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Erstes Capitel.

Und dies ist unser Schlafzimmer, sagte Lebrecht die Thür aufmachend; wie gefällt es Dir?

Entzückend! sagte Aennchen.

Sie war einen Moment auf der Schwelle stehen geblieben und hatte ihre Blicke durch das Gemach schweifen lassen. Dann war sie mit ein paar raschen Schritten am Kamin und hatte sich in einen der Fauteuils geworfen.

Mein Gott, wie ich müde bin!

Lebrecht biß sich auf die Lippen, und sein schönes Gesicht, das noch eben so erwartungsvoll gelächelt hatte, verfinsterte sich. Aennchen konnte es nicht sehen, denn sie hatte die Füße auf das Messinggitter gestemmt und den Kopf weit zurückgelehnt; aber sie streckte, als er jetzt zum zweiten Male – leise auftretend, trotz des dicken Brüsseler Teppichs – an ihr vorüberging, die Hand aus und sagte in bittendem Ton:

Sei mir nicht bös, Lebrecht!

Er hatte die schmale Hand ergriffen und an seine Lippen geführt:

Weshalb sollte ich Dir bös sein? murmelte er – sehr undeutlich, denn das Herz schlug ihm bis in die Kehle. Wenn sie seine Hand festhielt, wenn aus ihren Augen ein liebevoller Strahl leuchtete, wenn ihre Lippen sich zum Kusse wölbten – dann wollte er es ihr sagen!

Aber die braunen Augen blieben müde; der reizende, leicht geöffnete Mund zuckte nicht; die Hand glitt aus der seinen lässig herab auf den Schooß. Seine Kniee, die sich schon gebogen hatten, wurden wieder straff; er wandte sich ab, nur mit äußerster Anstrengung den Seufzer unterdrückend, in welchem seine gequälte Brust sich Luft schaffen wollte.

Also wieder einmal auf morgen verschoben, wie nun noch jeden Abend während der sechs Wochen langen Hochzeitsreise! Aber dieser Abend – der erste zu Hause – war nicht wie die anderen! Es gab auf ihn kein Morgen; er hatte auf ihn – wie ein Spieler den Rest seines Vermögens auf eine letzte Karte – so den Rest seines Muthes, seine letzte Hoffnung gesetzt. Morgen mußte er es sagen – freilich! aber, daß er es mußte, war das Fürchterliche. Es war dann kein Geständniß mehr – war einfach eine Entdeckung, die er durch nichts: durch kein Verschweigen, keine Lüge, keinen elendesten Winkelzug länger verzögern konnte – und er würde dastehen, ein Verbrecher, den man, nachdem er hartnäckig und verstockt geleugnet, endlich überführt hat, und der auch nicht den leisesten Anspruch auf mildernde Umstände erheben darf, soll der Richter nicht verächtlich das zürnende Antlitz von dem Schamlosen abwenden!

Und dieser zürnende Richter – seine junge, seine schöne, seine angebetete Frau, die ihm so ganz, so völlig vertraute! die noch gestern Morgen – wie war es nur möglich gewesen, daß, als sie das hold erglühende Antlitz auf seine Schulter beugte und zwischen Lachen und Weinen sagte: Nur deine guten, treuen Augen – weiter wünsche ich ihm nichts! – großer Gott! er hatte lachen können und hatte sie geküßt wieder und wieder! und – hatte es nicht gesagt!

Er war an das Fenster getreten, hatte die dicken Vorhänge zurückgeschlagen und starrte in das Dunkel des herbstlichen Abends, der mit meereskräftigem Athem durch die alten Bäume blies, daß die Zweige knackten und knarrten und die dürren Blätter raschelnd gegen die Scheiben flogen.

Und er dachte an jene unglückliche Spätsommernacht und an die wahnsinnige Jagd durch die Zimmer bis an dieses Fenster –

Er hatte es aufgerissen, kaum wissend, daß er es gethan, die kalte feuchte Luft, die ihm entgegen schlug und seine heiße Stirn kühlte, mit gierigen Zügen einsaugend.

Lieber Lebrecht, es zieht schrecklich, sagte Aennchen vom Kamin her.

Ich bitte um Entschuldigung.

Er schloß das Fenster, ließ die Vorhänge fallen und trat in das Zimmer zurück. Seine Frau hatte sich nicht aus ihrer Stellung gerührt; diese gänzliche Apathie der sonst so Elastischen, vom Morgen bis zum Abend Lustigen, ja Ausgelassenen, Uebermüthigen beleidigte ihn in seiner verzweifelten Stimmung.

Du bist müde, Aennchen, sagte er trocken; Du solltest zu Bett gehen.

Ich bin gar nicht müde, erwiederte sie; ich bin nur ein Bischen abgespannt; ich glaube, es ist von der langen Fahrt und dem scharfen Wind, der uns fortwährend in's Gesicht wehte.

Für den letzteren konnte ich nichts, Aennchen; dafür sind wir eben in Pommern und an der See, die nichts von Euren lauen Rheinlüften weiß; und was die Fahrt selbst betrifft – es thut mir nachträglich leid genug; ich habe es gut gemeint; das solltest Du wenigstens anerkennen.

