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Fünftes Kapitel

Es war eine Stunde später, wenige Minuten vor zwölf, als an dem Abfahrtperron des Berlin-Sundiner Bahnhofes eine Droschke vorfuhr, von deren Bock August schnell herabsprang, dem General herauszuhelfen. Der General stieg die Stufen hinauf, während August sich vergebens nach einem Gepäckträger umsah.

Ich sagte es Ihnen ja, rief der Droschkenkutscher, August den kleinen Koffer zulangend, unsereiner wird doch das wohl kennen.

Wer weiß, ob es so nicht besser ist, dachte August, eilig seinem Herrn nachlaufend, der in der leeren Empfangshalle vor der Billettausgabe stand, an deren geschlossenem Fenster die grünen Gardinen heruntergelassen waren.

So hat der Mann doch recht gehabt, sagte der General.

Zu Befehl, Herr General, sagte August.

Ein Gepäckträger, der vorüberging, bestätigte die Aussage des Droschkenkutschers. Der Mittagszug ging seit dem heutigen Ersten um elf; der nächste Schnellzug in der Nacht um zwölf Uhr, wie sonst. Ein höherer Beamter trat heran; er hatte in dem Regiment gedient, das der General, als Oberst, zuletzt kommandiert: Wenn es der Herr General, wie es scheine, so eilig habe – da sei vor wenigen Minuten ein Herr auch zu spät gekommen; der Herr habe einen Extrazug verlangt; es werde schwer halten, da alle Züge heute mit zwei Lokomotiven hätten abgelassen werden müssen, des Sturmes wegen, der ja oben, nach Sundin zu, furchtbar wüten solle. Auch müßten sie ein paar Lokomotiven in Reserve halten, falls ein Unglück passierte, um so mehr, als die Telegraphenleitung nach Sundin bereits zerstört sei und sie etwaige Nachrichten nur auf großen Umwegen erhalten würden. Indessen ließe es sich doch vielleicht noch machen. Der Herr sei eben nach dem Herrn Inspektor gegangen, der draußen bei dem Güterschuppen sei; käme aber gewiß bald zurück. Ob der Herr General nicht so lange verziehen möchte?

Mit diesen Worten hatte der Beamte dem General das Wartezimmer der ersten Klasse geöffnet. Der General war mechanisch gefolgt; der Beamte sagte, daß er selber einmal nachsehen und hernach Bescheid bringen wolle, und verließ das Zimmer. August, der mit dem Koffer hinterher gekommen war, fragte, ob der Herr General noch etwas zu befehlen habe? Der General sagte, daß er warten solle, er wisse noch nicht, was er tun werde. August ging tief bekümmert; es war das erste Mal, solange er bei dem Herrn General diente, daß der General nicht wußte, was er tun werde.

In der Tat war der unglückliche Mann in einem Seelenzustand, der an Wahnsinn grenzte. Nach der fürchterlichen Abrechnung mit seinem Sohne alles, was ihm noch von Kraft blieb, auf den einen Punkt konzentrierend: Rache, ungesäumte, unerbittliche Rache nehmen zu wollen an dem tückischen Buben, dem gleißnerischen Schurken, der – sein Herz wußte es, wenn auch der getrübte Verstand die Einzelheiten der Intrige nicht durchschaute – ihm jetzt den Sohn geraubt, wie vormals die Schwester, und Schande über Schande auf den stolzen Namen der Werben gehäuft – in dem Augenblicke, wo er – nur dies denkend, nur dies denken wollend – in den Wagen stieg, der ihn zur Eisenbahn bringen sollte, waren zwei Briefe eingetroffen: ein expresser Postbrief von Elses Hand und ein Billett, das Schönaus Bursche brachte. Er hatte den Brief Elses zuerst erbrochen und die wenigen Zeilen nur soeben überflogen, ohne kaum den Inhalt zu verstehen. Wie konnte er's! wie konnte er Verständnis, Sinn, Gefühl für etwas auf der Welt haben, bevor er wußte, was das Billett enthielt! Er wußte es ja! es konnte nichts anderes sein! Schönau hatte nicht einmal gewagt, selbst zu kommen, zu sagen: – er ist tot!

So hatte er lange gesessen, das entsetzliche Billett in seiner bebenden Hand, und endlich – schon ganz in der Nähe des Bahnhofes – ohne einen Entschluß zu fassen, mechanisch nur – hatte er es aufgerissen und gelesen, um das Blatt dann mit der Hand zusammenzudrücken und in die Tasche zu stecken und sich in die Wagenecke zurückzulehnen mit einem schauerlichen Lächeln auf dem bleichen, verwüsteten Gesicht.

