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I.

Ein lauer Märzwind athmete in vollen Zügen durch die engen Gassen der kleinen Stadt und rüttelte an den Fensterläden und polterte in den Schloten; und jedesmal, wenn es so an seinem Hause, das ein Eckhaus war, vorüber pfiff und brauste, warf Herr Thomas Kempe von seinem Pult einen vorwurfsvollen Blick nach seiner Tochter Christiane, die auf dem kleinen runden Tisch vor dem Sopha das Abendbrod für den Vater zurechtstellte.

Es ist Alles fertig, Vater, willst Du nun nicht erst in Ruhe essen? sagte das Mädchen.

In Ruhe! murmelte der alte Herr; schöne Ruhe! hörst Du? da! oben der Laden in der Giebelstube hat nunmehro bereits zum zweiten Male geklappt; der Sturm wird mir noch das Haus über dem Kopf zusammenwerfen; und dabei soll man ruhig bleiben? Schöne Ruhe! und in einer Stunde geht der Zug!

Er hatte die Brille, über deren große runde Gläser er wiederum Christianen zornig angeblickt, wie in Verzweiflung von dem stumpfen Näschen gerissen und auf die Briefschaften geworfen, in denen er gekramt.

Ich will das Alles nachher in Ordnung bringen, sagte Christiane; auch den Brief an A. H. Wiedehopf Söhne wegen der Graupen kann ich schreiben; ich weiß ja, um was es sich handelt.

Da haben wir's! rief Herr Kempe statt aller Antwort, indem er mit unglaublicher Geschwindigkeit von seinem hohen Sessel herabkletterte und durch die Thür in den Laden stürzte, aus welchem das Zetergeschrei einer Knabenstimme erschallte, das sich mit dem überlauten Lachen einer männlichen Kehle wunderlich genug vermischte. Auch Christiane war nachgeeilt und sah, in der Thür stehend, wie der Vater den noch immer schreienden Lehrjungen August am Ohr zerrte und dann das Wendeltreppchen hinunter huschte, welches direkt aus dem Laden in den Keller führte.

Aber, Herr Emerich, was gibt es denn? fragte Christiane; Sie sollten doch nicht lachen, wenn Sie den Vater so aufgeregt sehen.

Sie haben Recht, Fräulein Christiane, sagte der junge Mann hinter dem Ladentisch, indem er sofort zu lachen aufhörte; aber es war auch zu komisch. Friedrich zieht im Keller den Zeltinger ab, und steckt ein paar Handvoll Stroh an, weil ihm der Lack zu dick geworden ist. Das leuchtet nun ein bischen hell von da unten herauf und der Bengel fängt an zu schreien, als ob das Haus brennte, und da soll Einer nicht lachen! Freilich, wenn ich gewußt hätte, daß Fräulein Christiane –

Herr Emerich fuhr sich mit den rothen Händen durch das lockige Haar, räusperte sich, konnte aber nur noch eben einen Blick ehrfurchtsvoller Zärtlichkeit auf die Mädchengestalt in der Thür werfen, denn der kahle Kopf des Prinzipals erschien bereits wieder hinter dem Gitter des Wendeltreppchens; gleichzeitig aber auch, zu Herrn Emerich's Glück, ertönte die heisere Schelle an der Ladenthür. Ein paar Kunden waren eingetreten; Herr Emerich und der Lehrjunge August thaten sehr geschäftig. – Ich bitte Dich, Vater, komm herein; die Suppe wird eiskalt, sagte Christiane.

Herr Kempe hatte sich nun wirklich an den Tisch gesetzt und ein paar Löffel voll gegessen mit der Miene eines Mannes, der sich eben sehr geärgert und vollauf Grund dazu gehabt hat, nichts destoweniger aber entschlossen ist, diesmal, wie so oft, den Aerger hinunterzuschlucken. Christiane, welche ihm gegenüber Platz genommen, war so gewohnt, in dem guten alten Gesichte zu lesen; sie kannte jeden Ausdruck so genau, wußte sonst so wohl, was die rothe Wolke auf der schmalen, kahlen Stirn bedeutete, oder das Zucken der beiden dünnen, grauen Büschel über den zwinkernden Augen, oder das Beben der dünnen Lippen. Heute wußte sie es nicht; heute war ihr seit langen Jahren zum ersten Male das Benehmen des Vaters räthselhaft, so räthselhaft wie der Grund der Reise nach Leipzig, zu der er sich Mittags plötzlich entschlossen. Was konnte es sein? Er trennte sich so schwer von seinem Hause und Geschäfte, der alte Mann, und nur in den dringendsten Fällen – selbst zur Messe, die er sonst regelmäßig besuchte, war er in den letzten drei Jahren nicht mehr gereist. Das Nest ist mir verleidet, pflegte er zu sagen, und Christiane brauchte nicht zu fragen, weshalb; und dennoch! – Morgen war Ultimo; aber es waren gerade für diesmal weder Wechsel einzucassiren, noch zu decken; auch sonst ging in dem Geschäfte Alles den gewohnten, geordneten Gang; die eingelaufenen Briefe hatte sie heute, wie immer, gelesen, und den größeren Theil derselben heute, wie immer, nach den Anweisungen des Vaters selbst beantwortet.

