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VII.

Um Himmelswillen! was geht denn hier nur wieder vor? rief Herr Goldheimer, athemlos aus der Tapetenthür stürzend: ist denn heute Alles darauf angelegt, mich toll zu machen! Melanie, Mädchen, aber so nimm doch Vernunft an! ist es an der Zeit, in Ohnmacht zu fallen, als wenn wir hier Komödie spielten? Lucia, Frau, bist Du von Sinnen? willst Du auch noch eine Zuschauerschaft haben? Großer Gott, das fehlte noch gerade!

Herr Goldheimer hatte Melanie's schönen Arm, an welchem er unsanft gezerrt, zu spät los gelassen, um zu seiner Gattin zu stürzen und die Hände derselben von den vergoldeten Knöpfen des elektrischen Apparats fort zu reißen. Der Apparat hatte bereits seine Schuldigkeit gethan, und während Melanie einer Situation, die so unbehaglich zu werden drohte, nun auch ihrerseits ein Ende machen wollte, indem sie sich wieder in die Höhe richtete und erklärte, daß der Anfall vorüber sei, kamen von verschiedenen Seiten Fräulein Riekchen und Elischen, Melanie's Kammerzofe, und Jean und Franz und etwas später noch ein paar andere männliche und weibliche Domestiken, denen Allen gesagt werden mußte, das gnädige Fräulein sei unwohl gewesen; aber es sei wieder gut und sie könnten wieder gehen.

Die Leute waren gegangen, nicht schnell genug für Herrn Goldheimer, der die letzten beinahe zur Thür hinaus getrieben. Waren doch die Minuten so kostbar! wann sollte er denn, was er seit einer Stunde unten in seinem Cabinet so mühselig herbei geschafft und herbei gescharrt, um dieser vertrakten Liebe Melanie's zu Wild das Herz auszubrechen – wann und wo sollte er es verwerthen, wenn nicht hier? wenn nicht jetzt zu dieser Frist, der kurzen Frist, die ihm noch bis zur Entscheidung blieb! Und mit einer Kunst, die dem geschicktesten Advocaten Ehre gemacht haben würde, fing er nun an, was er von dem alten Kreppelmann, von dem Notar, von Christianen's Vater über Wild in Erfahrung gebracht, aneinander zu reihen, zu gruppiren, zusammen zu stellen zu dem Bilde eines Mannes, der Treue und Redlichkeit und Ehre kaum von Hörensagen kennt, der mit eiserner Stirn die Dankbarkeit, die er schuldet, ableugnet, ja in ihr Gegentheil: in den schnödesten Undank verkehrt; und nachdem dieser Mann so Alles, was dem Menschen sonst heilig und ehrwürdig ist, aus dem Wege geräumt und unter die Füße getreten, mit einer Frechheit sonder Gleichen die unsauberen Hände nach dem ersten Preise ausstreckt, der höchsten Prämie, dem Hauptgewinne, nach Melanie Goldheimer, meiner Melanie, meinem einzigen Kinde, für das ich geplant und gearbeitet habe, für das ich speculirt habe! Was wäre mir für mich an dem Gelde gelegen? Mein Vater ist ein armer Junge gewesen, der seine Brodrinde in einem Glase Wasser aufgeweicht und seine Schularbeiten bei einem Talglichte gemacht hat, das außer ihm auch noch der alten Großmutter und den Eltern und seinen drei Brüdern, die alle gestorben sind, weil sie seine Zähigkeit nicht hatten, leuchten mußte; und ich selbst, ich bin ein einfacher Mann, der nicht raucht und nicht trinkt und – für wen bin ich denn jetzt in die Hausse gegangen, um den ungeheuren Gewinn mitzunehmen, wenn die Wiener Notirungen nicht noch im letzten Augenblicke – und nun von Dir im Stiche gelassen zu werden, die es ein einziges Wort kostet, mich aus meiner Verlegenheit zu reißen! Deine arme Mutter, die es wahrlich um Dich verdient hat, glücklich zu machen! Dich selbst für Deine ganze Zukunft in eine Position zu bringen, um die Dich jedes Mädchen beneiden wird: in eine wahrhaft fürstliche Position –

Ach, Melanie, mein süßes, geliebtes Kind, Du wirst dem Vater das nicht anthun! Du wirst mir das nicht anthun! rief Frau Goldheimer, indem sie mit ausgebreiteten Armen und das zerdrückte Spitzentaschentuch wie eine Nothflagge schwenkend, auf ihre Tochter zuging.

Melanie hatte an dem Kamine in einem der kleinen Seidenfauteuils gesessen – demselben, in welchem sie gestern Abend saß, als Wild seine Improvisation vortrug – und sie hatte, während ihr Vater sprach, nicht ein einziges Mal die langen Wimpern gehoben, hatte bei all den außerordentlichen Dingen, welche er da vortrug – zu Herrn Goldheimer's heimlicher Verwunderung – auch nicht eine Bewegung der Ueberraschung, des Schreckens, des Zweifels, der Verzweiflung gemacht. Nur die Blässe ihrer Wangen, ein gelegentliches Zucken der Mundwinkel, ein lebhafteres Heben und Sinken des zarten Busens schienen dafür zu sprechen, daß sie wirklich hörte, was er sagte, daß sie bei der Sache war.

