Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Capitel.

Bitte, nach Ihnen! – Nach Ihnen, wenn ich bitten darf! – weiter hätten sie nichts gesagt, rapportirte Nebelow, der mit wunderbarer Schnelligkeit seine Commissionen ausgerichtet und jetzt den Doctor und den Herrn von Frank, auf Geheiß der gnädigen Frau, die bei Frau Uelzen im Speisesaal war, in des Herrn Zimmer geführt hatte.

Nebelow, der über Alles, was er binnen den letzten zehn Minuten Wunderbares gehört und gesehen, vollkommen nüchtern geworden war, – nur daß er, so oft er es unbemerkt thun zu können glaubte, mit Frau Uelzen in ihrer Hilflosigkeit wirklich klägliche Blicke austauschte – konnte in der That nichts berichten. Aber der Alte hatte kaum das Zimmer verlassen, als der in seiner Gegenwart unterbrochene Streit von Neuem anhub:

Und ich sage und wiederhole, rief der Assessor mit leiser, dünner, aber merkwürdig klarer Stimme, ich habe nichts gethan und thue nichts, was Sie an meiner Stelle nicht ebenfalls gethan hätten oder thun würden. Und wenn mich – wie ich gar nicht in Abrede stelle – die Sache ausnehmend interessirt – nennen Sie eine Krankheit, die einen scheinbar gesunden Menschen mit so wüthender Gewalt ergreift, daß anderen ehrlichen Leuten die Haare zu Berge stehen, oder eine heimtückisch schleichende, die Ihrer Wissenschaft Hohn zu sprechen scheint, nicht einen interessanten Fall? Ist es nicht Ihre Pflicht und Ihre Lust zugleich, jedes verdächtige Symptom zu beobachten, zu untersuchen? und gründen Sie Ihre Schlüsse über die Natur der Krankheit nicht auf diese Beobachtungen, diese Untersuchungen? Sind die Symptome, die ich Ihnen für meinen Fall aufgezählt, nicht verdächtig genug? Sind sie nicht derart, daß jeder Staatsanwalt der Welt darauf hin den Mann sofort verhaften lassen würde? Der junge Mensch ist lebend nicht aus diesem Raum gekommen – das steht für mich so fest wie die Sonne am Himmel. Wo er geblieben? ja, Verehrtester, darüber habe ich mir fünf Wochen lang den Kopf zerbrochen, bis mir heute Abend die überraschende Denunciation gemacht wurde, die Sie eine plumpe Mystification zu nennen belieben. Gut! wir werden ja sehen, was daran ist. Man wirft einen Cadaver nicht in einen Schrank und läßt ihn da sechs Wochen liegen. Zugegeben, – aus mehr als einem Grunde! Ich glaube auch nicht an den geheimen Gang, aber ich kenne aus einem alten Bauplane, den mir unser Stadtbaumeister aus der Registratur aufgestöbert hat, die Construction dieses Hauses ganz genau; die Mauern sind dick genug, daß hinter oder unter dem Schrank, der mir übrigens schon längst verdächtig war, sehr wohl ein geheimes Verließ oder dergleichen sein kann; da – in jener vorspringenden Ecke am Fenster – Sie sehen, wie genau ich orientirt bin, obgleich ich nie vorher in diesem Zimmer gewesen – muß der Schrank sein. Und – in diesem Augenblick – wie einem doch an Ort und Stelle so merkwürdige Gedanken kommen! – wo ist das Schild geblieben? das Schild, das unter dem Fenster bis zu jener Nacht gehangen hat und in jener Nacht verschwunden ist?

Was zum Teufel hat denn das mit der Sache zu thun? rief der Doctor.

Ich weiß es nicht, sagte der Assessor, sich die niedrige Stirn reibend; ich weiß nur, daß ich, als ich nach Woldom kam, zum ersten Male, zu meinem nicht geringen Erstaunen, von der Existenz eines offenen Ladens in diesem Hause erfuhr; daß dieses Umstandes zu der Zeit, als Herr Nudel in Cöln auf Freiersfüßen ging, und ich – als intimer Freund des Hauses – so ziemlich au courant von Allem war, mit keinem kleinsten Worte je Erwähnung geschehen ist – und zum großen Glück für den Herrn Freier; wie ich die Familie kenne, und besonders die Frau Mutter, würde ihn dieser kleine verschwiegene Umstand vollends unmöglich gemacht haben. – Der junge Mensch war sein Intimus; – der junge Mensch und das Schild sind in derselben Nacht verschwunden – wahrhaftig! das bringt mich auf ganz absonderliche Gedanken – ganz neue Kombinationen – Sie lachen! – natürlich!

