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II.

Zur selben Stunde, in der Herr Thomas Kempe sein Haus in Oschatz verließ, waren in der Wohnung des Banquier Goldheimer in Leipzig zwei Diener beschäftigt, die bereits brennenden Lampen auf den Tischen und Kaminsimsen zu vertheilen und die Kerzen auf Kronleuchtern und Kandelabern anzuzünden. Die Leute thaten ihren Dienst, während sie so von Zimmer zu Zimmer schritten, methodisch ruhig, kaum daß sie gelegentlich einmal ein paar leise Worte mit einander wechselten; und Fräulein Mielchen, die Wirthschafterin, die hinter ihnen her sich zu überzeugen hatte, daß Alles in Ordnung sei, fand durchaus nichts mehr zu thun; und wenn sie dennoch hier einen Fauteuil ein wenig vor und dort einen anderen eben so weit zurück schob, hier mit der Handfläche über die Sammetdecke eines Tisches strich, dort ein Sophakissen anders legte, so war es nur, um – wie Jean zu Franz sagte – sich vor der Gnädigen aufzuspielen, die eben aus ihrer Garderobe in den rothen Salon getreten war und ihnen durch die lange Flucht der Zimmer entgegen kam.

Sind Sie fertig, Riekchen? fragte Frau Goldheimer.

Fix und fertig, gnädige Frau. Erlauben, gnädige Frau – nur einen Augenblick!

Fräulein Riekchen hatte sich hinter die Gnädige gestellt und an einem diamantbesetzten Sammetbandeau, das die Dame in ihrem schwarzen Haar trug, zu nesteln angefangen, während Franz den Jean, wie sie jetzt hinter der Gruppe vorübergingen, anlächelte und mit dem Ellenbogen in die Seite stieß.

Ist Mathilde wieder einmal ungeschickt gewesen? fragte Frau Golzheimer.

Nicht mehr als gewöhnlich, gnädige Frau. So!

Wie weit ist Melanie?

Das gnädige Fräulein wird gleich fertig sein.

Ist der Herr noch nicht wieder zurück?

Der Wagen ist vor wenigen Minuten in den Hof gefahren; ja, da hält er noch. Der Herr ist jedenfalls in seinem Bureau. Hören Sie?

Die Dame legte ihr Ohr an das Mundstück des Sprachrohres, das aus dem Bureau ihres Gemahls in ihr Boudoir führte.

Bist du allein, Lucia?

Ja, lieber Guido, weshalb?

Ich möchte Dich gern auf ein paar Augenblicke sprechen.

Bitte, liebes Riekchen, Sie sehen wohl einmal nach Melanie.

Die Haushälterin war sofort verschwunden. Was mag er wollen? fragte sich Frau Goldheimer, indem sie sich in einen der Fauteuils, die um den Kamin standen, sinken ließ und abwechselnd ihre beiden kleinen beringten weißen Hände betrachtete; er war heute Mittag sehr verstimmt; diese Männer sind so entsetzlich launenhaft und wir armen Frauen – ah! da bist Du ja, lieber Guido!

Durch die niedrige Tapetenthür neben dem Kamin war die schmale Gestalt ihres Gatten rasch hereingeschlüpft und hatte auf einem Fauteuil neben ihr Platz genommen. Sein Gesicht hatte nicht mehr den verdrießlichen Ausdruck von heute Mittag, als er es jetzt zu ihr wandte, nachdem er sich vor dem lodernden Feuer die Hände gerieben.

Du bist noch einmal ausgewesen?

Es ist so ungeheuer viel im Geschäft zu thun; morgen Ultimo; die Zeichnungen für die neuen Emissionen der Charkow-Asow und South-Eastern und eines halben Dutzend anderer Bahnen, die bei mir und Silbermann ausliegen, werden morgen Mittag geschlossen; natürlich lächerlich überzeichnet; mußte nothwendig mit Silbermann sprechen, und da sie für heute Abend hatten absagen lassen – aber wie geschmackvoll Du wieder toilettirt bist, geschmackvoll und einfach; gerade wie ich es wünsche – der Silbermann wegen, der ich gesagt habe, daß es durchaus keine große Gesellschaft sei, daß wir ganz unter uns sein werden – ein bischen Musik, eine Polka vielleicht für das junge Volk und damit basta –

Sie werden nun doch kommen?

Ich habe gesagt, daß Du in Verzweiflung seiest, daß Melanie in Verzweiflung sei –

Aber Guido!

Herr Goldheimer drehte den Kopf mit schneller Wendung nach dem nächsten Zimmer; es war nur einer der Diener; er rückte den Fauteuil ein wenig näher und sagte mit leisem, nachdrücklichen Ton:

In Verzweiflung, Lucia; und Du wirst mir den Gefallen thun, wenn Silbermann's kommen, dies oder etwas der Art zu sagen – Du und auch Melanie.

Aber wir sind gar nicht in Verzweiflung! au contraire!

Es scheint so; aber ich habe meine Gründe –

Natürlich! die hast Du immer; sagte die Dame, die runden Schultern zuckend.

Natürlich immer! erwiederte Herr Goldheimer; oder doch meistens, und ganz gewiß in diesem Falle, und das Beste ist, daß Du diese Gründe vollkommen so gut kennst, wie ich. Mit einem Worte, Lucia, so geht es nicht länger. Silbermann's sind mit ihrer Geduld zu Ende und ihre Absage heute war, wie ich sofort herausgefühlt, eine Demonstration. Melanie hat Eugen gestern zu schlecht behandelt; er läßt sich ziemlich viel gefallen – der gute Eugen – aber Silbermann selbst hat erklärt, nun sei es genug. Ich habe das nicht von ihm – er war bis an den Hals zugeknöpft; auch nicht von Eugen, der sich nicht sehen ließ; sondern von ihr, von der Silbermann, bei der ich mich halb und halb eingedrängt habe, denn sie wollte mich zuerst nicht einmal annehmen. Sie ist eine kluge und gute Frau, mit der man sich, wenn man will, leicht verständigt; und nun wolle Du auch, und sei auch klug und gut – was Dir ja nicht schwer fällt – und wir können noch morgen im Reinen sein.

