ohne daß sie durch ihr Gewerbe dazu veranlaßt wurden; man sah sie allemal in Häuser gehen, wo ein Krankes lag. Sie sprachen nicht vom Interdikt und nicht von den Priestern, sie redeten aber auch nicht vom Wetter und nicht von den Herbstaussichten, sondern sie sagten den Kranken einen schönen Spruch oder erzählten eine Geschichte aus den Evangelien, und ehe sie gingen, legten sie den Kranken die Hand auf und sagten jedesmal zum Schluß: »Der Herr Jesus Christus spricht: Sei getrost, mein Sohn, Deine Sünden sind Dir vergeben!« Viele Heilbronner wußten nicht, was sie von den frommen Handwerksmeistern halten sollten; manchen war's lächerlich, manchen unheimlich. Aber den Kranken that's wohl, und der Sterbenden Angst wurde vermindert.

Doch alles, was der Barfüßerbruder Johannes und die frommen Handwerksmeister thaten, das konnte das Anwachsen der Not und der Aufregung nicht bannen. Daß lose Gesellen an den Sonntagen nunmehr es gar arg trieben und zwar gerade in den Stunden, da sonst Gottesdienst gehalten wurde, daß sie bei ihrem Zechen in den Schenken die Pfarrherrn hochleben ließen, die ihnen so schöne Freiheit verschafft hätten, das ließ den frommen Leuten von Heilbronn die vorhandene Not nur um so größer erscheinen.

Da kam das Furchtbare, das mit einemmal eine Wendung anbahnte. Am Sülmerthor wohnte der Weinschröter Michel Böhringer. Er hatte mit seiner Käther zehn Jahre lang gehaust, ohne ein Kind zu haben. Da endlich durften nach so langem Warten die Eheleute auf Nachkommenschaft hoffen. Am Tage, da das Interdikt über Heilbronn verhängt wurde, genas des Weinschröters Weib eines kräftigen Knäbleins. So groß die Freude der Ehegatten war, so groß war bald auch der Jammer namentlich bei der Mutter darüber, daß das Kind nicht zur Taufe gebracht werden durfte. Als das Weib wieder ausgehen konnte, kam sie einmal ums andere an die Präsenz und bat, daß es einen Stein hätte erbarmen können, um die Taufe für ihr Kind. Es war natürlich alles umsonst. Da erkrankte das Kind. Des Weinschröters Weib wurde nun wie sinnlos. Sie kam in später Abendstunde zur Präsenz und fing an so zu heulen und zu toben, daß man es über die halbe Stadt hin hören konnte. Die Scharwache kam und führte sie heim. Bei ihrem Kinde wurde es von Stunde zu Stunde schlimmer. Am nächsten Vormittag aber wurde sie plötzlich ruhig. Sie nahm das sterbende Kind auf den Arm, und ehe sie ihr Mann daran hindern konnte, war sie mit demselben zum Hause hinaus und stürmte die Sülmergasse dahin zur Präsenz. Dort stieß sie einen Schrei aus, daß auch der Kirchherr aufsprang und zum Fenster eilte. Kaum sah ihn das Weib, so schrie sie: »Wenn Ihr, Kirchherr, mir mein Kind nicht taufet, dann springe ich mit ihm in den Neckar. Soll es ungetauft sterben und zur Hölle fahren, so will ich mit ihm fahren!«

Der Kirchherr erbleichte, als er das Weib sah und hörte. Aber seine einzige Antwort war: »Gehet hinüber zu Kurt Hartmut und saget ihm, er soll Euch helfen. Er hat's in seiner Hand.« Käther Böhringer aber hörte nur noch mit halbem Ohr; denn ein Blick auf ihres Kindes Gesicht sagte ihr, daß das Leben entflohen sei.