Und Melanie war durchaus bei der Sache gewesen, hatte jedes Wort gehört; aber jedes Wort hatte sie nur in der Ueberzeugung bestärkt, welche sie von Anfang an gehabt, daß der Schwerpunkt, die Entscheidung ganz wo anders liege – ganz wo anders!

Und da war wieder das Bild von gestern Abend vor ihren halbgeschlossenen Augen aufgetaucht – dasselbe, das ihr gestern Abend hier gekommen, als er die Verse las, welche das junge, eben vermählte Paar auf dem Decke des Rheindampfers zeigten – dasselbe Bild in derselben Klarheit des Sommermorgens und des Sonnenscheins, der in den Falten ihres grauseidenen Reisekleides mit zarten Reflexen spielte und auf den goldenen Rändern von Eugen Silbermann's Pince-nez –

Bei ihr selbst lag die Entscheidung! einzig und allein bei ihr! bei ihr: ob der Vater, dessen Stimme von tiefster angstvoller Erregung zitterte, in einer Stunde die Börse beherrschen und die Curse dictiren, oder sich davon schleichen würde, als ein geschlagener Mann, der das Spiel von vorn beginnen muß; ob die Mutter dort das dolce far niente, an das sie so gewöhnt, in welchem sie sich so glücklich fühlte, weiter leben durfte oder nicht; ob der kleine Eugen Silbermann, Dankesworte stammelnd, ihre Kniee umklammern; ob der mächtige Mann, dessen Herz sie gestern, als würde es zerspringen, an ihrem Busen hatte klopfen fühlen, zerschmettert zu ihren Füßen zusammenbrechen sollte!

Und ein sonderbares Gefühl, wie sie es so noch nie gehabt, durchschauerte und durchrieselte sie bis in die Spitzen ihrer schlanken Finger – ein Gefühl, das aus süßester Lust und aus Grausen unheimlich gemischt war; aber die Lust war viel stärker als das Grausen, so stark, daß Frau Goldheimer, welche eben mit ausgebreiteten Armen auf sie zukam und bemerkte, wie ihre Augen sich plötzlich schlossen, während es um die leicht geöffneten Lippen seltsam zuckte, schon wieder im Begriffe war, die elektrischen Klingeln in Bewegung zu setzen. Aber da hatte Melanie sich auch schon erhoben und stand jetzt ruhig da, die Eltern mit einem Lächeln anschauend, das zu der Situation und zu ihren Worten so wenig zu passen schien.

Ich habe schon vorhin der Mama gesagt, daß Ihr Wild denn doch sehr unterschätzt, wenn Ihr glaubt, ihm damit entgegentreten zu können. Du wirst es empfinden, Papa, in dem Momente, wo er zur Thür herein kommt; Du wirst das Meiste davon gar nicht vorzubringen wagen. Und was das Mädchen betrifft, mit dem Wild verlobt sein soll und von der Du meinst, daß ich schon um ihrethalben ihm entsagen müßte, und wenn ich ihn noch so sehr liebte, und daß ihr Vater Dir mitgetheilt habe, wie sie entschlossen sei, ihre Rechte an Conrad in jeder nur möglichen Weise geltend zu machen – es thut mir leid, Papa, daß ich Dir auch darin widersprechen muß. Fräulein Kempe ist eben bei mir gewesen – in meinem Toilette-Zimmer; wir haben eine lange, intime Unterredung gehabt; sie giebt Wild vollkommen frei, sie erhebt auch nicht die mindesten Ansprüche, im Gegentheil, sie ist, wenn ich sie recht verstanden, Willens, Conrad's Schulden, aus denen Du ein so großes Wesen machst, Papa, zu bezahlen; auf jeden Fall hat sie mir schon im voraus förmlich ihren Segen gegeben, und wenn sie Wild auch heute Morgen vergeblich gesucht hat, und er also von der Gesinnung der Dame vorläufig wohl noch nicht unterrichtet ist – ich möchte Dir doch nicht rathen, Papa, gegen Wild so von dem Verhältnisse zu sprechen, wie Du es eben gethan; ich könnte, falls er sich an mich wendete – der Fall würde ja unbedingt eintreten – keinesfalls Deine Worte bestätigen. Und nun möchte ich mich ein wenig in der Bibliothek ausruhen, Mama, denn ich fühle mich wirklich etwas angegriffen; und, Papa, wenn Wild kommt und nach mir fragt, und Ihr es für passend oder wünschenswerth haltet, daß ich mit ihm spreche, so schickt ihn nur immer zu mir.

Melanie hatte ihre Mutter auf die Stirne geküßt, dem Vater noch einmal zugelächelt und war gegangen – als ob sie eine Herzogin wäre, sagte Herr Goldheimer, seine Frau mit einem starren Blicke der schwarzen Augen ansehend. Was soll denn das nun heißen? was soll ich ihm denn nun sagen? Will sie ihn, oder will sie ihn nicht? – Soll er ihr Jawort haben, oder soll er es nicht? Ich werde mich doch von dem Mädchen nicht zum Narren halten lassen!