Aber Melanie liebt doch nun einmal den Doctor; sagte Frau Goldheimer, sich mit halb geschlossenen Augen in den Fauteuil zurücklehnend; und er ist auch wirklich ganz charmant, und Du selbst zeichnest ihn ja auf jede Weise aus, und seitdem er Dich behandelt, bist Du erst eigentlich wieder gesund; ich möchte behaupten, zum ersten Mal seit zehn Jahren.

Und dafür hat er sein sehr anständiges Honorar bekommen, und was Du sonst da sagst, das sind Alles Phrasen, liebes Kind, von denen ich Nichts mehr hören will. Ich will nicht, daß Melanie sich einer romantischen Affection willen, mit der sie übermorgen fertig sein kann, für ihr Leben unglücklich macht; will nicht, daß sie diesen hergelaufenen Doctor, diesen Sohn eines verhungerten Dorfschullehrers, der selbst nichts viel Besseres als ein Dorfschullehrer gewesen ist und auch verhungert wäre, wenn sich seine Verwandten, oder was sie sind, in Dingsda, in Oschatz –

Aber woher weißt Du das Alles? fragte Frau Goldheimer, sich mit einer gewissen Lebhaftigkeit in die Höhe richtend.

Von unserem alten Kreppelmann, der auch wohl früher den Mund hätte aufmachen sollen; und freilich hätte ich selbst – aber wer kann denn immer an Alles denken, Alles combiniren? und von Euch hört man ja nichts, erfährt man ja nichts, obgleich der Doctor doch jedenfalls wiederholt in den stundenlangen Conversationen, die Ihr mit ihm habt, auf seine Vergangenheit zu sprechen gekommen sein muß. Genug: er – ich meine der alte Kreppelmann – war heute Morgen zufällig in meinem Cabinet, als Wild herein kam; ich sah mit dem ersten Blick, daß sie sich kannten, und wie sollten sie auch nicht, da Beide aus demselben Nest sind; und mit dem zweiten Blick sah ich, daß keinem von ihnen die Begegnung angenehm war, wenn der Doctor auch, was er wohl nun nicht mehr vermeiden konnte, dem Alten die Hand gab, und fragte, wie es ihm gehe. Ich kenne ihn schon länger, sagte mein Herr Doctor, als der Alte gegangen war und sprach dann von was Anderem; und als er gegangen, ließ ich mir den Alten rufen und –

Ich bin unendlich neugierig.

Gewiß nicht mehr als ich; aber wer kann den alten Schweiger zum Reden bringen! Ich wundere mich schon, daß er nur so viel gesagt hat. Er weiß sicher mehr, er muß mehr wissen, denn er war es, dessen Empfehlung mir das Depot des Martina Lebrecht'schen Nachlasses verschaffte – achtzehnhundertneunundvierzig, – wo ich das Geld nebenbei recht gut brauchen konnte. Wie die Sache zusammenhing, weiß ich nicht mehr genau. Ich erinnere mich nur noch, daß ich den alten Revolutionsnarren nach Dresden geschickt hatte – während der Maitage – und daß er der braven Fleischerswittwe, deren Vetter er, meine ich, war, bei der Abfassung ihres Testaments – sie starb in den Tagen – geholfen hatte. Zu den Erben gehörte auch die Tochter von dem Krämer – wie heißt er doch? Kempe, richtig; Thomas Kempe in Dingsda, in Oschatz, die ihren Antheil noch immer bei mir stehen hat, während die Andern ihren Part vor zwei Jahren zurückzogen, als, nach der Bestimmung des Testaments, die Legate frei wurden. Und der Thomas Kempe war es wieder, der, als der Mensch vor drei Jahren hier auftauchte, ihn bei mir accreditirte – wovon der Herr Doctor nebenbei bis jetzt keinen Gebrauch gemacht hat. – Das Alles kam zur Sprache: und ich hatte – wie gesagt – durchaus die Empfindung, daß der Alte, wenn er wollte, zwar noch ein gutes Theil mehr von Eurem Freunde wüßte, und erzählen könnte, aber ganz gewiß nichts Gutes. Und einen solchen verdächtigen, widerwärtigen, unheimlichen Menschen soll ich zu meinem Schwiegersohn machen, der mich hernach zum Dank dafür, daß ich ihn in Gold fasse, wo möglich noch über die Achsel ansieht mit seinen hochmüthigen Christenaugen – soll unsere Melanie etwa auch Christin werden? – ihren Vater, ihre Mutter auch über die Achsel ansehen?

Herr Goldheimer war aufgesprungen und ging mit raschen schleppenden Schritten in dem kleinen Teppichgemache hin und her. Das fahle Grau seines bartlosen Gesichts sah in dem gedämpften Lichte der Ampel noch dunkler aus als sonst, und aus dem dunklen Gesichte blitzten unter den buschigen Brauen die schwarzen Augen. Frau Goldheimer fühlte sich in unbequemer Weise im Bann dieser blitzenden Augen und sie athmete erleichtert auf, als jetzt in dem Saale nebenan ein Schritt sich vernehmen ließ, und warf dann wieder einen erschrockenen Blick auf ihren Gemahl, als sie den festen und doch raschen Schritt erkannte.

Guten Abend, lieber Doctor! rief Herr Goldheimer, dem hochgewachsenen Manne, der jetzt in der Portierenthüre stand, rasch entgegen tretend und mit großer Cordialität die Hand reichend; wie beschämen Sie mich, Sie Vielumworbener! Da sind Sie schon in Toilette, während ich noch in meinem Arbeitscostüme stecke.