Nun kam der Wahnsinn zum Ausbruch. Sie fing an, greulich zu lachen. Mit tanzendem Schritt, das tote Kind hin und her schwingend, näherte sie sich von einem Haufen Neugieriger begleitet, der Wohnung Kurt Hartmuts. Sie dringt in den Hof ein, stößt den Uz, der sich der Tollen unter der Thüre zur Schreibstube entgegenstellen wollte, auf die Seite und steht vor Kurt Hartmut. Der sieht betreten das Weib an, ehe er aber den Mund zu einer Frage aufthun kann, fliegt ihm der Leichnam des Kindes auf das Buch, vor dem er sitzt, und kreischend schreit das Weib: »Ihr sollt's taufen, sagt der Kirchherr. Taufet es mit Tinte! Taufet mich auch mit dem Kinde, denn wir beide gehören doch dem Teufel!«

Kurt Hartmut wurde aschfahl; Bruno sank vor Schrecken beinahe um, und die Handlungsdiener sprangen entsetzt zur Seite. Da kam Michel Böhringer. Als Hartmut ihm das tote Kind in die Arme legen wollte, sprang die Kranke herzu und riß es wieder an sich, drückte es an ihre Brust und schrie im Kreise sich drehend: »Miteinander in die Hölle, miteinander dem Teufel zu!« Dem starken Weinschröter, der so bleich war wie Kurt Hartmut, strömten die Thränen über sein wetterhartes Gesicht. Endlich schien die Kraft der Rasenden zu erlahmen; sie wankte und sank ohnmächtig um. Man schaffte dem armen Weib ein Lager, und als es Abend wurde und die Neugierigen sich längst verlaufen hatten, trug der Weinschröter mit seinem Knecht die Kranke auf einer Bahre heim. Als sie aus ihrer Betäubung erwachte, war sie kindisch. Sie nahm ein Kissen, umwickelte es mit Bändern und trug es wie ein Wickelkind singend umher. Nach ihrem Kinde selbst hat sie nie mehr gefragt.

Während das schreckliche Ereignis auf die ganze Familie Kurt Hartmuts wie ein Donnerschlag lähmend wirkte, bestärkte es ihn selbst in dem Entschluß, den er seit einigen Tagen schon gefaßt hatte, im Rate zu beantragen, daß der Widerstand der Priester mit Gewalt gebrochen werden solle.

Das Unglück des armen Weinschröters wurde mehr besprochen als alles, was seit dem Interdikt geschehen war. So kam auch der Schultheiß in der Ratssitzung darauf zu reden. Als aber dann die wichtige Frage sich erhob, wie man denn dem bösen Zustand ein Ende machen könne, da wurde schnell alles still, und die meisten der Ratsherrn waren am Ende ihrer Weisheit. Kurt Hartmut erbat sich das Wort. Er sagte: »Die Priester gehorchen ihrem Bischof, das verstehe ich; sie sind eigensinnig und wollen deshalb nicht nachgeben, das verstehe ich auch. Aber das Hemd sitzt näher als der Rock. Was schaden ihnen die Fäuste, die gegen ihre Wohnung geballt werden? Die Schmähworte, die an der Präsenz ausgestoßen werden, thun ihnen auch nicht wehe. Aber man lasse sie einmal etwas hungern und dürsten, man lasse sie es an ihrem eigenen Leib erfahren, daß sie unser Brot essen, und daß wir ihnen den Brotkorb höher hängen können, ob sie sich dann nicht eines andern besinnen!«

»Wie soll man das bewerkstelligen?« fragte der Schultheiß.

»Das Einfachste ist, man faßt sie alle in ihrer Präsenz ab und steckt sie solange in einen unserer Türme, bis sie versprechen, wieder die Kirchen zu öffnen und Messe zu lesen.«

»Aber Ihr wollt doch nicht, Kurt Hartmut, daß wir an die geweihten Priester des Herrn Hand anlegen? Damit würden wir ja nur noch mehr Strafen des Bischofs auf uns häufen!« rief erschrocken der alte Ratsherr Sebastian Hünderer.

