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VIII.

Du, sieht das nicht gerade so aus, als ob er nicht wiederkommen wollte? sagte ein Student zu einem anderen, als Doctor Wild eine Stunde später seine öffentliche Vorlesung über »Hygieine« für heute geschlossen hatte.

Weshalb? sagte der Andere. Du hörst ja, daß er es gar nicht wird bewältigen können; ich kenne ihn schon aus dem vorigen Semester; der liest bis zum letzten Augenblicke, der bricht nicht mitten drin ab, und es ist gerade jetzt ganz famos. Hast Du schon mal eine richtige Kohlensäurevergiftung mit angesehen? Dreißig Procent in der Atmosphäre reichen hin; ich glaube, wir haben hier nächstens so viel.

Es ist eine schauderöse Luft; vielleicht sah er deshalb so abgespannt und bleich aus; seine Stimme zitterte ja zuletzt ordentlich.

Er wird hungrig gewesen sein. Ich wenigstens habe einen pyramidalen Hunger; mach', daß wir fortkommen.

Die Beobachtung des kleinen blonden Studenten war ganz richtig gewesen: Wild hatte sehr bleich ausgesehen und seine Stimme hatte bei den letzten Worten, mit welchen er die Aufgabe für die nächste Lection übermorgen: Vergiftungen durch Pflanzenstoffe – angab, einen seltsam dumpfen, gebrochenen Klang gehabt; und dann, während die Studenten bereits ihre Mappen zusammenlegten, hatte er noch immer auf dem Katheder gestanden und starr vor sich hingeblickt, wohl ohne Etwas zu sehen: wenigstens erwiederte er die Grüße seiner Zuhörer nicht, als er langsamen Schrittes das große, überfüllte Auditorium verließ.

In der Halle begegnete ihm ein junger College.

Sie ersparen mir einen Weg; ich wollte eben zu Ihnen und Sie bitten, mich auf – auf einige Tage in meiner Praxis zu vertreten.

Wollen Sie verreisen, College?

Nein, aber ich fühle mich nicht ganz wohl. Ueberarbeitung, Abspannung – ich habe mich schon diese ganze Zeit nur noch durch Chinin aufrecht gehalten.

Sie sehen schlecht aus; ich bitte, schonen Sie sich, es kommt mir auf ein paar Tage mehr nicht an. Sind die Leute davon unterrichtet?

Sie wissen ein für allemal, daß sie sich an Sie zu wenden haben, wenn ich verhindert bin. Bei Einigen will ich es noch speciell sagen.

Gut. Machen Sie nur, daß Sie bald nach Hause kommen und halten Sie sich still. Ich sehe mich noch heute Abend nach Ihnen um.

Sie werden einen stillen Mann an mir finden.

Der College lachte; sie schüttelten sich die Hände; jener ging in sein Auditorium. Wild fand vor der Universität den Miethwagen, dessen er sich auf seiner Praxis zu bedienen pflegte, um sich für gewöhnlich gegen zwei Uhr an dem Hotel, in welchem er zu Mittag speiste, absetzen zu lassen.

Ich werde Sie heute länger brauchen, vielleicht bis vier.

Schadet nichts, Herr Doctor; wohin? Wild gab die Adresse des ersten Uhrmachers, zu einiger Verwunderung des Kutschers, dem es ganz neu war, daß Herr Chaudefond zu »unserer« Praxis gehörte.

Aber noch verwunderter war Herr Chaudefond, als Doctor Wild, der ihm übrigens wohl bekannt war, seinen Chronometer nebst Kette zum Verkauf anbot.

Das ist eine englische Arbeit von der vorzüglichsten Güte, sagte der Uhrmacher, das Werk durch sein Glas betrachtend, eine Arbeit ersten Ranges; gewiß ein Geschenk?

Hoffentlich kein Grund für Sie, es nicht zu kaufen.

Das nicht, Herr Doctor, aber für Sie, es nicht zu verkaufen. Ich würde ein Werk von der Kostbarkeit hier sehr schwer, vermuthlich gar nicht los werden und es nach Paris oder nach London schicken müssen; das heißt: ich würde Ihnen kaum annähernd den wahren Werth bezahlen können. Verzeihen Sie mir eine allerdings sehr indiscrete Frage, Herr Doctor: weshalb wollen Sie die Uhr verkaufen?

Aus einem sehr einfachen Grunde: ich brauche Geld für – eine mir sehr nahe stehende Person; ich brauche es augenblicklich – und ich bin in diesem Augenblicke nicht bei Casse.

Wie viel brauchen Sie?

Fünfhundert Thaler.

Hier sind sie, und hier, Herr Doctor, ist Ihre Uhr; ich schätze es mir zur Ehre, einem Manne, von dem ich so außerordentlich viel Gutes gehört, eine kleine Gefälligkeit erweisen zu können.