Ich komme früh, sagte Doctor Wild, seine hohe Gestalt beugend, um der Dame im Fauteuil die lächelnd dargebotene Hand zu küssen; zu früh, aber ich mußte doch mein den Damen allerdings ein wenig leichtsinnig gegebenes Wort einlösen und über den kleinen Scherz für heute Abend, dessen Arrangement sie die Gnade hatten –

Das ist ja prächtig! rief Herr Goldheimer, sich die Hände reibend; ich dachte schon – aber wie bringen Sie das nur Alles fertig, Sie Tausendkünstler: Praxis, Dociren, grausam gelehrte Bücher schreiben, Gesellschaftsscherze arrangiren – der reine Graf von Saint-Germain, mit Extrapost in derselben Minute zu vier Thoren hinaus! Nun, ich will nicht stören; überdies muß ich machen, daß ich in den Frack komme. A revoir, à revoir!

Und Herr Goldheimer verschwand lachend und mit der Hand winkend durch eine zweite Tapetenthür, welche zu den ehelichen Schlaf- und Garderobezimmern führte.

Nun geschwind, geschwind, was bringen Sie? was haben Sie, lieber Freund? rief Frau Goldheimer. Etwas recht Hübsches, recht Geistreiches? Aber wie kann es anders sein, wenn es von Ihnen kommt!

Wo ist Fräulein Melanie? fragte Wild, nach dem Saale schauend; ich möchte gern –

In den großen, strengen, blauen Augen leuchtete es, aber er veränderte seine Stellung nicht, bis die leichte Mädchengestalt, deren Kleid er hatte rauschen hören, dicht vor ihm stand und ihm beide Hände entgegen streckte.

Guten Abend, lieber Freund; Sie sehen mich so starr an; gefalle ich Ihnen nicht?

Er hielt noch immer ihre kleinen Hände fest; seine leuchtenden blauen Augen ruhten auf ihr mit einem großen zärtlichen Blicke, dem sie es ansah, daß er ihre ganze Erscheinung umfaßte, wie der goldene Rahmen des großen Spiegels in ihrer Garderobe. Ein dankbarer Aufschlag der glänzenden grauen Augen; dann senkten sich die langen dunklen Wimpern und ein reizend kokettes Lächeln spielte auf den zarten Wangen, um den holden kleinen Mund.

Aber – Kinder, hätte ich beinahe gesagt! rief Frau Goldheimer.

Sie haben es gesagt! erwiderte Wild, die Hände der Tochter frei gebend und sich mit Lebhaftigkeit zur Mutter wendend.

Nun ja, seid Ihr es denn nicht! sagte Frau Goldheimer ausweichend; da verbringt Ihr die kostbare Zeit mit Complimenten, und wir haben keine Minute zu verlieren, wenn wir noch hören wollen, was unser Freund für heute Abend ersonnen hat. Er that gestern so geheimnißvoll; ich bin überzeugt, daß es etwas ganz Besonderes ist.

Und das ist es auch, sagte der Doctor, für Melanie einen Stuhl heranziehend und selbst Platz nehmend; eine Improvisation, von der ich – wäre es sonst eine? werden Sie sagen, Fräulein Melanie – vor einer Stunde, ich schwöre es, noch keine Ahnung hatte; eine ellenlange Reihe lebender Bilder, zu denen ich, während ich mich ankleidete, meinem Schreiber, der zufällig kam, den Text in die Feder dictirt habe. Es ist natürlich auch darnach; gräuliche Knittelverse, in diesem Genre:

Er hatte ein paar Blätter aus der Tasche genommen und las:

 

Unvorbereitet wie ich bin,
Tret' ich vor diesen Vorhang hin –

 

Und so weiter, und so weiter. Introduktion, Präludium; nun das Thema:

 

Sie wissen, schon so mancher Weise
Verglich das Leben einer Reise –
Wie wunderschön ist der Vergleich,
An allerneusten Punkten reich!
Zum Beispiel: Besser, als allein,
Lebt sich's und reis't es sich zu Zwei'n;
Auch weiß man dies in aller Welt:
Zu beiden Dingen braucht man Geld;
Und was denn sonst ein geistreich' Mann
Von beiden Alles sagen kann!
Wie nur gedeiht, wer sich nicht ziert,
Und der nur gut fährt, der gut schmiert.
Ja, fahren! hier ist der Vergleich
Noch ganz besonders bilderreich;
Sich sträuben wäre ganz vergebens –
Es wird zu einem Bild des Lebens –
Und wie man da zu jeder Frist
Auf Fuhrwerk angewiesen ist,
Auf Fahren, Fahrgelegenheit
Zur Winters- und zur Sommerszeit –
In der Jugend und im Alter gar,
Mit braunem und mit weißem Haar –
Das sollt Ihr, liebe Herrn und Frauen,
In unserm Rahmen jetzo schauen.

 

Allerliebst, allerliebst, rief Melanie, in die Hände klatschend. Ich sehe schon Alles! Zuerst einen Kinderwagen! nicht?

Gewiß! sagte Doctor Wild mit einem Lächeln, das seine ernsten Züge sonderbar verschönte:

 

Zuerst, wem sollt' es nicht behagen?
Ein korbgeflocht'ner Kinderwagen,
Darin ein rosenwangig Kind.
Es läuft noch nicht: doch ganz geschwind
Gelaufen kommt der derbe Bube,
Entwachsen fast der Kinderstube,
Und jedenfalls der Kindermagd.
Sie weiß das selbst, und ganz verzagt
Lehnt sie sich an den Braven hier,
Des Königs treuen Musketier.
Passanten gehen ab und zu,
Es ist ein Bild voll sel'ger Ruh,
Ein sinnig' Blatt von Ludwig Richter,
Des Menschenfrühlings zartem Dichter.

