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Zweites Kapitel

Der Ausbruch war so gewaltsam und währte so lange, daß Else in die peinlichste Verlegenheit geriet. Wie leicht konnte der Mann, von dem ihr Tante Sidonie noch eben gesagt hatte, daß er ganz gewiß bei dem Empfange zugegen sein würde, zur Tür hereinkommen! wie bald mußte Tante Sidonie selbst nachfolgen! Sie war ihr ja nur die Treppe hinauf vorausgeeilt, während jene mit dem Geheimrat, dem sie unten im Hausflur begegneten, in ein Gespräch geriet. Schon auf dem ganzen Wege zum Hotel hatte sie sich vor der feierlichen Umständlichkeit gefürchtet, in der die gute Dame bei einer so bedeutenden Gelegenheit zweifellos schwelgen, vor der langatmigen Begrüßung, der beleidigenden Herablassung, mit der sie der Schwester entgegentreten würde; sie hatte im stillen bereut, daß sie die Tante zu einem sofortigen Besuch überredet und daß sie nicht lieber ihre Drohung ausgeführt und allein gegangen war. Nun hatte sich – dank ihrer raschen Entschlossenheit – alles so wohl gefügt; aber nun mußte auch die arme Tante Valerie sich beruhigen, aufhören zu weinen, ihre Tränen trocknen, und wenn es auch Freudentränen waren, wenn sie wirklich ihr guter Engel war! Und dann um so mehr! Ihr guter Engel – sie wollte versuchen, es zu sein – ganz gewiß, und ach! so gern! – würde sie nun nicht wieder verlassen, in Gedanken nicht, im Herzen nicht – würde in Gedanken und im Herzen immer, immer bei ihr sein, sie zu trösten, ihr zu helfen, wo sie konnte, wie sie konnte – nur jetzt, jetzt mußte sie sich fassen und schnell, ganz schnell sich den schwarzen Spitzenschleier in dem schönen, weichen, braunen Haar arrangieren lassen und wieder die große, vornehme, stolze Dame werden, die ihr Tante Sidonie angekündigt hatte, die Tante Sidonie durchaus finden mußte, wenn sie nicht allen Glauben an ihre durchdringende Menschenkenntnis verlieren sollte, auf die sie sich so gewaltige Stücke zugute tat!

So tröstete und schmeichelte und scherzte Else, bis sie glücklich den feinen bleichen Lippen und den milden braunen Augen – den echten Werben-Augen, sagte Else – ein Lächeln entlockt, – ein melancholisches Lächeln, meinte Else, aber ein Lächeln doch. Es war zur rechten Zeit gewesen, denn im nächsten Augenblick öffnete der über den ganzen Lockenkopf gescheitelte junge Herr in schwarzem Frack, seidenen Kniehosen und Eskarpins, dessen Beflissenheit Else im Vorzimmer mit Mühe entgangen war, die Tür und schnarrte – in höflicher Rücksichtnahme auf die stattliche Erscheinung der Dame, deren Karte er in der Hand hielt – »Madame Sidonie de Werben« in den Salon hinein.

Sidonie rauschte durch die Tür und stand einer schlanken, blassen Dame gegenüber, die, sich auf Elses Arm stützend, ihr eine schmale, weiße Hand entgegenstreckte und wohl gewiß ihre Schwester Valerie war, nur daß sie der Valerie, die sie gekannt und vor siebenundzwanzig Jahren zum letzten Male gesehen, auch nicht im mindesten ähnelte. Nicht, daß die Dame hier nicht noch immer fein und vornehm gewesen wäre – sie war es im Gegenteil noch mehr als früher, wie es Sidonie dünkte – auch war sie noch immer schön in ihrer Weise, sehr schön sogar; – aber der strahlende Glanz der dunkeln Augen, das tiefe Inkarnat der lieblichen Wangen, das verführerische Lächeln des kleinen, roten Mundes, die üppige Fülle des köstlichen, kastanienbraunen Haares, das in reichstem Kranz ihre Stirn umgab und, im Nacken leicht zusammengeknotet, in ein paar duftigen Locken auf die weißen, rundlichen Schultern herabringelte – wohin war all der zauberhafte Reiz geschwunden, über dessen Weltlichkeit und Sündhaftigkeit sie so oft geseufzt und geklagt hatte!

