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Zehntes Kapitel.

Marthe war, nachdem Frau Körner auf dem kurzen Wege vom Wagen bis zur Hausthür ein paar leise Worte mit ihr gewechselt hatte, ins Haus gegangen. Nun reichte Frau Körner Justus, wie vorhin Marthe, freundlich die Hand und sagte:

Sie haben sich so sehr verändert; ich hätte Sie schwerlich wiedererkannt – oder doch: an den Augen. Marthe hat Ihnen gesagt, daß ich den Wunsch habe, mit Ihnen zu sprechen. Ich erlaube mir anzunehmen, daß ich Ihnen nicht unwillkommen bin. Wollen wir uns hier auf die Bank setzen, wo wir ungestört plaudern können? So! Und nun zuerst mein herzliches Bedauern, daß Sie ein so schwerer Unfall getroffen hat. Marthe sagt mir, Sie haben viel Schmerzen auszustehen gehabt und sind auch noch nicht frei davon. Wenn Sie sich zu einer längeren Unterhaltung zu angegriffen fühlen, sagen Sie es offen; ich komme dann ein andermal.

Frau Körner hatte ihre Absicht, Justus die Befangenheit wegzusprechen, unter der er augenscheinlich litt, vollkommen erreicht. Wieder überkam ihn das Gefühl wie bei der ersten Begegnung, daß diese Frau anders sei, wie die andern, daß man zu ihr unbedingtes Zutrauen haben dürfe, ja müsse, wie zu einem alten Freunde, oder einem bewährten Arzte. Und dabei sah die nach seiner Rechnung höchstens Dreißigjährige mit ihrem kleidsamen, ja eleganten Promenadenkostüm, in dem milden Vormittagslicht so jung und frisch aus und viel hübscher, als sie in seiner Erinnerung stand, daß es auch mit der Verschiedenheit der Jahre nicht mehr so viel auf sich hatte. An die Arbeiterbluse, in der er steckte, dachte er schon gar nicht mehr. So dankte er ihr denn mit freiem Mut für ihre teilnehmende Güte, die durch nichts in der Welt verdient zu haben, er sich völlig bewußt sei.

Ich glaube, Sie irren sich, sagte Frau Körner mit freundlichem Lächeln, und sogar doppelt. Nach meiner Auffassung verdienen alle Menschen unserer Teilnahme, die in Sorge und Not sind, deshalb, weil sie es sind, auch wenn sie zu uns in keiner persönlichen Beziehung stehen und sich vielleicht durch eigene Fahrlässigkeit, Unverstand, meinetwegen Schlechtigkeit in diese Sorge und Not gebracht haben. Bei Ihnen trifft von dem allen nur das eine zu, daß es Ihnen mißlich, sehr mißlich ergeht. Daß es Ihnen so ergeht, daran tragen Sie keine Schuld, man müßte denn es dem Menschen zur Schuld anrechnen, wenn er nach seinem besten Wissen und Gewissen handelt. Schließlich, stehen wir denn zu einander nicht schon in persönlicher Beziehung? Sind Sie nicht mein Gast gewesen? Haben wir nicht gemeinschaftliche Samariterdienste an der alten Frau geleistet? Und wenn die Gesellschaft aus dem Schloß sich an jenem Abend bei mir nicht zu Tode gelangweilt hat, so verdanke ich es Ihnen, der Sie uns allen durch die Erzählung Ihres Märchens eine so schöne Stunde bereitet haben.

Frau Körner unterbrach sich selbst durch ein kurzes herzliches Lachen.

Wenn ich sagte: uns allen, so habe ich den Mund Wohl etwas zu voll genommen. Es waren ihrer einige da, die aussahen, als würde ihnen ein Capitulo aus Dantes grauser Hölle vorgelesen – oder etwas noch Schlimmeres; aber Sie hatten doch die Majorität für sich: die hübsche englische Miß, die beiden jungen Damen und wahrhaftig nicht in letzter Linie mich. Ich kann Ihnen sagen, daß ich noch oft und oft an Ihre Dichtung gedacht habe und sie Ihnen, glaube ich, wenn nicht Wort für Wort, so doch ziemlich getreu wiedererzählen könnte. Haben Sie in der Zwischenzeit etwas Neues gedichtet?

Ein wehmütiges Lächeln zuckte über Justus' bleiches Gesicht.

Ich hatte keine Zeit dazu, gnädige Frau; erwiderte er, unwillkürlich einen Blick auf seine gesunde Hand werfend, welche die Spuren harter Arbeit so deutlich zeigte.

