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Zehntes Kapitel

Drei Tage später – die herbstliche Sonne war im Untergehen, und es dämmerte bereits in dem weiten Gemache – saß Giraldi an seinem Schreibtisch in der Nähe des Fensters und durchlief die eingegangenen Briefe. Es hatte sich im Laufe des Tages, den er seit dem frühesten Vormittag in wichtigsten Geschäften in der Stadt zugebracht – der Verkauf der Güter an den Grafen hatte heut stattgefunden – eine nicht unbedeutende Zahl angesammelt: Politisches aus Paris und London, Kirchliches aus Köln und Brüssel, der ausführliche Bericht eines vertrauten Freundes aus Straßburg über den Stand der Dinge in Elsaß-Lothringen, Geschäftsbriefe der verschiedensten Art: englische, französische, italienische, deutsche; – Giraldi kostete die Lektüre des einen nicht mehr Mühe, als die des andern; er machte sogar seine Notizen am Rande stets in der Sprache des Korrespondenten. – Das wächst und wächst, murmelte er; – man hat nicht mehr weit vom Mittelpunkt der Dinge; und wie ergötzlich ist es, wenn man so Ereignisse, die ohne uns nie hätten geschehen können, als stupende Neuigkeiten aus dem Munde anderer hört! Leider fangen sie auch schon hier an, die Bedeutung des titel- und ordenlosen Signor, des simplen Privatsekretärs einer Dame von Stande, zu wittern, und damit ist freilich der beste Teil meiner Wirksamkeit vorbei. Man hört alles, solange man nichts ist, und hört es richtig; sobald die Leute mit Fingern auf uns zeigen, erfährt man nur noch wenig und das wenige falsch. Das ist der Fluch, der auf den Königen liegt.

Er nahm einen Brief, den er vorhin auf die Seite geschoben, weil er ihn, seiner ungeschickten Form wegen, für einen der Bettelbriefe gehalten, mit denen er von armen Landsleuten und sogar schon von den einheimischen Rittern dieser Industrie vielfach heimgesucht wurde.

Das ist eine Priesterhand, sagte er – ah! von meinem Korrespondenten in Tivoli! nun der ehrwürdige Mann hat lange auf die Antwort warten lassen.

Er erbrach hastig das Schreiben, durchflog den Inhalt und lehnte sich mit verdrießlicher Miene in den Stuhl zurück.

Hm, murmelte er, der alte Fuchs will nicht in die Falle. Verstanden hat er mich, das ist klar: er räumt ein, daß es ganz besondere Fügungen des Himmels gebe; er deutet sogar an, daß die Geburt des Burschen in ein Geheimnis gehüllt, auf italienisch: daß er nicht der Sohn seiner Eltern sei, nur schienen die Umstände doch gar zu sehr gegen meine Vaterschaft zu sprechen – der Dummkopf! das wird er selbst freilich wohl am besten wissen! Oder sollte er auch so dumm gar nicht sein? sollte ich ihm nicht genug geboten haben? Ich hätte ihm den Preis zu machen selbst überlassen sollen; ich würde doch jeden zahlen, ich –

Er war aufgestanden und schritt in dem dämmrigen Gemach langsam auf und nieder.

Das heißt: auf die Straße schütten möchte ich mein Geld auch nicht; und das erste Experiment ist kläglich mißlungen. Schon ihr Widerstreben, den Burschen zu sehen, war auffällig genug, und sie will keine Spur der Ähnlichkeit entdeckt haben: es sei der Typ des römischen Campagnolen, wie man ihn in Albano, Tivoli – überall finde; nicht einmal seine Schönheit läßt sie gelten: es sei keine Seele in dem Gesicht, nur das gewöhnliche, glänzende Gepräge einer stark sinnlichen Natur. Dabei bleibt sie mit einer Hartnäckigkeit, die sie noch in keiner anderen Sache bewiesen hat; es scheint, daß der Instinkt der Mutter sich nicht täuschen läßt. Pah! Welche Täuschung läßt sich nicht hervorrufen, wenn man es nur richtig anfängt! Ich bin zu hastig gewesen – das hat sie stutzig gemacht; ich werde zugeben müssen, daß ich zu sanguinisch war, werde den Resignierten spielen müssen – dann kommt sie vielleicht nach Frauenart aus reiner Kaprice von selbst darauf zurück. – Was gibt's, François?

