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Viertes Kapitel.

Es war der erste eigentliche Brief, den er je von ihr erhalten. Er starrte auf die Adresse, als wäre es die Schrift über der Thür zu einem geheimnisvollen Tempel, in einer ihm unverständlichen Sprache mit für ihn unlesbaren Lettern; und stand doch nichts da als sein Name und die Adresse in ihrer eigentümlich kräftigen, ihm so wohlbekannten Hand. Was barg das Heiligtum? Leben, oder Tod? Seligkeit, oder Verdammnis? Was enthielt der Brief? Würde er, wenn er ihn gelesen, ihr mit süßen Wonnethränen alles, alles abbitten? würde er in Bitternis sprechen: ich habe recht gehabt? Der Jüngling von Sais fiel ihm ein. »Ich will Wahrheit schauen,« sagte er laut und erbrach den Brief.

Der Brief lautete:

 

»Wie geht es jetzt meinem lieben Sonntagskind? Onkel (warum hast Du eigentlich den in Deinem Märchen nicht angebracht? oder soll er der fromme alte Eremit sein? aus dem zweiten Schluß, weißt Du!) schreibt mir, die böse Hexe Uraka habe es arg zerzaust und sogar seine schönen braunen Haare halb ausgerissen, daß es möglicherweise noch ganz kahl würde. Das thut mir leid, kahle Köpfe sind so häßlich. Nun, ich will, wenn ich des Abends mein Haar flechte – eine gräßliche Arbeit, nebenbei! – fleißig an mein armes kahles Sonntagskind denken. Da wird ihm wohl bald wieder sein hübscher brauner Schopf wachsen.

Weißt Du, Justus, das ist eigentlich eine recht dumme Geschichte, die Du da mit Armand gehabt hast. Man kann Euch Jungen doch keinen Augenblick allein lassen! Und dabei behauptet er, er habe Dich gereitpeitscht! Ich habe ihm ins Gesicht gesagt: das ist gelogen. Hätten Sie ihm einen Schlag mit der Reitpeitsche gegeben, er hätte Sie erwürgt. Und nicht wahr, Justus, das hättest Du gethan? Weiter habe ich ihm gesagt: Seien Sie froh, daß Justus reinen Mund hält und nicht sagt, wie der dürre Baumast, an dem er sich gestoßen haben soll, wirklich ausgesehen hat. – Apropos! Deiner Fee könntest Du es eigentlich sagen: es ist ganz gut, wenn man gegen Ogreprinzen eine Waffe in der Hand hat; sie werden manchmal unverschämt.

Glücklicherweise kommt er in vier Wochen aus dem Hause, in eine Fähnrichspresse. Es ging auch nicht länger so: der alte Graf (wenn der wüßte, daß ich ihn alt nenne!) und er stehen sich gar zu schlecht. Dadurch wird dann auch der liebenswürdige Herr Doktor Müller überflüssig. Er hat hier ein paarmal gepredigt für einen erkrankten Pfarrer, dessen Stelle ihm zugesichert ist, braucht also den Grafen nicht mehr, was er dadurch an den Tag legt, daß er über die Witze desselben kaum noch lächelt (Du erinnerst Dich: er verzog sonst jedesmal seinen greulichen Mund von einem Ohr bis zum anderen), und seine häßlichen Füße noch weiter auswärts setzt. Mademoiselle Adelaide schwimmt in gelben Locken und Seligkeit, die ich ihr arg trüben könnte, wenn ich ihr erzählte, daß ihr zukünftiger Herr und Gebieter neulich vor mir auf den Knien gelegen hat, freilich nur, um zu erklären, daß er jetzt seine sündige Liebe mit Gottes Hilfe besiegen zu können hoffe. Ich hoffe es auch. Ist es nicht spaßhaft, daß die Frau Gräfin, die früher ohne ihre Mademoiselle Adelaide nicht leben zu können erklärte, jetzt die Zeit nicht erwarten kann, bis sie aus dem Hause ist? Übrigens geht es ihr nicht gut, das heißt: es fehlt ihr natürlich gar nichts; aber sie liegt zu Bette, behauptet, nicht die Kraft zu haben, sich aufzurichten, den Tag sehen, essen und trinken zu können, enfin, ist verrückt, und ich habe meine liebe Not mit ihr, da sie niemand um sich dulden will als mich. Nun ist Krankenwarten gerade nicht meine Leidenschaft, aber was soll ich thun? Und dann ist es doch auch ganz hübsch, wenn die stolze Frau Gräfin sich von mir armen Aschenbrödel so kommandieren läßt. Die Ärzte wollen sie sobald als möglich an die Riviera haben. Wir gehen natürlich alle mit. Vorläufig will sie nicht, und ich weiß nicht recht, ob ich abraten oder zureden soll. Ich denke mir das sehr schön an der Riviera mit den vielen Rosen und Veilchen im Januar und den blühenden Orangenbäumen und dem blauen Meer; aber hier in Berlin ist es auch sehr hübsch.