Aennchen richtete sich in ihrem Fauteuil auf: es war das erste Mal, daß sie aus dem Munde ihres Lebrecht einen so kalten, ja harten Ton vernahm; sie blickte ihn mit großen, mehr verwunderten als erschrockenen Augen an.

Verzeihe! sagte er, es sollte kein Vorwurf sein; es fuhr mir so heraus – ich weiß nicht, was es ist – ich glaube, ich bin selber abgespannt – nervös.

Wir wollen ein wenig ruhen, sagte Aennchen; laß mich hier in dem Stuhl – es sitzt sich ganz prächtig – und leg' Du Dich da auf die Chaise longue; hernach wollen wir ein glänzendes Souper einnehmen; nach all' den Feuern zu urtheilen, die Frau Uelzen in der Küche angemacht hat, muß es glänzend ausfallen.

Ich fürchte nur, es wird noch etwas damit währen, sagte Lebrecht; Du weißt, daß sie uns zwei Stunden später erwartet hat.

Auch hab' ich's gar nicht so eilig, im Gegentheil, erwiederte Aennchen, ich bin wirklich zu zerschlagen, um jetzt essen zu können. Ich will mir vorher eine Tasse Kaffee ausbitten, das wird mich schneller darüber wegbringen; es duftete im ganzen Hause nach frisch gebranntem Kaffee; ich glaube, ich rieche es bis hierher.

Lebrecht, der sich eben auf das Sopha ausgestreckt hatte, sprang mit einem Satze in die Höhe.

Mein Gott, was hast Du, Lebrecht?

Ich? nichts! ich wollte nur gehen und es der Uelzen sagen.

Die junge Frau hatte sich ebenfalls schnell erhoben. Mein Gott, rief sie noch einmal, wie blaß Du bist! Dir ist gewiß nicht wohl! sag' es mir!

Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, die Stirn war heiß und feucht; er schob die Hand, fast unwillig, zurück.

Du bist wahrlich krank, Lebrecht! Sollen wir nicht zu Deinem Freunde schicken?

Das fehlte noch gerade, rief Lebrecht mit einem gezwungenen Lachen; – der macht kurzen Proceß mit eingebildeten Kranken! Ueberdies kommt er wohl jedenfalls noch heute Abend, obgleich ich lieber wollte, er käme nicht.

Weshalb?

Ich meinte, es wäre angenehmer, wenn wir den ersten Abend ungestört blieben. Du weißt, das war mit ein Grund, weshalb wir nicht den Schnellzug wählten.

Aber, wie Du Dich erinnerst, gegen meinen Willen; und ich glaube: ich habe Recht gehabt; ich glaube, es wäre hübscher gewesen, wenn Deine Freunde und die Herren uns empfangen hätten.

Ich habe keinen Freund außer Bertram; und was die Herren betrifft, die können auch morgen noch ihren ergebensten Diener machen.

Das ist es nicht, Lebrecht; es ist nur –

Daß Du Dich in dem alten, öden Hause, mit mir allein, vereinsamt fühlst.

Aennchen erröthete bis in die Schläfen: Schäme Dich, Lebrecht!

Und es ist doch wahr, Aennchen!

Und ich sage noch einmal: schäme Dich!

Es war ein förmlicher Wortwechsel geworden – ein richtiger Zank, in den Ohren wenigstens von Frau Uelzen; und wenn diese Ohren nicht richtig hörten, so war es sicherlich nicht Frau Uelzen's Schuld, die bereits seit einigen Minuten in so unbequemer Stellung vor der Thür stand, daß ihr das Kreuz anfing weh zu thun.

Und deshalb, und auch weil der Zank beendet zu sein schien und es nichts mehr zu horchen gab, richtete sie ihre kleine dicke Figur wieder auf und klopfte.

Es war der Herr, der sofort öffnete, und so gewaltsam, daß Frau Uelzen einen tüchtigen Stoß bekam und sich den Ellenbogen reiben mußte, während sie meldete, daß der Herr Doctor eben angefragt habe und in des Herrn Zimmer sei.

Aennchen war ebenfalls in die halb offene Thür getreten.

Ich möchte ihn wieder wegschicken, sagte Lebrecht zögernd.

Auf keinen Fall! rief Aennchen; ich komme auch; ich will nur ein wenig Toilette machen.

Wenn er durchaus zu Abend bleiben soll, so brauchst Du Dich ja nicht zu beeilen.

Desto besser! – Du guter Lebrecht.

Sie wollte ihrem Gatten um den Hals fallen; aber die daneben stehende Frau Uelzen mit den neugierigen kleinen Augen in dem dicken rothen Gesicht genirte sie. So legte sie denn nur die Finger auf die Lippen: Also auf Wiedersehen! empfiehl mich Deinem Freunde vorläufig – und vergiß nicht, Frau Uelzen wegen des Kaffee –

Nein, nein! sagte Lebrecht, Frau Uelzen hinausdrängend und, ohne sich noch einmal umzusehen, die Thür so heftig hinter sich zudrückend, daß Aennchen nur eben noch mit einer schnellen Bewegung den Saum ihres Kleides aus der Spalte ziehen konnte.