Die Dame in Schwarz, Monsieur!

Sie soll ein für allemal über den andern Korridor zu mir geführt werden.

Auf dem andern Korridor wird heute gebaut, Monsieur.

Gleichviel! Sie werden sie über den andern Korridor zurückführen.

Sehr wohl, Monsieur! darf sie eintreten, Monsieur?

Einen Augenblick! Madame speist zu Hause; ich diniere auswärts – bei Herrn von Wallbach – den Wagen für mich um halb sechs! Melden Sie das Madame, und daß ich mich um ein Viertel auf sechs bei ihr verabschieden werde. – Ist Signor Antonio im Laufe des Tages hier gewesen?

Nein, Monsieur!

Es wird niemand mehr angenommen – lassen Sie die Dame eintreten!

Giraldi hatte sich nicht erhoben, als die Dame eintrat, und gab ihr auch jetzt nur einen Wink, in seiner Nähe am Schreibtisch Platz zu nehmen.

Ich habe Sie erwartet. Wie weit sind wir?

Noch nicht weiter, als am ersten Tage.

Das ist schlimm.

Langweilig ist es, sagte Bertalde, den Schleier zurückschlagend, – zu langweilig! – ich bin gekommen, um Ihnen das zu sagen – ich habe die Geschichte satt.

Sie legte sich mit einer verdrossenen Miene in den Stuhl zurück und ließ die Spitzen ihrer Stiefel gegeneinander klappen.

Pah! sagte Giraldi, wieviel brauchen Sie? – und er streckte die Hand nach einer Kassette aus, die vor ihm auf dem Tische stand.

Ich brauche gar nichts, sagte Bertalde; ich habe Ihnen gleich das erste Mal gesagt, als Sie mich aufsuchten, daß ich es nur aus Mitleid mit dem armen Werben tue und weil ich nun einmal meinen Narren an ihm habe; und weil ich den schönen Philipp ärgern wollte, der Viktorinen abscheulich behandelt und dem ich es von Herzen gönne, daß seine Schwester auch nicht besser ist.

Ich sagte Ihnen schon: ich habe es nicht von Herrn Schmidt, daß Herr von Werben Sie wieder besucht.

Dann haben Sie es von dem Grafen Golm, und den kann ich erst recht nicht leiden – der kann lange warten, bis ich ihm ein gutes Wort gebe, und nun gar –

Liebes Kind, erlauben Sie mir die Bemerkung, daß Sie nicht recht gescheit sind, sagte Giraldi lächelnd. – Sie haben ein halbes Dutzend persönlicher Gründe, zu tun, was Sie tun; ich bezahle es Ihnen extra und bitte Sie sogar, in dieser Beziehung ganz über mich zu disponieren, und Sie wollen die Sache aufgeben, weil –

– sie mich langweilt; ich kann alles vertragen, nur keine Langeweile!

Was langweilt Sie dabei? erklären Sie mir das!

Was ist dabei zu erklären? rief Bertalde; – es ist eben langweilig. Warum soll man einem Menschen, in den man närrisch verliebt ist, wenn er in unsern Armen weint und man von andern hört, warum er weint, nicht den Gefallen tun und ihm die andre, die er liebt, verschaffen? Du lieber Himmel, das ist am Ende nicht schlimm; ich bin ein gutherziges Ding, und wenn ein bißchen Komödie dabei ist – na, so ein paar Mätzchen machen, lernt man ja auch beim Ballett, und es ist desto amüsanter. Und die Komödie, die Sie sich ausgedacht, war ja auch soweit ganz hübsch, und zwei Tage Modell stehen, wenn man weiter nichts zu tun hat, als den nackten Arm in die Höhe zu halten, und noch dazu die Hälfte der Zeit verplaudert – warum nicht? aber am dritten Tage mußte man sagen dürfen: so und so! er erwartet dich da und da! und – abgemacht, sela!

Ich hatte Ihnen bereits gestern erlaubt, den wahren Sachverhalt anzudeuten.

Ach was, andeuten! rief Bertalde; – ich habe ihr heute alles gesagt. Punktum.