Und nun schritt er auf und nieder in dem großen, dumpfen Gemach von dem Spiegel zwischen den beiden Fenstertüren, die auf den Perron führten, bis zu der Tür nach der Empfangshalle und wieder zurück, nur manchmal an dem Tisch in der Mitte vor dem Kofferchen stehen bleibend, einmal sogar die Hand danach ausstreckend, um dann, kopfschüttelnd, seine Wanderung fortzusetzen. Hatte dies alles denn noch einen Sinn? hätte er die Pistole da, zu der er die Zündhütchen in der Tasche trug, nicht ebensogut zu Hause lassen können? nicht besser getan, selbst zu Hause zu bleiben? den Dingen ihren Gang zu lassen? die Menschen gewähren zu lassen? seine Ohnmacht den Dingen und den Menschen gegenüber wenigstens sich selbst zu gestehen? und daß er ein Invalide und zu nichts in der Welt mehr gut sei, als dem Kampfe des Lebens, wie ihn die andern kämpften, müßig zuzusehen, unerfreulich, trübselig, widerwärtig und elend, wie das Schauspiel war!

Für ihn, dem das Herz gebrochen und zertreten, unerfreulich und trübselig selbst in dem, worauf sein Blick sonst mit Wohlgefallen geruht haben würde: auf dem Glück seiner Else. Es war ja nicht das Glück, das er für sie geträumt, – aber hier hatte er resigniert; es war kein glänzendes Los sicherlich, das sie sich erwählt – aber sie liebte den Mann, und er war – abgesehen von dem andern – ihrer Liebe wert. Und wieder war es nur in der Ordnung, daß in dem Moment, wo ein fremdes Auge in ihr Geheimnis gesehen, es der Vater nicht mehr allein wissen durfte, – die ganze Welt es erfahren mußte. Und doch! und doch! warum gerade jetzt, warum gerade heute? Sie war ja ohne Schuld, und er, den sie vor der Welt den Ihren nennen wollte, war ohne Schuld; aber auf ihren Namen, wie auf seinen, hatten nächste Verwandte schmachvollste Schuld gehäuft, den bürgerlichen und den adligen Namen in den Schmutz geschleift, daß jeder Bube ungestraft darauf treten durfte. Der Tod! er hatte so viel, fast alles wieder gut gemacht! Der Schande schlimmsten Teil würde das dunkle Grab geborgen haben, und was noch davon auf Erden zurückblieb – das Geflüster hämischer Zungen – es sollte bald genug verstummt sein! Hatte er zu viel verlangt? war der Tod bittrer, als die Seelenqual, die er erduldet in diesen fürchterlichen Stunden? Und war er's – Ottomar mußte zu sterben wissen; er durfte nicht auf die Schande des Betruges die tausendmal größere Schande einer feigen Flucht wälzen! Und dazu – zu dieser feigen, schimpflichen Flucht – hatte Schönau Ja und Amen sagen können? mit nicht leichtem Herzen vermutlich; er deutete sogar auf nähere Umstände hin, die er weggewünscht hätte, die aber, wie es schien, unvermeidlich gewesen seien, wenn er auch die Verantwortung dafür nicht übernehmen möchte. – So konnte der Mann denken, schreiben, den er oft, und wahrlich nicht im Scherz, einen Ritter ohne Furcht und Tadel genannt? Hatte er denn wirklich vorher seine und des Obersten Meinung so gänzlich mißdeutet? war er allein zurückgeblieben aus einer früheren besseren Zeit, unverstanden von dem jetzt lebenden Geschlecht, wie er es nicht mehr verstand? Wo blieb denn noch der Unterschied zwischen einem Edelmann und Offizier, und einem Komödianten, der vor seinen Gläubigern davonläuft, einem Kommis, der mit der Kasse seines Prinzipals durchgeht – der Unterschied zwischen Ottomar von Werben und Herrn Philipp Schmidt? Es war keiner: der bürgerliche Bankrotteur und der adlige Fälscher – sie standen auf einer Stufe; nur daß jener sagen konnte: ich habe wenigstens nicht die Stirn gehabt, der Tochter eines ehrlichen Mannes nachzustellen, meinen Vater moralisch zu zwingen, zu dem Vater des Mädchens zu gehen und sich in die demütigende Lage zu bringen, zurückgewiesen zu werden – mit Fug und Recht, wie der Erfolg gelehrt hat!