Ich lache nicht! rief der Doctor, der am anderen Ende des Zimmers war.

Aber hier wurde gelacht! sagte der Assessor, der unmittelbar vor dem Schranke stand.

So mag der Teufel gelacht haben! schrie der Doctor.

Ihm war nicht zum Lachen zu Muthe; er hatte mit einer starken Versuchung zu kämpfen, dem satanischen Menschen an die Kehle zu fahren wie einem geifernden tollen Hunde, der im nächsten Moment mit den giftigen Zähnen nach dem Liebsten hacken würde, was er auf Erden hatte. Herr des Himmels, wie sollte dies werden? Wenn die junge Frau keinen Gebrauch von dem Schlüssel gemacht, den er ihr vorhin geschickt – wenn sie seine stumme Mahnung nicht verstanden; oder auch verstanden, aber nicht den Muth gehabt, derselben Folge zu geben – und hatte er nicht das Aeußerste gethan, ihr diesen Muth zu rauben? – wenn der entsetzliche Mensch, dessen schwarze, stechende Augen durch die tiefsten Geheimnisse wie durch Glas zu sehen schienen, auch nur ein blutiges Tuch oder eine Mütze, die dem Hans gehört, oder sonst einen schrecklichen Beweis mehr – wenn er, wie ja unausbleiblich, das unselige Schild in dem Schranke fand – und da – das war das Rollen eines Wagens, der schnell herankam – ein Rollen, das zum Klappern wurde – an den klirrenden Fenstern vorüber – halt! – sie waren angekommen! – Das Läuten der Thürglocke – eilige Schritte in dem Treppenhause – die Treppen hinab – die Treppen hinauf – Stimmen durch einander – was sollte daraus werden!

Ich gebe Ihnen noch einmal mein Wort, sagte der Assessor, zu dem Doctor tretend, mit leiser Stimme, daß ich, fern von aller persönlichen Rancune, jede mir mögliche Rücksicht beobachten werde. Von dem Takt der jungen Frau, von dem Benehmen des Herrn Nudel wird es abhängen, ob ich sie beobachten kann. – Mein verehrter Herr Nudel, werden Sie einem alten Freunde des lieben Hauses in Cöln verzeihen, wenn er – auf das Zureden und auf die Verantwortung unseres trefflichen Doctors hin – es wagt, Sie schon heute Abend zu begrüßen und die Bitte auszusprechen, ihn an dem Familienfeste seinen bescheidenen Antheil nehmen zu lassen?

Der eben eingetretene Lebrecht warf einen schnellen, finsteren Blick auf den armen Doctor, der wie ein Unsinniger mit ellenlangen Schritten auf- und ablief, nahm aber die Hand, die ihm der Assessor geboten, und sagte:

Die Gastfreundschaft, Herr von Frank, ist uns Pommern ein so unverbrüchliches Gesetz, wie es nur Euch Rheinländern sein kann. So heiße ich Sie denn willkommen. Meine Frau hat mich bereits flüchtig von Ihrer Anwesenheit unterrichtet. Sie bittet noch für einige Minuten um Entschuldigung, bis sie meine Schwiegereltern begrüßt hat. Wollen Sie unterdessen Platz nehmen? Willst Du Dich nicht auch setzen, Adalbert?

Ich danke, sagte der Doctor, ohne sich in seinem Dauerlauf zu unterbrechen.