Du glaubst nicht, Sonntagskind, wie hübsch es ist. Die große Stadt mit den prächtigen Läden, in deren Schaufenstern die schönsten Sachen hängen, und den vielen Menschen auf der Straße, die es alle so eilig haben – das ist so amüsant. Und die Theater! Was man da zu sehen und zu hören bekommt! Ich war im Anfang ganz aufgeregt, wenn ich es mir auch nicht merken ließ; jetzt bin ich schon daran gewöhnt, und sie sagen, ich urteile immer richtig, ob die Leute gut, oder schlecht spielen. Manchmal frage ich mich, wie ich mich wohl ausnehmen würde, wenn ich da auf der Bühne stände – Du weißt, das ist so eine alte Idee von mir – und wer weiß, wenn ich mich einmal sehr langweile – aber freilich, daran ist jetzt nicht zu denken. – Ich langweile mich gar nicht – im Gegenteil! es kommen so viele Menschen ins Haus – vornehme Damen, die zur Frau Gräfin wollen, und die sie empfängt, wenn ich will, und die mich mit den größten Komplimenten überschütten, natürlich nur, weil sie merken, daß die Frau Gräfin es gern hört. Überhaupt, Sonntagskind, Du glaubst gar nicht, was für ein Wesen die Menschen hier aus der kleinen armen Fee machen, besonders die Herren, die oft geradezu lächerlich sind. Die Offiziere gefallen mir am besten; ich meine, eigentlich sollten alle Herren in Uniform gehen, so ein Frackanzug sieht doch kläglich neben einer schönen Uniform aus. Selbst Baron Schönau, der doch gewiß ein hübscher Mann ist, ist in Uniform noch einmal so hübsch. Er ist hier als Reserveoffizier zur Dienstleistung kommandiert – zweites Garderegiment. Anfangs machte es mir Mühe, die verschiedenen Waffengattungen (Du weißt natürlich, was das ist, ich wußte es nicht) und die vielen Regimenter und die Abzeichen der Offiziere voneinander zu unterscheiden. Jetzt sehe ich es meistens schon auf den ersten Blick. Nur ob sie Sekond oder Premier, oder Hauptmann sind, setzt mich noch manchmal in Verlegenheit. Denn, um das zu wissen, muß man ihnen auf die Achselklappen sehen können, und da sie meistens sehr groß sind – fast alle so groß wie der Graf – und Feen bekanntlich nie sehr groß werden – hat das seine Schwierigkeit. Ich verdanke meine Kenntnis hauptsächlich einem eisgrauen General, der sehr oft ins Haus kommt und mich »anbetet«, wie er sagt. Er ist ein unglaublich drolliger alter Herr, und ich habe tausend Spaß mit ihm.