»Nein, ihre Weihe wollen wir ihnen gewiß nicht nehmen und antasten. Im Gegenteil, jetzt ruht ja ihre Weihe. Wir wollen uns und ihnen dazu helfen, daß sie ihre Weihe wieder recht brauchen können, daß sie in der Messe das Opfer darbringen für Lebendige und Tote, daß sie die Kinder wieder taufen, die Sterbenden versehen und die Toten bestatten. Aber sie sollen merken, daß es uns ernst ist, und daß ihnen der Hungertod droht, wenn sie nicht nachgeben.«

»Ehe wir aber so vorgehen,« sagte der Schultheiß, »ziemt es sich doch, daß wir ihnen eine letzte Warnung geben und eine Bedenkzeit, sich zu entscheiden.«

»Ich will nichts dagegen einwenden,« sagte Hartmut, »Wie wohl ich tausend gegen eins wette, daß alles Warnen umsonst ist. Die Pfarrherrn besinnen sich erst gründlich, wenn ihr Magen knurrt, und ihre Zunge zu vertrocknen droht.«

Man legte sich noch einmal aufs Verhandeln. Der Schultheiß mit den beiden ältesten Ratsherrn ging in die Präsenz und stellte den Kirchherrn die in der Stadt herrschende Not eindringlich vor. Der Kirchherr fragte höhnisch, wer denn an der Not die Schuld trage? Doch er nicht und die Pfarrherrn. Einzig und allein der Rat. Es dürfe nur der Rat sein Verbot zurücknehmen und von dem gebannten Ludwig abstehen, dann werden sich die Kirchen wieder öffnen. Ein Streitwort gab das andere. Der Kirchherr wurde leidenschaftlich und schrie den Schultheißen an, wie wenn dieser ein dummer Bube wäre. So half es auch nichts mehr, daß der alte Hünderer den Kirchherrn noch darauf hinwies, wie neben denen, die sich nach der Kirche und ihren Dienern sehnen, die Zahl derer immer größer werde, die da sagen, man könne auch ohne die Kirche leben und sterben. Auch den alten Mann schrie der Kirchherr an, auch ihn nannte er einen Fuchs, der den Weinberg des Herrn verwüste und zerstöre.

So hatte es der Kirchherr selbst dahin gebracht, daß im Rate niemand mehr auf der Seite der Pfarrer stand, und daß vom Rathaus in die Präsenz durch den Ratsboten der Beschluß hinübergetragen wurde, wenn am dritten Tage nicht die Glocken zur Kirche geläutet und die Gottesdienste wieder wie ehedem gehalten werden, so werden die Pfarrherrn alle an ihrem Leibe gestraft werden.

Kurt Hartmut war nie besser gestimmt und freudiger erhoben vom Rathause heimgekommen als an diesem Tage. »Ihr werdet bald wieder zur Messe gehen können,« rief er seiner Frau und seinen Kindern zu. Als er jedoch sagte, wie das wohl kommen werde, da erbleichte Frau Else. Bruno aber trat auf den Vater zu und sagte mit bebender Stimme: »Wenn die Pfarrherrn eingesperrt werden, dann will ich mit ihnen in den Turm.«

»Bist Du verrückt, Mensch?« rief Hartmut und sah seinen Sohn durchdringend und mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Schon seit einigen Wochen bist Du so, daß man dich kaum mehr kennt. Im Geschäft ist mir Uz bald mehr nütze als Du, und sonst drückst und duckst Du dich herum, wie wenn Du gestohlen hättest.« Hartmut redete sich mehr und mehr in Zorn hinein. Er packte seinen Sohn an der Schulter, schüttelte ihn und schrie: »Sag mir, Bursche, was hast Du mit den Pfaffen? Seit es Hartmut giebt in Heilbronn, hielt es der Sohn mit dem Vater. Willst Du der erste sein, der es anders macht?«

Der Jüngling wand sich unter den Fäusten des Vaters. Die Mutter warf sich zwischen den zürnenden Vater und den bebenden Sohn. »Hab doch Geduld, Kurt! Bruno hat von klein auf die Pfarrherrn verehrt; er kann es nicht begreifen, warum er sie nun auf einmal als Feinde ansehen soll!« Hartmut ließ den Sohn fahren, wandte sich ab, ging ans Fenster und fing an, auf die Butzenscheiben zu trommeln. »Er ist kein rechter Hartmut!« stöhnte er vor sich hin.

Bruno trat neben den Vater und berührte dessen Schulter.