Kannst Du es mir nicht sagen, Vater? fragte sie plötzlich, und sie erschrak vor dem Klange ihrer Stimme. Sie hatte es eigentlich gar nicht sagen wollen, aber nun war es heraus.

Was? erwiederte Herr Kempe; weshalb?

Weil Du doch sonst, so viel ich weiß, keine Geheimnisse vor mir hast, Vater, und mich Dein Schweigen ängstigt.

So? Keine Geheimnisse! Hast Du nicht auch welche vor mir? Schweigen – ängstigt – so! Dein Schweigen ängstigt mich auch; es ist jetzt acht Tage her und Du hast mir noch immer nicht gesagt, weshalb Du Weikert weggeschickt.

Aber Vater!

Aus den blauen Augen leuchtete es seltsam und auf den sonst so milden Lippen schwebte ein bittres Wort; aber sie bezwang sich sofort wieder und kaum daß ein leisester Ton des Vorwurfs noch mit anklang, als sie nach einer kleinen Pause fortfuhr:

Hast Du mich denn gefragt? Und warum hättest Du mich nach etwas fragen sollen, worauf Du so gut eine Antwort hast, wie ich; was Du so gut weißt, wie ich?

Was weiß ich? Gar nichts weiß ich! rief der alte Mann, indem er seinen Löffel auf den Teller fallen ließ, und den Teller heftig zurückschob; gar nichts, als daß Du partout eine alte Jungfer werden willst, denn ob der vornehme Herr Doctor sich herablassen wird, nachdem er Dir Dein Geld durchgebracht hat –

Vater!

Ueber das bleiche Gesicht des Mädchens bis zu dem dicken, aschblonden Haar, welches in kunstlosen Wellen die feste, breite Stirn umfloß, hatte sich purpurne Gluth ergossen; sie richtete sich halb von ihrem Stuhle auf, ließ sich aber alsbald wieder sinken und sagte mit einer Stimme, die nicht vergeblich nach Festigkeit rang:

Du wolltest nicht wieder so von Conrad sprechen, Vater; es wird ja dadurch Nichts geändert und mir thut es so weh. Und – und ich möchte auch gar nicht, daß es anders wäre, weil ich einsehe, daß es nicht anders sein kann. Conrad hat so unglaublich viel zu thun; es gehört so sehr viel dazu, sich in einer großen Stadt, bei der rücksichtslosen Concurrenz, eine Praxis zu verschaffen; und Conrad ist nun eben auf dem besten Wege –

Prosit Mahlzeit, sagte Herr Kempe, die Serviette neben sich auf's Sopha schleudernd und sich zwischen Sopha und Tisch eilig hindurchzwängend; mir bleibt der Bissen im Munde stecken, wenn ich das mit anhören muß, wovon Du selbst kein Sterbenswort glaubst; und an Deiner Stelle würde ich mich schämen, Deinem alten Vater, der es immer so gut mit Dir meint, der Tag und Nacht an nichts denkt, als wie er sein einziges Kind glücklich machen soll – laß mich! Ich kann allein fertig werden; ich brauche keine Hilfe –

Er hatte die Mütze mit dem breiten Schirme aufgesetzt und quälte sich mit dem langen rothen wollenen Shawl, und ließ es dann – aus alter Gewohnheit – doch geschehen, daß Christiane ihn aus den Verschlingungen und Verknotungen wieder löste und regelrecht bis an's Kinn einwickelte.

Ich danke! es ist schon gut; danke, danke! brummte er.

