Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Sie kamen von einer langen Expedition aus den innersten Tiefen der Stadt, wo sie nach einem ganz wundervoll geschnitzten eichenen Kleiderschrank, der, wie Justus gestern abend von Kollege Bunzel erfahren, sich dort im Besitze eines Trödlers befinden sollte, seit heute morgen bis jetzt gefahndet hatten. Zwar hatte Mieting schüchtern angedeutet, ob es nicht verständiger wäre, erst einmal in einer großen Handlung die eigentlichen Ausstattungsmöbel auszusuchen und zu bestellen und dann an die etwaigen Liebhabereien zu gehen; aber Justus hatte ihr bewiesen, daß mit der Liebhaberei doch eigentlich die ganze Geschichte ihren Anfang genommen, und daß sie gar nicht irren könnten, wenn sie auf diesem Wege noch eine Strecke weiter gingen, einmal, weil der Weg doch – alles in allem – sonderbar angenehm sei, und zweitens, weil der Lockung, einen echten Nürnberger Schrank aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, hoffentlich für einen Spottpreis, zu erstehen, ein echtes Künstlergemüt gar nicht Widerstand leisten könne. Mieting hatte bei ihrer großen Verständigkeit denn das auch glücklich eingesehen, und so hatten sie sich fröhlichen Herzens auf den Weg gemacht.

Nun war aber leider die so überaus wichtige Unterredung über den in seiner Art einzigen, unschätzbaren Schrank gestern abend in eine Phase des Soupers gefallen, in der Kollege Bunzels Mitteilungen der wünschenswerten Genauigkeit zu entbehren anfingen; und so war denn auch die Adresse des Trödlers in einem Halbdunkel geblieben, das, wie Justus meinte, an Ort und Stelle, das heißt: in dem Gewölbe des Mannes sicher von der »famösesten« Wirkung und sozusagen, die eigentliche Lokalfarbe sei, indessen, im Interesse der Sache, doch aufgehellt werden müsse und, wenn sie ihren Scharfsinn und ihre Verständigkeit zusammentäten, auch bald aufzuhellen sein werde.

Sie waren nun gefahren, erst in sehr breiten, graden Straßen, dann durch immer schmalere und winkligere Gäßchen, bis der aus Zeit genommene Kutscher erklärte, daß er auf durchaus rechtliche Weise sowohl zu seinem Wagen als zu seinem Pferde gekommen sei und daß, wenn den Herrschaften, wie es den Anschein habe, die Sache Spaß mache, sie ihm keinen mache, um so mehr, als er »den alten Schrank«, von dem die Herrschaften beim Aus- und Einsteigen fortwährend sprächen, alles in allem nur für einen schlechten Witz halte.

Der fühllose Barbar! sagte Justus, während die Droschke auf dem urweltlichen Pflaster dahinschwankte; es fällt kein Strahl in seines Herzens Nacht; er glaubt nicht an die Holzschneidekunst des sechzehnten Jahrhunderts, vielleicht nicht einmal an Isaak Lobstein. Wie steht es denn mit deinem Herzen, Mieting?

Mieting sagte, mit ihrem Herzen stände es soweit ganz gut; aber sie verspüre einen entschiedenen Hunger; sie wollten diese Gasse noch absuchen, und wenn Herr Isaak Lobstein auch hier nicht wohne, dann allerdings würde sie für einen geordneten Rückzug sein.

Und siehe! ihre heldenmütige Ausdauer war von Erfolg gekrönt worden: Herr Isaak Lobstein wohnte in der Gasse; Herr Isaak Lobstein war im Besitze eines verkäuflichen Kleiderschrankes, ja einer ganzen Reihe von Kleiderschränken, die sämtlich vor dem Schranke, den das »junge Pärchen« suchte, den unschätzbaren Vorzug hatten, funkelnagelneu zu sein, und was das Eichenholz betreffe, so sei das ganz aus der Mode und überdies durchaus unpraktisch, da es die Möbel viel zu schwer mache, was bei den Umzügen, zu denen »junge Pärchen« erfahrungsmäßig besonders häufig genötigt wären, ganz bedeutend ins Gewicht falle.

