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Drittes Kapitel.

Der Rückfall währte indessen nur wenige Tage, und jetzt drang Doktor Malthus selbst darauf, daß dem jungen Menschen die traurige Wirklichkeit der Dinge mitgeteilt werden müsse, die er offenbar mindestens bereits ahne. Der Jammer, dem er Luft machen könne, werde ihm nicht so schädlich sein, als der heimliche Gram.

Kein ärgster Sünder konnte je mit einem schwereren Herzen zu dem Pfarrer Szonsalla in die Beichte gegangen sein, als mit dem der gute Mann sich an Justus' Bett setzte, um das nun unvermeidlich Gewordene über sich ergehen zu lassen. Und er dankte aus inniger Seele Gott dem Schöpfer und Sankt Peter, seinem Schutzheiligen, ja sogar Muhme Anna, die ihm durch ihre höchst sündhafte und strafbare Plauderhaftigkeit die böse Aufgabe so leicht gemacht hatte. Er durfte das Schlimmste in wenigen Worten sagen, die ihm Justus noch dazu halb vom Munde nahm, weit gefaßter als er selbst, dem die mitleidigen Thränen dabei stromweis über die Wangen liefen. Es handelte sich, was die Eltern betraf, wirklich nur noch um Einzelheiten, deren Mitteilung, wie schmerzlich sie auch dem Erzähler und Hörer sein mochten, doch nichts Peinliches mehr hatten. Im Gegenteil, dachte der Pfarrer, es müsse dem Sohne tröstlich sein zu vernehmen, welche allgemeine Teilnahme nicht nur im Dorfe selbst, sondern sogar in den umliegenden Ortschaften der tragische Tod der Eltern erweckt, und daß der Kirchhof bei dem gemeinschaftlichen Begräbnis die Zahl der von allen Seiten Herzugeströmten nicht habe fassen können. In das verlassene Elternhaus, wenn man die Baracke ein Haus nennen könne, sei bereits der Nachfolger eingezogen, der, bis dahin Junggesell, sich auf die neue Stelle hin verheiraten wolle; und er, der Pfarrer, habe in Justus' Sinne zu handeln geglaubt, wenn er dem Manne die eigentlichen Wirtschaftsgegenstände, die Möbel und so weiter verkauft habe mit Ausnahme einiger weniger Stücke, von denen er gemeint, daß sie Justus als Andenken wert sein möchten.

Hier ließ sich nun die Frage, wie Justus sich seine Zukunft denke, nicht länger vermeiden. Der Pfarrer hielt es für seine Pflicht, sich den Anschein zu geben, als ob er nicht daran zweifle, daß Justus nach seiner Wiederherstellung in sein früheres Verhältnis zur gräflichen Familie zurückkehren werde. Wünscht man denn das? fragte Justus. – Der Pfarrer mußte zugeben, der Herr Graf habe freilich in den wiederholten Briefen, die er in Justus' Angelegenheit an ihn geschrieben, oder doch von seinem Sekretär habe schreiben lassen, diesem Wunsche keinen besonderen Ausdruck verliehen, aber doch gewiß nur deshalb nicht, weil er die Sache für etwas Selbstverständliches halte.

Auch wenn Justus' Sinne nicht durch die lange Krankheit so verfeinert gewesen wären, würde er herausgehört haben, daß der Pfarrer das alles gegen seine Überzeugung sprach. Von dem Gesicht selbst konnte er es ihm ablesen. Weshalb den guten Mann sich so unnötigerweise abmühen lassen?

Hochwürden, unterbrach er ihn, Ihnen und Ihnen allein will ich sagen, wie es sich in Wahrheit zwischen dem jungen Grafen und mir zugetragen hat. Er hat gelogen, wenn er die Sache so darstellt, als habe es sich nur um einen Streit wegen einer unbedeutenden Veranlassung gehandelt und eine gewöhnliche Rauferei. Das alles wäre schon schlimm genug; aber es liegt viel schlimmer.

Und nun erzählte Justus den wirklichen Vorgang, währenddessen der Pfarrer einmal über das andere die Hände zusammenschlug und vor sich hinmurmelte: so hat der Doktor doch recht gehabt! – Dann fuhr er fort:

Sie sehen, Hochwürden, ein Mensch, der nur noch einen Funken von Ehre im Leibe hat, kann nicht in ein Haus zurückkehren, in welchem er so behandelt wurde. Zwischen Armand und mir ist von jetzt an eine Feindschaft auf Tod und Leben. Das scheint mir für den Herrn Grafen Grund genug, meine Rückkehr nicht zu wünschen. Aber es ist ganz gleich, ob er es wünscht, oder nicht: keine Macht der Welt würde mich wieder in das Schloß bringen. Ich muß noch mehr sagen, Hochwürden. Daß der Herr Graf die Kosten für das Begräbnis meiner Eltern bezahlt hat, ist mir höchst peinlich, ist aber leider nicht mehr zu ändern. Was die Ausgaben betrifft, die meine Krankheit verursacht hat, und die er ebenfalls, wie Sie sagen, tragen will, denke ich, lassen wir das. Der Herr Doktor wird mich nicht drängen, und Sie, Hochwürden, würden ja doch für Ihre Gutthat keinen Pfennig von dem Herrn Grafen nehmen.

