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Neuntes Kapitel.

Zwei Wochen später, an einem schönen Vormittage, saß Justus auf dem Bänkchen in dem kleinen Garten unter dem Fenster des Zimmers, in welchem sich an jenem Abend die schlimme Scene abgespielt hatte. Schon seit einigen Tagen hatte er hier des Vormittags ein paar Stunden zubringen können, und soweit hatte Doktor Malthus mit seiner Prognose ungefähr recht behalten. Aber geheilt war freilich die Hand noch nicht und würde niemals wieder eine gesunde Hand werden.

Sie müssen es doch früher oder später erfahren, hatte der ärztliche Freund gestern zu ihm gesagt, und ich meine, Sie erfahren es lieber schon jetzt, damit Sie sich überlegen können, wie es nun weiter mit Ihnen werden soll. Ihre Arbeiterepisode ist zu Ende. Sie müßten denn eine Arbeit finden, die mit der rechten Hand allein gethan werden kann; ihre Linke kann Ihnen kein Bergmann in Berlin und kein Billroth in Wien wieder arbeitsfähig machen. Also, Justus, denken Sie auf etwas anderes! und Kopf in die Höhe! Wir werden schon irgend etwas finden und das für den Sohn Ihrer Eltern und den Schüler unseres guten lieben Szonsalla besser sich schickt, als Papierballen schnüren.

Justus betrachtete wehmütig das unförmliche Leinwandpaket, das mit einem Stück der Schiene aus der Binde hervorragte, und das seine Hand sein sollte. Gott sei Dank, daß seine süße Mutter das nicht mehr erlebt hatte! der stolze Vater sich des zum Krüppel gewordenen Sohnes nicht zu schämen brauchte! Etwas, das sich besser für euren Sohn schickt! das ist leicht gesagt, aber was? was? Daumen und Zeigefinger würden gerettet werden. Vielleicht konnte man mit dem Rest noch das Pappel- oder Lindenholz halten, Löffel und Teller für die armen Leute daraus zu schnitzen! Die Burg des Ogre würde darüber nicht in Feuer aufgehen; aber Papierballenschnüren hätte es wohl auch nicht gethan. Ja, wenn Geistesflammen aus jedem Ballen schlügen, und er der Mann wäre, diese Flammen zu entzünden! Aber, war ihm die Hand jetzt gelähmt, der Kopf war es schon längst! Die Arbeit hatte ihn gelähmt. Er hatte es kommen sehen, ganz allmählich: wie ihm das Denken schwerer und schwerer und zu einer unerträglichen Last wurde, die er froh war, abwerfen zu können, um so, ohne Kopfzerbrechen, weiter zu leben durch die öden, gleichförmigen Tage; wie die Phantasien, die ihn sonst im Wachen und im Traume umspielten, von ihm gewichen waren, gleich den Feen vor den Ogreknechten. Den Kopf hoch! den verwüsteten, leeren Kopf! Vielleicht vor zwei Jahren noch, aber jetzt war es zu spät, zu spät!

Er blickte gesenkten Hauptes mit müden Augen um sich. Der Tag war wundersam schön, die Luft nach einer Gewitternacht kühl und labend. Drüben auf der anderen Seite der Straße lag der Sonnenschein so mild, daß die elenden Hütten ordentlich poetisch erschienen. Die Straße selbst war völlig leer: die Männer und Frauen in der Fabrik, oder auf dem Felde, die Kinder in der Schule. Die Levkojen und Nelken in dem Gärtchen dufteten wie an jenem Unglücksabend –

Die arme Frau! Wie die sonst so Kecke, Übermütige jetzt bleich und still in dem Hause herumschlich, kaum wagend, die schönen, verweinten Augen aufzuschlagen! Und war er selbst denn ganz unschuldig? oder wäre er es geblieben in den Armen des schönen Weibes? Gott sei Dank, daß er es mit seinem Gewissen abzumachen hatte! Der gute Doktor Malthus war nicht neugierig, und die stolze Marthe würde nicht gefragt haben, auch wenn Albinka in ihrer Zerknirschung, oder aus Furcht, Marthe möchte sie dem Vater verraten, dem Mädchen nicht gebeichtet und die Schuld auf sich genommen hätte. Auf jeden Fall waren nur die beiden in das Geheimnis eingeweiht. Der Alte wußte es nicht anders, als daß Justus beim Suchen nach den Schwefelhölzern den Tisch umgeworfen und, indem er denselben halten wollte, sich an dem mit dem Tisch fallenden Messer so grausam verletzt habe. Marthe hatte das alles in beste Ordnung gebracht; Marthe war wieder einmal sein guter Engel gewesen.