Er wollte ihr nach; seine Gattin warf sich ihm mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Schnelligkeit in den Weg und rief: Um Gottes Willen, Guido, laß mein armes Kind nun zufrieden! Es hat heute schon genug gelitten! Und ich kann es auch nicht mehr aushalten – wir können es Beide nicht mehr aushalten!

Ich glaube, Ihr seid toll! kreischte der Banquier, sich mit den Händen in das dichte, blauschwarze, nur an einzelnen wenigen Stellen mit Grau leicht untermischte Haar fahrend, Beide toll! oder Ihr wollt mich toll machen! Könnt es nicht mehr aushalten? und es ist noch nichts geschehen, kein Entschluß gefaßt, keine Verabredung getroffen; im Gegentheil! was ich mühsam zusammen gebracht und aufgebaut, umgeworfen wie ein Kartenhaus! und Ihr könnt es nicht mehr aushalten! Göttlich!

Er brach in ein heiseres, unheimliches Lachen aus; aber er hatte doch nicht gewagt, seine Lucia auf die Seite zu schieben und Melanie in die Bibliothek nachzueilen. Statt dessen rannte er nun in dem kleinen Salon umher – mehr als je einem gefangenen Raubthiere gleich – Verwünschungen, Drohungen vor sich hinmurmelnd, um plötzlich vor der Uhr auf dem Kamin stehen zu bleiben und zu rufen: Zwölf Uhr! und um Zwölf wollte er kommen!

Ich denke, er soll nicht angenommen werden, sagte Frau Goldheimer; Gott der Gerechte!

Sie deutete mit zitternder Hand auf die Portierenthür, die in den »Gelben Saal« führte; denn quer durch den Saal kam jetzt ein Schritt, den sie sehr genau kannte, den sie seit einem Jahre stets, so oft sie ihn hörte, mit einem verständnißinnigen Lächeln zu Melanie hinüber begrüßt: sein Schritt!

Auch Herr Goldheimer hatte den Schritt erkannt. Wie ein Blitz war er durch die Portierenthür geschossen und hatte die Thürflügel, welche für gewöhnlich in der Wand ruhten, hastig hinter sich zugeschoben, um durch die letzte Spalte seine Lucia am Kamin in einem Fauteuil zusammensinken, und, sich wendend, Conrad Wild's stattliche Gestalt vor sich stehen zu sehen.

Fräulein Melanie ist krank? im Salon?

Im Salon? meine Melanie?

Die Leute, unter denen einige Verwirrung herrschte, sagten so. Es schien, daß Sie für Niemand zu Hause sein wollten, außer für Ihren Hausarzt, wie ich mir gegen Jean's Autorität anzunehmen erlaubte. Was ist mit Fräulein Melanie?

Aber nichts, absolut nichts, lieber Doctor; das heißt, sie hatte eine kleine Anwandlung von – mein Gott, wann haben unsere Frauen dergleichen nicht! aber es ist längst wieder gut, vollkommen gut; meine Frau wird – die beiden Damen werden – sie wollten ausfahren – wenn Sie also sonst in Eile sind, lieber Freund, geniren Sie sich meiner Frauenzimmer wegen nicht – man kommt bei ihnen am folgenden Tage meistens noch immer zeitig genug –

Und Sie selbst?

Ich! großer Gott, ich habe nicht Zeit, an mich zu denken; ich habe heute den Kopf so voll! ich bin so –

Fieberhaft aufgeregt, sagte Wild.

Er hatte die Hand des Banquiers ergriffen und nach dem Puls gefühlt, indem er gleichzeitig seine Uhr hervorzog: vierundzwanzig, fünfundzwanzig – hundert bis hundertzwei in der Minute; das ist ein wenig viel, lieber Herr Goldheimer, selbst wenn man für gewöhnlich einige achtzig zählt. Sie sollten sich wirklich mehr in Acht nehmen, werther Herr; oder wir haben die Herzbeutelentzündung vom vergangenen Herbst noch in diesem Frühjahr in höherem Grade.

Er hatte den Banquier, indem er ihn am Handgelenk fest hielt, mit sanfter Nöthigung in einen Stuhl gedrückt und selbst vor ihm Platz genommen. Die beiden Männer saßen sich so ein paar Momente stumm gegenüber, der Banquier vorn übergebeugt, ohne aufzublicken, mit den Quasten des Sessels spielend, Wild hinten übergelehnt, die Arme leicht über der breiten Brust verschränkt und die großen, strengen, leuchtenden Augen fest auf den Gegner gerichtet, als wolle er, vor dem Beginn des Kampfes, noch einmal überschlagen und berechnen, wer der Stärkere sei. Der flüchtigste Schimmer eines Lächelns spielte durch seine ernsten Züge, als er jetzt zu sprechen begann:

Herr Goldheimer! ich habe als Arzt die Gewohnheit, sobald ich erst einmal mit der Diagnose eines Falls im Reinen bin, auch über den einzuschlagenden therapeutischen Weg nicht lange zu schwanken, sondern, das Ziel im Auge, mit aller Entschlossenheit auf dem kürzesten Wege darauf los zu gehen. Verstatten Sie mir in der Angelegenheit, in welcher ich mir diese Unterredung erbeten, nicht anders zu verfahren, um so weniger anders, als, wie die Sachen liegen, die größte Loyalität und Offenheit von beiden Seiten gebieterische Pflicht ist und jeder Winkelzug, jede diplomatische Finesse selbst, uns verderblich werden kann. Vielleicht hätten wir schon früher diesen Weg betreten sollen; aber wir haben keine Zeit, über Geschehenes oder Unterlassenes uns die Köpfe zu zerbrechen; und sodann, was für mich entscheidend ist: ich weiß erst seit gestern Abend mit der vollen Gewißheit, die mir in meiner Situation unumgängliche Nothwendigkeit war, daß, wie ich Melanie schon längst geliebt habe, sie mich wahrscheinlich ebenfalls schon lange geliebt hat und jedenfalls jetzt liebt.