Er ist mir bös, murmelte sie; und ich habe es verdient. Wenn er nun hingeht und sich bei dem schrecklichen Menschen, den er seinen einzigen Freund nennt –, mit welchem Tone er das sagte: mein einziger Freund! nein! nein! so sagte er nicht; aber es kam darauf hinaus. Und jetzt sitzt er bei ihm und schüttet sein Herz aus, und daß er eine kleine unzurechnungsfähige, alberne Frau hat, und daß er –

Die Thränen stürzten ihr aus den Augen; sie warf sich wieder in den Fauteuil, das Gesicht mit den Händen bedeckend, und schluchzte: Nicht glücklich ist! daß ich ihn unglücklich gemacht habe! nein, nein! nicht unglücklich! aber doch so glücklich nicht, wie er es verdient, wie ich gehofft, geträumt habe, daß ich ihn machen würde – ich, die ich ihn so unendlich liebe!

Sie hatte plötzlich beide Arme weit ausgestreckt, als wollte sie den geliebten Mann umfassen. Die Arme sanken in ihren Schooß; sie saß da, starren Auges vor sich hinblickend in die zusammensinkende Glut des Kaminfeuers.

Und wie nun auf den verglimmenden Kohlen die blauen Flämmchen geschäftig auf und nieder liefen, so kam und ging rastlos vorüber an ihrem inneren Auge Bild auf Bild, Scene auf Scene – die tausend Bilder, die tausend Scenen ihres kurzen Liebeslebens, das so wonnig, so sonnig aufgeglüht, so strahlend herrlich geleuchtet und nun in Asche versinken wollte.

Da war das Deck des Dampfers, auf dem er einsam hin und her schritt, mit dem rothen Buche unter dem Arm, nach den Rebengeländen und Burgen ausschauend mit den blauen, sinnenden Augen. Er war ihr längst aufgefallen, der hochgewachsene blonde Mann, bevor die Freundinnen über den »steifleinenen Engländer« zu scherzen begannen, während Cousin Arthur das schwarze Bärtchen drehte und sich in den schlanken Hüften wiegte, als wolle er sagen: Gott sei Dank, daß ich nicht bin wie jener langweilige Geselle! – Cousin Arthur hatte ein sehr böses Gesicht gemacht, als der Papa den Fremden, den er in seiner Gutmütigkeit angeredet, jetzt herbeibrachte und den Damen als Herrn Lebrecht Nudel, Kaufmann aus Woldom, vorstellte. – Lebrecht Nudel sei ein allerliebster Name, meinte Cousin Arthur, und: wer sagt mir an, wo Woldom liegt?

Ein paar Tage später wußte Cousin Arthur sehr genau, wo Woldom lag; und an den Namen, der ihm so ungeheuer komisch erschienen, hatte er mittlerweile ebenfalls Zeit gehabt, sich zu gewöhnen, denn derselbe war oft genug genannt worden in Aennchen's elterlichem, schönen, gastfreien Hause, durch dessen Thür Herr Nudel, der, so wie so, ein paar Tage in Cöln bleiben mußte, aus- und einging.

Und aus den paar Tagen waren zwei Wochen geworden, und Herrn Nudel's Geschäfte zögerten sich bis in die dritte Woche hinein, und – armer Arthur! er wollte sich todt schießen! und er würde sich todt geschossen haben – auf Ehre! bloß, daß er dann um das Vergnügen gekommen wäre, auf ihrer Hochzeit zu tanzen und ihr zu zeigen, daß in seinen Adern das echte Adelsblut derer von Klüngel-Pütz rolle und nicht ein halbschlechtiges, durch verdumpftes Schmitz'sches städtisches Patricierblut bis zur Unkenntlichkeit vermischtes, wie in den Adern seiner Cousine. Die Mama war sehr auf Arthur's Seite gewesen; sie hätte so gern mit Schmitz'schem Patriciergold den kahlen Klüngel-Pütz'schen Stammbaum zu neuem Flor gebracht; aber der gute Papa hatte treu zum geliebten Töchterchen gestanden in seiner ruhig-behaglichen Weise: Arthur solle doch froh sein, einen Cousin zu bekommen, der ihm gelegentlich ein unbequemes kleines Wechselchen einlösen und hernach, wenn er wollte, als Fidibus verbrauchen könne. Er sei nun einmal, trotz der Klüngel-Pütz'schen Verschwägerung und seines echten Cölnischen Patriciats, ein einfach-bürgerlicher Mann, der gerade Geld genug habe, um den Werth des Geldes hinreichend zu schätzen. Ja, er gestehe, so niedrig gesinnt zu sein, daß ihm die zwei Millionen seines Schwiegersohnes vollkommen imponirten; und wenn Aennchen den Mann lieb habe – nun, Gott wisse, wie gern er sie in seiner Nähe behalten hätte! aber Woldom läge doch auch noch, so zu sagen, in der Welt. Er hoffe, so ungern er reise, sich in eigener Person davon zu überzeugen und am Strande der Ostsee in echtem Rheinwein auf das Glück der jungen Ehe zu trinken, aus der Bowle, welche der König von Preußen dem Könige von Woldom geschenkt.

Dem Könige von Woldom!