Lebrecht's schönes Gesicht verrieth die Unruhe, die in ihm wühlte. Keines Menschen Gegenwart wäre ihm in diesem Augenblicke unwillkommener gewesen als die des Assessors. Unterwegs nach der Eisenbahn war ihm – in der dunkeln Ecke seines Wagens – mit der Erinnerung jedes mahnenden Wortes, das der Freund gesprochen, des kummervollen Blickes, den sein ahnungsloses Aennchen ihm nachgeschickt, als er aus der Thür ging – der ganze Wahnsinn der Situation, in welche er sich gestürzt, klar geworden, und in demselben Moment hatte ein Entschluß in seiner Seele festgestanden. Er wollte – nicht Aennchen allein – nicht den Eltern allein – er wollte, wenn sie beisammen waren, und in Bertram's Gegenwart, an dessen Achtung ihm mehr gelegen war als an der aller übrigen Menschen – ausgenommen Aennchen – er wollte ihnen sagen: so und so ist es gekommen. Macht nun daraus, was ihr wollt und könnt! Was die Eltern daraus machen, was sie sagen würden; was Aennchen selbst – er senkte sein Haupt in aufrichtiger Demuth, er hatte nach seinem Sinne jede Strafe verdient; ja, er fragte sich, ob er nur überhaupt wünschen dürfe, es möchte ihn nicht die härteste Strafe treffen? ob er, träfe sie ihn nicht, jemals wieder vor seinem Gewissen Ruhe haben werde? – Wie er es tragen würde – danach hatte er unter keinen Umständen zu fragen.

Und jetzt mußte ihm ein tückischer Zufall diesen Menschen in den Weg werfen – diesen Menschen, vor dem er von dem ersten Moment einen tiefen, unüberwindlichen Widerwillen empfunden; von dessen boshaftem Witz er Proben genug gehabt, von dessen Feindschaft gegen ihn selbst er – auch ohne directe Beweise – instinctiv überzeugt war, und der in den Augen von Aennchen's Eltern sicher – und wer konnte wissen, ob nicht auch in denen Aennchen's, denn er war zweifellos ein sehr geistreicher Mann und hatte schon seinen Einfluß auf sie ausüben können, als sie noch ein halbes Kind war – in hohem – und wenn man es so nehmen wollte – gerechtem Ansehen stand. Es hatte ihn schon auf das Unangenehmste berührt, als Bertram sagte, daß der Mann jetzt in Woldom sei, und nun saß der Mann ihm gegenüber an seinem eigenen Kamin – saß da, wie ihm zum Hohn und Spott, auf demselben Stuhle, von dem er vorhin seinen alten, treuen, geliebten Freund tausend Meilen weggewünscht. Oder war es nur eine gerechte Verschärfung der Strafe? sollte er, was er dem Freunde nicht zu sagen gewagt, jetzt in Gegenwart des Freundes und der Eltern und – dieses Mannes bekennen? Nun wohl! er hatte ja beschlossen, daß keine Strafe zu hart sei; eine härtere wie diese hätte sich kein boshaftester Teufel ausdenken können!

Während so trübe, ja trostlose Empfindungen des armen schweigsamen Lebrecht's Seele erfüllten und sich auf seinem verdüsterten Gesicht wiederspiegelten, und Herr von Frank mit der unbefangensten Miene von Cöln und von Woldom und diesem und jenem mit vollendeter Feinheit plauderte, hatte Doctor Bertram während seines Dauerlaufes Zeit und Gelegenheit genug gehabt, das seltsame Paar am Kamin zu beobachten. War das sein Freund in Unterhaltung mit einem neuen Bekannten? war es eine arme Fliege im Netz einer Spinne, die vorsichtig an dem Faden rückt, zu sehen, wie groß eventuell die Widerstandskraft ihres Opfers sein wird – ein dummer Teufel von Wandersmann, der seines Weges zieht, während der Räuber hinter dem Baume hervor die Büchse auf ihn anschlägt? – ein Mensch, den, bevor er den Schürhaken, mit welchem er eben in den Kohlen stört, aus der Hand legt, ein Herzschlag todt vom Stuhle wirft? – ja, ein Schlag in's Herz, wenn sie in den Gefahren, die von allen Seiten hereindrohten, nicht zu ihm stand – sie, von der die jungen Leute – wo mochten sie jetzt sein? – heute Abend singen sollten:

Die Holde, Schöne, Gute, Reine –
Sein süßer Trost, sein starker Hort –

Hör' mich, Vater Apollo, Fernhintreffer! Ich will mich nie wieder mit einem heimlichen Verse an dir versündigen, wenn du mich diesmal zu deiner Propheten Einem machst!