Durch des Banquiers graubleiches Gesicht zuckte es und die schwarzen Augen hoben sich mit blitzschnellem, feindlichen Aufschlag, senkten sich aber sofort wieder, als sie dem klaren, stetigen Blick des Mannes ihm gegenüber begegneten.

In meiner Situation, wiederholte er, in welcher ich es nicht auf ein Vielleicht ankommen lassen durfte, sondern festen, ganz festen Grund unter den Füßen haben mußte, so festen Grund, daß ich vor den Vater der Geliebten hintreten und mit demselben Athem ihn um seine Einwilligung und um die Bezahlung, die sofortige Bezahlung meiner Schulden bitten konnte. Manchem Anderen gegenüber würde mich ohne Zweifel die bloße Möglichkeit einer solchen Constellation, die jetzt eine Wirklichkeit und eine Notwendigkeit geworden ist, ein wenig verlegen gemacht haben; aber ein Mann von Welt, der auch ein Börsenmann ist, wie Sie, weiß zu gut, daß man unter Umständen auch etwas riskiren muß, und als ehrlicher Kaufmann riskiren darf, wenn man sich darauf gefaßt gemacht hat, die Differenz zu bezahlen.

Und wieder zuckte es durch des Banquiers dunkles Gesicht, aber die schwarzen Augen hoben sich diesmal nicht; und Wild fuhr nach einer kurzen Pause, während sein Blick unverwandt an dem dunklen Gesicht haftete, mit einem Lächeln fort, das diesmal deutlicher hervortrat, und länger um seine Lippen schwebte:

Man erzählt sich, Herr Goldheimer, daß auch Sie heute eine starke Differenz zu zahlen haben werden, eine sehr starke Differenz, neben der sich meine zehntausend Thaler Schulden sehr – sehr kindlich ausnehmen; aber in Wahrheit sind meine Schulden auch meine geringste Sorge. Wenn man, wie ich, bereits zehn Jahre oder so von Schulden lebt, wird man es zuletzt einigermaßen gewohnt. Seit den letzten drei Jahren haben wiederholt Katastrophen für mich herein gedroht, die ich noch immer zu beschwören wußte; und obgleich die Lage diesmal, Dank den Bemühungen des Herrn Weikert – der Mann ist bei Ihnen gewesen? hat Ihnen Wechsel von mir angeboten, die Sie natürlich gekauft haben? – ich dachte es mir! er gehört zu den gründlichen Schurken, die nicht leicht etwas halb thun – ich sage, obgleich meine Lage diesmal entschieden bedenklicher ist: ich habe die Geduld meiner reichen Freunde hier noch nicht erschöpft, denn ich bin ihnen bei meinen kleinen Finanzoperationen stets sorgfältig aus dem Wege gegangen und ich würde mich mit Hilfe derselben, falls Sie, Herr Goldheimer, mir Ihren Beistand versagt hätten, auch heute mit meinen Gläubigern zu arrangiren gewußt haben. Aber die Differenz – meine Differenz bezahlte ich damit nicht.

Zum ersten Male irrte sein Blick seitwärts und seine klare feste Stimme bebte.

Meine Differenz bezahle ich mit dem höchsten Gute eines Mannes in meiner Situation: mit dem Vertrauen zu mir selbst, das ich auf immer verlieren würde, wenn ich jetzt und hier nicht reüssire; bezahle sie mit dem Zweifel, ja der Verzweiflung an allen glänzenden Idealen, die mir auf immer zu häßlichen Fratzen werden, wenn ich dies Alles gethan, gelitten, geopfert habe, um – Hekuba; wenn – aber ich vergesse, daß ich zu einem matter-of-fact-man spreche, der mit solchen Expectorationen wenig anzufangen weiß, besonders wenn ihm der Kopf von seinen eigenen Angelegenheiten schwirrt. Ich erlaube mir anzunehmen, daß ich Ihr Schweigen nach dem bekannten Grundsatze richtig deute und daß ich Ihre Zustimmung habe, und, weil ich sie habe, jetzt mit dem Freimuth eines Freundes über Ihre Differenz sprechen darf.

Seine großen prächtigen Augen ruhten wieder voll auf der schmalen, dunkeln Gestalt des Mannes vor ihm, der bei seinen letzten Worten zusammengezuckt war, als ob er aus dem Sessel aufspringen wollte, und dann zurücksank, wie wenn ihn eine unsichtbare Hand, gegen deren Kraft die seine machtlos war, wieder in den Sessel drückte.