Verzeihen Sie, sagte Frau Körner; die Frage war dumm, hat aber doch das Gute, daß sie uns sogleich medias in res führt. Wenn man einen Litteraturprofessor zum Vater hat, bleiben so ein paar Phrasen aus den alten Sprachen an einem hängen und, Gott sei Dank, auch die Freude an der Litteratur und allen denen, welche etwas Tüchtiges in derselben geleistet haben, oder zu leisten berufen sind. Ich habe die feste Überzeugung, daß Sie es sind. Ich gebe zu, daß auch einem, der es nicht ist, ausnahmsweise etwas poetisch Schönes, wie Ihr Märchen, gelingen kann – obgleich es selten vorkommt, und man bei genauerem Zusehen finden würde, daß das für poetisch schön Gehaltene im Grunde doch nur Anempfindung und – immerhin unbewußte – Kopie ist. Aber für mich spricht zu Ihren Gunsten noch anderes. Ich glaube nicht, daß jemand ein Dichter – überhaupt Künstler – sein kann, der sich nicht zu begeistern vermag – ich meine: für eine Idee. Ob es eine wahre oder falsche – das ist Sache des Verstandes, des Bildungsgrades, vielleicht nur des Glücks, des Zufalls. Auf die Begeisterungsfähigkeit kommt es an. Die haben Sie. Die Begeisterung für eine himmlische Schönheit, die auf Erden keine bleibende Stätte hat und haben kann, hat Ihnen Ihr Märchen diktiert; und wenn Sie, der Sie goldene Geschmeide kunstvoll formen können, sich in eine Arbeit stürzten, die jeder zu leisten im stande ist, der nur gesunde Arme hat, so haben Sie sich wieder von einer Idee begeistern lassen, die ich die letzte wäre, eine falsche zu nennen: von der Überzeugung der Heiligkeit der Arbeit in jeder Gestalt. Ich habe Ihnen mit dem allen nur sagen wollen, aus welchen Quellen meine Teilnahme für Sie und Ihr Schicksal fließt, im voraus überzeugt, und jetzt – nach dem Ausdruck Ihres Gesichtes – darauf gefaßt, daß Sie aus falscher Bescheidenheit meine schönen Argumente nicht werden gelten lassen.

Nicht aus falscher Bescheidenheit, erwiderte Justus, sondern aus inniger Überzeugung. Was Sie die Idee meines Märchen nennen, das hat mir doch wohl nur sehr dunkel vorgeschwebt, und es war viel weniger die Huldigung einer Idee, als –

Die eines Individuums – sagte Frau Körner lächelnd, als Justus errötend schwieg. Das thut nichts. Die Begeisterung, wenn sie sich aufschwingen soll, muß immer ein reales Sprungbrett haben.

Dann, fuhr Justus fort, hatte die zweite Idee, von der ich nach Ansicht der gnädigen Frau begeistert gewesen sein soll, ein sehr reales: ich mußte zu der ersten besten Arbeit greifen, wenn ich nicht verhungern wollte.

Und der Hunger thut weh, sagte Frau Körner, keiner aber weher als der ungestillte nach unseren Idealen. Ich lasse es mir nun einmal nicht ausreden – auch von Ihnen nicht – Ihr eigentliches Ideal ist das Schöne, und nie im Leben werden Sie ein Gefühl der Befriedigung haben, wenn es Ihnen nicht gelingt, oder Sie durch äußere Umstände verhindert sind, der Idee des Schönen, die in Ihnen lebt und von der Sie leben, in Werken der Kunst zum Ausdruck zu bringen – soweit das eben in Ihrer Kraft steht. Und nun hören Sie geduldig zu, wie nach meiner Ansicht die Hindernisse, welche Sie von der Verfolgung Ihres wahren Zieles abhalten, zu überwinden sind. Von der geisttötenden Arbeit, die Sie getrieben haben, kann ja nach Ihrem Unfall nicht mehr die Rede sein. Aber freilich arbeiten müssen Sie, denn: il faut vivre; und wenn sich auch jemand fände, der Ihnen die Mittel böte, Ihren Studien ungehindert obzuliegen, so würden Sie das Anerbieten zurückweisen, wie ich weiß, daß Sie es bereits gethan haben. Jene Arbeit, von der ich spreche, muß leider wieder eine mechanische oder doch halb mechanische sein, denn nur solche gewährt Ihnen in Ihrer jetzigen Lage den nötigen Vorteil unmittelbaren, sofortigen Verdienstes. Wiederum darf die Arbeit keine erdrückende sein, sondern eine, die Ihre physischen und geistigen Kräfte schont und Ihnen hinreichend viel freie Stunden läßt, in denen Sie sich selbst, will sagen: Ihrem Talente leben dürfen. Geben Sie mir wenigstens darin recht?