Hartmut wandte sich rasch und sah den Sohn an. Der Blick aus des Jünglings Augen, dem er begegnete, zwang ihn beinahe, das eben gesagte Wort zurückzunehmen. Das war doch Hartmut'sches Feuer, das aus den tiefen Augen leuchtete.

»Vater, Du dienst dem König und kämpfst gegen die Diener Gottes. Ich diene Gott und stehe zu seinen Knechten. Ich werde Dir gehorchen in allem, was Geschäft und Haus angeht. Ich werde Dir nicht gehorchen in allem, was die Kirche und die Pfarrherrn angeht. Vater, ich habe es jetzt frei gesagt; ich bin kein Knabe mehr.«

»So willst Du mein Feind sein?« fragte Hartmut und schoß aus seinen Augen wieder Zornesblitze auf den Sohn. Der Jüngling wurde weicher und sagte: »Ach nein, nicht Feind, Vater! Wie kann ich Dein Feind werden! Aber ich muß anders denken und handeln als Du, sonst –« er stockte. »Sonst? Nun was?« fragte noch ernster Hartmut. »Sonst verlier ich den Verstand!«

»So geh' mit Deinen Pfaffen, und hilf ihnen, wenn Du kannst!«

»Vater, darf ich dies Dein Wort als eine Erlaubnis ansehen?« rief fast freudig Bruno aus.

»Ich habe es gesagt; thu was Du willst!«

Bruno verließ das Zimmer. Er war in der letzten Viertelstunde um Jahre älter geworden.

»Vater, Bruno hat ein zartes Gewissen«, hub nun Hildegard an. »Das läßt er sich nicht mit Gewalt umändern. Er liebt nicht die Priester mehr als Dich, er liebt Gott mehr, und Gott sieht und hört er in den Priestern. Es kommt vielleicht auch für ihn einmal die Zeit, wo ihm etwas anderes noch höher steht, als die Priester und als sonst irgend welche Menschen.«

»Was soll das sein?« fragte verwundert Hartmut.

»Das Evangelium!« sagte ruhig und bestimmt Hildegard.

»Mädchen, nun wirst auch Du mir immer mehr zum Rätsel!« rief Hartmut. »Soll denn diese Pfaffengeschichte mir mein ganzes Haus umkehren? Nein, nein, es ist höchste Zeit, daß Ordnung wieder in unsre Stadt einkehrt. Sie werden bald nachgeben, die da drüben! Sie werden die Weinlese einläuten und werden froh sein, wenn sie unsern Most kosten dürfen zum Lohn für ihre Messen!«

Hartmut begriff seine Tochter nicht. Er hatte keine Ahnung davon, daß das Mädchen täglich im Evangelienbuch las und immer besser die Gäste verstand, die in des Vaters Haus so eigentümlich ein- und ausgezogen waren.

Über das Unangenehme und Widerwärtige, das Kurt Hartmut in seiner Familie durchzumachen hatte, hob ihn die Aufgabe weg, die er in den nächsten Tagen im Rate hatte. Da galt es, alles vorzubereiten, um den Priestern den vollen Ernst zu zeigen. Als Ort, dahin die Pfarrherrn gefangen geführt werden sollten, ward der Adelberger Turm ersehen, der beinahe in der Mitte der östlichen Stadtmauer stand. Dann mußten sichere Männer erlesen werden, die mit den Ratsdienern vorgehen sollten; wieder andere sollten dem Zuge zum Schutze dienen, wenn etwa Freunde der Priester versuchen wollten, sie zu befreien.

Bruno aber benützte die Zeit auch. Er nahm, während der Vater auf dem Rathause war, Uz auf die Seite und fragte ihn: »Willst Du mir einmal in nächtlicher Stunde zur Seite stehen?«

»Wenn's der Herr erlaubt, geh' ich schon mit«, antwortete Uz.

»Der Vater hat mir erlaubt, zu thun, was ich will.« Etwas ungläubig sah Uz den Sohn des Hauses an. »Es ist so, wie ich sage. Ich verlange auch gar nichts von Dir, als daß Du mir hilfst einen Korb zu tragen, und daß Du die Wachtel schlagen läßest.«

»Ist es gewiß nicht unrecht?« fragte der Knecht noch einmal.