In des Generals überreizter Phantasie stand die Szene jenes Morgens plötzlich da, als hätte er sie vor einer Stunde erst erlebt. Ein trüber Tag war's, wie heute; der Herbststurm hatte um die Mauern geheult, wie heute der Frühjahrssturm, und der Regen hatte gegen die Fenster geklappert, wie eben jetzt. Und eine fürchterliche Stunde war's, als er sich so tief, so tief vor dem stolzen Plebejer demütigen mußte, wenn der Mann selbst auch das Siegel des Adels, den die Natur verleiht und das Leben manchmal bestätigt, auf seiner mächtigen Stirn, in jedem Zuge des schönen, ehrfurchtheischenden Antlitzes trug. Wenn er jemals diesem Manne wieder begegnen sollte, den Blick aushalten sollte der großen, leuchtenden Augen! wohin – wohin sollte er die Augen wenden?

Und der General, der, den starren Blick auf den Boden geheftet, kaum noch wissend, wo er sich befand, dagestanden, hob die Augen, als eine der Fenstertüren nach dem Perron klirrend geöffnet wurde und der Mann, den er eben im Geiste gesehen, hereintrat und, die Tür hinter sich schließend, auf ihn zukam.

Er fuhr sich an die Stirn; war er wirklich wahnsinnig geworden? und war es deshalb, daß das Schreckbild der Wirklichkeit so wenig ähnelte? daß das Feuer in den gewaltigen Augen erloschen, die Stirn, die der Mann so hoch trug, so tief gesenkt war? die Stimme, die jetzt zu ihm sprach, nicht in Zorn und Haß grollte, wie an jenem Morgen – eine tiefe, milde Stimme, – mild wie die Worte, die er jetzt anfing zu verstehen und die ihn zum Bewußtsein der Wirklichkeit erweckten?

Ich höre soeben, Herr General, daß auch Sie nach Sundin wollen; ich muß annehmen: in der gleichen Angelegenheit, die mich dorthin führt. Man hat mir in einer halben Stunde einen Extrazug versprochen. Wollen Sie mir die Ehre erweisen, sich derselben Gelegenheit zu bedienen?

Des Generals konzentriertes strenges Gesicht war so gramzerrissen und verwüstet; die klaren, befehlenden Augen blickten so verwirrt, so hilflos – wie damals er, so hatte jetzt Onkel Ernst durchaus die Empfindung, daß er der Stärkere, Gefaßtere sei. Er schob dem General, der sich, schwankend fast, an den Tisch lehnte, mit höflicher Gebärde einen Stuhl hin, indem er selbst vor ihm, der seiner Aufforderung mechanisch Folge leistete, Platz nahm.

Ich nehme an, Herr General, daß Sie der Brief des Herrn von Schönau erreicht hat, Ihr Hiersein die Folge dieses Briefes ist?

Der General schien es nicht verstanden zu haben; auch hatte er wirklich nur die Worte gehört. Was wußte Herr Schmidt von Schönaus Brief? Er tat diese Frage, wie sie ihm eben durch den Kopf ging. Jetzt war es Onkel Ernst, der verwundert aufschaute.

Aber Sie haben doch einen Brief von Herrn von Schönau erhalten?

Ja.

Des Inhalts, daß Ihr Sohn – abgereist ist?

Der General nickte.

Vor einer Stunde – von diesem Bahnhof – nach Sundin?

Nach Sundin? wiederholte der General. – Sonderbar, daß er darauf nicht sogleich verfallen war! Wenn Ottomar denn schon leben wollte, so mußte freilich die Rache an dem Schurken das erste sein; oder war es das letzte, was er noch vor seinem Tode ausführen wollte? Er hätte es dem Vater überlassen können; aber hier war doch ein Schimmer von Licht in dieser schauerlichen Nacht, eine Spur, die wieder aus dem Herzen des Sohnes, der demnach nicht so ganz verloren war, in das des Vaters hinüberleitete.

Es stand nicht in dem Billett, sagte er.

Er hatte den Kopf ein wenig gehoben; ein schwaches Feuer blitzte auf in den trüben Augen; es war in dem Mann ein Etwas wieder von dem eisernen Soldaten, mit dem Onkel Ernst an jenem Morgen den grimmen Strauß gefochten.

Stand nicht darin? sagte Onkel Ernst; ja, mein Gott –

Er brach plötzlich ab; sein Gesicht verfinsterte sich, und seine Stimme klang rauher, fast so, wie an jenem Morgen, als er weiter fragte:

So wurde in dem lakonischen Billett des Herrn auch wohl des Umstandes keine Erwähnung getan, daß Herr von Werben mit meiner Tochter die betreffende Reise unternommen hat?

Der General richtete sich bei diesen Worten auf, wie jemand, der eine unerwartete Beleidigung schroff zurückweisen will; die Blicke der beiden Männer begegneten sich, aber während Onkel Ernsts Augen mächtiger aufflammten, suchten die des Generals den Boden; er fiel mit einem leisen Stöhnen in seinen Stuhl zurück.