Christianen's beide Hände lagen auf seinen Schultern; er blickte zu ihr auf, den gewohnten Abschiedskuß zu empfangen, aber sie küßte ihn nicht; ihre blauen Augen ruhten so fest auf ihm, daß er die seinen schnell wieder senkte.

Vater, sagte sie – und die Stimme, welche dem alten Manne sonst lieblicher dünkte als alle Musik, hatte in diesem Moment für ihn einen seltsam unheimlichen Klang – Vater, sage mir wenigstens das Eine, daß es nichts mit Conrad ist.

Was soll's mit ihm sein? dummes Zeug! was habe ich mit ihm zu schaffen! ich will von der Geschichte nichts mehr wissen; ich habe genug andere Dinge in den Kopf zu nehmen; mich geht's nichts mehr an, Du bist ja seit drei Jahren mündig und seit eben so lange ist es nun schon, daß Dein Geld bei Goldheimer müßig liegt – Gott sei's geklagt, Gott sei's geklagt!

Brauchst Du das Geld, Vater? fragte das Mädchen rasch; o, so nimm es; – so viel Du willst – Alles! es ist ja Alles Dein!

Alles mein, so! sehr obligirt, sehr obligirt! Freilich der Herr Doctor machen ja jetzt keinen Anspruch mehr auf die Zinsen; so mag das Capital zum – Gott verzeih mir die Sünde!

Der Alte hatte sich bei den letzten Worten losgemacht und huschte nun in dem kleinen Zimmer umher, als müßte er seine paar Sachen, die seit dem Nachmittag schon bereit lagen, aus allen Ecken zusammensuchen.

Christiane raffte sich aus dem schmerzlichen Nachdenken auf.

Hier ist Deine Brille, sagte sie; Dein Mützchen steckt in der linken und die Dose und das Taschentuch in der rechten Tasche. Den Mantel soll Dir August tragen; aber die Galoschen mußt Du gleich anziehen; das ist der rechte, bitte, laß mich Dir helfen.

Sie war vor ihm hingekniet, und wie sie sich nun so über seine Kniee beugte, fühlte er plötzlich auf seinen Händen ein paar heiße Tropfen.

Mein Kind, mein liebes, liebes unglückliches Kind! schluchzte der alte Mann, seine Arme um ihren Nacken schlingend.

Nicht wahr, Vater? es ist nichts, was Conrad betrifft? ich verlasse mich darauf; sagte die leise Stimme an seinem Ohr.

Sollte er der Wahrheit die Ehre geben? Die leise Stimme hatte wieder den seltsam unheimlichen mahnenden Klang gehabt, als ob es das eigene Gewissen wäre, das aus ihrem Munde zu ihm spräche; aber er hatte es sich so fest vorgenommen, hatte mit dem klugen Weikert Alles so bestimmt verabredet, Alles so genau zurecht gelegt –

Das Signal, das Signal! rief der Lehrling August mit seiner Zeterstimme zur weit aufgerissenen Thür hinein, während Herr Emerich an dem Fensterchen, durch welches er von Pult zu Pult aus dem Laden in das Wohnzimmer mit seinem Prinzipal zu communciren pflegte, Sturm trommelte.

Da haben wir's! da haben wir's nunmehro; murmelte der Alte, der wie electrisirt von dem Stuhl in die Höhe gefahren war; ich werde den Zug verpassen über all dem Gerede; es ist nichts, gar nichts mit – es ist von wegen der Rosinen bei E. F. Lick Söhne; es ist eine Conjunctur, eine delikate Conjunctur – und daß der Laden oben verfestiget wird, und Friedrich nicht das Licht im Keller brennen läßt, und –

Sei ganz unbesorgt, Vater; ich werde nach Allem sehen, und lebe wohl, Vater!

Leben Sie wohl, Herr Prinzipal; glückliche Reise, Herr Prinzipal!

Die Thür mit der klappernden Schelle hatte sich hinter dem alten Mann und dem Lehrling, welcher ihm die Sachen nach dem nahe gelegenen Bahnhof trug, von selbst wieder eingeklinkt; Herr Emerich, der mit seinen schönsten Verbeugungen dem Reisenden bis zur Thür das Geleit gegeben, wandte sich auf den Hacken um und sah den Gegenstand seiner Anbetung, das Ideal seiner Träume, regungslos im Laden stehen, mit gesenkten Augen, das Gesicht bleich – vor Furcht? vor Erwartung? Sollte es der rechte Moment sein? sollte er sie wagen, die große Scene, die er seit zwei und einem halben Monat allabendlich auf seinem Giebelstübchen durchgeprobt? sollte er ihr mit weit ausgebreiteten Armen und jenem schwärmerischen Ausdruck, dessen Unwiderstehlichkeit bereits stadtbekannt war, zu Füßen stürzen, rufend, wie nur er es so wunderbar konnte: O, Königin, das Leben ist doch schön!