Nein, mein Sohn, rief der Pfarrer, Justus' beide Hände ergreifend, bei unseres Herrn Wunden, das würde ich nicht.

Ich wußte es, sagte Justus, und also weiter: ich werde ebensowenig in alle Zukunft von dem Herrn Grafen einen Pfennig nehmen, und sollte ich an der Landstraße verhungern.

Das sollst Du nicht, das wirst Du nicht, so lange ich lebe, rief der Pfarrer, der noch immer die bleichen Hände des Jünglings in seinen Händen hielt. Seitdem sie sie mir genommen haben und sie mich gern verlassen hat, habe ich niemand auf der Welt, an dem mein Herz hängt, als Dich, den ich immer wie einen Sohn liebte und der von Stund an mein Sohn sein muß. Du weißt, lieber Sohn, zum Sammeln von Schätzen, welche der Rost und die Motten fressen, hat mir der Herrgott kein Talent mit auf die Welt gegeben; ich bin ein armer Teufel – Gott verzeih' mir die Sünde! – und dazu ein schlechter Haushalter. Aber wir werden uns schon durchschlagen, mein Sohn Justus, besonders, wenn Du mir hilfst! Und was Muhme Anna betrifft, die allerdings –

Der geistliche Herr räusperte sich, fuhr aber dann mutig fort:

Sie wird schon Vernunft annehmen, wenn sie sieht, daß es diesmal mein blutiger Ernst ist. Wozu soll ich ihr die Kasse lassen, wenn sie behauptet, daß niemals etwas darin ist? Ich war von jeher nicht stark in der Mathematik, wie Du am besten weißt; aber die Rechnung kann ich selbst machen. Und dann wird schon genug übrig bleiben für Deine Pension in T., wo ja, Gott sei Dank, noch andere Leute wohnen, die ehrlicher sind, als der schändliche Löb, vor dem ich Deinen seligen Vater immer gewarnt habe. Ich sagte zu ihm: lieber Arnold, der Löb –

Der gute Mann sprach so fort und kam vom Hundertsten aufs Tausendste, um Justus keine Zeit zu lassen, die Einwände, welche er doch möglicherweise gegen das großherzige Projekt erheben könnte, in Worte zu bringen. Aber Justus lag mit halbgeschlossenen Augen still da, bis er den sehr gegen seine Gewohnheit Redseligen mit der Frage unterbrach:

Hat Isabel nichts von sich hören lassen?

Der Pfarrer erschrak. Es war das erste Mal, daß Justus ihren Namen nannte; denn selbst vorhin, als er die Geschichte seines Streites mit Armand erzählte, hatte er ihrer mit keinem Worte Erwähnung gethan. Das war ihm schmerzlich aufgefallen; er war von früher gewohnt, daß Isabel Justus' drittes Wort war. Entschieden stand es zwischen ihnen nicht, wie es sollte; und that es das nicht, so brauchte er nur an sein eigenes Herz zu greifen, um zu wissen, wie schmerzlich es für Justus sein mußte. Und nun sollte er ihm das sonderbare Wort der Kleinen mitteilen, über das er und der Doktor sich den Kopf zerbrochen, und – Herr Gott, da war ja auch noch ihr Brief an Justus, der bereits vor fünf Tagen gekommen war, und den er in dem Schrecken über den Wiederausbruch der Krankheit des armen Jungen ganz vergessen hatte! Was mochte der enthalten? Wenn es etwas war, was einen abermaligen Rückfall heraufbeschwor, der dann wohl gar einen tödlichen Ausgang nahm?

Er saß in peinlichster Verlegenheit da, sich mit dem Baumwollfetzen, den er sein Taschentuch nannte, die Stirn betupfend, auf der der Schweiß zu perlen begann.

Geben Sie mir ihren Brief, Hochwürden, sagte Justus. Ich verspreche Ihnen, daß ich nicht wieder krank werde.

Der Pfarrer starrte ihn an und hatte bereits die Hand erhoben, sich zu bekreuzen. Das war ja die offenbare Hellseherei! das ging nicht mit rechten Dingen zu! Aber freilich, ein Bündnis des Teufels mit dem guten Jungen, wenn er auch nicht zur allerheiligsten Kirche gehörte, –Unsinn! So viel war klar: der Brief mußte herbei.

Ohne ein Wort zu sagen, ging er aus dem Zimmer, kam nach einigen Minuten zurück, legte den Brief vor Justus auf die Bettdecke und verließ abermals das Zimmer, wieder ohne ein Wort zu sagen.


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