Ganz gewiß, gnädige Frau, sagte Justus, und ich bewundere den Scharfsinn, mit dem Sie meine Lage beurteilen.

Das nebenbei, erwiderte Frau Körner. Es handelt sich jetzt um die Ausführung meines Programms. Die denke ich mir nun so: Sie treten in eines der Bureaus meines Mannes – meinetwegen zuerst als einfacher Schreiber, damit Sie sich in die Atmosphäre eingewöhnen, bis sich denn bald herausgestellt hat, was Sie in dieser Branche sonst noch etwa leisten können. Offen gestanden: ich vermute, das wird nicht eben viel sein; aber darauf kommt es auch gar nicht an. Sondern darauf, daß Sie Ihren Lebensunterhalt mit einer Arbeit gewinnen, die immerhin herzlich monoton und sicher wenig nach Ihrem Geschmacke, aber ehrlich ist und vor allem Sie nicht aufreibt. Und ganz und gar nutzlos für Ihre Zwecke wird auch dieses prosaische Bureauleben nicht sein. Es giebt dabei immerhin Menschen zu beobachten, intime Blicke in mannigfache Verhältnisse zu werfen. Genaue Kenntnis der Menschen und Verhältnisse ist zu jeder Zeit Wehr und Waffe des Poeten gewesen, und ist es heute, wo die Poesie kaum noch etwas anderes als Schleppenträgerin der Wissenschaft zu sein beansprucht, mehr als je, womit ich gewiß nicht gesagt haben will, daß auch Sie sich zu dieser Schleppenträgerei hergeben sollen. Mit anderen Worten: ich meine, hier ist eine Möglichkeit für Sie, sich weiter für Ihren wahren Beruf, den ich in der Dichtkunst sehe, vorzubereiten, indem Sie in Ihren Mußestunden die durch Ihre mißlichen Verhältnisse unterbrochenen Studien wieder aufnehmen, wobei dann sicherlich Ihre dichterischen Pläne in aller Stille weiter reifen werden, bis sie die Hülle sprengen und sich an das Licht des Tages wagen dürfen. Darüber mögen immerhin noch ein paar Jahre vergehen. Sie haben ja noch so viele vor sich! Um Bücher und andere gelehrte und ungelehrte Hilfsmittel brauchen Sie nicht zu sorgen: mein Vater hat eine reiche Bibliothek, die für mich immer offen ist. Fehlt etwas, so verschaffen wir es uns von wo andersher.

Frau Körner hatte sich so in Eifer hineingeredet, daß ihre Wangen gerötet waren und ihre blaugrauen Augen glänzten. Dabei hatte sie immer schneller und schneller gesprochen, ohne daß sie trotzdem je nach einem Worte zu suchen brauchte. Justus hatte so gut noch nie sprechen hören, und war in das eigenartige Wesen der jungen Frau so versunken gewesen, daß er für den Augenblick selbst den Brief, den er in die Brusttasche seiner Bluse gesteckt hatte, vergaß und, als sie jetzt einen Moment schwieg, wie aus einem Traume erwachend, tief aufatmete.

Gefällt Ihnen mein Vorschlag nicht? fragte Frau Körner.

Ich weiß nur nicht, wie ich Ihnen danken soll, murmelte Justus.

Damit hat es ja Zeit, fuhr sie munter fort Übrigens bin ich auch noch nicht zu Ende. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß mein Mann von meinem Plane unterrichtet und mit ihm einverstanden ist. Ich thue überhaupt nichts ohne ihn und in unserem Falle ist er selbstverständlich der ausschlaggebende Faktor. Sie kennen meinen Mann nicht?

Ich habe den Herrn Oberdirektor ein paarmal gesehen, wenn er hierher kam, die Fabrik zu inspizieren; erwiderte Justus.

Ebenso, wie er Sie.

Justus blickte erstaunt auf.