 

Reizend, reizend! rief Melanie, deren glänzende Augen unverwandt an dem Vorleser hingen; weiter, Lieber! weiter! Es sind Nachbarskinder, nicht wahr? und er liebt sie?

Er liebt sie: sagte Doctor Wild lächelnd; wie sollte er nicht! denn:

 

Indeß verschleißt das Flügelkleid,
Indeß vergeht die Jugendzeit.
Der derbe Junge wächst heran,
Man sieht im Jungen schon den Mann;
Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht,
Den braven Friedel kümmert's nicht;
Besonders wenn des Nachbars Käthchen,
Ein wunderliebes kleines Mädchen,
Sich allergnädigst ließ erbitten,
Zu fahren hier in seinem Schlitten –

 

Und so weiter, meine Damen; wir bekommen nun noch einen Leiterwagen mit jungem Volke auf einer verregneten Landpartie; dann die Hochzeitskutsche; und dann natürlich:

 

– steh'n sie keck
Auf eines Dampfers schmuckem Deck;
Und fahren stolz, im Sonnenschein,
Hinauf den alten grünen Rhein.
Und lieblich lacht der jungen Frau
Wie Berg und Burg, so Wald und Au;
Und Berge, Burgen, Wald und Au
Sieht er im Aug' der jungen Frau –

 

Frei nach Heine, meine Damen; aber dafür ist es eine Improvisation; wir improvisiren nun noch das Interieur eines Eisenbahnwaggons mit der Familie auf einer Reise nach Ischl oder Baden-Baden; einen offenen Landauer auf dem Corso, im Fond das Elternpaar, gegenüber die erwachsenen Töchter, daneben einige Courmacher auf stolzen Rossen; schließlich sehen wir die Promenade des ersten Bildes, nur daß jetzt nicht sie, sondern er fährt, ein weißhaariger alter Mann in einem eleganten Rollstuhl, den ein Diener schiebt:

 

Die alte Dame geht daneben,
Sie sprechen von ihrer Jugend eben,
Und ob der graue Invalide,
Der dort, das Haupt gebückt, und müde,
So unermüdlich dreht die Leier
Um ein paar hingeworfne Dreier –
Ob's wohl derselbe Musketier,
Der einst in seiner Jugend Zier,
Auf dieser selben Stelle eben
Dem Mädchen einen Kuß gegeben.
Und dabei neigt die Dame sich,
Und küßt den Alten inniglich,
Denn Leidenschaft flieht und Liebe bleibt,
Drum sehe Jeder, wie er's treibt,
Und dies nun, lieber Publikus,
Ist uns'rer Künste würd'ger Schluß.

 

Der Doctor faltete die Blätter.

Mein Gott, wie hübsch das wieder ist; sagte Frau Goldheimer. Sie haben mich wahrhaftig ordentlich gerührt; geben Sie mir Ihre Hand, Sie wunderbarer Mann! Aber wie wollen Sie das nur Alles in Scene setzen? ich habe davon keine Ahnung; dazu gehören ja unzählige Requisiten.

Gar keine, erwiderte Wild, die dargebotene Hand ehrfurchtsvoll an seine Lippen drückend; absolut gar keine! Der Humor von der Sache ist, daß Alles, so zu sagen, vor den Augen unseres Publikums geschieht. Wir haben neulich großen Ruhm mit unseren lebenden Bildern geerntet; unsre Lorelei, unser Haideröslein, unsere Leonoren, unser Gretchen – das war Alles ganz prachtvoll; aber auch der Aufwand! und die Vorbereitung! sagten die Mißgünstigen. Sie sollen es diesmal nicht sagen dürfen; wir wollen ihnen zeigen, daß nicht unser ganzer Reichthum in kostbaren Gewändern besteht; nicht wahr, Fräulein Melanie?

Melanie hob die langen Wimpern.

Unser Reichthum! sagte sie. Was können wir thun, als dankbar die Brosamen auflesen, die von Ihrem Tische fallen; die Sie mit leichter, übermüthiger Hand von Ihrem Tische streifen.

Das klingt fast wie ein Vorwurf, Fräulein Melanie.

Kinder – jetzt muß ich Euch wirklich Kinder nennen, rief Frau Goldheimer, aber bedenkt Ihr denn gar nicht, daß trotz aller Improvisation so Manches doch ganz entschieden vorher bedacht sein will! Wen nehmen wir zu den Darstellern?

Zu den Nebenpersonen unser junges Volk, erwiederte Wild, und aus der Gesellschaft heraus. Dann der Vorhang wieder auf, – das wird das rechte Leben geben. Den die Bilder einleitenden und manchmal auch begleitenden Text wird unser theatralischer Freund – er ist heute nur im ersten Stücke beschäftigt – vortrefflich zur Geltung bringen. Und was die Helden betrifft, die natürlich von Anfang bis zu Ende durch alle Metamorphosen dieselben bleiben müssen – ich denke, Fräulein Melanie, wenn ich Sie so recht bitte –

Ich will gewiß mein Bestes thun –

So ist der Tag – ich meine: der Abend unser, denn: »Leicht ist's, folgen dem Wagen, den Fortuna führt,« singt Goethe, und mir ist gar nicht bange, daß Lieutenant Herbert es allerwenigstens zu zu einem succès d'estime bringen wird.

Er ist so grenzenlos unbedeutend, sagte Melanie.

Aber anstellig, gewandt, und der Puder wird in seinen krausen, braunen Haaren vortrefflich haften.

Und Sie – Sie selbst?