Ja, wahrlich, wieder einmal! Wie viel verdankte er nicht schon der Treuen, Guten, Klugen! Nun war sie bereits zum zweitenmal seine Pflegerin in schwerer Krankheit gewesen; und wie viel Leid hätte er sich ersparen können, wäre er immer ihrem Rate gefolgt! Sie hatte nicht gewollt, daß er in das Grafenschloß ging, und gegen ihren Willen war er hier in ihres Vaters Haus gezogen. Als ob sie alles, wie es kommen würde, vorhergesehen mit ihren klugen grauen Augen! So immerdar von diesen Augen überwacht und behütet zu werden! Und warum nicht für immer? Wenn ihre verständige Seele auch von Liebe nichts wußte und schwerlich jemals wissen würde – sie hatte ihn gern. Daß sie anderthalb Jahr älter war als er, was kam darauf an! Irgend eine Arbeit mußte sich doch für ihn finden, würde sie schon für ihn finden; und unter ihren Händen, die ja gewiß nicht müßig blieben, würde viel aus Wenigem. Und auch darin traf es sich: sie wollte fort aus ihres Vaters Hause; er mußte fort. So mochten sie denn beide den Wanderstab ergreifen, vorläufig als Bruder und Schwester, und wenn sie einen Ort gefunden, wo es gut war und sich eine bescheidene Hütte bauen ließ, als Mann und Frau. Das würde kein Märchenleben sein, wie er es sich einst geträumt mit ihr – mit ihr –

Er seufzte tief und starrte vor sich hin auf die Levkojen und Astern, um die geschäftige Bienen summten. Vielleicht die Nachkommen derer, welche die Mutter groß gezogen in den beiden Körben im Garten hinter dem Hause, wo er so oft gesessen hatte unter dem Fliederbaum auf dem Bänkchen, das er selbst gezimmert, – Hand in Hand mit ihr!

Und wie im Traum zogen vor seines wachen Geistes Aug' und Ohr vorüber all die holden Scenen, die er in Haus und Garten, in Wiese und Wald mit ihr durchlebt hatte. Wieder strahlten ihm aus der grünen Dämmerung unter den hohen Tannen ihre braunen Augen; wieder glänzte ihm im Sonnenschein der Halde ihr goldenes Haar; wieder tönte ihm durch die Waldesstille ihr silbernes Lachen.

Mein Gott, mein Gott, so bin ich doch einmal in meinem Leben glücklich gewesen!

Und habe es nicht festhalten können, das unaussprechliche Glück, weil ich ein Träumer war, ein blöder Junge, der sich immer scheu im Winkel hielt und sich von jedem den Rang ablaufen ließ. Das war denn freilich nichts für sie, die mit ihrem klugen Kopfe immer so genau wußte, was sie wollte, die mit ihren kleinen Händen so fest zu greifen verstand und nicht wieder losließ, was sie einmal ergriffen!

Da hatte sie denn wohl ein Recht zu dem spöttischen Lächeln, das um ihren süßen Mund zuckte, wenn Hans der Träumer einmal wieder verlegen in der Ecke stand, oder etwas gesagt oder gethan hatte, was sich in der vornehmen Gesellschaft nicht schickte –

Und konnte doch auch wieder so gut sein – so gut: an dem Morgen im seidenen Zelt im Park, als der Graf mich wegjagen wollte – am Abend bei Frau Körner, als ich das Märchen erzählt hatte und sie mir hernach die Hand reichte, die eiskalt war, und mit den leuchtenden Augen zu mir aufsah und leise sagte: Du hast einen Kuß verdient, Sonntagskind, und ich würde Dir einen geben, wären nicht so viel dumme Leute zugegen –

Es wäre ja nicht der erste gewesen!

Und nun vergessen, als hätte ich nie gelebt!

Er fuhr jäh empor aus seinem Traum: eine Stimme von der Straße hatte seinen Namen genannt. Es war der alte Postbote, der jetzt durch die knarrende Gartenthür kam und ihm einen Brief reichte.