Aber bevor Herr Emerich sein leidenschaftliches Herz hinreichend beruhigt, um sich – was sehr nöthig war – räuspern zu können, hatte sie sich, ohne die Augen auch nur aufzuschlagen, langsam umgewandt, war langsam die vier Stufen zu dem Wohnzimmer hinaufgestiegen und hinter der Glasthür mit dem grünen, grausam undurchsichtigen Vorhang verschwunden. O, diese Nerven! seufzte Herr Emerich, sich mit den beiden rothen Händen verzweiflungsvoll durch die vollen Locken fahrend; diese unglückseligen Nerven!

 

Christiane hatte in dem Wohnzimmer die durch des Vaters Abreise gestörte Ordnung wieder hergestellt, den Tisch abgeräumt, die Stühle zurecht gerückt; war dann an des Vaters Pult getreten, die Papiere zu sichten, den Brief an A. H. Wiedehopf Söhne wegen der Graupen zu schreiben und aus der Kladde, welche sie sich von Herrn Emerich durch das Schiebfensterchen reichen ließ, die Tagesposten in die verschiedenen Bücher einzutragen. Sie hatte alles ganz methodisch gethan, ohne sich ein einziges Mal zu verrechnen oder zu verschreiben; aber auch ganz mechanisch, während ihr so viel, so viel Gedanken, von denen der eine immer trauriger war als der andere, durch den Kopf gingen, und sie zwischendurch auf das Seufzen und Klagen des Windes draußen hörte, oder das heisere Klingeln der Schelle an der Ladenthür. Dann hatte sie die Feder ausgewischt und den Schreibärmel abgestreift und sorgsam zusammen gefaltet und die Lampe genommen und das Zimmer verlassen, und sich auf der Treppe besonnen, was sie gewollt; und war dann auf den Boden hinaufgestiegen, die klappernde Lücke zu schließen; und jetzt saß sie wieder in dem Wohnzimmer an ihrem kleinen Secretär, die Lampe vor sich, den Kopf in die Hand gestützt, denkend, immer denkend, was so traurig, so namenlos traurig zu denken war; und draußen seufzte und klagte der Wind und von Zeit zu Zeit klingelte die heisere Schelle an der Ladenthür.

Und je länger sie so saß und nach Klarheit rang, um so dunkler wurde es in ihrem Kopf, um so dumpfer schlug ihr das Herz im Busen. Kein Ausweg aus diesem Irrsal, als der eine! mußte es denn sein? konnte es denn sein? es war ja so viel schrecklicher als der Tod. Für ihn zu sterben – würde sie sich einen Augenblick besinnen, auch nur einen? Ja, hatte sie sich nicht, als sie noch beten konnte, aus voller unglückseliger Seele den Tod gewünscht, der sie von dieser Qual befreite und ihn frei machte? Aber leben zu sollen, wer konnte wissen, noch wie viele endlos lange Jahre, ohne Ziel und Zweck, wie ein abgeschiedener Geist, der an den Stätten, wo er einst geweilt, umherirrt, obschon Keiner, Keiner auch nur im Traume sein gedenkt – es war hart, grausam hart; hart und grausam wie der letzte Brief, den er ihr vor acht Tagen geschrieben, als Antwort auf ihren Gratulationsbrief zu seinem Geburtstage. Wäre es ein Messer gewesen, das er ihr in's Herz gestoßen, so weh hätte es nicht gethan! Was zögerte sie denn? worauf wartete sie noch?

Sie zog hastig ein Schlüsselchen, das sie an einem Kettchen um den Hals trug, hervor, öffnete einen Schiebkasten in dem Secretair, ein einzelnes Blatt heraus zu nehmen. Indem sie sich zurückbog, folgte der Kasten, von welchem sie das Schlüsselchen nicht abgezogen hatte, der Bewegung, und schüttete seinen ganzen Inhalt auf die Platte des Secretärs.