Giraldi fuhr halb aus seinem Stuhle auf, faßte sich aber sofort wieder und fragte sie in seiner ruhigen Weise: Was heißt alles, liebes Kind?

Nun, daß ich kein Modell bin und daß ich Herrn von Werbens wegen gekommen bin –

Geschickt von Herrn Giraldi –

Ach was! als ob ich mich hätte schicken lassen, wenn ich nicht gewollt hätte!

Also aus freien Stücken – desto besser! und wie nahm sie es auf!

Bertalde brach in ein helles Gelächter aus. – Gott, rief sie, es war die reine Komödie! sie wußte nicht, ob sie mir auf den Knien danken, oder mich unter die Füße treten sollte. Ich glaube, sie tat abwechselnd in Gedanken bald das eine, bald das andre, während sie mit gefalteten Händen und weinend, wie ich noch kein Mädchen habe weinen sehen, vor mir stand und dann wieder mit erhobenen Armen durch das Atelier raste, wie ich auch noch keine habe rasen sehen. Das eine Mal nannte sie mich eine Heilige, eine büßende Magdalene, ich weiß nicht was; und einen Augenblick darauf eine Dirne, eine – na, ich weiß auch nicht was. So ging das wohl eine Stunde lang in einem Zuge; und das Ende vom Liede –

Daß Sie nicht wiederkommen dürfen?

Gott bewahre! morgen soll ich wiederkommen, und dann geht der Tanz von neuem los, und das ist mir zu langweilig, sage ich, und ich gehe morgen nicht wieder hin.

Bertalde hatte sich mit einem letzten energischen Zusammenschlagen der Stiefelspitzen erhoben; Giraldi war, sich den Bart streichend, sitzen geblieben.

Sie haben recht, sagte er: gehen Sie morgen nicht wieder hin, auch übermorgen nicht; am dritten Tage wird sie zu Ihnen kommen.

Bertalde bog sich nach vorn – sie mußte sich den Mann, der das mit solcher Sicherheit sagte, als lese er es von den Papieren ab, die da vor ihm aus den Tische lagen, genauer ansehen.

Vorausgesetzt natürlich, daß Sie den Brief nicht beantworten, fuhr Giraldi fort, den sie Ihnen am zweiten Tage schreiben wird; überhaupt ein wenig die Spröde spielen, die ihr gutes Herz verkannt sieht und so weiter. Wollen Sie das, und tun Sie das, so bleiben wir Freunde! wollen Sie es nicht – es ist nicht wohlgetan, mich zum Feinde zu machen, glauben Sie mir!

Bertolde, die sich erhoben hatte, war hinter den Stuhl getreten und stemmte die beiden Ellenbogen auf die Lehne.

Wenn ich nur wüßte, sagte sie, was Sie von der ganzen Geschichte haben!

Und wenn Sie das wüßten?

So wüßte ich auch, was ich zu tun hätte. Ich fürchte mich nicht vor Ihnen – was können Sie mir tun? aber für den armen Ottomar fürchte ich; ich möchte nicht, daß ihm ein Leides geschähe.

Giraldi erhob sich ebenfalls, setzte sich schräg in den Stuhl, auf dem Bertalde lehnte, und nahm ihre Hände in die seinen.

Gutes Mädchen, sagte er, und wenn ich dir nun schwöre, daß ich Ottomars bester Freund bin; daß er keine Geheimnisse vor mir hat, nicht einmal die seiner Schulden; daß ich es bin, der ihm eben jetzt wieder aufgeholfen; daß er von mir die schönen Hunderttalerscheine hat, von denen vielleicht schon einer oder der andere in deine Tasche gewandert ist; und falls du mir das alles nicht glauben wolltest, ich es dir schwarz auf weiß zeigen könnte, in Ottomars eigener Hand, was würdest du dann sagen?

Gar nichts, erwiderte Bertalde.

Sie war, während er ihre Hände festhielt, um den Stuhl herumgekommen und saß plötzlich auf seinem Schoß, mit den Händen, die sie nun freigemacht, ihm den weichen, schwarzen Bart streichelnd; – höchstens, daß Sie ein Prächtiger Onkel sind, wie es nicht viele gibt, und daß Sie einen Kuß verdienen – ach, was! da haben Sie einen!

Sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und ihn wiederholt, erst neckisch und dann mit einer Leidenschaft geküßt, von der sie selbst überrascht schien und die auch ihm für einen Moment die Klarheit seiner Sinne raubte, so daß er das Klopfen an der Tür nicht vernahm und Bertalden erst vom Schoß gleiten lassen konnte, als François bereits im Zimmer war. Bertalde hatte vor Schrecken laut aufgeschrien und eiligst den Schleier über das Gesicht gezogen.

Was wollen Sie? rief Giraldi heftig.

Monsieur Antonio, Monsieur! sagte François flüsternd; – er bittet so dringend –

Schon gut! sagte Giraldi. – Führen Sie Mademoiselle dort hinaus; ich werde dem jungen Manne selbst öffnen. – Ich bekomme von Ihnen Nachricht, Mademoiselle; für heute adieu!

Er schritt hastig nach der Tür zum Vorsaal, während Bertalde, von François begleitet, nach einer andern Tür stürzte, durch die man in sein Schlafgemach und von dort auf den zweiten Korridor gelangte, und er öffnete erst, als Bertalde im Begriff war, hinter der Portiere, deren eine Hälfte François für sie aufgeschlagen, zu verschwinden. Antonio, der, unmittelbar an der Tür stehend und lauschend, den Schrei Bertaldens gehört und, angefüllt, wie seine Phantasie mit Ferdinandens Bilde war, bereits vorher ihre Stimme zu erkennen geglaubt hatte, trat sofort herein; nicht ebenso schnell konnte Bertalde hinausgelangen. In der Verwirrung, in der sie sich befand, war sie gegen die herunterhängende Seite der Portiere gerannt und hatte sich darin verwickelt. Bis sie sich mit Hilfe François' wieder befreit hatte, dauerte es ein paar Momente – lange genug für den scharfäugigen Antonio, um in der Dame, die er verdrängte, zwar nicht Ferdinande selbst, aber jene geheimnisvolle Unbekannte zu entdecken, die in den letzten Tagen so regelmäßig zu Ferdinanden ins Atelier gekommen war und die er für eine Abgesandtin seines Todfeindes gehalten. Sie kam also nicht von ihm, sie kam von hier! Und weshalb mußte sie sich so eilig in dem Augenblick, wo man ihn vorließ, entfernen? Würde der Signor von der Dame sprechen; nun dann! vielleicht war alles gut, er wollte versuchen, ihm weiter zu trauen wie bisher; – würde er nicht sprechen, – nie würde er ihm wieder ein Wort glauben, das über seine Lippen kam – nie!

Diese Gedanken schossen Antonio durch den Kopf, noch während er seine Verbeugung machte; unterdessen hatte auch Giraldi sich von seiner Überraschung erholt und seinen Entschluß gefaßt.

Daß Antonio die schwarze Dame bei ihrem Kommen und Gehen von Atelier zu Atelier bemerken würde, hatte Giraldi als selbstverständlich angenommen und Bertalden deshalb die größte Vorsicht eingeschärft. Antonio durfte nicht erfahren, wer sie war, am allerwenigsten, daß sie mit ihm in Verbindung stand. Jetzt, durch des Jünglings hastiges Eintreten, wäre das Geheimnis um ein Haar verraten worden; aber, daß er Bertalden gesehen oder gar erkannt haben sollte, war ja unmöglich. In der Tiefe des weiten Gemaches herrschte beinahe völliges Dunkel, und da seine eigene Aufmerksamkeit gänzlich auf die Tür gerichtet gewesen, durch die Antonio eintreten sollte, so war ihm die Verzögerung von Bertaldens Verschwinden in der andern entgangen. – Eine Sekunde später wäre zu spät gewesen, dachte er bei sich, während er dem Jüngling die Hand bot und – jetzt wieder völlig Herr seiner selbst – in seinem gewöhnlichen, freundlich gelassenen Tone sagte: Willkommen, mein lieber Antonio! – nicht doch, mein Sohn – ich habe die Weihen ja nicht!