Es ist doch richtig?

Justus konnte nur nicken. Der Schrecken hatte ihn der Sprache beraubt: ein Brief von ihr! seit zwei Jahren wieder der erste Brief!

Der Postbote war gegangen. Er starrte noch immer auf die Adresse in den klaren festen Schriftzügen. Also doch nicht ganz vergessen! Aber er selbst hatte sie ja vergessen wollen! Was drängte sie sich wieder in sein Leben? Wenn er den Brief ungelesen vernichtete!

Und nun hatte er doch das Couvert, das nur leicht verklebt gewesen war, mit der zitternden Rechten geöffnet: die Blätter, die es enthielt, herausgezogen und las:

 

Berlin, 12. August 188*.

»Mein liebes Sonntagskind!

Ich weiß nicht, ist es ein oder zwei Jahre her, daß ich nicht an Dich geschrieben habe. In jedem Falle ist es nicht meine Schuld, wenn unsere Korrespondenz, die sich anfänglich so gut anließ, ins Stocken geraten ist. Wie soll man mit einem brummigen Sonntagskind korrespondieren, das entweder gar nicht antwortet, oder so kühl, daß die arme kleine Maiennacht sich statt ihrer luftigen Gewänder einen Zobelpelz wünscht! Schade, jammerschade! Wir hätten uns so viel lustige Briefe schreiben können! Denn, weißt Du, Sonntagskind – vielmehr, Du weißt es nicht – daß Du von Zeit zu Zeit Anflüge von einem köstlichen Humor hast, ja, sogar witzig sein kannst? Wie oft bist Du es nicht auf Kosten der armen Maiennacht gewesen, wenn sie, als eine richtige Fee, die sie ist, – mit ihren Aufsätzen nicht zu stande kam oder die verwünschten Exempel nicht ausrechnen konnte! Freilich, im Rechnen warst Du auch gerade kein Held, womit es vielleicht zusammenhängt, daß Du selber unberechenbar bist. Muß ich doch diesen Brief auf gut Glück nach Eisenhammer schicken, während Du vielleicht schon längst, Gott weiß wo anders bist. Aber ich hörte Excellenz Stephan neulich in einer Gesellschaft bei uns sagen: in Deutschland (oder war es im Gebiet des Weltpostvereins?) käme jeder Brief richtig an, und wenn er keine Adresse hätte. Das beruhigt mich einigermaßen über das Schicksal dieses. Und wenn er verloren geht, ist das Unglück so groß nicht. Weiß ich doch nicht einmal, ob Du von der kleinen Isabel überhaupt noch etwas hören willst!

Ja, Sonntagskind, ich bin noch immer die kleine Isabel, wenn ich auch einen halben oder ganzen Zoll gewachsen sein mag; und die Sterne auf den Epauletten der Offiziere stehen mir noch immer zu hoch, nur daß es mich jetzt nicht mehr in Verlegenheit setzt, weil ich jedem auf zehn Schritt ansehe, ob er Second, Premier oder Hauptmann ist. So etwas lernt sich in der Gesellschaft. Du glaubst nicht, Kind, wieviel ich davon in diesen zwei Jahren durchgemacht habe! Es ist endlos. Und da, wie es scheint, jeder Herr, den man mir vorstellt, zum Courmacher wird, die Reihe meiner Courmacher und Anbeter ebenso endlos. Nur mein Sonntagskind fehlt. Und das thut mir leid, denn ich habe es wahrhaftig immer sehr lieb gehabt, wenn es nun auch nichts mehr von mir wissen will.

Warum? weiß ich eigentlich nicht. Es hat doch die kleine Isabel gekannt, als sie sogar noch kleiner war und trotzdem die Hände nach allem ausstreckte, was glänzt. Nun, dahinter bin ich mittlerweile auch schon gekommen: es ist noch lange nicht alles Gold, was glänzt – wahrhaftig nicht! und man hat seine liebe Not mit den dummen Menschen und mit sich selbst. So habe ich gerade eben eine böse Zeit mit mir selbst durchgemacht und ich weiß nicht, ob der Entschluß, den ich gefaßt habe und von dem Dir Mitteilung zu machen ich eigentlich an Dich schreibe, sehr gescheit oder sehr dumm ist. Doch vorher mußt Du noch ein wenig mehr von mir hören, sonst begreifst Du am Ende gar nicht, wie die kleine Isabel zu dem Entschlusse gekommen ist.