Es waren – außer jenem einzelnen Blatt – acht Packete Briefe, jedes in einer Hülle von weißem Papier, auf welchem eine Jahreszahl stand, und mit einem rothseidenen Bande sorgfältig zusammengebunden. Die Packete waren durch einander gewirrt, und sie wollte sie eben nur hastig wieder in den Kasten legen und konnte sich doch nicht enthalten, sie zu ordnen, wie ihre kaufmännische Correspondenz. Sie hätte nicht hinzusehen brauchen; sie kannte jedes Packet nach Umfang und Gewicht: das stattliche erste – ihr liebstes – aus dem Jahre 1849; und die noch immer stattlichen, wenn auch schon weniger umfangreichen und gewichtigen aus den Jahren 1850 und 1851; und dann wurden sie immer kleiner, immer leichter von Jahr zu Jahr, und das letzte Jahr hatte in diesen ganzen drei Monaten nur ein einziges Blatt gebracht – das furchtbare Blatt!

Sie griff darnach mit krampfhafter Hast und ließ es wieder fallen, als hätten die zuckenden Finger weiß glühenden Stahl berührt; im nächsten Augenblick hatte sie das Band von dem ersten Packet gestreift und einen der Briefe – irgend einen – sie waren ja alle gleich lieb und gut – entfaltet. Es war ein graues Conceptpapier und die schlechte Tinte war ganz vergilbt; einem Anderen wäre die Lectüre sehr schwer geworden; sie kannte jedes Wort auswendig, sie hätte mit geschlossenen Augen lesen können. Aber ihre Augen waren nicht geschlossen, sie waren weit und starr und heiß, wie eines Menschen, der in das Antlitz eines geliebten Todten blickt, und mit den weiten, starren, heißen Augen las sie:

Endlich, endlich! der waidwunde Hirsch, dem die klaffende Meute tagelang an den Fersen gehangen, den die Bluthunde durch Gestrüpp und Dornen gehetzt, er hat die breite Schlucht übersprungen und ist gerettet! Gerettet! Wer weiß, was Alles in dem einen Worte liegt! wer? Ich kann es fragen und sehe Dich, wie dies Blatt in Deinen Händen zittert, während Deine lieben Augen die Zeilen durchfliegen, und höre Deine liebe Stimme aufjubeln: er ist gerettet, gerettet! Ja, mein Mädchen, Du weißt es, Du und Du allein! und weiter braucht's auch Keiner zu wissen, denn weiter kümmert sich ja um den armen Flüchtling Keiner. Und Dein guter ehrlicher Vater, Deine sanfte fromme Mutter? Ach, Geliebte, ich glaube es wohl: sie freuen sich ja auch, daß, als sie kamen mit Stangen und Spießen, mich zu fangen – geführt von dem Verräther – denn Niemand außer Weikert kannte den Versteck – nur die Ziegel auf die Tyrannenknechte herunterklapperten, während ich, von ihren Kugeln verfolgt, über die Dächer floh – nicht um mein Leben! was lag mir daran! ich hatte es die Tage vorher hundertmal in die Schanze geschlagen;– aber gefangen werden, wie ein wildes Thier, eingesperrt werden, wie ein Raubmörder, in Waldheim Wolle spulen müssen – gewiß! gewiß! sie freuen sich, daß es nicht so kam; und doch! werden sie es jemals verwinden, daß ich gegen unsern gottgesalbten König mit den Waffen in der Hand gestanden; ja, daß ich Gott selbst – den scheinheiligen, verlogenen, grausamen Gott der Junker und Pfaffen – Krieg erklärt habe, Krieg, so lange ich eine Stimme habe, zu schreien: ihr lügt und trügt, und abermals: ihr lügt und trügt!

Ich sehe den nachdenklichen Zug, der Deinem lieben Gesicht so gut steht, und höre Dich leise, so ganz leise und verloren, fragen: was soll daraus werden? Mädchen! so frugen schon die Apostel in kleinmüthigen Stunden, aber der Gott, an den sie glaubten, lebte doch und verließ sie nicht, und so wird er uns – der gute, große, strahlende Gott der Freiheit und der Liebe – nicht verlassen, wenn wir nur den rechten Glauben haben.