Ich? Fräulein Melanie; lieber Himmel! ich werde ein wenig überall sein; auf der Bühne, vor der Bühne, am Flügel, eine Pause auszufüllen, die hoffentlich nicht eintritt, enfin: als Knecht Ruprecht mich möglichst nützlich zu machen suchen – eine bescheidene Rolle, die doch aber auch gespielt sein will.

Melanie antwortete mit einem zerstreuten Lächeln; sie dachte an ihre eigene Rolle, ob sich wohl etwas daraus machen ließe; der Glanzpunkt würde ohne Zweifel das Bild auf dem Deck des Rheindampfers sein: die junge Frau am Arme des jungen Gatten – Sie hatte sich schon wiederholt in dieser Situation gesehen – in perlgrauem Reisekleide – etwas heller als das Grau ihrer Augen – grauem Strohhute mit grauseidenem Schleier – immer so nüancirt, daß ihre Augen das Dunkelste blieben. Den jungen Gatten an ihrer Seite hatte sie nicht eben so deutlich gesehen; er hatte die Züge bald dieses, bald jenes ihrer Anbeter gehabt, und so war es auch in diesem Momente: es war nicht ganz der anmuthig bewegliche Lieutenant Herbert, es war auch nicht ganz der stattliche Mann da an der andern Ecke des Kamins; und auf einmal war es ganz und gar und so deutlich, daß sie fast erschrak und in demselben Momente beinahe wieder gelacht hätte: die kleine schwärzliche Gestalt Eugen Silbermann's mit den Handschuhen in ihrer Lieblingsfarbe, die er aus Huldigung für sie beständig trug, und mit dem beständigen Kneifer, dessen glitzernde Gläser beständig auf sie gerichtet waren.

Sie sind nachdenklich, Fräulein Melanie? Gefällt Ihnen meine Idee nicht, bitte, sagen Sie es offen. Für mich ist dieselbe absolut werthlos, wenn Sie sich nicht von der Ausführung, die wir ja nun der reizendsten unserer Feen anvertraut haben, ein wenig Amüsement versprechen.

Aber Lieber, Lieber; wie können Sie nur so schlecht sein! ich bin überzeugt, daß nicht nur ich – daß wir uns Alle köstlich amüsiren werden! nicht wahr, Mama?

O gewiß, gewiß! sagte Frau Goldheimer, deren Blicke während der letzten Minute starr an der schönen Tochter gehangen hatten; gewiß, ohne Zweifel; nur – darf ich ganz offen sein, lieber Freund? Herbert – er ist ja ein so netter, harmloser Mensch, aber die Herren Offiziere – über dergleichen wird dann im Casino, auf der Parade, in den Gesellschaften gesprochen –

Worüber wird gesprochen, welchen man fragen darf? fragte Herr Goldheimer, mit der unbefangensten Miene aus der Tapetenthür tretend, hinter welcher er den letzten Theil der Unterhaltung Wort für Wort gehört hatte.

We want a hero, erwiederte der Doctor lächelnd, nur daß der Held bei Leibe kein Held sein darf.

Für einen entzückenden kleinen Scherz, den sich unser Freund ausgedacht hat; sagte Frau Goldheimer.

Ich verstehe, erwiederte der Banquier; ich verstehe. So nehmt doch Eugen Silbermann, – den hat noch im Leben Niemand für einen Helden gehalten.

Ein blitzschneller Blick aus Wild's mächtigen Augen flog von der Tochter zur Mutter, von der Mutter zur Tochter. Beide hatten die Wimpern gesenkt: auf den Wangen der Mutter lag ein lebhafteres Roth; Melanie's zartes Gesicht war vielleicht um einen Schatten blasser geworden.

Außer etwa er sich selbst; sagte er mit einem kaum merklichen Anfluge von Hohn, während sein Blick auf Melanie haften blieb.

Natürlich er sich selbst; erwiederte Herr Goldheimer, eine Vase auf dem Kaminsims zurechtrückend; wer in Wirklichkeit kein Held ist, muß schon bei der Einbildung eine kleine Anleihe machen. Da wären wir also d'accord und aus der Verlegenheit – ich für mein Theil aus einer doppelten. Die Sache ist – vor unserem Freunde brauche ich ja kein Geheimniß daraus zu machen – daß ich Silbermann wegen einer unbedeutenden geschäftlichen Mißhelligkeit, deren Schuld nicht ganz auf seiner Seite ist, eine kleine Genugthuung – wenn ich mich so ausdrücken darf – schuldig bin. Und wie Silbermann's – er und sie – nun einmal sind, würde dies eine für sie sein. Wollt Ihr mir also einen Gefallen thun –

Im Saale nebenan rauschten Damenkleider und knarrten ein paar Männerstiefel. Im nächsten Augenblicke war der kleine Salon, zehn Minuten später auch der Saal gefüllt, und nach abermals zehn Minuten schwärmte die ganze Flucht der für den Abend geöffneten Räume von einer eben so zahlreichen, wie glänzenden Gesellschaft.

Die Conversation war heute noch ganz besonders lebhaft. Der morgende Ultimo versprach sehr interessant zu werden, und aus Berlin waren Nachrichten angekommen, deren Tragweite, wenn sie sich bestätigen sollten, unberechenbar groß schien. Durch die ernsten Gruppen der Finanzmänner, hoher Civilbeamter und älterer Offiziere, die so gewichtige Dinge eingehend behandelten, schwärmte eine muntere, ja ausgelassene Jugend. Offenbar war etwas im Werke, das sehr geheim gehalten wurde, obgleich Jeder in das Geheimniß eingeweiht schien, und selbst von den älteren Damen und Herren mehrere hinter den Falten der grünseidenen Gardine verschwanden, mit welcher man eine der sehr breiten Saalthüren, die auf den Corridor gingen, bedeckt hatte. Indessen stellte man die Geduld der übrigen, nicht eingeweihten Gesellschaft, die sich, – wie zufällig fast – aus den übrigen Räumen nach dem Saal gezogen, keineswegs auf eine harte Probe; denn schon nach wenigen Minuten trat der Prologus auf – ein sehr beliebter, dem Hause befreundeter Komiker – dem man gern glaubte, daß er »unvorbereitet« sei, als er mit pathetischer Geberde auf seine Lackstiefel und dann auf den Lorbeerkranz aus grünem Papier deutete, mit welchem man seine kahle Stirn bedeckt hatte.