An Sie, lieber Herr Golzheimer, ist die Versuchung herangetreten, Ihre Differenz bezahlen zu wollen mit dem Glück Ihres einzigen – ich meine mit dem Glück Melanie's, das an der Seite dieses – Strohmannes nicht blos compromittirt, nein, – unwiederruflich, unwiederbringlich verloren wäre. Unwiederbringlich, sage ich, Ihr Freund, – Ihr Arzt! Man lebt nicht ungestraft das Leben unserer jeunesse dorée; Keiner thut es, aber man geht daraus als Banquerotteur hervor im moralischen und auch im physischen Sinne, wenn man – Eugen Silbermann ist. Ich freue mich, daß ich dies jetzt erst zu sagen brauche, wo es keine Warnung mehr ist, sondern ein Glückwunsch nach überstandener Gefahr.

Oder einer Gefahr doch, die überstanden werden muß, die zu überstehen ich Ihnen helfen kann. Ja, ich: Es ist lächerlich, nicht? und trotzdem! Ich komme unmittelbar zu Ihnen von Max Lombard, der im Begriffe war, zur Börse zu fahren, wo Sie nebenbei in spätestens fünfzehn Minuten sein müssen. Ich habe mithin doppelten Grund, mich kurz zu fassen, und so denn, kurz und gut! Max Lombard interessirt sich für mich nicht blos, weil ich ihm gestern Abend den Stoff für eine seiner geistreichen Tischreden gegeben habe, sondern weil er mir – und nicht erst seit gestern – für die geringen Dienste, welche ich ihm und seiner jungen Familie habe leisten können, aufrichtig dankbar und ergeben ist. Dazu kommt, daß er eine dunkle Ahnung mit sich herumträgt, er dilettire nicht nur in den schönen Künsten, sondern auch in der Finanzkunst, wo die Sache, in Anbetracht seiner Millionen, bedenklich zu werden droht. Er sehnt sich nach einem Mentor, wenn ich mich so ausdrücken darf, ist überzeugt, daß Sie dieser Mentor sein könnten, wenn Sie wollten, und giebt sich der Hoffnung hin, daß Sie wollen werden, wenn er es Ihnen überläßt, die Bedingungen der entente cordiale zu dictiren, wobei er als selbstverständlich voraussetzt, daß Sie heute damit den Anfang machen. Er erwartet Sie am Eingange der Börse und hofft, Ihnen von dem Gesichte abzulesen, daß der segensreiche Bund zwischen den Häusern Lombard und Goldheimer Sohn an dem unvergeßlichen Ultimo dieses Märzmondes bis zu den spätesten Zeiten nachwachsender Enkelgeschlechter auf der unerschütterlichen Basis gegenseitiger Achtung, Liebe – und so weiter, und so weiter – weshalb soll ich dem guten Jungen seine nächste Tischrede verderben! Und nun, lieber Herr Goldheimer, habe ich Sie nur schon zu lange aufgehalten. Eilen Sie zur Börse, wo man Sie mit offenen Armen empfangen wird; ich will einen Besuch im Rothen Salon abstatten, wo man mich, glaube ich, halb und halb erwartet.

Wild hatte sich erhoben; aber selbst dabei und während er den Fauteuil zurückschob, verwandte er kein Auge von dem schwärzlichen Gesicht des Mannes ihm gegenüber, als sei es ein Panther oder eine andere wilde Bestie, und diese Bestie würde in dem Moment, wo er mit der Wimper zuckte, auf ihn einspringen. Und wirklich hatte Herr Goldheimer während der Unterredung ganz vergeblich versucht, den Blick der leuchtenden, blauen Augen auszuhalten; aber jetzt mußte es sein. Er konnte das nicht länger ertragen, erdulden: die unerhörte Keckheit, mit der dieser pfenniglose Abenteurer auftrat, die souveräne Verachtung des Geldjuden, die aus Allem, aus seiner Freundlichkeit selbst hervorblickte, die Protectormiene, die er gegen ihn – Guido Goldheimer! – anzunehmen wagte! Und wenn die Vortheile der Verbindung mit dem jungen Max Lombard noch zehnmal so groß wären – er wollte sie nicht, durch diesen Menschen nicht, den er haßte, den er fürchtete, gegen den sich Alles in ihm empörte, der ihm im Wege stand, der ihm aus dem Wege mußte, den er mit Wollust unter die Füße getreten, mit den Füßen zertreten hätte, und der jetzt, als er die Augen mit gewaltsamem Entschluß zu ihm aufschlug, vor ihm stand, machtvoll wie ein eherner Thurm, gegen den ein Knabe mit Muscheln wirft. Und doch!

Sie sind sehr gütig, ausnehmend gütig, lieber Herr Doctor; aber ein wenig schnell, ein wenig – wie soll ich sagen! – allzu selbstvertrauend; allzu sehr von oben her auf uns kleine Leute herabsehend, die so anmaßend sind, ebenfalls ihre Ansichten zu haben, ihre Wünsche, ihren Willen zur Geltung bringen zu wollen. Und wenn ich nun nicht wünschte, daß Melanie einen Christen heirathete?

So kann sie getrost mein Weib werden, der ich mich längst von jeder positiven Religion losgesagt habe.

Aber sie soll einen Juden heirathen!

Eugen Silbermann?

Das wäre denn meine Sache.