»Nein, sicher nicht«, antwortete Bruno bestimmt. Uz aber merkte, daß des Herrn Sohn lerne, zu gebieten. Gleich darauf schrieb Bruno ein Zettelchen, suchte aus einer der Schubladen einen langen Bindfaden, machte aus beiden ein kleines Päckchen und eilte damit zum Thorbogen hinaus. Er spähte zunächst nach der Präsenz und sah zu seiner großen Freude, daß das Fenster der Konventstube, das gegen die Klostergasse herausging, offen stand. Nun wartete er, bis er niemand in der Gasse sah und hatte auch schon im nächsten Augenblick das Päckchen durch das Fenster geworfen. Auf dem Zettelchen stand: »Ihr kommt sicher in den Turm. Nehmt die Schnur mit und ein Steinchen. Wenn die Wachtel dreimal schlägt, werfet die Schnur aus dem Fensterchen des Turms; wenn sie zweimal schlägt, ziehet die Schnur wieder an!«

Bruno wurde ganz heiter, als ihm der Wurf gelungen war. Nun ging er hinauf in seine Kammer. Dort hatte er eine kleine Truhe. Aus ihr holte er ein Beutelchen, in welchem er allerlei Münzen, Geschenke seiner Eltern und Paten, aufbewahrt hatte. Er steckte das Beutelchen zu sich und kehrte wohlgemut und zum voraus auf die Ausführung seines Planes sich freuend, an die Arbeit zurück.

Der Morgen kam, an dem es sich entscheiden sollte, ob die Priester Messen lesen oder der Strafe des Rats verfallen würden. Die Glocken schwiegen wie sonst, die Kirchthüren öffneten sich nicht. Aber auch die Zugänge zur Präsenz in beiden Gassen blieben geschlossen. So wußte denn nun der Rat, was er zu thun hatte. Als Kurt Hartmut sein Haus verlassen wollte, um, wie im Rat verabredet war, am Zug gegen die widerspenstigen Priester sich zu beteiligen, trat ihm noch einmal Bruno entgegen.

»Vater, Vater, laß dich doch erbitten! Laß ab von der Gewaltthat gegen die Priester des Herrn! Und wenn Du auch den Kirchherrn hassest, denk doch daran, wie lieb und freundlich Herr Sifrit Busenhart immer gewesen. O Vater, mach deinen Frieden mit den Priestern!« Es war wieder der weiche, schüchterne, unbeholfene Mensch, der sein Herz, sein verwundetes Herz noch einmal hatte reden lassen. Kurt Hartmut hatte keine Zeit und keine Lust, sich abermals mit seinem Sohne auseinanderzusetzen. Er schob ihn unwillig auf die Seite und sagte nur: »Ich werde mir doch von Dir nicht sagen lassen müssen, was ich zu thun habe!«

Hartmut eilte zum Rathaus. Dort übernahm der Schultheiß die Führung der einen Hälfte der Scharwache und bewehrten Bürger, die andere Hälfte sollte Hartmut führen. Der Schultheiß zog mit seiner Schar in die Präsenzgasse, Kurt Hartmut in die Klostergasse, An der kleinen Thüre in der Präsenzgasse ließ der Schultheiß durch einen Scharwächter mit der Hellebarde dreimal gewaltig anpochen, daß es durch das ganze Haus dröhnte. Dann rief der Schultheiß: »Kirchherr und Ihr anderen Pfarrherrn an der Kirche zu St. Kilian, ich gebiete Euch, daß Ihr alsbald Euer Haus öffnet!« Es regte sich nichts im Hause. Da ließ der Schultheiß den Scharwächter noch einmal an die Thür pochen. Das war für Kurt und seine Leute drüben in der Klostergasse das Zeichen, daß sie dort die schwächere Thüre mit der Axt einhauen sollten. Ein paar kräftige Streiche, und die Thür brach ein.

Hartmut stürmte mit seiner Schar durch den Hof und öffnete nun von innen das Thörchen gegen die Präsenzgasse. So war denn bald der ganze Hof mit Bewaffneten gefüllt. Der Schultheiß und Hartmut stiegen die Treppe hinauf und pochten zunächst an des Kirchherrn Gelaß. Keine Stimme ließ sich hören. Die Thür war unverschlossen, die Zelle leer. So war's bei allen andern auch.