Und die Gesellschaft kam aus der heiteren Laune, die der drollige Mann zu erwecken verstanden, nicht mehr heraus; ja man glaubte selbst mitzuspielen, weil die Darsteller der Phantasie der Zuschauer so gut wie Alles überließen. Ein Stuhl war ein Kinderwägelchen und im nächsten Augenblick ein Pferd; zwei Reihen Stühle, so gestellt, mußte man für einen Leiterwagen nehmen, und wenn sie so standen, konnte man in ihnen nur die zwei Sitze eines Eisenbahnwaggons sehen. Zusammengedrückte Bogen weißen Papiers galten als Schneeballen; Schlummerwalzen wurden zu Babies, ein Stück Ofenröhre, irgend wo her aus der Küchenregion, zum Schlot eines Dampfers. Bei einigen Bildern wurde so herzlich und so laut gelacht, daß der Komiker seine Vorlesung unterbrechen mußte; und dennoch, als der grünseidene Vorhang zum letzten Male zusammenrauschte – über dem Paar, das man auf seiner Lebensreise begleitet vom ersten rosigen Jugendmorgentraum bis zum letzten Abendschimmer – und die Stimme des Vorlesers, welche von einer gehaltenen Rührung zu beben schien, verklungen war – da war es still geworden in dem nur eben noch so lautem Saale, ganz still – und dann ergoß sich eine lärmende Fluth von Complimenten über die Darsteller, welche sich nun wieder in die Gesellschaft mischten. Sie hatten Alle ihre Sache allerliebst gemacht; aber die Perle gebührte natürlich Fräulein Melanie! Welch rührendes Baby war sie gewesen! und welch reizender Backfisch mit den prachtvollen, langen, dunklen Zöpfen! Wie schön hatte sie unter der Myrthenkrone im wallenden Brautschleier ausgesehen, und die junge Frau – das war nun gar entzückend! Freilich, wenn man sich die Scene in Wirklichkeit übersetzt dachte – er sah doch recht unbedeutend neben ihr aus, der gute Engen. – Der Mann seiner Frau? wie? – Er hat dazu eine ausgesprochene Anlage; aber dieser Fall – scheint hoffnungslos? Der Doctor, glauben Sie? – Nun natürlich!

So sprach man in der Gesellschaft; und auch ein Uneingeweihter würde bald herausgefunden haben, es müsse zwischen dem stattlichen Mann und dem schönen Mädchen eine intimere Beziehung walten. Während man ihn, als den Autor und Arrangeur, mit Complimenten überschüttete, die er bescheiden von sich auf Melanie abzulenken suchte, und Melanie wieder versicherte, daß alles Verdienst Doctor Wild zukomme, daß jedes Lob ihm und nur ihm gebühre, und sie so, von der Gesellschaft umringt, für den Augenblick wirklich das Interesse ausschließlich auf sich concentrirten, konnte man sie recht wohl für ein Brautpaar halten, dessen eben verkündete Verlobung von den versammelten Freunden jubelnd begrüßt wird.

Und so sagte auch der kleine, schwärzliche Herr, der mit dem Wirth etwas abseits von den Uebrigen in der Thür des rothen Salons stand, und fügte dann im Tone bitterster Ironie hinzu:

Uebrigens danke ich Ihnen, daß Sie sich die Mühe gegeben haben, uns noch persönlich zu diesem kleinen Familienfeste zu citiren.

Sie thun mir Unrecht, lieber Silbermann, sagte Herr Goldheimer eifrig; was kann ich, was konnten wir mehr thun, als Eugen die Hauptrolle zutheilen!

Die Hauptrolle? schöne Hauptrolle! entgegnete der Andere. Wer steht jetzt an der Seite Ihres Fräulein Tochter? wer spricht jetzt mit Ihrem Fräulein Tochter? Wann ist denn die Verlobung? Sie compromittiren ja das Mädchen, wenn das noch lange dauert.

Herr Silbermann wollte sich wegwenden; Herr Goldheimer, der bei den letzten Worten blaß geworden war, legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie wollen nicht fort? sagte er.

Allerdings will ich das: warum?

Lieber Silbermann, glauben Sie mir, ich bin in einer üblen Lage.

Weiß ich. Sie haben morgen eine starke Differenz zu zahlen.

Das ist es nicht. Ich habe für Deckung gesorgt; und schlimmsten Falles würden Sie –

Wissen Sie das so gewiß?

Die schwarzen Augen des Mannes funkelten; er hatte den Gegner, wohin er ihn haben wollte.

Sie hatten es mir versprochen, lieber Silbermann!

Sie hatten es mir auch versprochen, lieber Goldheimer!

Und ich werde es halten.

Wann? Mein Versprechen wäre morgen einzulösen; Ihres war längst fällig. Nun wohl; mein Versprechen gegen Ihres: Hunderttausend, oder wie viel Sie brauchen werden, morgen Mittag gegen Melanie, Zug um Zug. Es ist mein Ultimatum und jetzt –

Werden Sie nicht fortgehen.

Das heißt?

Ich acceptire.

Die beiden Banquiers gaben sich die Hände. Herr Goldheimer hielt die des Geschäftsfreundes unbequem lange fest. Mehrere ältere Damen und Herren hatten sich eben jetzt nach dieser Seite gewandt; Herr Goldheimer wünschte Hand in Hand mit Herrn Silbermann gesehen zu werden.