Weißt Du übrigens, Sonntagskind, daß Du auch angebetet wirst? Du rätst es doch nicht, von wem, und so will ich es Dir nur gleich sagen: von Sibylle, Ich glaube, Du hast es ihr mit Deinem Märchen angethan, von dem sie fortwährend spricht (und träumt, bin ich überzeugt), obgleich sie doch gar nicht darin vorkommt. Oder sollte sie die Fee sein? Das wäre dann freilich für mich eine illusion perdue. Miß Brown sagt, das Buch – von Balzac, ich fand es in ihrer eigenen kleinen Bibliothek und las es des Nachts im Bett – am Tage kommt man hier gar nicht zum lesen – also: das Buch wäre nichts für mich. Ich weiß nicht, warum: in den Zeitungen stehen noch viel sonderbarere Dinge, und was man in den Theatern zu hören und zu sehen bekommt – aber sie ist doch das beste Geschöpf von der Welt, die mich unendlich liebt und mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählt hat – ich begriff zuerst nicht recht: warum? jetzt begreife ich es wohl. Aber damit will ich Dich nicht behelligen, Sonntagskind; Du würdest es doch nicht verstehen. Ganz im Vertrauen will ich Dir mitteilen, daß sie mit unserem Doktor verlobt ist, der aber nicht mehr lange unser Doktor bleiben wird, da er eine sehr gute Stelle an einem großen Krankenhause hier bekommen hat. Zum Herbst, wo er seine Stelle antritt, wollen sie heiraten. Bis dahin muß alles ganz geheim bleiben, weil er sonst mit uns nicht an die Riviera dürfte, was sehr schade wäre, denn Du glaubst nicht, was einem so ein geheimes Liebespaar für Spaß macht.

Sonntagskind! ich habe gestern mit dem Herrn Grafen ausführlich über Dich gesprochen. Er wußte, daß ich heute an Dich schreiben wolle, und hat wohl gemeint, daß Du von mir am besten alles Nötige erführest. Ich sagte Dir schon: er ist sehr bös auf Armand, und – wenn er es auch nicht offen ausspricht, – überzeugt, daß er in Eurem Streit eine miserable Rolle gespielt hat. Überdies kommt Armand ja jetzt aus dem Haus, und so würde er Dir nicht mehr im Wege stehen. Aber gerade weil Armand nicht mehr hier ist, »fällt der Grund fort, weshalb ich Justus damals zu uns nahm« (Worte des Grafen). Er meint dann weiter, es würde Dir selbst angenehmer sein, und Du könntest auch besser arbeiten, wenn Du nicht bei uns im Hause in all dem Trubel lebtest, sondern in einer stillen Pension – etwa in Breslau, wohin er selbst öfter komme, und wo er viele Verbindungen habe und sich leicht eine gute Pension für Dich ausfindig machen ließe. Er werde es Dir an nichts fehlen lassen, und nannte auch die Summe, die er Dir jährlich geben wolle. Ich weiß nicht mehr, wie viel es war; aber es schien mir recht bedeutend. Wir schieden als die besten Freunde, und er küßte mir die Hand, was er jetzt immer thut, Notabene, wenn keiner sonst zugegen ist. Ich weiß nicht, was er sich dabei denkt. Mir kommt es sehr drollig vor.

Was ich sagen wollte: ich finde das alles recht vernünftig. Freilich, wie ich Dich kenne, wirst Du nichts mehr von dem Grafen nehmen wollen, und der Onkel wird Dich darin womöglich bestärken. Aber der Onkel kennt die Welt nicht mehr als ein neugeborenes Kind, und mit Dir steht es in dieser Hinsicht nicht viel besser. Mein Rat ist also, Du schreibst, sobald Du so weit bist, einen Brief an den Herrn Grafen, in welchem Du ihm für seine Güte vorläufig dankst und ihn bittest, Dir, oder dem Onkel das Genauere über seine Absichten mitzuteilen, vielleicht wieder durch mich, schon deshalb, weil ich die Sache gern in meiner Hand behalten möchte.

Und nun, Sonntagskind, fangen meine Augen an zu brennen (denn es ist Nacht, während ich dies schreibe) und meine kleinen Hände müde zu werden, und ich muß aufhören, wenn ich nicht wie Maiennacht in ein Silberwölkchen zerfließen soll. Grüße den Onkel und schreibe bald an

Deine Isabel.

P. S. Da gerade kein Falk an meinem Turmfenster vorüberfliegt, muß ich diesen Brief leider der Post anvertrauen.

Maiennacht.«

 

Während Justus noch las, war Marthe Anders still in das Zimmer getreten und hatte sich an das Fenster gesetzt, an dem ein heulender Sturm die Schneeflocken in dichten Massen vorüberwirbelte.