Ein Banquier in Berlin, bei dem der Papa sich unter der Hand nach den Vermögensverhältnissen des Productenhändlers erkundigt, hatte nicht nur die gleichlautenden Aussagen der Londoner und Hamburger Häuser, auf deren Referenzen Lebrecht ihn verwiesen, bestätigt, sondern hinzugefügt: Ich halte den Mann sogar noch für viel reicher; er ist wahrlich, wozu schon seinen verstorbenen Herrn Vater unser hochseliger witziger König gemacht hat. Lassen Sie sich die Geschichte von ihm selbst erzählen, wie sie mir ein geistreicher Arzt aus Woldom, den ich vergangenen Sommer in Heringsdorf kennen lernte, erzählt hat.

Und Lebrecht hatte sie erzählt, mit niedergeschlagenen Augen, als ob er sich schämte; und mit unsicher schwankender Stimme, wie Jemand, der eine Schuld zu bekennen hat.

Und war doch nur die harmloseste Anekdote von der Welt: wie der hochselige König, der so gern in Neuvorpommern und Rügen weilte, auch Woldom besucht und in dem alten Giebelhause am Markte das ihm offerirte Quartier gnädig angenommen. Und wie er sich am nächsten Morgen von seinem Wirthe die bescheidenen Sehenswürdigkeiten der Stadt habe zeigen lassen, und der Vater auf die fortwährenden Fragen des eifrigen Monarchen: wer hat diesen Hafenquai gebaut? wem gehören diese Speicher? wem diese Schiffe? wer hat diese Promenade angelegt? wer dieses Armenhaus? und so weiter – der Wahrheit gemäß immer mir habe antworten müssen: ich, Majestät! – mir, Majestät! – je nachdem die Frage war, bis der König, der ganz nachdenklich geworden, plötzlich still gestanden sei und ausgerufen habe: Nun, wahrlich, das ist ja ganz und gar wie in der köstlichen Hebel'schen Geschichte von Kannitverstan, blos daß es hier kein Mißverständniß, sondern die Wahrheit ist; – und dann, sich zu seinem Gefolge wendend und auf den Vater deutend: Ich sage Ihnen, meine Herren, wenn ich nicht leider der König von Preußen wäre, so möchte ich der König von Woldom sein.

Und auf der prachtvollen Bowle aus getriebenem Silber, die dann ein halbes Jahr später aus Berlin kam, hatte das Woldomer Stadtwappen neben dem königlichen von Preußen geprangt, und unter den verschlungenen Initialen des königlichen Namens und des Namens des Vaters stand in goldenen Lettern: »Der dankbare König von Preußen seinem Collegen von Woldom.«

Wie oft hatte Lebrecht dann noch die Geschichte erzählen müssen! und wie herzlich hatte der Papa jedesmal gelacht, und die stolze Mutter hatte gelächelt, und sie selbst – sie hatte nur immer ihrem Lebrecht in das liebe Gesicht geblickt, das ihr jetzt in seiner rührenden Verlegenheit nur noch tausendmal lieber war, und bei sich gesagt: er König! und ich seine Königin! o, wie glücklich werden wir sein!

Werden wir sein! noch waren sie's ja nicht ganz; wenigstens war es Lebrecht nicht; und wie durfte sie es sein, wenn er es nicht war! Er fühlte sich nicht behaglich in ihrem elterlichen Hause. Mit dem Papa freilich stand er vortrefflich, das war ja so natürlich: wer sollte den guten alten Papa nicht lieb haben, der aller Welt wohlwollte, und nun gar dem zukünftigen Gatten seines geliebten einzigen Kindes! Die Mama meinte es ja auch nicht bös – gewiß nicht; aber es war für ihren, aller Prahlerei abholden Lebrecht doch sicherlich eine harte Aufgabe, sich fortwährend in Gespräche verwickelt zu sehen, die unweigerlich dasselbe Ziel hatten: die Verherrlichung des Geschlechtes derer von Klüngel-Pütz: wie glänzend es einst dagestanden mit seinen fünfzig Burgen am Rhein; und wie es mit den Sickingen und anderen höchsten Adelsfamilien verwandt, und selbst mit dem kaiserlichen Hause von Habsburg halb und halb verschwägert gewesen; und wie der Glanz nun nach und nach verblichen, der untergehenden Sonne vergleichbar, bis – o, des grausamen Geschickes! – eine Klüngel-Pütz – sie selbst – einem Bürgerlichen sich vermählt; und die Tochter aus dieser Ehe nach jenen ehernen Gesetzen, die über dem Aufgang und Niedergang großer Familien walteten, – sich abermals einem Bürgerlichen vermählen werde!

Und konnte sich Lebrecht mit der Mama nicht stellen, so vermochte er dem lustigen Treiben im Hause keinen Geschmack abzugewinnen. Das fortwährende Kommen und Gehen so vieler Menschen beunruhigte ihn, – er sprach es nicht aus; aber es bedurfte dessen auch nicht: sah sie es doch deutlich an einem gelegentlichen melancholischen, fast zornigen Blick, den er, wenn er sich unbeachtet glaubte, über das bunte Gewimmel gleiten ließ: diese sporenklirrenden, säbelrasselnden Officiere – an ihrer Spitze den schlanken Arthur, der seine Rolle als verschmähter Liebhaber bald von der tragischen, bald von der komischen Seite nahm und sich in der einen so unausstehlich machte wie in der anderen; – diese dandyhaften, glattredenden Referendare und Assessoren, die fast sämmtlich Reserve-Officiere waren und mit den Kameraden von der Linie einen heimlichen oder offenen Eifersuchtskrieg führten, deren Gegenstand sie – sie selbst – ein paar Jahre ihres jungen Lebens gewesen.