Der Unglückliche! murmelte er.

Sie verdanken es diesem Umstände – ich meine: der Dazwischenkunft meiner Tochter – daß er überhaupt noch am Leben ist, sagte Onkel Ernst.

Ich habe dafür keinen Dank, erwiderte der General mit dumpfer Stimme.

Und daß der Vater nicht den Tod des Sohnes auf seinem Gewissen hat.

Der Vater würde die Verantwortung dafür zu tragen gewußt haben.

Ich hätte es mir denken können, murmelte Onkel Ernst.

Er saß ein paar Augenblicke schweigend, jetzt auch mit gesenkten, düstern Blicken; aber heute und hier war nicht die Zeit und der Ort, die alte Fehde aufs neue zu beginnen. Er sagte mit gelassener Stimme:

Wenn dem Herrn General nicht bekannt war, wohin Herr von Werben sich gewandt und – mit meiner Tochter, darf ich dann fragen, was den Herrn General hierher geführt?

Ich wollte den, von dem ich annehmen mußte, daß er der Verderber meines Sohnes geworden ist, nachdem er auch sonst schon Verderben und Schmach in meine Familie getragen, zur Rechenschaft ziehen. Ich gestehe, daß mir diese Absicht jetzt kaum noch einen Sinn zu haben scheint und daß ich –

Der General machte eine Bewegung, sich zu erheben.

Gehen Sie nicht fort, Herr General, sagte Onkel Ernst, – ich würde, wenn die Zeit es erlaubt hätte, zu Ihnen gekommen sein, mir die Gunst einer Unterredung zu erbitten; jetzt, da der Zufall – wenn wir dies Zufall nennen dürfen – uns zusammengeführt, benutzen wir diese halbe Stunde – sie erspart uns vielleicht Jahre einer nutzlosen Reue.

Der General schoß unter den buschigen Brauen einen finstern unsichern Blick auf den Sprecher.

Ja, Herr General, der Reue, sagte Onkel Ernst, ich wiederhole es, trotzdem wir beide wohl bis jetzt nicht viel Gelegenheit hatten, das Ding kennen zu lernen. Ich glaube, wir können uns beiden, ohne uns zu überheben, das Zeugnis ausstellen, daß wir Zeit unseres Lebens das Rechte gewollt haben nach unserem besten Wissen und Gewissen; aber, Herr General, von der ersten und einzigen Unterredung, die ich bis jetzt mit Ihnen hatte, klingt mir ein Wort im Ohr – und ich höre es in diesem Moment deutlicher als je – das Wort, daß ich zwar nichts vergessen, aber auch nichts gelernt habe. Es war sehr hart für jemand, der, wie ich, seinen höchsten Stolz darein setzte, rastlos nach besserer, reinerer Erkenntnis, nach Klarheit und Wahrheit von Jugend auf gestrebt zu haben; und ich wies es demgemäß als eine schnöde Ungerechtigkeit von mir. Aber es ist wieder gekommen und immer wieder, diese schweren trüben Wintermonate hindurch, Tag für Tag und Nacht für Nacht, und hat an mir gezerrt und genagt, daß ich fast wahnsinnig darüber geworden bin, weil ich glaubte, das Wort nicht gelten lassen zu dürfen, ohne mich selber aufzugeben, ohne die Sonne leugnen zu müssen am hellen Tage, oder doch wenigstens zugeben zu müssen, daß diese Sonne dunkle, sehr dunkle Flecken habe, schauerlich dunkel für den, der für ihren makellosen Glanz freudig das Haupt auf den Block gelegt haben würde. Und doch, Herr General: es war nicht anders. Wie das geängstigte Herz auch schrie – das unerbittliche Wort wollte sich nicht zum Schweigen bringen lassen: du, der du dich rühmst, nichts zu vergessen, entbehrst des besseren Rufes: und du hast nichts gelernt!