Herzensjustus, was habe ich für ein buntes Leben in diesen zwei Jahren geführt! Ich bin in Italien gewesen von der Riviera bis Capri – Monate lang. Dann beinahe ebensolange in Paris, ein paar Wochen wenigstens in London, – ich weiß nicht, wo ich überall gewesen bin. In London hätte ich mich beinahe verlobt; aber da ich das in Rom und Paris beinahe auch gethan hätte – und sogar mehrmals – habe ich es gelassen. In Paris hat es mir am besten gefallen. Die Stadt, die Umgebung, die Luft, die Leute – es ist alles so heiter, so anmutig, leicht und leichtlebig – ich meine, es ist nur ein Versehen, daß ich nicht da geboren bin. Wie man mir denn auch wieder und wieder versichert hat, daß ich französisch spreche wie eine geborene Pariserin. Aber wer hört darauf? In Rom und London haben sie mich – mit der nötigen Veränderung – dasselbe versichert. Meine polnische Abkunft verleugnet sich eben nicht, was mir sehr zu statten kommt, selbst hier in Berlin, wo – wenigstens in unseren Kreisen – alle Sprachen durcheinander gesprochen werden.

Wir werden übrigens nicht lange hier bleiben – nur ein paar Wochen. Mitte August wollen wir nach Ostende, das ich noch nicht kenne, und worauf ich mich sehr freue.

Wenn ich sage: wir, so ist das die Gräfin, Sibylle, eine neue Gesellschafterin, Mademoiselle Clementine Meunier – die holde Adelaide hat ihren süßen Pastor vor einem halben Jahr geheiratet – der Graf (wenigstens für die erste Zeit) und Baron Schönau.

Du mußt nämlich wissen, daß ich mich mit Baron Schönau verlobt habe.

So, Sonntagskind, nun ist es heraus und ich fühle mich ordentlich leichter. Es mag ja Eitelkeit und Einbildung sein; aber ich hatte das Gefühl, daß Du es nicht gern hören würdest. Und, Sonntagskind, – Du magst es nur nun glauben oder nicht – eigentlich heiratete ich lieber Dich; aber es geht nicht, es geht wirklich nicht. Erstens bist Du noch so sehr jung, und bis Du alt genug bist, kann ich nicht warten – ich werde Dir hernach sagen: warum. Zweitens: ich habe nichts und Du hast auch nichts, nicht einmal etwas »für die Unsterblichkeit gethan«. Du solltest die Worte von Joseph Kainz hören! Das ist nämlich der erste Held auf dem eben errichteten Deutschen Theater und der beste Schauspieler, den ich je gesehen habe. Alle Welt schwärmt hier für ihn, wenigstens alle Damen – mich ausgenommen. Es ist mein Grundsatz, niemals für etwas mit aller Welt zu schwärmen. Ich finde das so vulgär. (NB! Nur wenn alle Welt für mich schwärmt, finde ich es nicht vulgär, sondern in der Ordnung.) Bei Kainz fällt mir ein Morgen im Walde ein, wo ich Dir erklärte, ich würde Schauspielerin werden. Gott, Sonntagskind, wie dumm muß ich da noch gewesen sein! Schauspielerin! Lieber Himmel, das kann man bequemer haben! Man spielt ja in der Gesellschaft fortwährend Komödie! Und dann, weißt Du, wenn ich keine Dame sein könnte, möchte ich lieber nicht leben; und ich glaube, es ist sehr schwer, eine Schauspielerin und eine Dame zu sein – was ich darunter verstehe. Also mit uns beiden – »das wär' zu schön gewesen« und hat wohl deshalb nicht sein sollen. Und weshalb ich so lange nicht warten konnte, bis Du unsterblich warst? Liebes Kind, es ist sehr schwer, Dir das klar zu machen, wenigstens in einigen Punkten. Daß ich in diesen zwei und ein halb Jahren die Gräfin – trotzdem sie mich noch immer anbetet – herzlich satt bekommen habe, wirst Du mir aufs Wort glauben. Ich halte sie – unter uns – für mehr als halb verrückt, und sie sollte, wenn nicht in einer Irrenanstalt, so doch mindestens in einer Anstalt für Nervenkranke sein, wo sie nur die Ärzte und die Wärterinnen mit ihren unglaublichen Schrullen quälen kann. Wäre es nur wenigstens leicht mit Sibylle zu leben! Sie ist ja, wie Du weißt, die Güte und die Liebe selbst und hat noch immer ihr freundliches Lächeln für meine Thorheiten und meinen Übermut; aber sie kränkelt fortwährend, bringt die Hälfte der Zeit im Bett, oder doch auf dem Sofa zu und darüber ist sie so fromm geworden! – Du erinnerst Dich, daß sie dazu immer eine grandiose Anlage hatte. Nicht, daß sie einem ihre Frömmigkeit aufdrängte! aber wenn man selber so gar kein Talent zur Gottseligkeit hat, weiß man wirklich manchmal nicht, ob man lachen, oder sich ärgern soll. So z. B.: wir sprechen über Dich – was nebenbei nicht selten geschieht und ich finde – mit Deiner Erlaubnis – daß Du mit Deiner Donquixoterie, Arbeiter sein zu wollen, eine Sünde an Dir selbst begehst. Sie schlägt die schönen Augen zur Zimmerdecke auf, faltet die weißen Hände über dem Busen und sagt: er ist auf dem rechten Wege: Selig sind, die arm sind, denn sie werden Gottes Kinder heißen. – Ich wollte erwidern: ja, Gott weiß, daß er ein Kind ist; aber ich schwieg, was in solchem Falle immer das beste ist. Wozu sich streiten? It does n't pay.