Ich bin Ihnen sehr dankbar; aber es ist mir unmöglich, Ihre Freundlichkeit anzunehmen.

Nun denn, so lassen Sie mir die Uhr; aber unter einer Bedingung: daß Sie dieselbe jeder Zeit für denselben Preis von mir zurückkaufen dürfen. Ist es Ihnen recht?

Wenn die Uhr den Werth hat.

Darüber seien Sie ganz ruhig. – Es ist mir eine Ehre und eine Freude gewesen, sagte Herr Chaudefond, Wild unter verbindlichen Complimenten zur Thür begleitend.

Wild's Fahrt durch die Stadt dauerte mehrere Stunden; aber nur ein und das andere Mal, und immer nur auf wenige Minuten, ließ er den Wagen vor einem der schönen und eleganten Häuser halten, in welchen er sonst so viel verkehrte. Desto länger blieb er in ein paar Vorstadtstraßen, welche fast nur von kleinen Handwerkern, Arbeitern, ja hier und da von wirklichem Proletariat bewohnt waren, und die er für gewöhnlich nur in den späteren Nachmittagsstunden und zu Fuß besuchte. So erregte denn auch die übrigens sehr bescheidene Equipage jedesmal in diesen dunklen Quartieren eine gewisse Aufmerksamkeit; aber der Kutscher meinte, es müsse heute wohl noch etwas Besonderes sein, denn er war doch zuvor schon wiederholt mit Doctor Wild hier gewesen und hatte nie bemerkt, daß die Leute, wie sie es heute wiederholt thaten, aus den kleinen Häusern heraus kamen, um den Herrn Doctor bis an den Wagen zu geleiten. Ein bleiches Weib mit einem bleichen Kinde auf dem Arm weinte und schluchzte und wollte dem Herrn Doctor die Hände küssen, und küßte, als er es ihr wehrte, den Saum seines Rockes; und ein zweites Mal war es ein alter, blinder Mann mit schneeweißem Haar, der, als Wild herauskam, sich hinter ihm her an die Thür tastete, und als der Wagen weiter rollte, und der Kutscher über das Verdeck zurücksah, noch in der Thür stand, die Hände gefaltet, mit dem lichtlosen Auge nach oben blickend. Ein drittes Mal waren es ein Mann und eine Frau, die hinter dem Wagen her lachten und Grimassen machten und ein paar zerlumpten Nachbarn, die neugierig herzuliefen, Geld zu zeigen schienen, das sie soeben erhalten. – Denen geben Sie nichts wieder, Herr Doctor, erlaubte sich der Kutscher zu bemerken; und Wild erwiderte mit einem melancholischen Lächeln: es soll das letzte Mal gewesen sein.

Der Nachmittag war fast vergangen, als der Wagen über die schönen Promenaden und freien Plätze nach der innern Stadt rollte und vor einer Apotheke still hielt.

Wie steht es mit unserer Armencasse? fragte Wild.

Es ist in der letzten Zeit ein wenig scharf gegangen, Herr Doctor, wegen der vielen und hartnäckigen Fälle von Intermittens; aber wir haben noch immer einige Thaler.

Hier sind abermals hundert.

Aber weshalb denn so viel, Herr Doctor? ich erinnere Sie schon, wenn der Vorrath zu Ende geht.

Nehmen Sie immer; und was ich sagen wollte: geben Sie mir doch zwei Gran acidi hydrocyanici; ich brauche es freilich erst übermorgen für meine Vorlesung, aber ich könnte es vergessen.

Soll ich gleich die entsprechende Dosis liquor amonii caustici hinzufügen?

Ich danke; es ist nicht meine Absicht, mit dem Tode zu spielen.

In dem Moment, als Wild das Fläschchen mit der Blausäure zu sich steckte und nach seinem Hute greifen wollte, der auf dem Ladentische stand, taumelte er seitwärts und wäre zu Boden gestürzt, wenn der schnell zuspringende Apotheker mit Hilfe des ebenfalls herbei eilenden Provisors ihn nicht gehalten und nach einem für die harrenden Kunden bereit stehenden Sessel geführt hätte.

Um Himmelswillen, Herr Doctor, was haben Sie?

Nichts, das ist es eben; erwiederte Wild, mit blassen Lippen lächelnd; – zu mir genommen nämlich, seit heute Morgen, seit neun Uhr, glaube ich; und dabei bis zu diesem Moment in ununterbrochener Thätigkeit! Das scheint sich die Natur doch nicht gefallen lassen zu wollen. Geben Sie mir, ich bitte, ein Glas Rothwein und ein Stückchen Semmel!