Dieser schlimme Kampf, Herr General, in dem ich fast zugrunde gegangen bin und der mich ganz gewiß die Lebenskraft mancher Jahre gekostet hat – ich habe ihn gekämpft bis heute – bis vor einer Stunde. Die scham- und ehrlose Tat meines Sohnes, mit dem ich jahrelang bereits in unnatürlicher Feindschaft gelebt – sie sollte denn doch wohl meinen Trotz nicht brechen! Was geht es mich an, schrie ich, wenn er sich Gift aus dem Honig sog? wenn er mit der Scheu vor törichten Vorurteilen, die ich dem Knaben lächerlich gemacht, später auch die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Gesetzes verloren hat? wenn er deine Lehre, daß es des Mannes Pflicht sei, auf eigenen Füßen zu stehen, in seiner eigenen Kraft zu ruhen, dahin verkehrt hat, daß es des Kraftvollen Recht sei, an sich zu reißen, was dem Arm erreichbar ist, unter die Füße zu treten, was sich, als das Schwächere, unter die Füße treten läßt? – Er war verderbt von Kindesbeinen an, schrie ich; möge die Natur die Verantwortung übernehmen für alles, was sie in ihrer dunklen Tiefe schafft! Was kümmert's uns, die wir aus dem Chaos, wo Recht und Unrecht, Sinn und Unsinn unterschiedslos ineinander schwanken und fließen, nach dem Licht der freien Selbstbestimmung streben! Was kümmert's vor allem uns Plebejer, die der Stolz des Aristokraten auf seine Väter lächerlich dünkt? Mögen doch die Kinder ihre Wege gehen! Weshalb sollte uns das Wohin fragwürdiger erscheinen, als das Woher, nach dem wir grundsächlich nicht fragen? Schreib, du bleiches Gespenst der Familienehre, dein Menetekel an die Wand des Fürstenschlosses! schreib's an die Wand dem Fürstendiener! aber versuche nicht, den freien Mann zu ängstigen, der keine Ehre hat und keine Ehre will, als die, sich selber treu zu sein!

Und da, Herr General, – als ich so mit mir und meinem Gott haderte – ich glaube an einen Gott, Herr General, Demokrat und Republikaner wie ich bin, – trat über meine Schwelle ein Engel, wenn man ein Wesen, dessen himmlische Güte und Reinheit nichts mehr von der Erde zu haben scheint, so nennen darf, meines Buchhalters Tochter, ein blindes Mädchen, von dem der Herr General in seinem Familienkreise vielleicht hat sprechen hören. Sie kam, mir zu sagen, daß meine Tochter geflohen sei – mit Ihrem Sohne geflohen, um ihn, den sie mit jeder Faser ihres heißen leidenschaftlichen Herzens liebte – zu retten, zu schützen vor dem Tode, zu dem der eigene Vater – ich wußte nicht, welcher Tat willen – ihn verurteilt. Aber – ich hatte das Gespenst von meiner Schwelle gejagt – ich wollte jetzt auch auf des Engels sanfte Stimme nicht hören, trotzdem seltsame Schauer, die ich nicht zu deuten wußte, mich durchrieselten. Die Deutung ließ nicht lange auf sich warten. Die holden, barmherzigen Worte – es waren die letzten gewesen, zu denen das edelste Wesen die Kraft nur noch aus seiner grenzenlosen Liebe geschöpft; wenige Minuten später hatte das reinste Herz, durch das je Menschenblut floß, aufgehört zu schlagen.

Onkel Ernst drückte die Hand in die Augen und fuhr dann, mit einer gewaltsamen Anstrengung seine tiefe Bewegung niederkämpfend, fort:

Ich kann nicht verlangen, Herr General, daß Sie mir nachempfinden sollen, was ich dabei empfunden: ich will die kostbaren Minuten auch nicht verlieren mit einer ausführlichen Erzählung der Schritte, die ich nun, getrieben von einer Macht, der ich nicht mehr widerstehen konnte und wollte, getan habe, um zu retten, was vielleicht noch nicht verloren war. Genüge es Ihnen, zu hören, daß ich von dem leichtsinnigen Mädchen, das die Vertraute Ihres Sohnes während der letzten Zeit, und zugleich, ohne es zu wissen, die Helfershelferin jenes verderblichen Mannes, des Erzfeindes Ihrer Familie, gewesen ist, ich glaube so ziemlich alles erfahren habe, was ich von der traurigen Geschichte, die sich, ohne daß wir sie gesehen, unter unseren Augen abgespielt, irgend zu wissen brauche. Genüge es Ihnen, daß ich die Überzeugung gewonnen – nicht von Ihres Sohnes Unschuld –, es wäre eine Lüge, sagte ich das, und wir müssen heute mehr als je den Mut haben, rückhaltlos gegen uns selbst und gegeneinander wahr zu sein – aber davon, daß Ihr Sohn nicht schuldiger ist, als ein Zusammentreffen unglücklichster Umstände einen, trotz aller scheinbaren Erfahrung, unerfahrenen jungen Mann mit einem nicht mehr reinen, aber gewiß auch nicht verderbten, edler Wallungen noch immer fähigen Herzen machen kann. Und, Herr General, wenn ich Ihnen, in dem ich von jeher die Verkörperung des mir feindlichsten und verhaßtesten Prinzips gesehen, Ihnen, vor dem ich mich in meiner Selbstgerechtigkeit so hoch vermessen, ein Bekenntnis getan habe, das meinem Stolz nicht leicht geworden ist; wenn ich eingestanden habe, daß der Grundsatz schrankenloser Freiheit und absoluter Selbstbestimmung in seiner äußersten Konsequenz schwächere Geister zu Abwegen führen kann, vielleicht führen muß, wie ich sie jetzt meine Kinder wandeln sehe – das eine unwiederbringlich verloren, das andere wandelnd an dem Abgrund, in den irgend ein schnöder Zufall es stürzen mag – Herr General, sollten Sie wirklich nichts zu bereuen, nichts wieder gut zu machen haben? sollten die engen Schranken adliger und militärischer Routine, in die Sie die leichtbeschwingte Seele Ihres Sohnes zu bannen suchten, ihm nicht ebenso verderblich geworden sein? ihm, der in einer freieren und leichteren Atmosphäre die schönen Gaben seines hellen Geistes, die Lebensfreudigkeit seines warmen Herzens fröhlich und naturgemäß entfaltet hätte und nun, von Vorurteilen nach allen Seiten eingeengt und eingezwängt, in unlösbare Widersprüche verwickelt, sich allmählich daran gewöhnt hat, das Leben in Widersprüchen als etwas Selbstverständliches, jedenfalls Unvermeidliches anzusehen, so ganz, so sehr, daß sein Tod in diesem Augenblick nur ein Widerspruch mehr gewesen sein würde?