Antonio hatte, sich tief herabbeugend, die Hand, die Giraldi ihm gereicht, an die Lippen geführt. – Je weniger du ihm traust, desto demütiger mußt du sein, sagte Antonio bei sich.

Mir sind Sie geweiht, Signor; sagte er laut – der gute Frate Ambrosio, der gütige Beschützer meiner armseligen Jugend, ist mir nicht ehrwürdiger und heiliger als Sie.

Ich höre das gern, erwiderte Giraldi: – der schönste Schmuck des Jünglings ist ein dankbares Gemüt. Zum Lohn dafür kann ich dir den Segen des guten Frate übermitteln – ich hatte soeben einen Brief von ihm. Doch davon später. Zuerst deine hiesigen Angelegenheiten – hast du sie endlich wieder einmal gesehen und gesprochen?

Nur gesehen, Signor – als sie eben aus ihrem Atelier nach dem Hause ging. Sie anzusprechen, wage ich nicht – sie spricht, sagen sie, mit niemand, und niemand darf in ihr Atelier, nur –

Ihr Vater vermutlich?

Eine Dame, Signor, in Schwarz und tief verschleiert, die regelmäßig jeden Nachmittag auf eine Stunde kommt – wir im Atelier nehmen an, es sei ein Modell.

Jetzt mußte es sich entscheiden; Antonios Herz pochte, bevor Giraldis Antwort kam.

Eine Dame in Schwarz und tief verschleiert? wiederholte Giraldi langsam, als ob er den Umstand in ernste Erwägung ziehe; – und nur ein Modell? das ist doch sehr unwahrscheinlich und höchst bedenklich. Das müssen wir herauszubringen suchen.

Er log! – Wie ein Schwert fuhr es durch Antonios Seele: er hatte dem Manne sein Geheimnis vertraut, den Verrat, den er geübt, seine verbrecherischen Gelüste, seine Rachepläne selbst – alles, alles in seine Hände gegeben, wie dem Priester in der Beichte, und – er log!

Ich habe es herauszubringen gesucht, Signor, sagte er, – vergebens! Da sie kommt und geht, während unser Atelier voll Menschen ist, kann ich meine Beobachtungen an der Tür nicht machen; mich auch, ohne Aufsehen zu erregen, nicht entfernen. Gestern versuchte ich es doch unter irgend einem Vorwand – ich kam zu spät. Ein Wagen – keine gewöhnliche Droschke, Signor – eine voiture de remise – hielt, einige Schritte vom Hause entfernt, unter den Bäumen des Kanals; die Unbekannte stieg hinein und war mir im Nu verschwunden.

Er wird es das nächste Mal schlauer anfangen, dachte Giraldi; sie darf auf keinen Fall wieder hingehen.

Um welche Stunde ist es? fragte er.

Im Anfang zwischen fünf und sechs; jetzt – ich glaube der größeren Sicherheit wegen – zwischen vier und fünf.

Gut! ich werde morgen selber in meinem Wagen Wache halten; sie soll uns nicht entrinnen, verlasse dich darauf! – Und nun weiter! Aus dem Gespräche deines Maestro und des Kapitäns noch immer nichts von Belang? Der betreffende Name nicht erwähnt?

Nein, Signor! im Gegenteil! seit die junge Dame abgereist ist – –

Ich weiß – vor drei Tagen

– sind sie sehr vorsichtig geworden und sprechen so leise, daß es unmöglich ist, mehr als hin und wieder ein Wort zu verstehen. Dafür fand ich soeben diesen Brief, den der Maestro heute vormittag erhalten und den Tag über wohl ein Dutzend Mal gelesen, auch dem Kapitän, als er am Mittag kam, gezeigt hat.

Es war gefährlich, einen Brief, der ein so großes Interesse erregte, zu entwenden.

Der Maestro hatte ihn, wie er mit allen Briefen zu tun pflegt, in das Pult geworfen; als er vorhin fortging, auch wirklich zugeschlossen und den Schlüssel mitgenommen; ich verstehe längst, das gebrechliche Schloß ohne Schlüssel zu öffnen. Morgen früh findet er den Brief wieder im Pult.

Von wem ist der Brief?

Ich glaube, von der jungen Dame – es ist eine entsetzliche Handschrift, Signor!

Gib!