Man hatte das Verlangte schnell herbeigeschafft. –

Wie wunderbar gut das ist, sagte er, während er den Wein langsam schlürfte und von dem Brode aß. Das ist mein Blut, oder wird es wenigstens, das ist mein Leib! – Wahrlich, es ist nur billig, wenn man an diesen einfachen Genuß der einfachsten Nahrung das große Wunder knüpfte. Es ist ja ein Wunder in sich selbst. Das mußte ihm an jenem Abend klar werden – am Abend vor der Nacht!

Er hatte es nur so gemurmelt, während er den letzten Tropfen aus dem Glase sog und die Krumen sorgfältig von dem Teller strich. Dann reichte er den beiden Herren die Hand; ich danke Ihnen, danke Ihnen recht herzlich!

Die sahen sich, als Wild hinausschritt, ein wenig verwundert an; die Wärme des Tones, in welchem Wild gedankt, stimmte nicht eigentlich zu dem geringfügigen Dienst.

Und: ich danke Ihnen herzlich, sagte Wild zu dem Kutscher, als er denselben wenige Minuten später vor seiner Wohnung entließ.

Ja, was heißt denn das? sagte der Kutscher, die Goldstücke in seiner Hand betrachtend, und dann die Thür, in die der Doctor eben gegangen war. Und er hat gar nicht gesagt, wann ich morgen kommen soll!

In der Wohnung hatte Johann seinen Herrn ungeduldig erwartet.

Es ist nun bereits zweimal ein junger Mensch hier gewesen, Herr Doctor, sagte Johann; ein recht impertinenter junger Mensch, der mit der Zunge anstieß und dickes, krauses, pechschwarzes Haar hatte und auch sonst nicht wie ein ehrlicher Christenmensch aussah. Und das zweite Mal war er so unverschämt mit seinem Gerede von: Sie müßten zu Haus sein, und das dritte Mal würde er einen Anderen schicken und was er sonst noch für Redensarten machte, wobei er immer den Hut auf dem schwarzen Kopfe behielt, trotzdem ich ihm sagte, daß in dem Vorzimmer von dem Herrn Doctor kein Mensch nicht den Hut aufhaben dürfe, als etwa der Herr Doctor selber; und da habe ich ihm denn den Hut etwas angetrieben, Herr Doctor, daß er ihm auf der langen Nase zu sitzen kam –

Ist nur Einer von – ich meine: ist nur Einer dagewesen?

Ich habe an dem Einen just genug gehabt, Herr Doctor.

Sonderbar, murmelte Wild; und sonst war Niemand hier?

Die Dame.

Welche Dame?

Die heute Morgen schon zweimal hier war; die keine Patientin ist, wissen Sie, Herr Doctor.

Wie sah sie aus?

So weit ganz reputirlich, Herr Doctor; wie eine richtige Dame, wenn sie auch keine solche Trara an sich hatte, wie die polnische Gräfin heute Morgen. Aber sie hatte so etwas Aengstliches und Wehleidiges im Gesicht, und wir haben diesen letzten Monat schon so viel an die Sorte verthan, Herr Doctor, und das sagte ich ihr auch; aber sie sagte: sie wolle Nichts von dem Herrn Doctor; sie habe nur etwas an den Herrn Doctor abzugeben, was sie aber nothwendig selber abgeben müsse. Na, das sind denn solche Fisematenten –

Es ist gut, sagte Wild.

Er hatte sich an seinen Arbeitstisch gesetzt und in einigen Rechnungen zu blättern begonnen, die Johann im Laufe des Tages hatte einfordern müssen: Rechnungen von kleinen Handwerksleuten, von der Wäscherin, – unbedeutende Posten, die Wild summirte, worauf er einen größeren Schein an Johann gab, der sogleich gehen sollte, die Rechnungen zu bezahlen.

Aber das ist ja viel mehr, als ich brauche, Herr Doctor!

Deine Auslagen sind ebenfalls dabei.

Auch dann, Herr Doctor, ich bekomme ja nur –

Es ist richtig so, geh' nur! und wenn ich mich verrechnet haben sollte, gehört Dir der Rest; und nun mach', daß Du endlich fortkommst.

Johann erwiederte Nichts. Es war ja offenbar, daß der Herr sich verrechnet hatte; aber er sah so eigen aus; es war ihm sicher etwas sehr Schlimmes passirt: ein Patient gestorben, den er durchzubringen gehofft, wie neulich, wo er ein paar Tage wie tiefsinnig gewesen war, – oder etwas der Art. Man kann jetzt doch nicht mit ihm sprechen, dachte Johann; Du willst ihn nur in Ruhe lassen; beim Auskehren findet es sich wohl. – Wer schellt denn da schon wieder? Sind Sie zu Hause, Herr Doctor?