Und doch auch ein wenig die Ihres Fräulein Tochter, solle ich denken. Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen zu bemerken, daß ich mindestens seit gestern Abend der Liebe Melanie's gewiß bin.

Herr Doctor, Sie wagen, von meiner Tochter zu behaupten –

Daß sie mich liebt, nicht mehr, nicht weniger: Sie werden nicht verlangen, daß ich damit einer Dame etwas Schlimmes nachzusagen glaube.

Schlimm oder nicht; aber meine Melanie wird nie die Frau eines Mannes werden, der –

Nun, Herr Goldheimer, der?

Im Stande wäre, es mit dem Herzen und dem Glücke meiner Tochter eben so cavalierement leicht zu nehmen, wie er es mit dem einer anderen Dame und mit ihrem Gelde nicht minder gethan hat.

Also auch das!

Und aus dem Munde der Dame selbst – Fräulein Christiane Kempe – heute erst – in dieser Stunde erst –

Aus ihrem Munde? in der That? aus ihrem Munde! Nun wohl!

Er war, als Herr Goldheimer Christanen's Namen nannte, zusammengezuckt und eine finstere Wolke hatte sich zwischen seinen Augen gelagert und lag noch da, als er jetzt, die Arme über der Brust verschränkend, mit leiser Stimme, aber jede Sylbe dem Gegner zuzählend, sagte:

Es ist in meinen Augen immer besser, und jedenfalls ehrlicher, wenn dergleichen Verhältnisse, deren Mutter die Thorheit und deren Vater der Unverstand ist, und aus denen deshalb nichts als Unheil und Unglück kommen kann, abgebrochen, definitiv abgebrochen werden, bevor man mit sehenden Augen ein Verhältniß für das Leben eingeht. Besser und ehrlicher und auch viel weniger grausam, als sie, mit der Maske des treuen Gatten vor dem begehrlichen Gesicht, unter dem Schleier der Nacht fortzusetzen – meinen Sie nicht, Herr Goldheimer?

Der Banquier hatte die drohende Haltung verloren; sein Gesicht war grau wie Asche geworden. Sie wissen – stammelte er.

Seit einem stürmischen Abend des letzten Decembers schon, wo mich mein Beruf – ich war in der Nähe beschäftigt gewesen und in dringenden Fällen ist der erste Arzt für ein geängstigtes Mutterherz immer der beste – in ein kleines Haus führte; – Sie kennen das kleine Haus, Herr Goldheimer, das Sie vor einer ganzen Reihe von Jahren mit einem gewissen Luxus einrichteten, der jetzt recht fadenscheinig geworden ist, wie Sie sich überzeugen würden, wenn Sie einmal wieder, und dann vielleicht bei Tage, das kleine Haus betreten wollten. Sie haben es seit Jahren nicht gethan – nun, das pflegt ja so zu sein; aber, Herr Goldheimer, Frau Rebecca, wie sie sich nennt, und ihre drei Kinder gehören zu meiner Armenpraxis! Bei meiner Ehre! ich hatte nicht die Absicht, von diesen Dingen zu sprechen, bevor ich ein besseres Recht hätte. Bei meiner Ehre! ich werde nie wieder von denselben sprechen, weder zu Ihnen noch zu einem Dritten, Sie mögen nun mein gutes Recht anzuerkennen, oder nicht. Und nun ein Wort nur noch mit Ihrer Frau Gemahlin – zwischen Melanie und mir bedarf es keiner Worte mehr.

Sie waren bis zur Thür nach dem Rothen Salon gekommen. Auf Wild's Klopfen ertönte ein mattes Herein; er wandte sich zu dem Banquier:

Sie sind in diesem Augenblicke noch nicht im Stande, gute Miene zu dem zu machen, was Ihnen, sehr mit Unrecht, als ein böses Spiel erscheint. Ich bin in höchstens fünf Minuten wieder bei Ihnen; Sie setzen mich dann, wenn es Ihnen recht ist, an der Universität ab – großer Gott, das akademische Viertel ist schon vorüber – und fahren weiter nach der Börse, um mit Max Lombard den Curszettel zu dictiren.

Er winkte lächelnd mit der Hand, Herr Goldheimer lächelte ebenfalls; aber als die mächtige Gestalt des Verhaßten jetzt nicht mehr vor ihm aufragte und die gewaltigen Augen auf ihn herabblitzten, verzerrte sich sein Gesicht; die schwarzen Augen sprühten, die Zähne knirschten auf einander, die Fäuste ballten sich. Daß Du verflucht seist! keuchte er, verflucht!

Seine Hand lag auf dem Krystallknopfe der Thür und sank wieder herab. Alles vergebens! Alles verloren! Wenn er den Verhaßten, den Entsetzlichen nicht hatte zurückhalten können – was sollten dann die Frauen thun? Seine Frau, die für ihn schwärmte; Melanie, die ihn liebte! Verflucht, verflucht! ich Tropf, ich Feigling, ich Narr!

Und Herr Goldheimer fiel ganz gebrochen in den nächsten Stuhl, die glasig starren Augen auf die Thür gerichtet, die sich jeden Moment öffnen konnte, ihm den Verhaßten zu zeigen, wie er Hand in Hand mit Melanie hereintrat, sich den Segen des Vaters zu erbitten!