Ein ungeheurer, ungeheuerlicher Widerspruch.

Oder wäre das nicht der Tod von eigner Hand in dem Augenblicke, wo diese Hand erfaßt wird von dem Mädchen, das der zum Selbstmord Verurteilte – es geht aus allem, was ich jetzt erfahren, unwiderleglich hervor; mit aller Kraft, deren sein Herz fähig ist, und über alles, und ganz gewiß weit mehr, als das eigne Leben liebt; und dieses Mädchen, solcher Liebe wahrlich nicht unwert, in Tönen, wie sie nur aus einem liebenden verzweifelten Herzen kommen können, zu ihm spricht: lebe! lebe! lebe für mich, der du alles bist! die ich Vater und Haus und Heimat verlassen habe, um für dich zu leben! mit dir! ohne Hoffnung auf gute Tage – mit dir! in Schande und Elend, wenn es sein muß – mit dir!

Onkel Ernst schwieg, überwältigt von der Rührung des edlen, kraftvollen Herzens, verstummend vor den Gedanken, die in seinem mächtig arbeitenden Gehirn durcheinander wogten. Der General, der düster vor sich hinbrütend dagesessen, erhob die trauerumflorten Augen:

Wenn es sein muß? es muß ja sein!

Es müßte sein? rief Onkel Ernst: warum? weil es den armen, müde gehetzten Wanderern so scheint, daß der Weg für sie nur noch ein Hinschleppen in der Wüste, durch Dornen, über rauhes Gestein ist? für sie! großer Gott! die Jungen, Starken! die sich in dem palmenumrauschten Eden ihrer Liebe bald genug an ihre Jugend, an ihre Stärke erinnern, mit neuem Mut und frischen Sinnen in das Leben schreiten werden, das sich grenzenlos, herrlich vor ihnen ausbreitet! in dessen ungemessenen Räumen tausendfacher Platz ist für den Verirrten, wenn er sonst ein Braver ist, wieder festen Fuß zu fassen, den Kampf wieder aufzunehmen, sich einen Wirkungskreis zu erobern und ein Heim für sich, für die Geliebte, für – die Kinder! die Kinder, Herr General, mit denen wieder eine neue Welt geboren wird, die nichts weiß von der alten; nichts zu wissen braucht und nichts wissen soll von der Schuld des Vaters; diese Schuld, wenn der Vater denn wirklich sie noch nicht abgearbeitet durch seine Reue, durch seine Buße, durch eine einzige edle Tat – sühnen werden einfach dadurch, daß sie sind, neue Blüten sind am Baum der Menschheit, an dessen Fuß wir alten mit unsern alten Sorgen und Qualen dann schon lange modern.

Onkel Ernsts große Augen glänzten in prächtigem Feuer; aber in des Generals kummervollem Antlitz wollte sich nicht einmal ein schwächster Widerschein entzünden. Er schüttelte langsam das graue Haupt:

Ich muß eine Frage tun, die sehr grausam klingt, es aber wahrlich nicht sein, sondern uns nur aus dem Reich glänzender, aber nach meinem Bedünken phantastischer Träume auf diese dunkle Erde zurückbringen soll: gilt die Perspektive, die Sie da meinem Sohn eröffnen, auch für Ihren Sohn?