Sie konnte, sie wollte das nicht leugnen, wenn Lebrecht darauf hindeutete; und auch nicht, daß diese Jahre schön gewesen; daß sie sich ihrer Triumphe von ganzem Herzen erfreut; daß sie an die seligmachende Kraft von Rhein- und Moselfahrten, Officier- und Juristenbällen festiglich geglaubt – bis sie ihn sah: den blonden Engländer, den pommerschen Productenhändler, den König von Woldom! Und nun fort mit dieser Wolke von deiner lieben Stirn, mein geliebter, königlicher Herr! sie kleidet dich gar nicht gut und ist überdies ein sträflicher Zweifel an meiner Liebe, oder soll ich an der deinen zweifeln?

Ach, sie hatte an seiner Liebe nicht gezweifelt, nicht eine Secunde! und doch war jene Wolke, die sie mit dem ersten Male für immer weggeküßt zu haben glaubte, wieder und wieder gekommen und war dunkler und dunkler geworden, wie die Aschendecke da dichter und dichter über die verglimmenden Kohlen sank. Und sie hatte auf ihrer Hochzeitsreise bemerkt, daß diese Dunkelheit in dem Maße zunahm, als sie sich seiner Heimat näherten; ja, sie erinnerte sich nachträglich ganz genau, wie mit dem Tage, als sie vom Comer-See aufbrachen, um über Venedig, Wien, Prag und Dresden zurückzukehren, ein Wendepunkt in seiner Stimmung eintrat. Sie hatte gegrübelt und gegrübelt, was es nur sein könne? was durch seine Seele gehe, wenn er so Minuten – ja später Stunden lang in den Theatern, auf den endlosen Eisenbahnfahrten vor sich hinbrütete, um dann plötzlich – jedesmal nach einem verstohlenen Blick auf sie, die ihn schweigend beobachtet hatte – die unterbrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen oder eine neue zu beginnen. Waren es geschäftliche Sorgen? er hatte sie versichert, es sei nichts der Art; – fühlte er sich krank? er war nie wohler gewesen; – liebte er sie nicht mehr? er schloß ihr den Mund mit leidenschaftlichen Küssen; – war er nicht glücklich?

Es blieb zuletzt keine andere Frage; und eben, weil keine andere blieb, konnte seine Versicherung, daß er glücklich sei, ja daß er den Ueberschwang des Glückes, mit dem ihre Liebe ihn überschütte, kaum zu fassen vermöge, sie nicht beruhigen. Denn jetzt war es nicht mehr die allzu bewegte gesellschaftliche Atmosphäre des elterlichen Hauses, die ihn so bedrückt hatte; jetzt waren es nicht mehr die langathmigen Vorträge der Mama über den Glanz und Verfall ihrer Familie – dies und Alles, was dem Bräutigam so unbequem gewesen, es lag für immer hinter ihnen; er hatte ja sie – sie ganz allein – unter all' den Tausenden von gleichgültigen Menschen, die an ihnen vorüber drängten – allein, als wären sie auf einer Robinson-Insel!

War es nicht, um sie über die eigentliche Ursache seines Kummers zu täuschen, wenn er mit melancholischem Lächeln sagte: ich will es glauben, daß du auf einer Robinson-Insel mit mir glücklich sein könntest – wie ich es ganz gewiß mit dir sein würde; aber in Woldom! in Woldom, der kleinen, düsteren Stadt am Strande der grauen Ostsee; in Woldom, wo Theater eine Fabel und Concerte ein Märchen sind, wo man über die Wahl seines geselligen Verkehrs gar nicht in Verlegenheit kommen kann, weil es ganz einfach keine Gesellschaft giebt – da möchte es doch mit dem Glück manchmal seine Schwierigkeiten haben, möchten der Tage doch recht viele kommen, zu welchen du sagen wirst: ihr gefallt mir nicht.

Vergebens, daß sie mit Lebhaftigkeit anfangs, hernach fast mit heimlichem Zorn und kaum unterdrückten Thränen erwiederte:

Gesetzt, es wäre Alles, wie du sagst – aber höre ich es denn zum ersten Male? hast du nicht ebenso gesprochen, als ich noch nicht wußte, daß du mich liebtest? – nein! das wußte ich ja vom ersten Moment, und du wußtest, daß ich dich liebte, und daß ich dir folgen würde bis an das Ende der Welt, geschweige denn in deine Heimat, die du so trostlos schilderst. Ich ließ dich ruhig reden und fragte nur: bist du gern da? und du antwortetest: ich finde es fast überall anderswo schöner, wozu freilich nicht viel gehört, und doch glaube ich, ich könnte nirgends anderswo leben; und da sagte ich: so kann ich es auch nicht. Und was ich damals gesagt, ich sage es heute noch; und du, du mußt mir glauben, bis ich dir Beweise vom Gegentheil gegeben. Bis dahin, wenn du mich liebst, kein Wort mehr davon!