Ohne den geht's freilich nicht, Geliebte! ja es muß schon ein rechter echter Glaube sein, wenn der junge Mensch in der zerfetzten Blouse und den zerrissenen Stiefeln, der hier in der elendesten Hütte eines elenden Schweizerdorfes beim letzten Tagesschein diesen Brief schreibt, zu welchem er sich das Papier selbst von seinen großmüthigen Gastfreunden – einem verhuzelten alten Mütterchen und ihrem hünenhaften Sohn, der mich anlacht, so oft er mich sieht, und mit dem es, glaube ich, nicht ganz richtig im Kopfe ist – wenn er, sage ich, nicht daran verzweifeln soll, es werde trotz alledem und alledem eine Zeit kommen, wo des ehrsamen Bürgers und Vitualienhändlers Herrn Thomas Kempe einziges blondes Töchterlein Christiane sein – des obbemeldeten jungen Menschen – ehrsam Weib ist. Nur ein Umstand giebt mir zu denken: daß meine Tante Martina die Thorheit begangen hat, zu sterben, nachdem sie mich enterbt, und dafür Dich und noch ein halbes Dutzend junger Fräulein und Männlein, die kaum noch mit ihr verwandt, dafür aber an dem Teufelswerk der Revolution so unschuldig sind, wie ich etwa an der Wahl des Reichsverwesers, zu Erben eingesetzt hat. Zehntausend Thaler, die auf Dich allein fallen! Das gefällt mir gar nicht, Mädchen! Gleich und gleich! Du kennst meine Grundsätze und – meinen Stolz, sagst Du? Immerhin – etwas muß er sein eigen nennen, der junge Mensch nämlich, der keineswegs die Absicht hat, zu morden und zu brennen, sondern nach wie vor als ehrsames Schulmeisterlein im Schweiße seines Angesichts sein Brod zu essen, sein freies, ganz freies Brod! Geliebte, ich möchte mit dem Zimmermannssohne von Nazareth sprechen: gieb's den Armen und folge mir nach: Könntest Du das wohl? o ja, wenn Du dürftest! aber darf der Mensch nicht, was er kann?

Christiane ließ das Blatt sinken und starrte mit den weiten, heißen Augen so vor sich hin. Sie hatte es hundert Mal gelesen und jetzt war ihr, als lese sie's zum ersten Mal. Darf der Mensch nicht, was er kann! Ja, das war's! Es mußte ja sein Wahlspruch sein, der Wahlspruch eines Mannes, der so viel konnte, so viel vermochte, daß, was die Anderen konnten und vermochten, wie der Zwerge mühselig Schaffen neben eines Riesen Walten schien. Hatte sie nicht staunen und immer nur staunen müssen, wie er damals in Zürich mit seinen dürftigen Seminaristenkenntnissen sich auf das Studium der Medicin warf und ihr nach wenigen Jahren sein Doctordiplom schickte, »das ehrlich erworben ist, obgleich ich kein Wort davon verstehe;« wie er dann nach Paris ging und drei Monate später schreiben konnte: mein Glück ist gemacht! durch eine einzige Operation! halb Paris wallfahret nach meiner bescheidenen Wohnung fünf Treppen hoch in der Rue de l'Ouest! komm, Mädchen, komm! ich fürchte mich jetzt nicht mehr vor Deinem Capital sammt allen Zinsen, die ich schon verzehrt habe und nun nicht weiter zu verzehren brauche! – Und dann und dann! dann hatte er mehr gekonnt, als das Alles; hatte, weil der alte eigenwillige Vater, die zaghafte Mutter, die dem Tode entgegenkränkelte, sie nicht lassen wollten, Paris aufgegeben und die sichere, glänzende Zukunft; war zurückgekehrt in die Heimath, wo allerdings kein Gefängniß mehr des Amnestirten harrte, dafür aber ein mittelalterlich-starrer Zunftzwang, der den jungen Gelehrten, um dessen Freundschaft sich die ersten Pariser Autoritäten bewarben, mit allen möglichen Prüfungen nachträglich chikanirte, selbst mit Schulprüfungen, zu denen der weiland Seminarist von der ersten lateinischen Deklination bis zur griechischen Syntax Alles neu lernen mußte. Er hatte auch das gekonnt!

Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen; die so lange zurückgehaltene Thränenfluth brach gewaltsam hervor. – Er hat es gekonnt, ja; aber seine Liebe hat es mich gekostet; und mir ist recht geschehen. Ich durfte das Opfer nicht annehmen, durfte ihn nicht in diese Frohnde zwingen. Weh mir, daß ich es that! es hat sich grausam gerächt. Der Brief wäre nie geschrieben!