Zum erstenmal während der Unterredung kam in das Gesicht der jungen Frau ein Ausdruck von Verlegenheit; aber nur für einen Moment; dann fuhr sie mit ihrer heiteren Sicherstelligkeit fort:

Ich muß und will ganz offen gegen Sie sein. Es ist weder für meinen Mann, noch mich ein Geheimnis gewesen, daß Sie hier in der Fabrik arbeiteten. Ich hätte Sie schon deshalb nicht aus den Augen verlieren können, weil ich durch meine Freundin, Miß Brown, die jetzt Frau Eberhard ist, und mit der ich, wenigstens gelegentlich, korrespondiere, von den Vorkommnissen in der gräflichen Familie hinreichend au courant gehalten werde. Von dem tragischen Geschick, das Ihnen die Eltern auf einmal raubte, hat ja die ganze Gegend gesprochen, ebenso von dem Tode des guten Pfarrers, Ihres väterlichen Freundes und Lehrers. Daß Sie dann in die Fabrik eintraten, ist wiederum mehr kommentiert worden, als Sie vermuten mögen. Auf alle Fälle wußte es mein Mann und ich durch ihn. Ich hätte Ihnen schon damals gern meine Hilfe angeboten, fügte mich aber der Ansicht meines Mannes. Er ist, wie, glaube ich, alle self-made men, der Meinung, daß jeder Mensch nicht nur seines Glückes Schmied sei, sondern sein solle und müsse. Gewisse Nachrichten aus dem gräflichen Lager überzeugten mich, daß Sie es noch ganz speciell sein wollten, und so sah ich mich zu einer Unthätigkeit und scheinbaren Teilnahmlosigkeit gezwungen, die mir peinlich genug waren. Nun, da Sie sich nach menschlichem Ermessen mit eigenen Kräften nicht weiter helfen können, kann der famose Grundsatz des help-yourself – an dessen durchgängiger Richtigkeit ich, so wie so, meine starken Zweifel habe, – nicht länger in Frage kommen. Über die geschäftlichen Details werden Sie von meinem Mann das Nötige erfahren. Was Ihre Einrichtung betrifft, so müssen Sie mir schon erlauben, was da hingehört, in meine Hand zu nehmen. Es macht sich alles viel leichter, als Sie denken mögen. Aber, wie gesagt, diese nachträglichen Kleinigkeiten überlassen Sie, bitte, mir. Nur noch eines: ich weiß durch Marthe, die es wieder von Doktor Malthus hat, daß Ihnen Ihr Zustand in wenigen Tagen die Übersiedelung erlauben wird. Bis dahin kann ich mit den wenigen zu treffenden Vorbereitungen bequem fertig sein und Sie haben Zeit, von hier Abschied zu nehmen – von den Orten, an denen Ihre teuersten und auch traurigsten Erinnerungen für immer haften; von den Menschen, die sich durch ihre Liebe und Treue ebenso einen Ehrenplatz in Ihrem Herzen verdient haben: dem wackeren Anders, der guten Marthe. Den braven Mann kenne ich noch nicht; daß ich Marthe jetzt kennen gelernt habe, ist mir eine Freude – und mehr als das gewesen. Großer Gott, wenn wir von solchen Menschen nur ein paar immer in unserer Nähe hätten, welch unermeßlicher Gewinn wäre das! Aber nun muß ich wieder fort. Himmel, bereits halb elf! und um elf erwartet mich mein Mann, der um zwölf verreisen will, zum Frühstück! Nun, die Schimmel werden es schon leisten. Johann!

Der Kutscher, der während dessen die Dorfstraße langsam auf und ab gefahren war, hatte gerade wieder einmal das Haus erreicht und hielt auf den Ruf der Herrin. Marthe, die auf den Ruf gehört hatte, trat aus dem Hause. Frau Körner hatte es so eilig, daß sie Justus und Marthe nur eben die Hand reichen und zu der letzteren, während sie bereits mit ihr durch das Gärtchen schritt, sagen konnte: Wir sind völlig im reinen, und ich danke Ihnen noch vielmals.

Dann saß sie im Wagen; die Pferde zogen an; sie winkte mit der Hand zurück, bevor das Gefährt in die Nebengasse bog.

Justus war gesenkten Hauptes zu der Bank zurückgeschritten und saß nun da, vor sich niederstarrend, gerade wie Marthe ihn gesehen hatte, als sie das erste Mal aus der Thür trat. Sie stand ein paar Schritte von ihm entfernt, ihn traurigen Blickes betrachtend. Sie wußte, daß er ihre Nähe vergessen hatte; sie las in seiner Seele, als ob es ein offenes Buch gewesen wäre. Was war ihm die Gegenwart, was die Zukunft, nachdem er unwiederbringlich sie verloren, die er sein Leben lang geliebt und lieben würde, so lange er lebte! Und nun überkam es sie wie grimmer Zorn.