Justus ließ das letzte Blatt aus der Hand auf die Bettdecke zu den anderen gleiten. Ich habe recht gehabt! murmelte er.

Ein unsagbares, aus Bitterkeit und Wehmut gemischtes Gefühl überkam ihn. Das war der Dank für all seine Liebe, daß sie ihn kaltblütig von sich verbannte auf Jahre, aus denen eine Ewigkeit werden mochte! Und so wenig kannte sie ihn, daß sie glaubte, er werde sich die Schmach, wie ein Hund aus dem Schlosse gejagt zu sein, mit Geld abkaufen lassen! Oder glaubte sie es auch nicht und that nur so, als ob sie es glaube, um, wenn er nun ins Elend geriet, sagen zu dürfen: Du hast ja nicht auf mich hören wollen; der Herr Graf, von dem ich mir die Hände küssen lasse, und ich, wir haben es ja so gut mit dir gemeint! – Das war ihr Dank!

Sein Blick fiel auf das Mädchen am Fenster, das er ganz vergessen hatte. Sie sah eben zu dem Schneehimmel auf, der ihr das bißchen Licht zu ihrer Arbeit vollends rauben wollte. Seit Wochen stahl sie sich Tag für Tag diese Stunden von ihrem mühseligen Tagewerk für ihn ab. Eine kleinste Gunstbezeigung von der anderen hatte ihn auf wer weiß wie lange selig gemacht; dieser hatte er für die Opfer, die sie ihm brachte, kaum gedankt. Ach, und wie recht, wie recht hatte sie gehabt, als sie an jenem Morgen im Walde zu ihm sagte: Geh nicht aufs Schloß!

Marthe! sagte er.

Sie wandte ihm das Gesicht zu. Es war nicht zauberhaft schön, wie das der anderen, und ihre Augen glänzten nicht, und ihr dunkles krauses Haar, das der Sturm zerzaust hatte, starrte ihr wirr um die niedrige Stirn.

Was kann ich thun? fragte sie.

Mir einen großen Gefallen, erwiderte er. Die Nächte werden so lang, und ich habe gar nichts mehr zu lesen. Unter meinen Büchern auf dem Schlosse ist ein Roman von Scott: Quentin Durward heißt er. Den hätte ich so gern. Du würdest ihn leicht mit dem Kastellan finden.

Sie war sofort aufgestanden und knüpfte sich jetzt das nasse Kopftuch um, das sie vorhin neben sich auf das Fensterbrett gelegt. In diesem Augenblicke kam ein Windstoß, der das Haus erschütterte. Die Schneeflocken flogen so dicht, daß die dem Fenster gegenüberliegende Kirche hinter dem weißgrauen Schleier verschwand.

Ich komme bei dem Schnee nicht mehr durch den Wald, sagte sie, mit der Hand bereits auf dem Thürgriff, und Du weißt: auf der Chaussee ist es noch einmal so weit. Es wird wohl Nacht werden, bis ich wieder hier bin. Adieu so lange!

Marthe!

Sie blickte ihn fragend an.

Marthe, wie kannst Du denken, daß ich Dich bei solchem Wetter nach dem Schlosse jagen werde um eines dummen Buches willen! Es war etwas anderes: Dein Vater möchte mich gern einmal besuchen, und ich freue mich sehr darauf. Wenn Du ihm sagtest, daß er jetzt kommen darf, am liebsten noch heute abend.

Er ist zu Hause, sagte Marthe; es ist in der Fabrik etwas entzwei. Soll ich ihn holen?

Wenn Du so gut sein wolltest!

Aber Du darfst nicht so viel sprechen.

Ich will auch nicht viel mit Deinem Vater sprechen. Ich will ihm nur sagen, daß ich einen neuen Schluß zu meinem Märchen gefunden habe, den ich ihm verdanke.

Justus hatte in seiner Krankheit so viel von einem Märchen phantasiert. Sollte er wieder irre reden? Aber seine Augen blickten, wenn auch traurig, doch völlig klar, und seine leise Stimme war ganz ruhig.

Ich will ihn holen gehen, sagte Marthe.


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