Giraldi nahm Antonio den Brief aus den Händen und trat an das Fenster, das letzte Licht des Tages zur Lektüre zu benutzen.

Ein abergläubisches Grausen durchrieselte Antonio, als er sah, mit welch unheimlicher Geschwindigkeit der Mann am Fenster die sechzehn Seiten des Briefes durchlief, von denen er, der sich so viel auf seine Kenntnis des Deutschen zugute tat, kaum eine Zeile zu lesen vermocht hatte. Wie durfte er wagen, sich in einen Kampf der Schlauheit und Klugheit einzulassen mit ihm, der alles durchschaute, alles wußte, als stünde er mit dem bösen Teufel im Bunde! Und doch! Eines wußte er nicht: daß er, der ihn, während er da am Fenster stand und das Abendlicht wie eine Aureole um sein schwarzlockiges Haupt leuchtete, durchbohren würde mit dem Stilett hier in seiner Brusttasche, wenn er es wagen sollte, ihn zu betrügen und zu verraten, wie er unzweifelhaft sonst alle Welt verriet und betrog.

Giraldi hatte die beiden letzten Seiten langsamer gelesen, als die vorhergehenden; er las sie jetzt sogar noch einmal. Dann entzündete er, ohne ein Wort zu sagen, die Kerze, die auf seinem Schreibtische stand, setzte sich und begann, wie es schien, diese beiden letzten Seiten abzuschreiben. Die Feder flog über das Papier, fast so schnell, wie vorhin sein Auge über die Seiten. In wenigen Minuten war es getan; er gab den Brief Antonio zurück. – So! jetzt lege ihn wieder an Ort und Stelle – mit größter Sorgfalt. Und bringe mir jeden Brief in dieser Handschrift. Du leistest mir dadurch einen großen Dienst, und meine Dankbarkeit wird mit deiner Bereitwilligkeit, mir zu dienen, Schritt halten.

Ich tue, was ich tue, um Ihretwillen, Signor! sagte Antonio; – ohne die Hoffnung, die Erwartung eines Lohnes. Den einzigen, den ich mir wünsche, können selbst Sie mir nicht gewähren.

Meinst du? erwiderte Giraldi; – was weißt denn du, Knabe, was ich vermag, oder nicht vermag? Ich sage dir, Knabe, daß Könige zittern, wenn sie fühlen, daß Gregorio Giraldis Hand auf ihnen liegt; daß der heilige Vater in Rom selbst sich nur so lange unfehlbar weiß, als ich in seiner Nähe bin! Und ich sollte dir den Wunsch deines Herzens nicht erfüllen? Dir das schöne Weib nicht in die Arme liefern, das du jeden Augenblick besitzen kannst, so du nur willst! Bist du nicht jung und schön? bist du nicht stark und mutig? was ist einem jungen schönen Mann, der stark und mutig ist, unmöglich, einem Weibe gegenüber? kennst du nicht die Geschichte von der Lukretia und dem Tarquinius? glaubst du, daß die Gaben der Aphrodite verlieren, wenn sie geraubt werden? sie sind von Gold, mein Sohn; Gold rostet nicht. Und, wenn du meinst, daß, wie wohl möglich, das Diadem in den schwarzen Locken des Königssohnes beredter zu dem Herzen der Schönen sprach, als selbst der Dolch in seiner Hand – o, des Kleingläubigen! Ich sage dir: es sind die Zeiten Sauls noch nicht vorüber, der ausging, seines Vaters Esel zu suchen, und ein Königreich fand. Der Brief in deiner Tasche könnte es dir beweisen. Dünkst du dich ein Geringerer, als jener plumpe deutsche Schiffsmann? gewiß nicht! und er hat sich die Liebe eines deutschen Mädchens erworben, zu der Leute seines Standes sonst nicht die Augen aufzuschlagen wagen. Und nun gar du! Weißt du nicht, daß Gott die Hirten immer besonders geliebt hat und sich ihnen gnädig erwies? Hast du, als du deine Ziegen auf den Tivoleser Bergen triebst, aus dem Donner der Katarakten das Anio oder aus dem Säuseln des Windes in dem Eichenhaine von Arsoli die Stimme nicht gehört, die da sagte: Du armer brauner zerlumpter Knabe, in wenigen Jahren wirst du, ein bildschöner Jüngling, in der Kleidung der Signori, die dort in der prächtigen Karosse die staubige Landstraße daherkommen, die Straßen der Hauptstadt nordischer Barbaren durchwandern, deren Namen du heute noch nicht kennst? Glaube mir, mein Sohn, es gibt solche Stimmen für jeden; man muß sie nur verstehen, wie ich noch immer die Stimme verstanden habe, die zu mir spricht. Oder, willst du meinem Genius nicht vertrauen, laß mich zu dir sprechen durch den Mund des ehrwürdigen Mannes, der deine zarte Jugend beschirmt und dem du verdankst, daß du nicht noch heute deine Ziegen werdest. Ich hatte ihm von dir geschrieben, und wie es doch wunderbar sei, daß du, ausgestattet mit diesen Gaben des Leibes und der Seele, von so Niedrigen abstammen solltest, wie die gewesen sein müssen, in denen du deine Eltern verehrt hast, – was antwortet er darauf?