Onkel Ernst zuckte zusammen; das Feuer in seinen Augen wollte erlöschen; es dauerte einige Momente, bis die Antwort kam:

Die Fälle sind himmelweit verschieden, so weit wie eine leichtsinnige Handlung, mit der, der sie beging, niemand ein Leid zufügen wollte, die er – ich weiß es – wieder gut machen zu können hoffte, zu der er endlich durch teuflische Einflüsterungen verführt war, sich von einer Handlung unterscheidet, die mit kaltblütigster Überlegung, in dem vollen Bewußtsein der für tausend andere verderblichen Folgen begangen wurde.

Und für die es mithin in Ihren Augen keine Sühne gibt? Onkel Ernst rückte unmutig, ungeduldig in seinem Stuhl. Was soll das jetzt, Herr General?

Sie nur daran erinnern, daß wir, mögen wir uns wenden, wie wir wollen, das Leben doch immer nur von unserem Standpunkte aus beurteilen, die Handlungen der Menschen doch immer nur mit dem Maßstabe messen können, den Abstammung, Erziehung, Bildung, Nachdenken uns in die Hand gegeben haben. Oder glauben Sie, daß der Jobber, der Börsenspieler, der waghalsige Gründer in ihren Herzen – wenn dergleichen ein Herz hat – auch über Ihren Sohn den Stab brechen werden, wie es der ehrenfeste Mann, der solide Fabrikherr tut, trotzdem er der Vater ist? Wollen Sie dem alten ehrenwerten Offizier verübeln, daß er die unehrenhafte Handlungsweise eines Offiziers verdammt und brandmarkt, trotzdem dieser Offizier sein Sohn, ja gerade, weil er sein Sohn ist? Können Sie wähnen, ich gönnte meinem Sohn, den ich geliebt habe, wie je ein Vater seinen Sohn geliebt, ja, den ich noch in diesem Augenblicke mit einer Liebe liebe, die mein Herz zerfleischt –

Des Generals Stimme zitterte, er tat einen schweren, stöhnenden Atemzug, der schauerlich durch das stille Gemach klang –

– können Sie wähnen, ich gönnte ihm das Leben nicht, das Sie da schildern, wenn ich es nicht für eine Unmöglichkeit hielte? Mag sein, daß die engen Schranken, von denen Sie vorhin sprachen, mir den geistigen Horizont so eingeengt, den freien Flug der Gedanken ein für allemal gehemmt haben. Aber diese Bedingungen des Denkens und Empfindens – sie existieren für den ganzen Stand, müssen für ihn existieren, soll er nicht zu Grunde gehen; und so existieren sie auch für meinen Sohn. Niemals und unter keinen Umständen wird er, kann er vergessen, daß er einen Makel auf das Wappenschild seiner Ahnen geworfen, daß er den Degen, den ihm sein Kriegsherr gab, selbst zerbrochen, sein Portepee geschändet, daß er vor einem Kameraden – und begegnete er ihm in menschenleerer Wüste – die Augen niederschlagen, geflissentlich die Gesellschaft obskurer Menschen suchen muß, denen er früher ebenso geflissentlich aus dem Wege ging – er, der einstmals frank und frei vor seinen König treten durfte, dem sein König –

Und wieder atmete der General tief und schwer –

O mein Gott, mein Gott! murmelte er.

Über Onkel Ernsts Gesicht zuckte es. Da türmte sie sich wieder vor ihm auf die Mauer, die Stolz und Hochmut quer durch das blühende Leben gezogen; die Mauer, die er in seiner Jugend stürmischen Tagen hatte erobern wollen in einem Anlauf und die er dann in langen, mühseligen Jahren versucht hatte, abzutragen Stein um Stein! Und kein Stein fehlte; steil und schroff und unerbittlich und unübersteiglich wie nur je! Und er stand hüben mit machtlosen Händen und drüben sein Kind, das nun verloren sein sollte, weil Stolz und Hochmut es so wollten. – Nun und nimmermehr!

Er sprang auf.

So muß ich denn allein ans Werk gehen.

Welches war Ihr Plan?

Der General hatte sich ebenfalls erhoben; die einfache Bewegung schien dem sonst so straffen, raschen Manne schwer zu werden.