In dem Rothen Salon aber sprach Wild zu Frau Goldheimer, die vor ihm saß, und deren beide Hände er in den seinen hielt:

Ihren Segen habe ich, verehrte Frau und ich habe ihn nicht erst jetzt. Wenn je eine Mutter wußte, daß ihre Tochter geliebt wurde, und wie sehr – so wußten, so wissen Sie es, unter deren milden, freundlichen Augen unsere Liebe aufgeblüht ist und sich entfaltet hat, schön und herrlich wie eine Blume im Lichte der Sonne. Ich danke Ihnen – mit Worten zu dieser Stunde, mit der thatkräftigen Liebe eines treuen Sohnes für mein ganzes Leben.

Er küßte Frau Goldheimer's Hände; über das Gesicht der gutmüthigen Frau strömten die heißen Thränen.

Gott segne Sie, lieber Conrad; ich kann es Ihnen nicht ausdrücken, wie glücklich es mich macht. Ich habe ja nie etwas dagegen gehabt, und wenn Goldheimer Ja sagt und sich das mit Max Lombard so gut arrangirt – so glänzend wird es ja immer nicht werden und auf das Meißner-Service, das der König nicht hat kaufen wollen, weil es ihm zu theuer war, wird Melanie ja nun auch wohl verzichten müssen, und bis nach Aegypten, für das sie so schwärmt, werdet Ihr schwerlich auf Eurer Hochzeitsreise kommen, wenn Sie sagen, daß Sie Ihre Patienten nicht so lange allein lassen können, und ich kann mir meine Melanie überhaupt gar nicht recht als eine Frau Doctorin denken – nein, wahrhaftig, lieber Wild, das kann ich nicht, wenn Sie auch lachen – es ist mir rein unmöglich: mit den vielen Leuten im Wartezimmer und dem Porzellan-Schild an der Hausthür, das ich wirklich ganz indiscret und abscheulich finde, und der Nachtklingel – na, meinetwegen, mir soll schließlich Alles recht sein, wenn es Goldheimer und Melanie recht ist. Sie ist in der Bibliothek. Gott, was wird das für eine Glückseligkeit sein! und wollen Sie es wohl glauben, lieber Wild, es ist noch keine zehn Minuten her, ging sie da zur Thür hinaus und ich meinte nicht anders, als es sei Alles vorbei und keine Ahnung, daß Ihr Euch schon gestern Abend verlobt hattet! Warum hat sie es denn nicht gesagt? Die ganze Scene vorhin wäre unmöglich gewesen – eine so häßliche Scene, lieber Wild! ich darf gar nicht daran denken!

Sie dürfen es auch nicht, sagte Wild, sich erhebend; dies und alles Andere liegt hinter uns, und vor uns die Zukunft, von der ich nichts so deutlich sehe, als das kleine bezaubernde Diner, das sie uns heute – ganz entre nous, wenn ich bitten darf – in gewohnter Weise, die eben nur Ihre Weise ist, arrangiren werden und an dessen Menu Sie jetzt wirklich ein paar Minuten ruhig denken müssen.

Er hatte gelacht, als er es sagte und dabei Frau Goldheimer's rundliche kleine Hände noch einmal küßte; und er hatte gelacht, als er in der Thür stand und mit Augen und Hand noch einmal heiter grüßte.

Aber wie er jetzt durch das Zimmer schritt, welches die Bibliothek von dem Rothen Salon trennte, war jede letzte Spur heiteren Lachens aus seinem Gesichte verschwunden. Einmal stand er still und faßte krampfhaft nach dem Herzen und dann raffte er sich mit einer ungeheuren Anstrengung auf und seine bleichen Lippen lächelten wieder. – Ich will's – und wäre der Preis auch weniger köstlich, ja wäre er des Kampfes nicht Werth – ich will's.

Melanie!

Sie hatte am Kamin gesessen – gerade wie neulich als Gretchen vor dem Bilde der mater dolorosa, – vornübergebeugt, das Gesicht in die flachen Hände gedrückt und die langen, dunklen Flechten, von denen sich die eine gelöst – gerade wie neulich – waren ihr über die Schultern gefallen und berührten mit den Spitzen den Teppich. Sie hatte, wie es schien, seinen Schritt nicht gehört, nicht das Rauschen des Gobelin-Teppichs; und als er jetzt zärtlich leise ihren Namen nannte, sprang sie mit einem Schrei der Ueberraschung, der trefflich herauskam, ihm entgegen, an seinen Hals, und ihre Lippen zitterten auf seinen Lippen.

Den letzten, den letzten!

Sie hatte sich alsbald wieder aus seinen Armen frei gemacht, und stand nun, halb von ihm abgewendet, da, die eine Hand gegen die Stirn drückend, mit der anderen winkend, daß er sie verlassen solle.

Wild faßte mit raschem Griff diese Hand und zog die sich vergebens Sträubende an sich: Wie, Mädchen, was heißt das? Du bist ja mein, meine Melanie! meine süße, holde Braut!

Sie hing mit geschlossenen Augen, wie halb ohnmächtig an ihm.

Ich kann nicht, murmelte sie; ich kann meinen gütigen Vater nicht in seiner Noth verlassen; ich kann die geliebte Mutter nicht dem Elend preisgeben.