Indessen, mit Mutter und Tochter hätte ich es wohl noch ein paar Jahre ausgehalten; mit Vater und Sohn ist es nicht auszuhalten. Und hier ist der dunkle Punkt, den ich versuchen würde, Dir zu erklären, wären wir unter vier Augen und dürften uns einmal ordentlich ausschwatzen, wie in den guten alten Zeiten. Schriftlich ist es unmöglich. Mit einem Worte: es geht nicht, geht so nicht länger. Wenn die beiden miteinander durchaus schlecht stehen müssen, will ich wenigstens nicht die Veranlassung oder doch die hauptsächlichste Veranlassung sein – das bin ich der Familie, die mich bei sich aufgenommen hat – das bin ich mir selber schuldig. Ich muß also das einzige thun, was einer Dame unter solchen Umständen übrig bleibt: meinen Rückzug antreten, d. h. heiraten.

Du fragst, warum gerade Schönau? Einmal weil, wer die Wahl hat, die Qual hat und ich die Qual der Wahl übersatt habe. Sodann behauptet er, ich habe ihm schon damals versprochen, daß ich ihn heiraten wolle, wenn ich sechzehn Jahr sei. Ich erinnere mich nicht, es versprochen zu haben, was man so wirklich versprechen nennt. Irgend etwas der Art mag ich ja gesagt haben – was sagt man nicht alles, wenn man vierzehn Jahr ist! Jedenfalls würde ich mich dadurch nicht gebunden erachten, wenn er nicht wirklich – in seiner Art – ein lieber Mensch wäre und der mich – glaube ich – aufrichtig lieb hat. Nicht daß er von »Sich auf Ehre das Leben nehmen müssen« &c. spräche, wenn ich ihn verschmähte – Gott sei Dank! Ich habe davon genug gehört. Aber Du weißt, Schatz, mit meinem Geburtsschein und was in das Kapitel gehört, steht es ein wenig mißlich. Ein anderer würde sich doch vielleicht daran stoßen – er nicht. Er erklärt, mich heiraten zu wollen, und wenn ich von einem Stern auf die Erde herabgestiegen wäre (NB! das erste poetische Bild, das ich je aus seinem Munde gehört habe und wahrscheinlich das letzte, das ich hören werde). Ich rechne ihm das hoch an, und so werden wir denn wohl in England getraut werden, wo man, wie man mir sagt, mit diesen Dingen weniger Umstände macht als bei uns. Er besitzt noch andere Vorzüge, die in meinen Augen schwer wiegen. Ich finde, daß es auf Erden nichts Lästigeres giebt als Verwandte. Er hat keine, oder so gut wie keine; und so passen wir darin vortrefflich zu einander. Wir ergänzen uns auch sonst in erfreulicher Weise: ich bin arm, er ist passabel reich; ich bin ein bißchen eigensinnig, er ist die Gutmütigkeit selbst; ich habe eine kapriciöse Phantasie, er hat gar keine; ich habe wenig Verstand, er hat noch weniger. Enfin: es wäre alles gut, wenn er nur nicht Axel hieße. Ich finde den Namen schrecklich – ich bin immer geneigt, statt dessen Daxel zu sagen. Und er hat nur den einen, so daß ich ihn nicht einmal umtaufen kann. What is there to be done? Wir wollen im Herbst heiraten. Ich würde Dich nicht zur Hochzeit laden, auch wenn sie nicht in England stattfände. Aufrichtig gestanden: dazu habe ich Dich zu lieb, Du mein liebes Sonntagskind.