Er war auch wirklich auf das leidige Thema nicht wieder zurückgekommen während der letzten acht Tage. Erst heute Morgen, in Berlin, hatte er wieder davon angefangen.

Sie hatten ursprünglich mit dem Nachmittags-Schnellzuge, der am Abend um zehn Uhr in Woldom eintraf, reisen wollen; und so hatte er bereits gestern Abend an sein Haus und Geschäft telegraphirt. Dann hatte er seine Dispositionen geändert – seltsamerweise, da er sonst an seinen Beschlüssen, die er immer nur nach reiflicher Erwägung faßte, sogar mit einem gewissen Eigensinn festzuhalten pflegte. Diesmal war es anders. Es war ihm zu spät eingefallen, daß es, wenn sie zur bestimmten Stunde einträfen, ohne Empfangsfeierlichkeiten nicht abgehen würde, obgleich die Herren aus den Comtoirs wüßten oder doch wissen könnten, ein wie abgesagter Feind er von dergleichen Brimborium sei. Da würden denn Reden gehalten werden, die er zu erwiedern habe; es werde eine unruhige Stunde geben, sehr wahrscheinlich einen lärmenden Abend, und er sehne sich nach Ruhe. Er könnte sich – sie könnten sich diese Ruhe verschaffen durch ein einfaches Mittel: sie brauchten nur, anstatt des Schnellzuges am Nachmittage, den Morgenzug zu benutzen. Derselbe sei freilich ein sogenannter Bummelzug und halte an jeder Station; doch kämen sie noch immer ein paar Stunden früher nach Hause.

Sie war es zufrieden, nicht als ob ihr der Plan gefallen hätte – im Gegentheil! Sie fand es ganz in der Ordnung, daß die Herren ihren Chef, nachdem er sechs Wochen vom Hause entfernt und nun mit seiner jungen Frau heimkehrte, feierlich empfingen; sie hatte durchaus nichts gegen das Brimborium, und wenn's dabei ein bischen lustig oder gar lärmend herging, desto besser. Aber sie hatte nach ein paar schüchternen, vergeblichen Einreden wohlweislich geschwiegen und in aller Eile die Sachen zu heute früh zurechtgepackt.

So waren sie denn am Morgen abgefahren, wie gern sie auch eine Stunde länger geschlafen hätte. Die letzten Reisetage waren sehr anstrengend gewesen und sie fühlte sich – zum ersten Male – wirklich erschöpft. Doch hatte sie sich nichts merken lassen; hatte während der Fahrt nicht einmal zu schlafen versucht, wenn sie auch freilich ein paar Mal ein leises Gähnen nicht ganz unterdrücken konnte. Je größere Mühe sie sich aber gab, Alles von der guten Seite zu nehmen, desto unzufriedener und ungeduldiger war Lebrecht. Die Sache sei doch schlimmer, als er sich gedacht; das langsame Fahren, das fortwährende Anhalten – es sei unerträglich! – Er ging in dem Coupé – sie fuhren, wie immer, in der ersten Classe und waren allein – auf und ab, schloß bald die Fenster, bald öffnete er sie wieder, grollte mit dem Zugführer, schalt auf den Schaffner und fuhr einen Herrn, der auf einer Station an das Fenster gekommen und, nach seiner Anrede zu schließen, ein Woldomer und sogar ein Geschäftsfreund war, so grimmig an, daß der Mann ganz betreten schien, und sie selbst über die seltsame Heftigkeit des sonst so Ruhigen, Gelassenen wahrhaft erschrak.

Er entschuldigte sich freilich sogleich wieder, und sie hörte, wie er noch, das Fenster hinaufziehend, zu dem Manne sagte: sie wollten in Büssow die Sache weiter besprechen.

Dann begann die Wanderung in dem Coupé von Neuem, und. plötzlich stehen bleibend, sagte er: Büssow ist nämlich die Station, von der die Zweigbahn nach Woldom abgeht. Wir müssen dort eine Stunde auf den Zug von Sundin warten. Es ist ein entsetzlicher Aufenthalt, und ich bin dem gräßlichen Schwätzer rettungslos ausgeliefert. Ich will dir einen Vorschlag machen. Von der nächsten Station führt die alte Poststraße nach Woldom. Es sind noch vier bis fünf Meilen; wir haben jetzt zwei Uhr; wenn wir dort einen Wagen nehmen, können wir beinahe eben so früh, wie dieser grauenhafte Zug, in Woldom sein. Wir lassen unser Gepäck zurück und sind dann unsere eigenen Herren. Ich bin die Straße als Junge und junger Mensch, da es hier noch keine Eisenbahn gab, hundertmal gegangen, geritten, gefahren. Sie ist nicht gerade schön, wie nichts hier zu Lande; aber für mich repräsentirt jede Pappel, mit der sie bepflanzt ist, eine liebe Erinnerung. Und du kannst die Fahrt ja gleich als eine Probe nehmen, ob meine Schilderungen von Land und Leuten mit der Wahrheit übereinstimmen oder nicht. Willst du?

Natürlich hatte sie gewollt.