Noth? Elend? Du träumst, Melanie! hohle Masken, Dich zu schrecken, nichts weiter!

Sie werden nie ihre Einwilligung geben!

Sie haben sie gegeben; ich komme von Deinen Eltern. Was auch zwischen mir und Dir lag: es ist Alles aus dem Wege geräumt, Alles!

Sie hatte es ja gewußt; sie hatte es ja vorausgesagt: er würde Alles aus dem Wege räumen, Alles! Auch dieser Versuch, sich loszuwinden, war vergeblich; aber sie hatte nun einmal angefangen; und jedenfalls mußte sie wieder aus seinen Armen sein, bevor sie das letzte Wort sprach. Die schönen Augen blickten mit sanftem Vorwurf zu ihm auf:

Auch die Erinnerung an Deine erste Liebe?

Sie war bei Dir?

Ja.

So wird sie, so muß sie Dir gesagt haben, daß sie mich frei giebt; ich weiß es, als wäre ich zugegen gewesen. Und irrte ich mich dennoch – verfolgte sie mich wirklich mit einer Liebe, die ich nicht mehr erwiedern kann – nun, so war sie auch die nicht werth, die ich jemals für sie zu empfinden glaubte, empfunden habe. Noch einmal, Melanie: weg mit den bösen Träumen! fort mit den hohlen Masken; Aug' in Auge, Mädchen! Melanie! meine Melanie! Du darfst es sein; Du kannst es sein! Du bist es, denn Du willst!

Er hatte sie wirklich losgelassen; jetzt kam er wieder auf sie zu mit ausgebreiteten Armen. Sie wich nicht zurück, sie regte sich nicht; keine Spur leidenschaftlicher Wallung in dem holden, blassen Gesicht; ein leichtes Zucken nur der feinen Nasenflügel, und ein kaum hörbares Schwingen in der weichen, klangvollen Stimme:

Sie irren sich, lieber Freund: ich will nicht.

Er war stehen geblieben, die Arme sanken langsam herab; in seinen Augen begann es seltsam unheimlich zu leuchten; auf der hohen, weißen Stirne trat plötzlich eine blaue Ader drohend hervor. Aber ihre langen Wimpern zuckten nicht; so standen sie – Aug' in Auge – ein paar Secunden.

Dann war dies Alles, Alles nur Comödie?

Wenn Sie es so nennen wollen!

Und wie soll ich es sonst nennen? und wie soll ich Dich nennen! Dich!

Um Gotteswillen, morden Sie mich nicht!

Er riß die Knieende, Zitternde an beiden Händen empor und schleuderte sie von sich.

Wie das immer gleich an seinen Leib denkt! Wird die Dirne mir nicht noch sagen, daß wir ja trotzdem Freunde bleiben können? so ein kleines conto-meta-Geschäft? stiller Theilhaber? Discretion selbstverständlich?

Er war vor der Büste der Pallas stehen geblieben.

Du hast es mir gestern gesagt; ich habe nicht auf Deine Warnung gehört. Wen ihr verderben wollt, ihr schnöden Götter, dem raubt ihr ja zuvor den Verstand.

Er schritt langsam nach der Thür und blieb noch einmal stehen.

Sag' Deinem Vater, er solle das da wegnehmen lassen und eine Phryne – pah!

Er hatte sich nicht die Mühe genommen, sich nach ihr umzusehen, die irgendwo in einem Fauteuil zusammengebrochen lag; und so schritt er hinaus.

Die große Thür der Bibliothek führte auf den Flur, aus dem die breite, mit kostbaren Teppichen belegte Marmortreppe nach unten leitete. Langsam stieg er die Treppe hinunter. Jean hatte sich vorhin gegen Franz gerühmt, er wolle dem Doctor, mit dem es ja nun doch aus sei, wenn er herabkomme, das leere Portemonnaie zurück und bei der Gelegenheit seine ganze Verachtung zu erkennen geben. Aber so oder so, die Gelegenheit mußte nicht so günstig sein, wie Jean gedacht hatte; wenigstens behielt er seine Verachtung ganz still für sich und das Portemonnaie in der Tasche, half dem Herrn Doctor mit aller Höflichkeit den Ueberrock anziehen, und öffnete ihm zuvorkommend die Glasthür zu dem Vestibül, wo dann der galonnirte Portier, nicht minder zuvorkommend, dem Herrn Doctor die Hausthür öffnete und gleich offen ließ, weil in demselben Moment eine Halbchaise vorgefahren kam, in welcher zwei Herren saßen.

Als Wild vorüberschritt, machte der Diener gerade den Schlag auf; aber der jüngere von den beiden Herren, der im Begriff war, auszusteigen, zog den lackirten Stiefel, welcher bereits auf dem Tritt stand, eiligst wieder in den Wagen, wobei ihm das goldene Pince-nez von der Nase fiel, während der ältere über seine Schulter einen wüthenden Blick aus seinen schwarzen Augen auf Wild schoß.

Wild seinerseits schien die Beiden nicht mehr zu beachten, als der Zuschauer einer Posse ein paar Figuren beachtet, die in dem Momente auftreten, wo er sich, angeekelt von dem schalen Treiben, von seinem Sitze erhebt und hinausgeht.



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