Giraldi hatte den Brief des Priesters ergriffen und las: »Ein Wunder, wahrlich, teurer Herr; aber ist nicht Wunder alles, was uns umgibt, so es uns auch oft kein Wunder scheint, eben, weil es uns umgibt? Und hat Gott seine Allmacht verloren, weil die Schlange des Zweifels und des Unglaubens heute frecher, denn je, ihr Haupt erhebt? kann er nicht noch einem Erdenkloß seinen Odem einblasen, so er will? nicht Tote wieder lebendig machen? nicht das Dunkel lichten, in das der Ursprung so vieler Menschen und – ich muß es zugeben – auch das unsers guten Antonio gehüllt ist? nicht dem Menschen, der einsam steht und nach Liebe lechzt, in dem scheinbar Wildfremden einen teuren Verwandten erwecken?« – Sieh, Antonio, da steht's geschrieben von deines ehrwürdigen Freundes Hand!

Er hielt Antonio den Brief hin – nur so lange, bis sich der Jüngling überzeugen konnte, daß es wirklich seines alten Lehrers Handschrift sei; er durfte nicht sehen, was unmittelbar hinter jener Stelle folgte: daß nach menschlichem Ermessen freilich Antonio unmöglich jener Sohn sein könne, den Giraldi so früh verloren, den er so eifrig gesucht haben wollte, noch immer suchte trotz aller Enttäuschungen, und für dessen Entdeckung ihm keine Summe zu groß sei.

Er hatte, wie von Aufregung überwältigt, den Brief in den Kasten geworfen und streckte jetzt beide Hände aus: Nun gehe mit Gott, mein Sohn, und denke, daß kein Vater es treuer mit dir meinen kann, als ich!

Antonio beugte sich nieder und küßte die dargereichten Hände, erschüttert, unterjocht von der geistigen Übermacht des Mannes, das Gemüt erfüllt mit verschwommenen ehrgeizigen Hoffnungen und gaukelnden Träumen von höchster Liebeslust, und zugleich gefoltert von der Furcht, daß eben alles doch nur Traum und Schaum, und der zaubergewaltige Mann sein Spiel mit ihm treibe, wie er selbst als Knabe oft genug mit dem am Faden flatternden Vogel.

Er war gegangen. Giraldi drückte auf die Glocke. François trat herein.

Ich hatte Ihnen gesagt, daß niemand angenommen würde – ohne Ausnahme.

Monsieur hat den jungen Mann noch jedesmal empfangen, und er war so dringend –

Es mag Ihnen noch einmal hingehen; bei der nächsten Ungeschicklichkeit der Art sind Sie ohne Gnade entlassen – merken Sie sich das!

Er hatte seine Briefe in den Kasten geschlossen. – Ich werde mich allein anziehen; sorgen Sie, daß der Wagen in zehn Minuten bereit ist.

Er war in das Nebenzimmer gegangen, durch das vorhin Bertalde sich geflüchtet hatte. François machte eine Faust hinter ihm her und lächelte gleich wieder sein hündisches Lächeln, als wolle er vor sich selbst ableugnen, daß er es gewagt habe, dem Gewaltigen zu drohen.


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