Sie hatte nun doch jenes einzelne Blatt ergriffen: Meinen verbindlichen Dank für Deine freundlichen Glückwünsche –

Ein seltsamer Laut – halb Stöhnen, halb Wimmern entrang sich ihrer gequälten Brust.

Nein, nein! ich will es nicht noch einmal lesen! In den Zeilen steht es ja nicht; sie sind ja so höflich, so glatt, so kalt –

Sie richtete sich jäh empor und strich die blonden Haare, die sich losgenestelt hatten, aus dem heißen, thränenüberströmten Gesicht. Und ich zögere! murmelte sie durch die, von zornigem Schmerz zusammengepreßten weißen Zähne: als ob es darauf mehr als eine Antwort gebe!

In dem Ofen glühten noch die Kohlen von dem Feuer, das sie vorhin angemacht, des Vaters Reisesachen daran zu wärmen, und nun schlug eine Flamme hell empor – sie hatte den ganzen Inhalt des Kastens auf die glühenden Kohlen geschüttet.

Es ist vorbei, sagte sie.

Die Hände waren in den Schooß gesunken, und ihr starrer Blick verfolgte mechanisch die rothen Funken, die an der luftigen schwarzen Asche hinauf und hinunterliefen und erloschen. Und dann sah sie – aber nur ganz schnell vorüberschwebend, aus dem Dunkel kommend und wieder in Dunkel verschwindend – ein wunderholdes Mädchenantlitz, so wunderhold, wie sie wohl sein mußte, die er jetzt liebte, und die einen so holden Namen hatte: Melanie! und von der selbst der gute Onkel Kreppelmann schreiben mochte: man kann freilich nicht leicht etwas Anmuthigeres und Schöneres sehen als die Tochter meines Prinzipals.

Aber, weil sie so hold und so anmuthig und so schön war und er sie so heiß liebte – mußte er darum gegen sie, die er doch einst geliebt hatte, so grausam, so furchtbar grausam sein! Was konnte sie denn dafür, daß sie anmuthlos und unschön – nein, nein, das war es nicht! oder doch: dafür konnte sie nichts: aber ihn halten, der nicht gehalten sein wollte; ihm sein Wort nicht wiedergeben, das er längst gebrochen – sich mißhandeln lassen durch ödes monatelanges Schweigen, durch einen Brief, in dem jedes höfliche Wort eine Beleidigung war – und immer noch harren, dulden; thun, als verstände man es nicht, als verstände man nichts, als sei man blind und taub und fühllos, wie ein Stock, ein Stein –

Nein, nein, stöhnte sie: er soll ja frei sein; er soll nicht wieder in die Lage kommen, so unedel sein zu müssen; er soll wieder er selbst sein dürfen, frei von dem Alp, von dem Gespenst, frei von mir –

Sie riß sich empor und eilte an des Vaters Pult, an welchem sie auch sonst wohl ihre Briefe zu schreiben gewohnt war. Als sie aus dem Fache, wo das Briefpapier lag, einen Bogen nahm, flatterte ihr ein beschriebener Zettel entgegen, den der Vater nur aus Versehen dorthin gelegt haben konnte. Es war seine Hand und – sie sah es mit dem ersten Blick – ein Denkzettel, wie er ihn sich vor jeder Reise zu schreiben pflegte. Er würde das Blatt sehr vermissen, der alte Mann, obgleich es nur eine seiner Grillen und sein Gedächtniß noch ganz vorzüglich war. Vielleicht konnte sie es mit dem Elf-Uhr-Zuge nachsenden, so hätte er es wenigstens morgen früh. Und wenn er wirklich etwas vergessen haben sollte: – Hemden, Kragen u. s. w. – das hat er Alles; – 2. im Eisenbahnwaggon einen Rückplatz nehmen – ich hoffe, er hat ihn bekommen; – 3. Grüner Maibaum, diesmal Nr. 12 (in Nr. 11 rauchte es das letzte Mal und in dem Bettgestell pickte der Holzwurm); 4. Notar Weikert sofort aufsuchen (der mich wohl erwartet, sonst bei Hüter); a. Bedenken wegen des Sichtwechsels über 4000 Thlr. und ob Chr.'s Einwilligung doch nicht am Ende juristisch nöthig? b. Jedenfalls die von ihm aufgekauften so gleich mitnehmen, dann 5. am folgenden Morgen (Ultimo) früh heraus zu 6. E. F. Lick Söhne (die letzten Rosinen 5 Pzt. angegangen); 7. Weiß u. Co. Stiefelwichse (mehr Glanz); 8. Frühstücken (mäßig); dann direkt 9. (Sprechstunde 9-11) zum Herrn Doctor, (NB.! NB.! nicht einschüchtern lassen!!) Wenn glücklicher Ausgang (den kaum zu hoffen wage) 10. an Chr. schreiben ( per express); wenn unglücklicher (wie anzunehmen) 11. direct zu Goldheimer wegen der Wechsel und Augen öffnen über saubern Schwiegersohn in spe