Zu diesen Worten, die Herr Isaak Lobstein in einem väterlich-ermahnenden Ton sprach, hatte er so wohlwollend gelächelt, daß das »junge Pärchen« ihm ganz zerknirscht den ersten besten Schrank für eine recht erkleckliche Summe abgekauft hatte, um, als sie wieder auf der Gasse standen, sich mit sehr bedenklichen Mienen anzusehen.

Ich glaube, Mieting, hatte Justus gesagt: der Droschkenkutscher hat recht gehabt. Der abscheuliche Bunzel! aber er soll es mir büßen! Und dabei hatte er ein so furchtbar komisch-grimmiges Gesicht gemacht, daß Mieting in ein schallendes Gelächter ausgebrochen war, in das Justus nach einiger Überlegung einstimmte.

Und auf dem langen Wege nach dem Atelier, wo Justus für den Nachmittag, den er bei Mietings alter Gastfreundin zubringen sollte, noch einige Anordnungen zu treffen hatte, waren sie von Zeit zu Zeit immer wieder in das Gelächter zurückgefallen, trotzdem sie unterdessen in aller Verständigkeit die wichtigsten Dinge besprachen: Philipps Flucht, die mit dem Zusammenbrechen der Gesellschaft identisch sei, und wie dies Zusammenbrechen bei allem Leid, das sie über so viele Menschen bringe, doch bereits das Gute gehabt habe, Mietings Vater endlich den Heiratskonsens abzupressen, wie Reinhold es vorausgesagt; und welchen Einfluß die Sache wohl auf Reinholds und Elses Geschick haben könne; und wie der arme Herr Kreisel, der seine Ersparnisse in Sundin-Wissower angelegt, aus Kummer und Gram und Sorge für Cilli, die er nun in Zukunft hilflos sehe, heute morgen ganz außer sich gewesen, so daß er sich hatte ins Bett legen müssen; und wie das doch so töricht von dem guten alten Manne sei, da er doch wissen müßte, daß die Freunde – Onkel Ernst an der Spitze – weder ihn noch das liebe Mädchen je verlassen würden.

Darüber waren sie denn zuletzt allmählich ordentlich ernsthaft geworden, besonders Mieting, die eine Zeitlang in ihrer Ecke ganz still gesessen, bis sie plötzlich, sich aufrichtend, sagte:

Weißt du, Justus: für Cilli müssen wir sorgen; denn, weißt du, wenn sie nicht blind wäre, das süße Ding, so hättest du sie geheiratet, nur daß sie freilich, wenn sie nicht blind wäre und sehen könnte, was für ein abscheulich häßlicher lieber Mensch du bist, sie dich auch nicht geliebt hätte, denn das arme Ding, weißt du, liebt dich von Herzen mit Schmerzen, wie ich dich ein klein wenig oder gar nicht liebe, weißt du –

Und damit hatte sie sich Justus in die Arme geworfen und hatte geweint, als ob ihr das Herz brechen wollte, und hatte zwischendurch wieder gelacht, als Justus meinte, sie wollten dann doch lieber beide Fenster schließen, und Justus hatte alle Mühe gehabt, sie nur einigermaßen zu ihrer natürlichen Verständigkeit zurückzubringen, während sie über den Hof nach dem Atelier schritten.

Denn, siehst du, sagte Justus, es ist ja alles, mit deiner Erlaubnis, dummes Zeug, wenn auch Reinhold selbst einmal dergleichen angedeutet hat. Daß ich nicht übermäßig bescheiden bin, weißt du selbst am besten; aber Cilli, siehst du: Cilli ist einfach ein Engel. Sie hat das in dieser Zeit wieder einmal bewiesen, wo sie sich der armen Ferdinande, die es wahrlich nicht um sie verdient, angenommen hat, wie es nur ein Engel kann. Und nicht, weil sie blind ist, habe ich sie nicht geliebt, und hätte sie auch nie geheiratet, sondern weil ich nur ein Menschenkind lieben kann und heiraten will, und dies Menschenkind bist du, und nun –

Sie waren in das Atelier getreten.