Es war eine harte Probe; und sie hatte sich mehr als einmal eingestehen müssen, daß Lebrecht nichts übertrieben. Zwar von den Leuten hatte sie nicht viel zu sehen bekommen; desto mehr aber vom Lande: unendliche braune Haide oder graue Felder, über die ein naßkalter Wind, strich – naß und kalt und rauh, wie bei ihr, in ihrer schönen rheinischen Heimat, kaum je ein Decemberwind; und sie waren in der zweiten Hälfte des October! Von Zeit zu Zeit auf diesen öden Ebenen ein einsames, von Baum und Busch umgebenes Gehöft; eine einzelne Mühle auf der Spitze eines der seltenen kleinen Hügel; in größerer oder geringerer Ferne dunkle Streifen Waldes. – Sie suchte sich einzureden: das Alles müsse ja im Sommer ganz hübsch aussehen, wenn die Wiesen grünten, die Haide blühte, die unabsehbaren Felder in goldenen Wellen wogten und zu dem blauen, mit großen weißen Wolken bestellten Himmel die Lerchen trillernd aufstiegen; aber die graue verregnete Wirklichkeit löschte die bunten Phantasiebilder rücksichtslos aus. Denn nun hatte es auch zu regnen begonnen, und in dem kleinen offenen zweisitzigen Wagen – Holsteiner hatte ihn Lebrecht genannt – war man dem Unwetter völlig preisgegeben.

Und das würde sie Alles gern ertragen haben, und es hätte noch ein gut Theil schlimmer kommen können – trotzdem sie heute bei ihrer körperlichen Abspannung die Anstrengung und das Ungemach wirklich schwerer ertrug als sonst wohl – wäre Lebrecht heiterer gewesen, hätte er auf seiner Heimaterde wenigstens das gelassene, fest in sich ruhende Wesen wiedergefunden, welches sie so bezauberte und in ihren jungen Augen den blonden, hochgewachsenen Norddeutschen wie einen König unter der beweglichen Schaar ihrer Höflinge erscheinen ließ. Das war nun leider keineswegs der Fall. Wie er vorhin die Beschwerden der Eisenbahn für unerträglich erklärt, so grollte er jetzt mit der Situation, die er doch selbst herbeigeführt, als wenn fremder Unverstand oder Eigensinn ihm dieselbe aufgenöthigt. Die Reisemütze tief in die Stirn gezogen, den Kragen des Ueberziehers hoch geschlagen, saß er in seine Ecke gelehnt, wie Jemand, der über eine Widerwärtigkeit, die er nicht ändern kann, nun wenigstens kein Wort weiter verlieren will. Und diese Stummheit ängstigte sie viel mehr als seine vorhergehende Heftigkeit. Schließlich wagte auch sie nicht mehr zu sprechen und hatte nun reichlich Zeit, auf das Knarren des Lederzeugs am Wagen zu hören, auf das Kreischen der Axen, das Knirschen der Räder, das Klappern der Pferdehufe, die langgezogenen Töne des Windes, der über die nassen Felder daherrauschte und die sausenden Pappeln seitwärts bog. O diese sausenden Pappeln! wenn jede wirklich, wie Lebrecht vorhin gesagt, ihm eine Jugenderinnerung brachten, wie traurig mußte diese Jugend gewesen sein! Sie band sich ein Tuch um den Kopf, nur um das entsetzliche Sausen etwas weniger deutlich zu hören, und schloß auf Viertelstunden lang die Augen, um das gespenstische Nicken der Wipfel nicht länger zu sehen.

Bald bedurfte sie der letzteren Vorsicht nicht mehr: die schweren Wolkenmassen wurden dunkler und drohender und schienen sich mit jedem Male, daß sie wieder zu ihnen emporblickte, tiefer gesenkt zu haben; es wurde Abend und aus Abend Nacht, trotzdem es wenig über sieben Uhr sein konnte. Kein freundlicher Stern am Himmel; auf der Erde unten kein tröstendes Licht; nur einmal dämmerte ein matter Schein seitwärts auf, um alsbald wieder zu verschwinden, und der Kutscher sagte: Der Galgenberg! Es waren die ersten Worte, die der Mann, der vornüber gebückt über seinen steifen Gäulen hing, während der ganzen Fahrt gesprochen.

Sie dachte darüber nach, was der Mann habe sagen wollen: knüpfte sich für ihn eine besondere Erinnerung an den ominösen Ort, wie für Lebrecht an die sausenden Pappeln? ragte dort wirklich noch ein Galgen in die schwarze Nacht? war, was da aufdämmerte, ein höllisches Feuer? oder der Lampenschein aus dem Wohnraum einer friedlichen Mühle? hatte der Schweigsame nur gemeint, daß die Fahrt zu Ende gehe und alsbald andere Lichter aus der Finsterniß auftauchen würden?