Justus! sagte sie in dumpfem Ton.

Er blickte auf; sie hatte diesen leeren, weltfremden Blick erwartet.

Justus, sagte sie noch einmal, an die Bank herantretend, aber ohne sich zu setzen; besonders dankbar brauchst Du mir nicht zu sein. Ich habe, als ich zu der Frau Oberdirektor ging, mehr an mich gedacht als an Dich.

Du wolltest mich aus dem Hause haben, sagte er. Ich weiß es, und es versteht sich auch jetzt ganz von selbst.

Freilich, sagte Marthe. Das war das eine; und dann wollte ich doch wissen, wo Du bliebst, wenn Du von hier gingst, weil ich jetzt selbst von hier muß.

Du? rief Justus erstaunt.

Oder will, fuhr sie fort; Du kennst meinen alten Wunsch. Ich habe ihn der Frau Oberdirektor gesagt und ob sie mir vielleicht behilflich sein könne. Sie hat sogleich nach Berlin geschrieben und heute schon – sie hat es mir vorhin gesagt, als sie aus dem Wagen stieg – die Antwort, daß ich jeden Augenblick kommen könne – zu Doktor Eberhard, weißt Du, der jetzt erster Assistenzarzt an dem Augusta-Hospital ist, wo ich zur Krankenpflegerin ausgebildet werden soll.

Ich wünsche Dir viel Glück, sagte Justus.

Es klingt nicht so, sagte Marthe.

Gewiß, sagte er: von Herzen, von ganzem Herzen. Ich wünschte nur –

Was –

Ich könnte mit Dir in die weite Welt!

In ihrem Herzen schrie es: komm mit! mit mir! Du sollst es nicht bereuen; aber ihre Lippe schwieg.

Was soll denn hier aus der Wirtschaft werden? fing Justus nach einer Weile wieder an.

Dafür ist gesorgt, erwiderte Marthe. Vater soll zum Werkmeister aufrücken und ein gutes Gehalt haben, sodaß sie nicht mehr in der Fabrik mitzuarbeiten braucht und für die Wirtschaft sorgen kann.

Weiß der Vater es schon?

Er wird es wohl heute vom Inspektor erfahren.

Er wird Dich sehr vermissen, Marthe.

Ich kann ihm nicht helfen. Man darf nicht immer nur an andere denken. Dabei kommt nichts heraus.

Ein solches Wort aus Marthes Munde würde Justus noch vor einer Stunde stutzig gemacht haben. Jetzt ging es spurlos an ihm vorüber. Er dachte nicht an andere, auch nicht an sich selbst, versunken in ein namenloses Wehgefühl, das beinahe zum physischen Schmerz wurde, als sei der leichte Brief da an seiner Brust ein Centnergewicht und drücke auf sein Herz schwerer und immer schwerer, daß er ersticken zu müssen meinte. Mit einem dumpfen Stöhnen sprang er auf und eilte an Marthe vorbei in das Haus.

Marthe war an der Thür stehen geblieben. Ihre dunklen Brauen bildeten nur noch eine Linie; ihre Lippen waren zusammengepreßt.

Die Schule, welche ein paar Häuser weiter die Straße hinauf lag, war zu Ende; die Kinder drängten heraus; ein Rudel barfüßiger Jungen kam schreiend die Straße herabgejagt. Von der Fabrik her ertönte das Nebelhorn, die Mittagspause verkündend.

Christoph und Boleslaw stürmten durch das Gärtchen herein. Sie hatten – sehr gegen ihre Gewohnheit – jeder ein Lob aufzuweisen.

Das ist brav, sagte Marthe, ihnen die blonden Köpfe streichelnd. Ich habe Euch auch was Gutes zu Mittag gekocht. Geht nur immer hinein! Ich komme gleich.

Wieder wollte sie in das dumpfe Brüten verfallen, aber mit einem heftigen Ruck richtete sie sich auf. Ihre Lippen krümmten sich zu einem bitteren, verächtlichen Lächeln.

Wenn sie seiner noch wert wäre, murmelte sie; aber so!

Das untere Ende der Straße fing an, sich von den heimwärts eilenden Fabrikarbeitern zu beleben. Marthe trat in das Haus.


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