Auf keinen Fall für die Dame, rief Wild; auf keinen Fall!

Er hatte seinen Sessel heftig zurückgestoßen und ging im Zimmer unruhig auf und nieder, nach dem Vorzimmer lauschend, von wo jetzt Johann's Stimme sich vernehmen ließ in heftigstem Wortwechsel mit einer anderen Stimme – einer männlichen! Gott sei Dank! Ich will ihm nur zu Hilfe kommen; die Farce muß doch ihren Abschluß haben. Johann laß den Mann los.

Der ist ja noch viel impertinenter, rief Johann, indem er fortfuhr, das Individuum, welches er am Kragen gepackt hielt, derb zu schütteln.

Es ist nun so seine Natur, sagte Wild; noch einmal: laß ihn los! Wollen Sie hereinkommen! Du kannst gehen, Johann.

Herr Weikert raffte seinen Hut vom Boden auf und folgte Wild in das Zimmer.

Sie halten sich eine schone Sorte Bedienten, Herr Doctor! Der Mensch –

Hat die natürliche Aversion eines ehrlichen Mannes gegen einen Schurken. Was führt Sie zu mir?

Johann, der, Kampfeslust in jedem Zuge seines breiten Gesichts, noch einmal hineingeblickt hatte, schloß auf einen entschiedenen Wink seines Herrn ärgerlich die Thür; Wild wandte sich wieder zu dem Notar, der, bleichen Antlitzes, vor Furcht und Wuth am ganzen Leibe bebend, da stand und jetzt aus seiner Brieftasche eine Anzahl Papierstreifen producirte:

Ich habe die Ehre, Herr Doctor, Ihnen im Auftrage des Herrn Banquier Goldheimer Sohn –

Herrn Weikerts widerliche Augen, die bis jetzt scheu seitwärts oder auf den Boden geblickt hatten, hoben sich hier mit einem frechschadenfrohen Zwinkern, senkten sich aber alsbald wieder, nachdem sie kaum das vornehm ruhige Antlitz gestreift hatten.

Goldheimer Sohn, wiederholte er, in den Papieren blätternd, und seine Stimme zu geschäftsmäßiger Monotonie zwingend, für 6320 Thaler Wechsel in zehn Appoints zu präsentiren, welche sämmtlich heute fällig sind. Der Kassenbote der Firma ist im Laufe des Nachmittags bereits zweimal hier gewesen; aber weder waren Sie zu Hause, noch war für Deckung gesorgt. Ich habe daher den Auftrag, Ihnen die Wechsel zur Zahlung vorzulegen, bringe auch eine Vollmacht –

Sparen Sie sich den Rest Ihrer Litanei!

Ich verstehe. So erhebe ich denn Namens der Firma Goldheimer Sohn wegen der Wechsel – Sie verzichten auf nochmalige detaillirte Angabe? – Protest.

Und nun –?

Und nun, sagte Herr Weikert, habe ich hier von derselben Firma noch einen Wechsel neueren, ich möchte sagen: neuesten Datums – einen Sichtwechsel, Herr Doctor –

Der Notar blickte wiederum auf und wiederum vergebens: die vornehme Ruhe auf dem Antlitze des Mannes ihm gegenüber wurde auch nicht durch den leisesten Schatten von Bestürzung, Schmerz, Zorn – irgend einer Leidenschaft, ja nur einer Regung getrübt. Er mußte sich damit begnügen, die gesetzliche Formel noch einmal herzuleiern; ja, er hätte schließlich sehr gewünscht, daß Wild ihn wieder unterbrochen hätte. Wild that es nicht; er stand da, die Arme über der breiten Brust verschränkt, ohne sich zu regen, ohne, wie es Herrn Weikert schien, auch nur mit der Wimper zu zucken; und so sah ihn Herr Weikert noch stehen, als er sich eine Minute später mit einer Höflichkeit, die ironisch sein sollte, empfohlen hatte, und sich dann eilig hinausdrückte.

Und Herr Weikert hörte auch nichts, während er jetzt im Vorzimmer vor dem großen Spiegel seine etwas derangirte Toilette wieder in Ordnung brachte: keinen Wuthschrei, kein Stöhnen –Nichts; auch nicht, als er, um noch ein wenig länger lauschen zu können, die Saalthür mit großem Geräusch aufmachte und schloß, aber drinnen stehen blieb: Nichts, gar nichts! Ordentlich unheimlich still war's, und Herr Weikert mußte sehr behutsam zu Werke gehen, indem er nun die Thür zum zweiten Male öffnete und – den groben Bedienten, der übrigens nirgend zu erblicken war, ein wenig zu ärgern – bei'm Hinausgehen, so weit er nur konnte, hinter sich offen ließ.



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