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Sechstes Kapitel.

Der gute Pfarrer Pietrek Szonsalla war mit allen kirchlichen Ehren begraben worden; die Weiber hatten geheult und die Männer die günstige Gelegenheit, sich einen Extrarausch anzutrinken, um so fleißiger benutzt, als die Feier an einem Sonntage stattgefunden und der celebrierende Geistliche, der zugleich des Pfarrers Nachfolger werden sollte, von der Kanzel herab fürchterlich gegen das entsetzliche Laster der Trunksucht gedonnert hatte. An dem frischen Grabe des Mannes, dessen verhängnisvolle Schwäche jedermann bekannt gewesen war, erschien das selbst den rohen Gemütern als eine Grausamkeit, gegen die demonstriert werden mußte. Wenn man um dieser Schwäche willen in die Hölle kam, wie viele von den Weibern selbst waren dann vor der Verdammnis sicher, von den Männern schon gar nicht zu sprechen! Und seine übrigen Schwächen? Lieber Himmel, Priester sind am Ende doch auch Menschen, und die meisten noch lange nicht so gut, wie der gute Pfarrer Szonsalla, der außer sich selbst keinem Menschen je etwas zuleide gethan, dafür aber geholfen hatte, wo er nur konnte; der mit nichts geknausert hatte, außer mit der Auferlegung von Kirchenbußen, und zu dem schon deshalb, an den Beichtstuhl zu gehen, ordentlich ein Vergnügen gewesen war. Nein, der neue Herr Pfarrer mit der langen dürren Gestalt, den hageren Zügen und den finsteren Augen, die keinem Menschen gerade ins Gesicht sehen konnten, mochte ein sehr heiliger Mann sein, aber bis er geliebt wurde, wie der gute selige Pfarrer Pietrek Szonsalla – da konnte er lange warten! Verübelte man ihm doch beinahe, daß er gleich am ersten Tage nach der Beerdigung Muhme Anna aus dem Hause gewiesen, andere sagten: mit Schimpf und Schande gejagt hatte, trotzdem die Dame nichts weniger als beliebt gewesen war. Niemand wußte, wohin sie mit ihren Koffern und Kisten, die sie wohl schon längst vorher für den eintretenden Fall gepackt hatte, sich gewandt, Sie hatte sich Justus gegenüber immer gerühmt, daß sie, sollte ihr lieber Pietrek sterben, zu ihrer Isabel eilen werde, die sie mit offenen Armen erwarte. Justus glaubte nicht an die offenen Arme, aber wenn er auch jetzt seine Leidenschaft für das schöne Kind überwunden zu haben glaubte, erfüllte ihn die bloße Möglichkeit, das entsetzliche Weib könne jemals wieder in ihre Nähe kommen, mit Schaudern. Darüber vergaß er beinahe, daß sie mit dem gewiß nicht unbedeutenden Rest des Kostgeldes, welches er ihr anvertraut hatte, davon gegangen und seine Behauptung dem Inspektor gegenüber, er besitze nichts auf der Welt, zur buchstäblichen Wahrheit geworden war. Marthe selbst mußte jetzt zugeben, daß Justus, für den Augenblick wenigstens, keine andere Zuflucht habe, als ihres Vaters Haus.

Es war freilich eher eine Hütte als ein Haus, aber es gehörte dem alten Anders wirklich. Er hatte in einer Subhastation die Baracke, welche einzustürzen drohte, billig erstanden, zu einer menschenwürdigen Wohnung umgeschaffen, und allmählich die paar kleinen Hypotheken, welche noch darauf lagen, abbezahlt. Das Giebelzimmer, das Justus bezog, war zwar winzig klein und sein einziges niedriges Fenster ging auf den nachbarlichen Dunghof, den zur Zeit ein Schneegebirge gnädig bedeckte. Mit seinen weißgetünchten kahlen Wänden, dem armseligen Bett, dem viereckigen Tischchen und dem lehnelosen Sessel war es gewiß kein so behaglicher Aufenthaltsort, wie das schöne, helle, luftige, wohl möblierte Gemach mit seiner Aussicht auf die Wiesen und Bosketts des Parkes, das er im Schlosse bewohnt hatte. Dafür wurde es ihm nicht von trügerischer gräflicher Gnade geboten, sondern von der Freundschaft armer Menschen, auf deren Treue sich verlassen konnte. Und er wollte es ja nicht geschenkt haben; wollte die Kosten, die sein Aufenthalt in dem Hause der armen Menschen machte, redlich ersetzen, sobald er nur erst in der Fabrik arbeiten durfte.