So betete der seltsame Mann, während er sich eines Menschen, halb wie das Krähen eines Hahnes klingenden Ruf erschreckt, welchen unzweifelhaft der Doctor ausgestoßen hatte, trotzdem er jetzt mit der ernsthaftesten Miene auf Herrn und Frau Commerzienrath Schmitz zuschritt und das Recht, sich als den ältesten und besten Freund Lebrecht's vorstellen zu dürfen, mit wohlgesetzten Worten für sich in Anspruch nahm, den Angstschweiß mit dem gelbseidenen Taschentuch von der Stirn trocknete, und dann, im Begriff sich umzuwenden, in einer, nur seiner Gestalt möglichen Verrenkung, mit dem Taschentuch in der Hand, regungslos stehen blieb. Es war aber eben jetzt durch die Thür nach dem Flur, die Nebelow aufriß, ein stattlicher alter Herr getreten, in schwarzem Frack, mit dem ausgeprägtesten Doppelkinn zwischen hohen, steifen Vatermördern, eine große, corpulente Dame in schwarzseidenem Kleide am Arm führend, als deren markantester Zug sich eine Imperatornase unter schweren, schwarzen, geraden Augenbrauen präsentirte. Und zwischen den schwarzen Schultern dieses würdigen Paares sah der Doctor ein schönes Gesicht, das er allein suchte, und das, während die schwarzen Schultern nach links schwenkten, noch einen Moment in dem Rahmen der Thür blieb und ihm aus großen, strahlenden Augen einen Blick zuwarf – einen einzigen, von einem holdesten, schalkhaftesten Lächeln begleiteten Blick – und Alle im Zimmer – der Assessor nicht ausgenommen – wurden durch einen seltsamen, halb wie der Schrei eines Menschen, halb wie das Krähen eines Hahnes klingenden Ruf erschreckt, welchen unzweifelhaft der Doctor ausgestoßen hatte, trotzdem er jetzt mit der ernsthaftesten Miene auf Herrn und Frau Commerzienrath Schmitz zuschritt und das Recht, sich als den ältesten und besten Freund Lebrecht's vorstellen zu dürfen, mit wohlgesetzten Worten für sich in Anspruch nahm.

Es währte denn auch keine zweite Minute, als bereits in der Gesellschaft, welche um den Kamin Platz genommen, die lebhafteste Unterhaltung lustig hinüber- und herüberschwirrte, an der nur Lebrecht sich nicht betheiligte. Was galten ihm die Reminiscenzen des Herrn von Frank an das liebe gastfreie Haus in der heiligen Stadt? was die gnädigen Erwiederungen der Schwiegermama? was die Erzählungen des Schwiegerpapas von den Erlebnissen der heutigen Fahrt, und wie er Hunger und Durst mannhaft bekämpft, um sich den Appetit zum Abendbrot, inclusive Königsbowle, nicht zu verderben? was Bertram's Humor, welcher sich in den tollsten Sprüngen erging und den guten alten Papa wiederholt fast in Lachkrämpfe versetzt hatte, denen der Doctor sogar einmal mit sanften Schlägen zwischen die schwarzen Schultern ein Ende machen mußte? – Seine Blicke, wenn er sie ja aufzuschlagen wagte, suchten nur verstohlen ihr Gesicht, das ihm nie so schön erschienen – so durchglänzt von Heiterkeit! einer Heiterkeit, die, ach, in einem für ihn so demüthigenden Gegensatze stand mit ihrer müdem Schweigsamkeit während der vergangenen Stunden! Und warum hatte sie – in der Eile – das grauseidene Kleid angelegt, das er so liebte, weil er sie zum ersten Male darin gesehen? nur damit er durch jeden kleinsten Umstand gemahnt werden sollte an den unermeßlichen Schatz, den er besessen, und den er jetzt für immer zu verlieren im Begriff war? Wie würde ihr Lachen verstummen, das, silberhell von Zeit zu Zeit das Geschwirr des Gesprächs übertönend, sein Ohr schmerzlich süß berührte? wie von ihrem holden Gesicht mit jedem Worte, welches er sprechen würde, das sonnenhelle Lächeln schwinden und schwinden, und doch – es mußte gesagt sein!