Sidonie war verwirrt, ja bestürzt. Die kleine Rede, die sie unterwegs vorbereitet, war an die eitle, anspruchsvolle, kokette Valerie von früher gerichtet gewesen und paßte offenbar nicht im mindesten auf die Valerie von heute. In der Eile aber eine andere Ansprache zu ersinnen, wollte ihr durchaus nicht gelingen. Und dann, je länger sie in das edelbleiche Gesicht sah, das mit mildem Lächeln ihr zugewandt war, und in jedem nächsten Moment wieder einen Zug entdeckte, der ihr die Valerie von ehemals zurückrief, desto mehr überkam sie ein sonderbares, aus alter Liebe und frischem Mitleid wundersam gemischtes Gefühl, so daß sie, sich mitten in den gewundenen Phrasen, an denen sie sich abmühte, unterbrechend, mit einem herzlichen: liebe Valerie! teure Schwester! ihre Arme ausbreitete, Valerien auf beide Wangen küßte und dann, wie erschrocken über diese unverantwortliche Wallung, in steifer Würde in dem Fauteuil saß und so streng und unnahbar blickte, wie ihre kurzsichtigen, gutmütigen Augen es nur irgend erlauben wollten.

Aber das Eis war nun einmal gebrochen, und Else sorgte dafür, daß es nicht wieder ins Stocken kam, obgleich noch manche schwierige Stelle zu passieren war, so gleich, als Tante Sidonie nun doch wenigstens im Vorübergehen erwähnen mußte, daß der Bruder beim Eintreffen von Valeriens Brief das Haus bereits verlassen hatte, mithin von dem Besuch der Damen nichts wußte und wissen konnte, »dazu aber gewiß seine nachträgliche Genehmigung geben werde«. – Else errötete für Tante Sidonie, als sie sah, wie schmerzlich es bei den ungeschickten Worten um Tante Valeriens feine Lippen zuckte. Sie beeilte sich, festzustellen, daß der Papa nach dem letzten, gestern eingetroffenen Briefe die Tante erst am Abend dieses Tages erwartet habe, bis ihr dann einfiel, daß ja nun auch der Gruß des Papa höchst unwahrscheinlich geworden war, und sie selbst, über die Widersprüche, in die sie sich verwickelte, errötend, schwieg. – Laß es gut sein, gute Else! sagte Valerie, ihr liebevoll die Hand drückend; – ich bin ja so schon dankbar genug; es kann sich nicht alles auf einmal wenden; – und bei sich fügte sie hinzu: es wird sich nichts wenden, so lange ich in der Gewalt des Fürchterlichen bin, der wieder mit einem Blick der untrüglichen Augen gesehen hat, was mein sehnendes Herz nicht sehen konnte.

Inzwischen war Tante Sidonie auf ein Thema gekommen, das sie seit vorgestern ausschließlich beschäftigte und das sie jetzt mit um so größerem Behagen durchsprach, als sie es für völlig unverfänglich hielt, – wenn ich gleich nicht weiß, liebe Valerie, wie weit die lange Abwesenheit dein Interesse an dem Wohl und Wehe der Familie beeinflußt oder auch beeinträchtigt hat. Hier kann freilich nur von einem Wohl die Rede sein, – du brauchst nicht die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen, Else, – was dich nebenbei gar nicht hübscher macht, abgesehen davon, daß es ein Mißtrauen in meine Diskretion andeutet, das, um es milde auszudrücken, wenig schmeichelhaft für mich und so recht eigentlich deplaciert ist, da du dich doch nun endlich von der Haltlosigkeit deiner Zweifel und Einwürfe überzeugt haben solltest. Es ist gewiß keine Selbstüberhebung, wenn ich ausspreche, daß ich vom ersten Augenblicke an das Richtige gesehen habe, schärfer, als alle, Ottomar selbst nicht ausgenommen. Die weltlichen Vorteile der Verbindung, das Passende nach allen Seiten hin – du lieber Himmel, daran konnte ja kein vernünftiger Mensch zweifeln und hat ja auch niemand jemals gezweifelt, wie es mich noch gestern die Baronin Kniebreche versicherte, die es doch gewiß wissen würde, wenn das Gegenteil der Fall wäre und sich auch nur eine Stimme dagegen erhoben hätte. – Die Baronin, liebe Valerie, – eine geborene Gräfin Drachenstein aus der Linie Drachenstein-Wolfszahn – die Witwe des Generalleutnants, eines Kriegskameraden und Freundes unsers seligen Vaters – zweiundachtzig Jahre alt, aber noch zum Erstaunen rüstig, eine eminent kluge, unendlich liebenswürdige alte Dame, deren Bekanntschaft zu machen dich entzücken wird, sehr liiert mit Wallbachs, wie denn unsere Carla von jeher ihr ausgesprochener Liebling war, überdies – du hast mich wahrlich durch dein unzeitiges Augenbrauenspiel ganz aus dem Text gebracht, liebe Else, und hast es zu verantworten, wenn ich deiner Tante Valerie so zerstreut scheine, wie ich Gott sei Dank für gewöhnlich gesammelt bin – du wirst es mir von früher her bestätigen, Valerie, – und Else selbst weiß am besten, welche strenge Konzentration der Gedanken mein »Hofhaushalt« zur unbedingten Voraussetzung und notwendigen Folge hat.