Was war es? fragte Frau Goldheimer an dem Ohr ihres Gemahls, als man einige Minuten später zur Tafel ging.

Ich sage es Dir hernach. Jetzt mache, daß Eugen mit Melanie wenigstens an einem Tisch zu sitzen kommt! Ich beschwöre Dich!

Das Souper, welches an kleinen Tischen zu sechs oder acht Personen servirt war und bei dem man des in silbernen Kübeln bereit stehenden Champagners nicht eben schonte, war ungemein munter. Es wäre selbst für Herrn Goldheimer, der Melanie glücklich mit Eugen an dem einen und Doctor Wild mit einer sehr gefeierten Schönheit an einem anderen Tisch placirt sah, ungetrübt zu Ende gegangen, nur daß noch ganz zum Schluß eine jener Taktlosigkeiten vorfiel, vor denen, wie Herr Goldheimer zu seiner Nachbarin, Frau Silbermann, sagte, man selbst in der besten Gesellschaft nicht sicher ist. Ein junger, übrigens schon verheiratheter Banquier, der in seinem unermeßlichen Reichthum einen Freibrief sah, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die angeborene Redegabe zu verwerthen glaubte, »dem Dankgefühl einen Ausdruck geben zu müssen, welches die Gesellschaft Denen zolle, die ihr einen so hohen und so reinen Genuß bereitet.« Und indem nun Max Lombard Doctor Wild's und Melanie's Verdienste um den glorreichen Abend nicht ohne Empfindung feierte und ihre immer wiederkehrenden beiden Namen mit bunten phantastischen Redearabesken umschlang, und die Gesellschaft nun zuletzt, sich von den Stühlen erhebend und mit den Gläsern zusammenklingend, den »sinnreichen Impresario und seine reizende Primadonna« leben ließ, und Primadonna und Impresario nun auch nicht anders konnten, als mit den Gläsern zusammenklingen – da ruhten des Doctors Augen mit einem herrlichen Glanz auf dem erröthenden Mädchen und dann flogen seine Blicke wie im Triumph über die Versammlung, die der stattliche Mann um Haupteslänge überragte.

Aber einen andern Ausdruck trug sein Gesicht und seine Augen hafteten starr am Boden, als er eine halbe Stunde später in der Bibliothek, den Ellenbogen auf den Sims gestützt, an dem Kamin stand. Er war ganz allein in dem hohen, nur mäßig erleuchteten Gemach; alle Welt drängte nach dem zweiten, dem »weißen« Saale, wo die Paare nach den Klängen einer feurigen Polka durch einander wirbelten, die ein Virtuos aus der Gesellschaft am Flügel zum Besten gab. Die Töne kamen noch eben zu dem Einsamen in der Bibliothek, aber gedämpft und wie suchend nach ihm, der sich fortgestohlen, übermannt von einer seltsamen Traurigkeit, die ihn mitten in der Festfreude, mitten in seinem Siegesrausche jäh überfallen. Er hatte die Empfindung gehabt, die er sich sonst nur beim plötzlichen Erwachen aus einem sehr tiefen Schlafe gehabt zu haben erinnerte: als ob Alles, was er um sich her sah, auch nicht den entferntesten Bezug auf ihn selbst habe; als ob das ganze Bild vor ihm trotz des schimmernden Glanzes und der funkelnden Pracht nur ein Schattenbild sei, eine Illusion, die im nächsten Augenblicke verschwinden könne und müsse.

Er warf sich vor dem Kamin, in welchem die Buchenkohlen unter der grauen Aschendecke allmälig verglimmten, in einen Fauteuil. Es war nur die Folge eines physischen Zustandes gewesen, natürlich: akute Anämie des großen Gehirns, momentane Paralyse des Nervus sympathicus oder etwas der Art; aber dergleichen sollte nicht eintreten, wenn man eben im Begriffe ist, sein Ziel zu erreichen, das lange angestrebte, von Hindernissen umdornte, köstliche Ziel! Hatte die ungeheure Anstrengung die Kraft verzehrt? War das Ziel der ungeheuren Anstrengung, des rücksichtslosen Kraftverbrauches nicht Werth? War es nicht wie der ätherhellen Gipfel einer, auf denen er damals, in den Alpen, so oft gestanden, umhaucht von Schauern der Einsamkeit und doch nicht allein – ihr Bild war ihm über Schlüfte und zackiges Gestein und eisige Firnen allüberallhin gefolgt.

Bis hierher kam es nicht, oder doch nur als bleicher, blutloser Schemen.

Er richtete sich jäh auf und machte eine Bewegung, als habe er etwas von sich abzuwehren; und dann irrten seine Blicke durch das mit seltenstem Geschmacke ausgestattete Gemach – über die reich geschnitzten Eichenholz-Gestelle mit den Prachtbänden, die mit Atlanten, Globen, Kunstwerken bedeckten Tische, von denen jeder selbst ein Kunstwerk war – bis sie plötzlich an einem herrlichen, antiken Marmorkopfe, der ihm gegenüber in einer Nische stand, haften blieben. Ein bitteres Lächeln zuckte um seinen Mund. Pallas Athene, murmelte er, zupfst Du mir am Haar? Weißt Du nicht, daß Deine Helden nie auf Deine Mahnung hören? und daß der Wille des Zeus doch vollendet wird?

Melanie!