Das kam nun doch früher, als er selbst zu hoffen gewagt. Eine günstigere Konjunktur in der Pappe- und Papierbranche war Mitte Februar eingetreten; entlassene Arbeiter mußten wieder eingestellt, neue geworben werden. Unter den neuen hielt denn auch Justus seinen Einzug in die Fabrik.

Es war an einem Montagmorgen um sechs Uhr. Eine grimmige Kälte herrschte, die Sterne glitzerten noch an dem schwarzen Himmel, in der Dorfstraße wäre es völlig Nacht gewesen ohne die Lichter, die überall aus den kleinen Fenstern dämmerten. Anders watete an seiner Seite schweigend durch den Schnee, und schweigend bewegten sich die dunklen Gestalten, die aus den niederen Häusern kamen, desselben Weges. Justus war so feierlich zu Mute, wie damals, als er, ein kleiner gläubiger Knabe, neben der Mutter auf den Feldwegen durch die wogenden Kornfelder nach T. zur Kirche ging. Er erinnerte sich, wie es ihn stets im tiefsten Innern bewegt hatte, wenn, bereits in der Nähe der Stadt, das Geläut der Kirchenglocken sein Ohr traf. Und nun, von der Fabrik her, erhob das Nebelhorn seine rauhe, gewaltige Stimme. Das war denn freilich ein anderer Ruf, und der doch auch sein Herz erschütterte: der Ruf zur Arbeit, einer niederen, gemeinen Arbeit, die gethan sein mußte, damit die Menschen besser und glücklicher würden, und die er thun wollte nach seinen besten Kräften.

Der Mann an seiner Seite störte ihn nicht in seinen Betrachtungen. Nur als sie mit noch einer ganzen Schar vor dem großen Eingangsthor standen, nahm er ihn bei der Hand und sagte mit einem kräftigen Druck, leise und nachdrücklich: Glück auf, Kamerad!

Dann führte er seinen Schützling zwischen den Gebäuden hindurch, von deren Wänden herab spärliche Gaslaternen den Weg kaum erhellten, über schmale Höfe, endlich durch Fabrikräume, zu der Abteilung, welcher Justus zugewiesen war, empfahl ihn seinem dortigen Kollegen, dem Oberarbeiter, und ging seines Weges. Zehn Minuten später war Justus an der Arbeit.

Eine sehr mechanische, monotone und doch nicht leichte Arbeit, denn die Ballen des schon sortierten Papieres, die es zu verwiegen und vorschriftsmäßig zu verpacken galt, hatten ein bedeutendes Gewicht und Justus kannte die Handgriffe nicht, mit denen sich die Geübten das Geschäft zu erleichtern wußten. Dazu stieg aus den gewaltigen Massen des frischen Papieres ein widerlicher Dunst auf, der die so schon schlechte Luft des langen, niedrigen, halbkalten Raumes mit den trüben, nie geöffneten Fenstern für den Neuling kaum atembar machte und ihm den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Doch hielt er mutig bis zur Frühstückspause aus. Dann setzte er sich mit wie zerschlagenen Gliedern in eine Ecke, das Butterbrot zu verzehren, das ihm Marthe eingewickelt hatte. Ein junger Mensch, ein wenig älter als er, gesellte sich zu ihm: Julik Pjerek, aus einem entfernteren Dorfe frisch zugezogen, den er nicht kannte, wie jener nicht ihn. Der Bursch mit den schwarzen Schlitzaugen, den breiten Backenknochen und den aufgeworfenen Lippen, durch die beständig die weißen Zähne glitzerten, gefiel Justus gar nicht; aber die anderen Arbeiter, die sehr wohl wußten, wer er war, hatten sich alle von ihm zurückgehalten, offenbar, weil sie ihm nicht trauten und die Anwesenheit des Förstersohnes und Zöglings des verstorbenen Pfarrers hier unter ihnen für einen schlechten Spaß hielten. Er aber wollte ihnen zeigen, daß es ihm heiliger Ernst sei.

Die angestrebte, ehrliche Kameradschaft sollte ihm alsbald teuer zu stehen kommen. Julik, der ihn frischweg für seinesgleichen nahm, erging sich, kaum daß sie ein paar erste Worte gewechselt hatten, in zweideutigen und bald einfach schmutzigen Reden, die sich um ein Abenteuer drehten, das er gleich in der ersten Nacht, welche er im Dorfe zubrachte, mit einem Fabrikmädchen gehabt haben wollte. Justus hatte zu lange auf dem Dorfe gelebt, um mit den Gepflogenheiten dieser Leute nicht bekannt zu sein, aber so unmittelbar nahe war ihm die Gemeinheit doch nie getreten. Dennoch hielt er an sich und begnügte sich mit ein paar mißbilligenden Worten, die der neue Kamerad mit cynischem Grinsen aufnahm: er sähe, sie müßten noch erst ein bißchen näher miteinander bekannt werden. Er für sein Teil sei ein ehrlicher Bursch, der aus seinem Herzen keine Mördergrube mache, und wenn Justus das Mädel haben wolle –