Hier versuchte Else, die Tante bei ihrem sonstigen Lieblingsgegenstande festzuhalten – vergebens. – Es kämen, meinte Sidonie, im Leben auch derer, die, wie sie, die ganze moralische und politische Notwendigkeit des Blühens und Gedeihens der kleineren Fürstenhöfe vollständig zu würdigen wüßten, Augenblicke, in denen die angestammte Liebe und Treue gegen die allerhöchsten Herrschaften nicht vor den Familien-Interessen zurücktreten müßten – das wäre ein unpassender Ausdruck, – aber ihnen doch einen freieren Raum, als sonst wohl, gönnten; und für sie sei ein solcher Augenblick gekommen.

Und nun fuhr Sidonie fort, das Glück zu schildern, das sie bei dem Anblick der Verlobten empfinde, die ja selbst so glücklich seien, wenn sie auch zartsinnig unterließen, ihrer Glückesfülle einen Ausdruck zu geben, der für weniger Tiefblickende vielleicht notwendig oder doch wünschenswert, für diejenigen aber, die sich in einem längeren Leben bei Hofe die nötige Kenntnis des menschlichen Herzens angeeignet hätten, weder notwendig noch wünschenswert sei. Sie wenigstens müsse gestehen, daß die bescheidene Dankbarkeit Ottomars, die keusche Zurückhaltung Carlas sie bis in die tiefste Seele rührten, um so mehr, als sie dadurch fortwährend an die entzückende Idylle der aufkeimenden Liebe ihrer Prinzessin zu dem damaligen Erbprinzen, jetzigem Regierenden, Hoheit, erinnert werde; und wenn Else, wie es den Anschein habe, den Einwurf machen wolle, daß diese Verbindung aus höheren Rücksichten später wieder habe gelöst werden müssen, so seien es eben höhere Rücksichten gewesen, die hier niemals in Frage kommen würden und kommen könnten.

Else hatte es aufgegeben, den unerschöpflichen Redeschwall der Tante zu hemmen; ja, sie wagte kaum noch, um sich nicht neue Verweise ihrer Lieblosigkeit und Frivolität zuzuziehen, die Augen zu Tante Valerie zu erheben, die, in ihren Sessel zurückgelehnt, mit einer Aufmerksamkeit zuhörte, die Sidonie auf der Stelle Elsen als »exemplarisch« bezeichnete. Weder sie, noch Else ahnten, von welchen Empfindungen das Herz der Ärmsten zerrissen wurde, während ihre lächelnden Lippen von Zeit zu Zeit ein höflich-bestätigendes, freundlich-ermunterndes Wort einfließen ließen. Sie mußte ja wohl achten auf jede Wendung, wenn sie hernach in dem Examen, das der Unerbittliche mit ihr anstellen würde, bestehen sollte. Wehe ihr, wenn sie etwas übersehen, überhört! wehe ihr, wenn sie sich widersprach! dreimal wehe ihr, wenn sie gerufen hätte, was das Herz in ihr schrie: ich weiß ja alles, alles schon, und weiß es besser, als du, törichte Schwester, als du, gutes Kind! Ihr Ärmsten, merkt ihr denn nicht, daß ihr in der Höhle des Tigers seid, in die zwar viele Spuren hinein, aber aus der keine herausführt?

Und dann flog ihr ängstlicher Blick nach der Tür. Wie mochte es zugehen, daß er sie so lange allein ließ? welche Absicht verfolgte er dabei, er, der niemals etwas tat ohne eine bestimmte Absicht!


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