Und nun muß ich schließen. Weiß ich doch nicht, ob Du auch nur bis hierher gelesen hast! Bitte, beantworte diesen Brief und mache dadurch das schwere Herz ein wenig leichter

Deiner armen Maiennacht.

P. S. Soeben kommt Edith zu mir – Miß Brown, weißt Du, die schon seit einem Jahre Frau Dr. Eberhard ist – ganz aufgeregt – über Dich! Sie korrespondiert von Zeit zu Zeit mit unserer Frau Oberdirektor, und die hat ihr geschrieben, daß Du wirklich noch immer in Eisenhammer in der Fabrik arbeitest und Dich kürzlich ein Unfall getroffen habe – eine schwere Verletzung der Hand – an einer Maschine, vermute ich. Armer Junge! Nun auch das noch! Vielleicht hat es das Gute, daß Du Dich jetzt, wenn Du mit den Händen nicht weiter arbeiten kannst, auf Deinen Kopf besinnst, in dem so viele prächtige Gedanken wohnen. Du mußt es schon deshalb, Justus, weil sonst sehr wenig Aussicht ist, daß wir uns im Leben wieder begegnen. Das wäre jammerschade. Wir sind uns in unseren jungen Jahren schon so viel gewesen und müssen uns in der Zukunft noch viel mehr sein. Leb' wohl, Sonntagskind!«

 

Justus hatte das letzte der Blätter, – es war ihrer eine ganze Anzahl gewesen – auf den Schoß sinken lassen und starrte mit brennenden Augen vor sich hin. Jetzt erst wußte er, daß er sie wirklich verloren. Ein unsägliches Wehgefühl stieg in seiner Brust auf. Er wollte nicht weinen, und die Thränen, die ihm in die Augen traten und von den Wimpern auf seine Wangen tropften – das war ja nur Schwäche von der Krankheit her. Und dann war es doch stärker als er, und, Stirn und Augen in die gesunde Hand drückend und sich seitwärts in die Ecke der Bank lehnend, brach er in ein wildes Weinen aus, nur eines wünschend, es möchte ihm das Herz darüber brechen.

Eine leichte Berührung seiner Schulter machte ihn in die Höhe fahren. Es war Marthe. Er wußte, daß sie im Hause war, hatte sie auch in der Küche schaffen hören, aber sie über dem Briefe vergessen, so daß ihr plötzliches Erscheinen ihn erschreckte. Sie war sehr bleich und ein seltsamer Ausdruck lag in ihren grauen, forschenden Augen.

Ich wollte nur nicht, daß Dich die Leute so sähen, sagte sie. Du hast einen Brief von ihr?

Ja, erwiderte Justus; sie hat mir schreiben wollen, daß sie sich verlobt hat.

Ich wußte es, sagte Marthe, indem sie sich bückte, einige Blätter, die auf den Boden gefallen waren, aufzuheben, um sie zu falten und mit den anderen wieder in das Couvert zu thun.

Wie ist das möglich? fragte er verwundert. Ihr schreibt einander doch nicht?