Meine Verehrten, wollen Sie mir ein paar Worte erlauben –

Auf keinen Fall, unterbrach ihn der Doctor, der ihn trotz der Possen, die er trieb, fortwährend scharf beobachtet – er will eine Rede halten! – erlauben Sie es nicht, gnädige Frau!

Unbedingt nicht! rief Aennchen, sich aus einer scheinbar sehr eifrigen Unterhaltung mit dem Assessor schnell umwendend – nur bei Tisch! ich schwärme für Tischreden, der Papa ist groß darin – ja, ja, Papachen, das bist Du! – unser Herr Assessor hier, müssen Sie wissen, Doctor, hat für seine Toaste einen rheinischen Weltruf und verdient ihn; von Ihnen, lieber Doctor – nach der Rede, die Sie mir heute bereits gehalten – erwarte ich Großes; und, Lebrecht, Du mußt auch reden – wahrhaftig! – Du magst wollen oder nicht; ich habe Deine Herren nun doch gebeten – ich wundere mich, daß sie noch nicht hier sind – alle, auch die jungen Leute aus unserem Laden. Ja, ja, Mamachen, wir haben auch einen Laden! einen richtigen Victualien- und Coloinalwaaren-Laden, der schon, ich weiß nicht wie lange, in der Familie ist, und in dem man factisch Alles haben kann, was man nur in der Küche gebraucht. Ich darf sagen: ich habe mich auf das ganze prächtige alte Haus nicht so gefreut wie auf meinen Laden. Denn Du mußt wissen, Mamachen, daß mir Lebrecht zu unserer Verlobung die Einkünfte des Ladens als Taschengeld geschenkt hat – jährlich, Mamachen, ein paar tausend Thaler! – Wir wollten Euch damit überraschen, und Lebrecht hatte sogar das alte Schild da unter dem Fenster abnehmen lassen; aber ich bin zu stolz auf meinen Laden, es mußte gleich wieder an Ort und Stelle. Ihr habt's am Ende in der Dunkelheit nicht einmal gesehen? Und, Papachen, der Zucker und die Pomeranzen zu der Königsbowle – es ist Alles aus meinem Laden! Aber, Mamachen, was Dich noch viel mehr interessiren wird, wir haben auch ein Skelet im Hause, und ein Skelet im Hause, weißt Du, ist das genteelste und aristokratischste Ding von der Welt; denn ein Skelet kommt nur in ganz alten und vornehmen Häusern vor, und jedes alte vornehme Haus muß sein Skelet haben. Unser Doctor hier, der kennt die ganze – heißt es nicht Pathologie, Doctor? – der Skelets, und daß es chronische und acute giebt, aber die chronischen sind die echten, und unseres ist ein ganz echtes chronisches. O, er hat mich so neugierig gemacht auf unser Skelet! aber ich konnte nicht dazu, denn Lebrecht hatte den Schlüssel zu dem alten Wandschranke dort, wo unser Skelet sitzt, in seinem Koffer, und ich mußte warten, bis das Gepäck kam. So bin ich auch, zur Verzweiflung von Frau Uelzen, bis auf diesen Augenblick noch ohne unser Silberzeug, das ebenfalls in dem Schranke ist, mitsammt der Königsbowle, Papachen, und Lebrecht, es ist die allerhöchste Zeit, daß wir zu unserem Silberzeug und zu Tisch kommen. Das Skelet ißt natürlich mit. Du brauchst Dich gar nicht vor ihm zu ängstigen. Mamachen; auf unseren fünfzig Schlössern hat es gewiß Skelets die Hülle und Fülle gegeben, und unser Herr Assessor wird sich so freuen, seine Bekanntschaft zu machen! Sie sind ja auch aus einem alten Hause, Herr von Frank, und ich weiß, daß Sie für Skelets schwärmen, und für unseres ganz besonders. Hier, Lebrecht, ist der Schlüssel.

Auf Lebrecht's Stirn hatte eine glühende Wolke gelegen von dem Moment, daß Aennchen's lächelnde Lippen das verhängnißvolle Wort sprachen. Ob Bertram ihn verrathen, wie sie zu dem Schlüssel gekommen – darüber auch nur eine Vermuthung aufzustellen, blieb ihm keine Zeit, und es war ja auch gleichgültig. Er wußte, er fühlte nur das Eine: deine Reue, deine Buße – Alles zu spät! zu spät! Er hätte vor Scham vergehen mögen zu den Füßen der Zauberin, die, holdselig lächelnd, in süßem, neckischem Spiel mit leichter linder Hand die schweren Bande löste, in die ihn seine Thorheit, sein armseliger Unglaube an die Unendlichkeit ihrer Güte und Liebe verstrickt.