Hier war die Frühstückspause zu Ende und Justus dankte Gott, daß es wieder an die Arbeit ging, die ihm jetzt leichter wurde, als zuvor. Er hatte sich ein paar Handgriffe gemerkt und lernte ein paar andere aus der Unterweisung von ein paar älteren Leuten, die, als sie sahen, wie sauer er es sich werden ließ, allmählich Vertrauen zu ihm faßten. Das versetzte ihn ordentlich in eine gehobene Stimmung, die er zu der Mittagspause mitbrachte, in welcher er das frugale Mahl, das Marthe ihnen durch eines der jüngeren Kinder in die Fabrik geschickt hatte, zusammen mit Anders aus einem Topfe, wenn auch von zwei Tellern, verzehrte, deren einer bereits mehrfach gekittet war. Anders hörte seinen Reden mit freundlichem Ernst zu, sagte aber kaum ein Wort, sondern drückte ihm, als das Nebelhorn abermals ertönte, nur wiederum warm die Hand. Und wiederum Arbeit bis zum Abend.

So verging der erste Tag, dem ein zweiter folgte, der dem ersten zum Verwechseln ähnlich sah, dem ein dritter folgte, der dem zweiten aufs Haar glich, und so in unendlicher Reihe, nur daß aus dem Winter Frühling, aus dem Frühling Sommer, aus dem Sommer Herbst, aus dem Herbst wieder Winter wurde und Justus, fast in der Reihenfolge der Jahreszeiten, in andere, ihm neue Abteilungen der Fabrik kam und so nach und nach den ganzen Betrieb derselben kennen lernte.

Aber, ob es in dem Raume, in welchem er jetzt arbeitete, wie in dem Packraume verhältnismäßig still zuging, oder ob – wie in dem, in welchem die Maschine die aufgeschütteten Kloben zermalmte, – ein ohrenzerreißendes Getöse herrschte – es war immer dieselbe mechanische Arbeit. Das war schwer zu ertragen; aber schwerer, daß noch ein anderes dasselbe blieb: die Dumpfheit und Stumpfheit in den Physiognomien, den Herzen und Geistern der Arbeiter. Wie konnte es auch anders sein, wenn das bißchen von seelischer Kraft, das die Arbeit noch etwa unversehrt gelassen hatte, von dem Laster vollends eingeschläfert und getötet wurde!

Ich habe es mir so schlimm nicht gedacht, sagte Justus traurig zu Anders.

Und es ist auch früher nicht so schlimm gewesen, erwiderte der alte Kamerad; erst durch unseren neuen Pastor ist es so schlimm geworden. Je mehr er den Männern mit Strafpredigten und den Weibern mit Kirchenbußen zusetzt, desto toller wird die Wirtschaft. Früher war doch noch in einem oder dem anderen Hause leidlicher Friede; jetzt herrschen Streit und Zank überall. Die Weiber keifen und zetern, die Männer schreien und toben und laufen schließlich in die Schenke, den häuslichen Jammer in Schnaps zu ersäufen, während die Weiber dasselbe Geschäft zu Hause selbst besorgen. Und, Justus, ich bleibe doch dabei: die Hauptschuld an all dem Elend hat Dein Ogre. Er frißt nicht Tannenwipfel, wie in Deinem Märchen, aber Menschen, Justus, Menschen! Unser Graf ist vielleicht noch ein bißchen schlimmer als die anderen; nur ihn meine ich nicht und auch die anderen nicht; ich meine diese ganze, kapitalistische Wirtschaft, die Millionen von Menschen vertiert, damit ein paar Tausende menschlich leben können. Das hat Lassalle ja klärlich bewiesen.

Lassalle war des braven Mannes Heiliger. Er hatte sich von den kleineren Schriften des großen Agitators mehrere zu verschaffen gewußt und las darin, bis er sie beinahe auswendig kannte. Mit dem inneren Verständnis stand es nicht ganz so gut. Er hatte dessen auch kein Hehl und schämte sich nicht, den Rat des jüngeren Kameraden einzuholen. Die rein philosophischen Stellen wußte dann Justus meistens genügend zu deuten: bei anderen ließ ihn seine Schulweisheit im Stich. Und doch waren dies gerade die wichtigsten: die eigentlich nationalökonomischen, in denen es sich um Kapital, Zins, Rente, Angebot, Nachfrage, Kursschwankungen, Kurstreibereien und um andere Notwendigkeiten und Vorkommnisse des Arbeitsmarktes und der Börse handelte, ohne deren genaues Verständnis, meinte Justus, man von diesen Dingen doch eigentlich rede, wie der Blinde von der Farbe.