Sie war hinter den Bauschen des halb auseinandergezogenen Gobelinvorhanges, welcher diesen Theil der Bibliothek von einem kleinem Vorraume trennte, herausgetreten, wie schüchtern zögernd und dann auf ihn zufliegend, der ihr entgegeneilte. Zum ersten Male lag die holde, zierliche Gestalt in seinen Armen, an seiner Brust; fühlte er die zarten, thaufrischen Lippen auf seinen Lippen; nur einen Moment, kurz wie ein Blitz, der im Aufflammen erlischt, und wonnevoll wie eine Paradiesesewigkeit. Und dann das Leuchten von einem Paar zärtlicher Augen aus dem dunkleren Vorraum, das kaum hörbare Flüstern seines Namens, das Winken einer kleinen, weißen Hand, das Rauschen eines Gewandes – und er war wieder allein und lehnte wieder an dem Marmorkamine mit hochklopfendem Herzen und fuhr sich nach der Stirn, nach den Schläfen, in denen die Adern hämmerten, als wollten sie zerspringen, und breitete die starken Arme aus: Mein, mein! hörst Du, Pallas, mein! nach dem Willen des Zeus, der so viel mächtiger ist als Du! und über ihm waltet das Verhängniß, dem er sich beugen muß, wie wir Alle – Du auch – und ich und sie – und das Verhängniß ist's, was mich und sie zusammenschleudert; und nun komme, was will!

Es kam Jemand – eilig. Sollte es der Vater sein, der Melanie in die Bibliothek hatte schlüpfen sehen? Wäre er's! und Alles entschiede sich auf einmal!

Es war nicht Herr Goldheimer, ein Bedienter nur, der den Herrn Doctor suchte.

Man hatte nach dem Herrn Doctor geschickt; hier war die Karte.

Der Mann präsentirte mit respektvoller Miene und Geberde den silbernen Teller, auf welchem die Karte lag. Soll ich Bescheid sagen, Herr Doctor?

Ich würde sofort kommen!

Jean verbeugte sich und ging. Es kam recht ungelegen; aber Wild wußte, daß der Fall dringend war, und er wäre auch einem weniger dringenden Rufe, seinem Grundsatze gemäß, unbedingt gefolgt. Sie wollen schon fort, lieber Doctor?

Ich muß – die Baronin Halden –

Sie werden noch nächstens unsere ganze Aristokratie haben, Sie Glücklicher! Und kommen nicht wieder? Aber meine Damen werden untröstlich sein, untröstlich! Auf Wiedersehen also, lieber Doctor, auf Wiedersehen!

Herr Goldheimer hatte es sehr eilig, so verbindlich auch seine Worte waren; Wild hielt die Hand, die sich ihm entziehen wollte, fest.

Bitte um Verzeihung! würden Sie mich, wenn ich mich morgen Vormittag – sagen wir zwölf Uhr, die Minute kann ein Arzt schwer einhalten – melden ließe, auf ein paar Augenblicke empfangen!

Aber, lieber Doctor, habe ich mich je vor Ihnen – es ist freilich morgen Ultimo, und ich werde ganz enorm beschäftigt sein – indessen –

So werde ich kommen; erwiederte Wild.

Er hatte nicht bemerkt, daß Herrn Goldheimer's Gesicht bei den letzten Worten einen ganz eigenthümlichen, verlegen-düstern Ausdruck angenommen. Seine Augen waren auf Melanie gerichtet gewesen, die eben in einer Française mit ihrem Tänzer Balancez aux places! ausführte. Der Partner schien ein Versehen gemacht zu haben; sie hob den Finger, schelmisch lachend. In dem Moment wandte der Herr sich um; es war Eugen Silbermann. Melanie machte ihm ein ironisch tiefes Compliment und darüber hatte sie wohl Wild's Hereinkommen nicht bemerkt; sie sah ihn auch jetzt nicht, trotzdem er ihr gerade gegenüber in der Entfernung von nur wenigen Schritten an der Thür stand. Er zögerte ein paar Augenblicke; und jetzt schwebte sie im en avant deux gerade auf ihn zu bis unmittelbar in seine Nähe; – sie sah ihn nicht.

Desto deutlicher sah er ihr lächelndes, von der Erregung des Tanzes sanft geröthetes, holdes Gesicht, aus dem die dunkelgrauen Augen unter den langen seidenen Wimpern mit der unverhüllten Bewunderung ihres Partners schalkhaft coquettirten.

Und so sah er es noch, als er ein paar Stunden später durch die alte, düstre Stadt nach seiner Wohnung schritt. Der Mond, welcher vor Mitternacht aufgegangen war, versteckte sich schon wieder hinter den hohen dunkeln Giebeln. Ein lauer Wind sauste durch die leeren, hallenden Gassen; und er schritt dahin, in Gedanken verloren, und wäre fast mit einem kleinen Manne zusammengerannt, der ihm entgegenkam und mit beiden Händen seine Mütze hielt, trotzdem er dieselbe schon mit in den Shawl gebunden, welcher sein Gesicht bis an die Nase verdeckte. Entschuldigen Sie, werther Herr! rief der Kleine, und war bereits um die Ecke.

Wild war erschrocken stehen geblieben. Die dürftige Gestalt, die zaghaft trippelnden Schrittchen, die weinerliche Stimme, welche aus dem dicken Shawl quäkte, und selbst der dicke Shawl – was wollte der alte Mann hier – gerade jetzt! Und wenn er es nicht war, weshalb mußte ihm – gerade jetzt – dies Bild aus alten Tagen begegnen, aus den Tagen, an die er nicht erinnert sein durfte, die von der Tafel seiner Erinnerung weggewischt sein mußten, wollte er dem morgenden Tage fest in's Auge schauen, so fest, wie er eben dem Tode in's Auge geschaut, dem er die sichere Beute schließlich doch abgetrotzt.

Hoch über ihm verzitterten in dem sausenden Wind die Klänge einer Kirchthurmglocke: Eins! zwei!

Was sage ich von morgen! heute schon! und Gott sei Dank! Diese Entscheidung zehrt an meinen Nerven: und fiele sie gegen mich – ich halte es mit dem tapfern Freischaaren sichrer: lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende!



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