Still! sagte Mieting, sprich nicht so laut, das schallt hier, wie in einer Kirche, weißt du, wie damals, als uns Cilli – lieber Gott! da sitzt das arme Herz, ich glaube gar, sie schläft.

Wo?

Dort – unter meiner Büste.

Aber Justus hatte nur einen Blick hingeworfen, um mit seinen scharfen Künstleraugen zu sehen, daß der Schlaf, den das bleiche Mädchen da schlief, der Schlaf war, aus dem es kein Erwachen gibt.

Seine erste Regung war, Mieting den traurigen Anblick zu ersparen; er ergriff sie bei der Hand, um sie fortzuführen; aber schon hatte ihr die Erschütterung, die sich auf seinem lebhaften Gesicht malte, deutlicher, als der Anblick des entschlafenen Engels selbst, alles gesagt. Sie bebte am ganzen Leibe, aber sie hielt die Hand, die er ihr gegeben, fest, und so traten sie an die Tote heran, in heiligem Schweigen in das lächelnde Antlitz schauend.

Sie hat für uns gebetet, flüsterte Justus, der letzte Gedanke ihrer reinen Seele –

Tränen erstickten seine Stimme; Mieting hatte sich schluchzend an seine Brust geworfen: O Gott, mein Gott, Justus, wie lieb müssen wir uns haben!

Ein Geräusch in ihrer Nähe ließ sie emporblicken. Es war Onkel Ernst, der, eilig in die offene Ateliertür tretend und die seltsame Gruppe erblickend, von der Ahnung dessen, was sich hier begeben, durchschauert, näher gekommen war und jetzt, die Arme über der Brust verschränkt, die Augen starr auf das Antlitz der Toten gerichtet, hinter ihnen stand.

Grollmann und Tante Rikchen waren gekommen: Tante Rikchen zitternd und manchmal aufschluchzend, aber das Schluchzen und die heißen Tränen, so oft sie ihr auch die Augen verdunkeln wollten, mutig niederkämpfend; beweisend, was sie immer von sich behauptet, daß sie trotz alledem ihres Bruders Schwester sei, und, wo es darauf ankäme, man sie stets auf ihrem Posten finden werde.

Und so war sie es auch, die mit Umsicht und Entschlossenheit die nötigen Maßregeln traf: und nur, als die holde Leiche auf einer schnell herbeigeschafften Bahre in das Vorderhaus getragen werden sollte und sie eben folgen wollte, und ihr Bruder, der sie ruhig hatte gewähren lassen, sie bei der Hand faßte und mit einem tiefen Atemzuge sagte: ich danke dir, Rikchen! – da wallte es heiß auf in dem weichen, braven Herzen, und sie wäre nun doch in lautes Weinen ausgebrochen, wenn nicht Onkel Ernst abwehrend, aber in gütigem Tone, wie sie ihn nie aus seinem Munde zuvor gehört, gesagt hätte: Laß das gut sein, Rikchen! – es ist noch viel, viel gut zu machen.

Das weiß Gott, der Allmächtige! dachte Tante Rikchen; aber sie sagte es nicht, sondern folgte dem Zuge, der sich' eben zur Tür hinausbewegte.

Onkel Ernst aber stand wieder, wie vorhin, mit über der Brust verschränkten Armen, starren Auges auf die Stelle blickend, wo er in seines Geistes Auge das rührende Bild noch immer sah.

Den Tod im Herzen! murmelte er, und sie hat es gewußt; sie hat es gesagt in ihrer demütigen Weise! und ich habe es nicht verstanden!

Es gibt keine Wunder; aber es gibt Zeichen für den, der Augen hat zu sehen.

Du wolltest ein Zeichen!

Die Arme lösten sich von der Brust, und zwei brennende Tränen lösten sich von den Wimpern und rollten über die gefurchten Wangen in den grauen Bart. Er blickte sich scheu um – es hatte ihn niemand weinen sehen.

Das stattliche Haupt tief gebeugt, aber festen Schrittes, verließ er das Atelier.


 << zurück weiter >>