Im Großen der, erwiderte Onkel Ernst: mein Kind nicht, ohne mich mit ihr versöhnt zu haben, in das Leben ziehen zu lassen, dessen bunte Wechselfälle niemand berechnen kann und dessen wohl sonst allzu rauhe Bahn ich ihr durch meinen Rat, durch meine Hilfe möglichst ebnen wollte. Ihr Sohn hatte, wie ich von jenem Mädchen erfuhr, in dem ersten Hin und Her seiner verstörten Gedanken, bevor die Botschaft seines Vaters kam, nach Warnow eilen wollen, den Verräter angesichts der Frau Baronin, seiner Tante, zur Rede zu stellen, die – nach der Aussage jenes Schurken – die materielle Verantwortung, so zu sagen, der beklagenswerten Manipulationen auf sich genommen, für den Ausfall wenigstens unter allen Umständen aufzukommen versprochen hatte. Auch Herr von Schönau war, wenn auch nach manchen Einwänden, zuletzt damit einverstanden gewesen. Als dann der Unglückliche sich den Tod gegeben hätte, trotz der Gegenwart des Freundes, der seine Ohnmacht fühlen mußte und dennoch meiner Tochter raten konnte, wieder heimzukehren, da die Flucht mit ihr in diesem Augenblicke es den Freunden gänzlich unmöglich mache, weiter für den Kameraden einzutreten – als es sich für sie, die den Geliebten retten wollte um jeden Preis – selbst den des bedauernden Achselzuckens seiner besten Freunde, in erster Linie darum handelte, aus dem Bereich dieser so überaus bedächtigen Freundschaft zu kommen, gleichviel wohin, – brachte die gewandte Vertraute Warnow abermals in Vorschlag, ich glaube nur, weil der Zug nach Sundin der nächste war, der abging. Ich für mein Teil hoffte und hoffe, sie noch in Sundin zu erreichen, um Ihrem Sohne sagen zu können, daß seine Weiterreise keinen praktischen Zweck hat, da ich für mich das Recht in Anspruch nehme, die Schulden des Mannes, der mit meiner Tochter flieht und sie doch also auch wohl heiraten wird, zu bezahlen. Sollten sie weiter – nach Warnow – gegangen sein, so werde ich ihnen auch natürlich dahin folgen und überall hin, bis ich sie erreiche. In Warnow verspreche ich mir außerdem noch die Hilfe meines Neffen. Er besitzt, wie er verdient, die höchste Achtung meiner Tochter, und er würde – davon bin ich überzeugt – zu dem Segen des Vaters das herzliche Glückauf eines Freundes fügen, der in dem Buch der Ehre die Kapitel nicht überschlägt, die von der Menschlichkeit handeln.

Die Geduld des leidenschaftlichen Mannes war erschöpft; in den letzten Worten grollte sogar ein verhaltener Zorn. Er knöpfte seinen Überrock zu und griff nach seinem Hut, der neben dem Kofferchen des Generals auf dem Tische stand, als jener Beamte, der dem General vorhin seine Dienste angeboten, zugleich mit dem Bahnhofsinspektor vom Perron aus in das Zimmer trat. Der Inspektor wandte sich zu Onkel Ernst, ihm anzukündigen, daß der Zug bereit sei, während der andere Beamte dem General eine Depesche überreichte.

Ich war gerade im Bureau, sagte er, als sie einlief – über Stettin, heute morgen sehr früh in Prora aufgegeben. Ich glaube, der Inhalt ist für den Herrn General von Wichtigkeit.

Der General hatte das Blatt, das man in der Eile nicht einmal geschlossen, zur Hand genommen:

»Komm mit dem nächsten Zuge. Furchtbarer Sturm – muß vielleicht zu Reinhold – Tante dann allein mit dem Schrecklichen – komm um meinet-, Ottomars, der Tante willen, die sich uns in die Arme wirft – es steht alles auf dem Spiel. Else.«

Onkel Ernst trat heran: Ich muß Ihnen Lebewohl sagen, Herr General.

Ich komme mit Ihnen.

Onkel Ernst blickte erstaunt auf den General, der die Depesche zusammenfaltete, während August, der unterdessen mit dem alten Grollmann, den er draußen getroffen, die Angelegenheiten der beiderseitigen Herrschaften besprochen hatte und nun wieder hereingekommen war, das Kofferchen ergriff, es seinem Herrn in das Kupee nachzutragen, in dem dieser mit Onkel Ernst Platz genommen.

Die beiden Diener saßen in dem folgenden desselben Wagens, woraus nebst der Lokomotive der ganze Zug bestand.

Es scheint ja, daß sie nun so weit einig sind, sagte Grollmann.

Was noch fehlt, werden sie ja wohl bis Sundin nachholen, sagte August.

Wenn uns der Sturm nicht vorher aus den Schienen wirft, sagte Grollmann.

Das ist einer aus dem Effeff, sagte August.


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