Da erscholl plötzlich aus der Konventstube kräftiger, lateinischer Gesang. Als der Schultheiß und Kurt Hartmut dort eintraten, sangen die Priester weiter; nur kräftiger noch, nur inbrünstiger erklang aus ihren Kehlen der 59. Psalm. So schlugen denn den Eintretenden die Worte entgegen, die auf deutsch lauten: Errette mich von den Übelthätern, und hilf mir von den Blutgierigen. Denn siehe, Herr, sie lauern auf meine Seele; die Starken sammeln sich wider mich ohne meine Schuld und Missethat.

Der einstimmige Gesang der elf Priester, die sich durch den Eintritt des Schultheißen und Ratsherrn nicht im geringsten stören ließen, brachte diese selbst in einige Verlegenheit. Sie sahen einander fragend an. Dann aber, als es den Anschein bekam, als wollten die Priester noch stundenlang fortsingen, schrie der Schultheiß so laut er konnte: »So schweiget jetzt und höret, was der Rat Euch zu sagen hat!«

Nur um so kräftiger setzte der Kirchherr ein mit dem Verse: »Herr Gott Zebaoth, sei der keinem gnädig, die so verwegene Übelthäter sind!«

»Da helfen keine Worte mehr, hier gilt's zu handeln!« rief Hartmut dem Schultheißen zu und ließ nun einmal einige der Bewaffneten in die Konventstube treten. »Greifet den Kirchherrn, und führet ihn die Treppe hinab!« befahl Hartmut. Zwei Ratsdiener traten auf den Kirchherrn zu, packten ihn an den Armen und wollten ihn hinausführen. Der Kirchherr aber, der jetzt mit Singen aufhörte, ließ sich auf den Boden gleiten und suchte sich auf diese Weise dem Fortgeschafftwerden zu entziehen.

»So packt ihn doch und traget ihn, wenn er nicht gehen will!« rief der Schultheiß. Es eilten weitere Diener herbei, und zu viert gelang es ihnen endlich, den sich sträubenden Kirchherrn aus der Konventstube hinauszutragen. Bei den Windungen, durch welche der Liegende sich den Händen der Diener zu entziehen gesucht hatte, war aus seinem priesterlichen Gewand ein Bund Schlüssel herausgefallen. Ehe der Kirchherr sie wieder an sich bringen konnte, hatte sie Hartmut schon aufgehoben und gab nun einigen Dienern den Befehl, mit den Schlüsseln zur Kirche hinüberzueilen und die Glocken zu läuten. Nachdem der Kirchherr überwältigt und hinausgetragen worden war, machten die Pfarrherrn keine Schwierigkeiten mehr. Sie ließen sich ohne jeden Widerstand hinausführen.

Das Pförtchen in der Präsenzgasse war zu eng, als daß man den Kirchherrn hätte hinaustragen können. So ging denn der sonderbare Zug durch die Klostergasse an Kurt Hartmuts Haus vorbei. Es hatte sich eine Menge Volks in der Gasse zusammengedrängt, so daß die Scharwache alle Mühe hatte, den Gefangenen und ihren Begleitern Bahn zu bereiten. Anfangs glaubten manche, der Kirchherr sei tot oder schwer verletzt, und schon wollten sich Stimmen des Mitleids hören lassen. Als aber die Diener halb lachend, halb schimpfend sagten, warum der Kirchherr getragen werde, nämlich weil er zu eigensinnig sei, zu gehen, da wandelte sich das Mitleid schnell in Spott, und wie nun gar zur Begleitung des Zugs die Glocken erklangen und ein lautes Geschrei der erzürnten Städter und Städterinnen durch die Sülmergasse sich fortpflanzte, da bereute der Kirchherr beinahe seinen Entschluß, nicht zu gehen. Aber jetzt konnte er nicht mehr nachgeben. So wurde er denn vollends zum Adelberger Turm getragen. Seine Pfarrherrn folgten ihm. Bald schloß sich hinter den Priestern die Thüre des Turmes.


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