Als er wieder einmal auf ein schwieriges Kapitel der Art einen vollen Sonntagvormittag verwandt hatte und sich um nichts klüger, eher noch verworrener fühlte, als vorher, klagte er Anders seine Not.

Glaubst Du, daß Christus von allen diesen Dingen etwas gewußt hat? fragte Anders.

Sicher nicht, erwiderte Justus. Ich bin sogar überzeugt, daß er außer dem Zinsgroschen, den ihm der Pharisäer vorhielt, nicht viel Geld in seinem Leben zu Gesicht bekommen haben wird. Aber die Zeiten waren eben andere und die Zustände einfachere, natürlichere, wenigstens in den ländlichen Kreisen der Ackerbauer, Hirten, Gärtner und Fischer, unter denen Christus ja zumeist gelebt hat, wenn es gewiß auch schon damals ganz anders ausgesehen haben und zugegangen sein mag in Jerusalem und nun gar in Rom.

Und doch hat seine Lehre dort Wurzel geschlagen und in Athen und Korinth – das steht ja alles in der Apostelgeschichte zu lesen; warf Anders ein.

Gewiß, fuhr Justus fort; nur daß ich eben hinzufügen wollte, daß seine einfache Lehre, sobald sie die Centren der Bildung berührte, sogleich eine andere werden und sich den so viel komplizierteren Verhältnissen anpassen mußte.

Und dahin wollte ich Dich eben haben, rief Anders triumphierend: eine andere, den komplizierten Verhältnissen angepaßte, das heißt: eine schlechtere, mit allerlei Weltlichkeiten durchsetzte, aus der kein Mensch mehr klug werden kann, die man nur begreifen kann, wenn man seinen gesunden Menschenverstand zu Hause gelassen hat, was alles schnurstracks gegen Christi Wunsch und Willen ist. Warum hätte er denn gesagt: Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich? Und: wenn ihr nicht werdet wie die Kinder? Für mich aber ist Christentum und Socialdemokratie rein eines und dasselbe. Und deshalb sage ich: das Christentum geht zu Grunde, wenn es nicht wieder so einfach wird, wie Christus selbst es gelehrt hat, und aus der Socialdemokratie wird im Leben nichts, solange ihre Lehren nicht bloß einem armen unwissenden Menschen, wie ich einer bin, Kopfschmerzen machen, sondern auch einem, der so viel gelernt hat, wie Du.

Viel gelernt! sagte Justus seufzend. Was denn? Lauter Dinge, von denen ich jetzt wohl sehe, daß man sie im Leben nicht brauchen kann. Und dann, Anders, wenn Sie unsere Lehre so einfach haben wollen, daß ein Kind sie begreifen kann, scheint mir doch Lassalle, auf den Sie so große Stücke halten, der rechte Lehrer auch nicht zu fein.

Anders schob sich die Mütze aus der Stirn und erwiderte nach einigem Nachdenken:

Sieh, Justus, ich denke mir das so. Das ist eine sehr zusammengesetzte Maschine, die mächtig viel Geld gekostet hat und immer noch kostet, weil sie alle Augenblicke repariert werden muß und dabei doch eigentlich wenig und schlechte Arbeit liefert. Und man – das heißt: unsereiner – sagt sich: daß das Ding doch viel einfacher und billiger hergestellt werden könnte und so, daß es besser arbeitete. Aber machen, Justus, nein, machen können wir es nicht. Bis dann einer kommt, der's kann, und die alte Maschine auseinander nimmt und zeigt, warum sie vor aller Zusammengesetztheit und Sinnreichigkeit so grausam schlecht ist, und wie man das Ding für den Viertel- oder Hundertel- oder meinetwegen Tausenderler Preis machen kann, und daß sie tausend und tausendmal mehr leistet. Und er macht das Ding, Justus; er macht es – das ist die Hauptsache.

Dann hat es Lassalle sicher nicht gemacht, sagte Justus.

Aber er hat gezeigt, warum die alte Maschine nicht arbeiten konnte,– das ist schon sehr viel. Dann werden schon andere kommen, die die neue machen.

Daß wir die nicht sind, wir beide: Sie, Anders, und ich, dafür ist gesorgt.

Anders antwortete nicht; er hatte in Justus den Messias der Arbeit gesehen, der alles herrlich hinausführen würde, wozu seine, des armen unwissenden Teufels, Kraft freilich nicht reichte, und auch jetzt mochte er die schöne Hoffnung nicht aufgeben.


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