Nein, sagte Marthe ruhig; ich glaube, meine Briefe würden ihr nicht viel Freude machen und ihre mir auch nicht. Ich weiß es nicht von ihr –

Sie schwieg ein paar Augenblicke, während eine lebhafte Röte über ihre blassen Wangen huschte, und fuhr dann mit etwas unsicherer Stimme fort:

Ich wollte anfänglich nichts davon sagen; aber Frau Oberdirektor meint, man brauche sich dessen nicht zu schämen, was man in guter Absicht für einen Freund thue; und ich muß es schon sagen, damit Du etwas vorbereitet bist und sie nicht heute etwa gar vergeblich kommt –

Die Frau Oberdirektor? rief Justus verwundert; aber um Himmelswillen, warum denn?

Von Marthes Wangen war die Röte längst wieder gewichen, ja, sie war womöglich noch blasser als vorher und ihr Atem ging rasch. Sie hatte sich zu ihm auf die Bank gesetzt und einen Moment ihre Hand auf seinen rechten Arm gelegt.

Höre mich ruhig an, Justus! sagte sie. Du kannst hier nicht bleiben – das ist ausgemacht; weder im Dorf, wo es nichts für Dich zu thun giebt, noch bei uns im Hause. Aber wohin Du von hier gehen und was Du nun beginnen sollst, weißt Du nicht. Ich wußte es auch nicht, so viel ich auch darüber nachgedacht habe. Da ist mir eingefallen, daß Du, während Du auf dem Schlosse warst, mit der Frau Oberdirektor bekannt geworden bist und sie Dir so gut gefallen hat. Ich meinte, da habest Du ihr wohl auch gefallen und – und – ich bin vor einigen Tagen – am Sonnabend – bei ihr gewesen und habe sie gefragt, ob sie vielleicht guten Rat wüßte.

Ja, kanntest Du sie denn? fragte Justus erregt.

Marthe schüttelte den Kopf.

Wozu? sagte sie; es handelte sich nicht um mich, sondern um Dich. Und das weiß hier bei uns jeder, daß sie eine gute Frau ist. Da war es doch nicht so schwer. Aber nun mußt Du es mir auch nicht so schwer machen und mich so starr und zornig ansehen. Ich habe nicht für Dich gebettelt; ich habe sie ja nur gefragt, ob sie nicht einmal über Dich mit dem Herrn Oberdirektor sprechen wolle. Sie hat sich nicht lange bitten lassen, sondern gleich ja gesagt, und sie wolle selbst an einem der nächsten Vormittage – wahrscheinlich am Dienstag – das ist heute – herüberkommen und sich nach Dir umsehen. Da kann sie jeden Augenblick hier sein –

Und von ihr hast Du erfahren, daß Isabel –

Ein Schatten flog über des Mädchens Gesicht. Es war ja augenscheinlich, daß ihm im Vergleich zu der wichtigen Nachricht sein eigenes Schicksal gleichgültig war.

Ja, sagte sie; sie nannte mir auch den Namen der Dame, die es ihr geschrieben hat; ich habe ihn aber vergessen. Justus, nicht wahr, Du wirst nun recht verständig sein? Versprich es mir!

Sie hatte ihm wieder die Hand auf den Arm gelegt und sah ihn an mit einem Blick, der ihn durchschauerte. So voll Sorge und Angst hatte wohl manchmal seiner Mutter Blick auf ihm geruht; aber es lag noch etwas anderes darin, das er sich nicht zu deuten wußte.

Auch blieb ihm keine Zeit zur Antwort. Aus der Seitengasse schräg gegenüber, welche auf die mit dem Dorfe parallel laufende Chaussee mündete, bog ein offener Wagen im schnellen Trab der beiden kräftigen Schimmel in die Hauptgasse und hielt alsbald vor dem Hause.

In dem Wagen saß eine einzelne Dame, die den beiden jungen Leuten vor der Thür einen freundlichen Gruß zunickte und, ehe noch Marthe durch das kleine Vorgärtchen zu ihr eilen konnte, bereits auf dem Boden stand.

Justus hatte die Dame nur einmal bei Lampenlicht und in Haustoilette gesehen, aber er würde, auch ohne daß Marthe sie ihm angekündigt, gewußt haben, daß es Frau Körner war. Wie ein Blitz schoß die Erinnerung an jenen Abend durch seine Seele, und zum erstenmal während dieser zwei Jahre wollte ein Gefühl der Beschämung über die Arbeiterbluse, die er auch heute trug, in ihm aufsteigen. Aber er kämpfte es wacker nieder und trat mit leidlicher Haltung der Dame entgegen.


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