 

Herr Emerich saß, die eine Hand in den Locken begraben, am Ladentische und blickte düsteren Auges nach dem Lehrling, der die Etiquetten auf den eben abgezogenen Zeltinger klebte. Seine Nerven hatten sich definitiv beruhigt; aber die Gelegenheit war unwiederbringlich entschwunden – es war die Tragik seines Lebens, daß beide – Nerven und Gelegenheit – niemals stimmten, niemals!

Herr Emerich!

Der Commis fuhr in die Höhe und sah sie auf der obersten Stufe in der halb geöffneten Thür stehen, ihm mit einem Winke bedeutend, daß er herein kommen möchte. Das Herz schlug ihm bis in die Kehle; sollte der große Moment doch noch heute Abend eintreten, jetzt, da seine Nerven nach der furchtbaren Erregung von vorhin unmöglich Stand halten konnten?

Herr Emerich, sagte Christiane, ich muß mit dem Elf-Uhr-Zuge nach Leipzig; der Vater hat ein Papier vergessen, das er unbedingt morgen früh haben muß; auch erwartet er mich ohnedies halb und halb morgen – wenn auch mit einem späteren Zuge. Wichtigere Briefe, die etwa einlaufen sollten, lassen Sie unbeantwortet – ich komme morgen Abend jedenfalls zurück. Friedrich soll mich zur Bahn begleiten. Sie haben mich doch verstanden?

Der Ausdruck von Herrn Emerich's Gesicht mochte die Frage nothwendig gemacht haben. Hatte er sie verstanden? Herr Emerich fragte es sich selbst einmal über das andere, als er wieder unten im Laden war und vor dem Ladentische in dem kleinen Raume, welchen die Syrupsfässer und Pflaumenkisten frei ließen, im Kreise umher lief, bis ihm schwindlig war. Hatte er sie verstanden? Sollte er es wörtlich nehmen? sollte er es übersetzen in die Sprache der Liebe, der Leidenschaft und der Nerven? War Leipzig nicht Leipzig, sondern irgendwo eine kleinste Hütte für ein glücklich liebend Paar? Und hieß der Friedrich, der sie zur Bahn begleiten sollte, in Wirklichkeit nicht Friedrich, sondern Leopold Theodor Emerich? Hatte er sie verstanden?

 

Herr Emerich fragte es sich noch immer, als der Elf-Uhr-Zug längst auf seiner Strecke weiter durch die sausende Nacht rasselte. Die alte Dame, die schon von Dresden kam und noch immer allein im Coupé saß, hatte sich sehr gefreut, als nun doch in Oschatz noch Jemand einstieg, und sie hatte sofort ein kleines intimes Gespräch eingeleitet über Reisen im Allgemeinen und Zweck und Ziel ihrer Reise im Besondern. Aber die junge Dame, die eingestiegen, hatte sich, nachdem sie auf die ersten Fragen mit einer bescheidenen, sanften Stimme geantwortet, in Mantel und Kapuze gehüllt und schlief.

Oder gab sich wenigstens den Anschein, wie die alte Dame bei sich ausmachte, nachdem ihr scharfes Ohr ein paar Mal aus der Kapuze heraus einen Ton vernommen, der genau wie ein unterdrücktes Schluchzen klang. Die alte Dame hätte gar zu gern gefragt, was der jungen Dame fehle, und konnte es sich nicht erklären, weshalb sie durchaus zu einer so naheliegenden, ja gewissermaßen durch die einfachste Menschenliebe und Christenpflicht gebotenen Frage den Muth – an dem es ihr sonst keineswegs gebrach – nicht finden konnte; und so war es denn wieder still im Coupé geworden wie zuvor, und mit unverminderter Eile über die weite, jetzt vom Monde beschienene Ebene klapperte und rasselte der Zug durch die sausende Nacht.



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