Und während er noch – ein schwacher, beschämter Mensch – das unverdiente Gnadenwunder anstaunte – welch' neuer Lichtglanz war das, der jetzt sein trunkenes Auge schier blendend traf? Konnte es denn sein? Ihr Trübsinn von vorhin – ihre übermüthige Lust jetzt – die Andeutungen Betram's – die unerklärliche Gegenwart des Assessors – des Polizeidieners, der ihm auf dem Bahnhof überall hin gefolgt war – sie hatte auch das gewußt, getragen, verschwiegen – sie, die er nicht für großherzig genug gehalten, über eine Erbärmlichkeit wegzukommen! –

Der starke Mann brach fast zusammen unter dem Ueberschwang des Glückes, das ihn überschauerte. Er taumelte von seinem Sitz auf wie ein Trunkener, er stürzte nach dem Schrank, er riß die Thür auf:

Hans!

Hans hatte sich aus dem Dunkel des Schrankes heraus so schnell in die weit ausgebreiteten Arme des geliebten Herrn gestürzt – man wußte kaum, war er aus dem Schrank gekommen? war er aus dem Boden gewachsen? Selbst Aennchen's Mutter war es in der Eile unmöglich gewesen, auch nur den kleinsten Schrei der Ueberraschung oder des Schreckens auszustoßen, während sich bereits die Beiden unter strömenden Thränen, Brüdern gleich, die sich nach langer schmerzlicher Trennung wiedergefunden, aber- und abermals umarmten und die verschlungenen Hände kräftiglich schüttelten.

Dann aber machte sich Hans zuerst los, wischte sich die Thränen aus den lachenden Augen, verbeugte sich anmuthig und sagte: Ich bitte um Vergebung, Herr und Frau Commerzienrath – mein Name ist Hans Fliederbusch, vierter Commis in dem Hause Ihres Herrn Schwiegersohnes – Herr Assessor von Frank? freue mich ganz ausnehmend, Ihre werthe Bekanntschaft zu machen – Sie müssen meine Rührung und meinen etwas reducirten Zustand verzeihen, meine Herrschaften! Es ist kein Spaß, hier sechs Wochen in der Dunkelheit eingesperrt zu sitzen und keine Unterhaltung zu haben als täglich eine abendliche Promenade durch den geheimen Gang nach den Galgentannen und eine Partie Sechsundsechzig mit den Sklavenschiffscapitainen dort. Und die Schurken haben mir, da ich bald kein baares Geld mehr hatte, all unser Silberzeug abgenommen, Stück für Stück, bis auf die Königsbowle, Herr Commerzienrath, die Sie da einsam prangen sehen, und die ich auf keinen Fall hergeben wollte. Und – können Sie sich eine solche Habgier deuten, Herr Assessor? – zuletzt haben sie mir sogar meine Stiefel –

Mauvais sujet! rief der Doctor, willst Du denn nimmer zur Vernunft kommen? Dies, Herr Commerzienrath, müssen Sie wissen – erlauben Sie, Herr Commerzienrath!

Und der Doctor klopfte den Herrn Commerzienrath, der über all den Spaß, von dem er kein Wort begriff, und über den drolligen Menschen, der ihm wie aus einem Cölner Carneval herausgesprungen schien, vor Lachen wieder einmal zu ersticken drohte, sanft zwischen die schwarzen Schultern und zog ihn dann auf die Seite, ihm ein paar erläuternde Worte zu diesen Possen in die Ohren raunend, während Hans über den Flur nach dem Eßsaal sprang, von wo er verschiedene Summ- und Brummtöne gehört, die sich auf »A« abstimmen zu wollen schienen.

Um Gotteswillen, lieber Herr von Frank, was bedeutet dies Alles? flüsterte Frau Commerzienrath Schmitz dem Assessor zu, der sich auf die Spitzen seiner Lackstiefel hob und zurückflüsterte:

Das bedeutet, gnädige Frau, daß Sie eine sehr kluge Tochter haben, und daß man unbequem früh aufstehen muß, um seine Revanche-Partie zu gewinnen.

Aennchen aber hielt ihren Gatten umschlungen, als wollte sie ihn nie wieder aus den Armen lassen. Vergieb mir, Lebrecht!

Ich Dir?

Sie hatten mich fast wahnsinnig gemacht, Lebrecht!

Ich hatte es gethan! ich, der Thor, der Rasende! Aennchen, Aennchen! ich werde fortan von Deiner Gnade leben müssen!

Von meiner Liebe, Lebrecht! wie ich von der Deinen! – nicht wahr, Doctor? Sie lieber, lieber Freund!

Der Doctor, der eben an ihnen vorüberstrich, küßte feurig die ihm dargebotene Hand und rief:

Ich weiß nicht, wovon Ihr gesprochen habt; ich weiß nur, daß es noch Engel giebt, und daß des Dichters Auge allein begnadigt ist, sie zu schauen, und mein Auge hier diesen Engel geschaut hat, als ich am Tage nach Deiner Abreise bei Mutter Ihlefeldt in meiner dunklen Ecke saß und Dir zum Entgeld dafür, daß Du mich verlassen und ich fortan einsamer sein würde als je zuvor, die beste aller Frauen wünschte. Da hab' ich's gedichtet – wo bleiben die Kerls, die es singen sollten?

Die große Flügelthür zum Speisesaal wurde aufgestoßen. Blendender Lichtglanz strahlte herein von hundert Lichtern auf Kronen- und Wandleuchtern und Candelabern auf dem silberprangenden Tische über die Köpfe weg von acht oder zehn schwarzbefrackten jungen Herren in weißen Binden und Handschuhen, die alsbald die wohlgeübten Stimmen erhoben und nach einer bekannten, lieben Melodie sangen:

Wen Amor zwingt in seine Bande,
Dem wird zu eng die weite Welt;
Da sucht er denn durch alle Lande
Nach ihr, die ihm zumeist gefällt.

Und hat er endlich sie gefunden
Und schließt sie an die treue Brust,
Er ist beglückt zu allen Stunden,
Der Kummer selber wird zur Lust.

Denn was ihm auch der Himmel sendet,
Er theilt mit ihr es, die ihm lieb,
Und wenn es sich zum Bösen wendet,
Er weiß, daß sie ihm hold verblieb:

Die Holde, Gute, Schöne, Reine,
Sein süßer Trost, sein starker Hort,
Allzeit nun die geliebte Seine,
Wie er der Ihre fort und fort

Auf allen ihren Lebenswegen! –
Auch wir vertrauen Eurem Stern
Und singen Freud' und Fried' und Segen
Der Herrin jung, dem jungen Herrn!

Und hurrah, Hurrah, hoch! und nochmals hoch und zum dritten Mal! ertönte Hans' helle Stimme, der sich längst den Singenden zugesellt und kräftig im ersten Tenor mitgewirkt hatte.

Dann öffnete sich der Kreis, um unter Vortritt von Hans, welcher die Bowle feierlich vorauftrug, die Gesellschaft passiren zu lassen: Herrn Schmitz, der sein Aennchen führte und ihr in's Ohr raunte:

Du, Aennchen, ich sage der Mama, ich hätte es auch gewußt – darf ich?

Lebrecht, an seinem Arm die Geborene von Klüngel-Pütz, die ihm huldvoll versicherte: sie glaube natürlich kein Wort von dem etwas unzarten Spaß, welchen sich Aennchen mit dem Laden erlaubt.

Der Doctor war etwas zurückgeblieben, seine Brillengläser zu putzen, die während der letzten halben Stunde wiederholt feucht geworden waren, und dann dem Assessor den Arm zu bieten.

Aber der Assessor war verschwunden.

Schade, brummte der Doctor, indem er die Brille wieder aufsetzte; er ist doch ein feiner Kopf, der mir heute Abend, wo es unzweifelhaft ungeheuer lustig wird, noch tausend Spaß gemacht hätte. – Und was das Andere betrifft – lieber Himmel! er ahnt nicht, wie versöhnlich und gut die Menschen sind, die ihr Skelet glücklich aus dem Hause haben!



 << zurück