Gott sei Dank! da waren wirklich andere Lichter: zwei, drei, vier – eine ganze Reihe, die Lichter des Bahnhofes, wie Lebrecht erklärte, dann noch ein Stück Chaussee – ohne Pappeln, Gott sei Dank! – dann rechts und links niedrige, von mattem Lichtschein erhellte Fenster, zwischendurch große dunkle Massen – Scheunen der die Vorstadt bewohnenden Ackerbürger, nach Lebrecht's Aussage – ein enges dunkles Thor, an dessen Eingang und Ausgang je eine in Ketten hangende Laterne vom Winde geschaukelt wurde, – etwas besser beleuchtete breitere Straßen mit, wie es schien, stattlicheren Häusern – ein kleiner viereckiger Platz endlich, der auf der einen offenen Seite den Hafen hatte – sie hörte durch das Heulen des Windes das brausende Meer und sah, wenn auch undeutlich, auf dem jetzt lichteren Himmel hohe schwankende Masten – und gerade vor ihr ein paar Gebäude, die aus der niedrigen Umgebung wie Burgen sich aufthürmten: links das hochgegiebelte Rathhaus, rechts daneben, nur durch ein schmales Gäßchen von jenem getrennt, ein noch höher gegiebeltes Haus – sein Haus, das nun auch ihr Haus werden sollte; – das Haus, welches er ihr so oft geschildert, und das, wie sie jetzt, noch im Wagen sitzend, einen scheuen Blick empor warf, im trüben Schein der hier und da über den Markt zerstreuten Laternen und der aus den Fenstern der Häuser dämmernden Lichter, mit seinen breiten, sich übereinander bauenden Massen – ein stummes, dunkles, steinernes Geheimniß – unabsehbar in den schwarzen Nachthimmel ragte.

Und nun wurde die mächtige Thür langsam geöffnet; der Diener Nebelow – sie kannte ja die Namen längst – stand da und verschwand sofort wieder, da ihm der Wind das Licht hinter der vorgehaltenen knöchernen Hand auslöschte. Sie hätte lachen mögen; war es doch gerade, als ob der alte Mann nur seine ungeheure kupferrothe Nase habe zeigen wollen! – aber sie konnte nicht lachen. Da war die Schwelle, die sie im Geiste nun schon so oft an der Hand ihres geliebten Lebrecht überschritten hatte, und: aber so geh' doch hinein! rief Lebrecht, der den Kutscher ablohnte, ungeduldig. Er hatte es gewiß nur gut gemeint, und doch klang es häßlich in ihr verwöhntes Ohr.

Dann war er freilich sogleich wieder an ihrer Seite gewesen, als sie kaum ein paar Schritte in die weite untere Halle gemacht hatte, in welcher die dicke Frau Uelzen sie bereits mit vielen Knixen und unter manchen Ausrufungen der Verwunderung über das unerwartete Erscheinen der Herrschaften bewillkommnet. – Und sie war an seinem Arm die ehrwürdige Treppe hinaufgegangen, die, in der Mitte der unteren Halle beginnend, über mehrere Absätze auf seltsam niedrigen, hier und da etwas ausgetretenen Stufen zwischen kolossalen schwarzen Geländern zu einer breiten, nach der Treppe zu abermals mit kolossalen schwarzen Geländern eingefaßten Galerie führte, auf welche sämmtliche Zimmer des ersten Stockes zu münden schienen.

Und weiter war sie an seinem Arm durch die Zimmer geschritten, voran Frau Uelzen mit dem Licht, während Nebelow hinter ihnen her die Lichter auf den Tischen und Spiegelconsolen anzündete.

Und weil es immer erst hinter ihnen her hell wurde, hatte sie nur die Empfindung gehabt, als ob sie durch ein Labyrinth wanderte, in welchem sie sich nimmer zurechtfinden würde; und dann hatte Lebrecht die letzte Thür geöffnet und gesagt: dies ist unser Schlafzimmer, und dann –

Die prächtige Stutzuhr auf dem Sims des Kamins schlug mit leiser silberner Stimme acht. Aennchen fuhr empor wie Jemand, der jäh aus einem langen Schlafe erwacht, in welchem ihm Unendliches geträumt hat – Unendliches, durch dessen Wirrsal er immer nur Eins suchte, das er nicht finden konnte. –

Nein, geschlafen hatte sie nicht; und es waren auch keine Träume gewesen, was ihr durch Kopf und Herz in seltsam wilder Hast gezogen war, während sie auf die zuckenden blauen Flämmchen der in Asche versinkenden Kohlen starrte: es war ihr ganzes kurzes Liebesleben gewesen, das sie binnen weniger Minuten noch einmal durchlebt – in einem einzigen großen Blick zusammengefaßt hatte, wie der Wandersmann die unzähligen Einzelheiten eines weiten landschaftlichen Bildes, während er doch nur nach der Wolke ausschaut, die sich eben über dem Horizont hebt, und von der ihm der ängstliche Führer gesagt hat, daß sie, bevor man noch das nahe Ziel erreicht, die ganze schöne lachende Welt mit grauen Schleiern überdecken und in Regengüssen auslöschen werde.

Der ängstliche Führer – ihr klopfendes, vorwurfsvolles Herz! Sie hatte die Probe schlecht bestanden! Wann hatte sie sich denn je durch böses Wetter um ihre gute Laune bringen lassen? Wie war's an jenem Nachmittage, als sie auf dem Ausfluge in das Siebengebirge oben auf der Löwenburg vom Unwetter überrascht wurden und dann – auch im strömenden Regen und zuletzt in völliger Dunkelheit und noch dazu zu Fuß – den langen Weg bis Königswinter zurücklegen mußten? Aber freilich, da hatte sie sich auf seinen Arm gestützt, und jedes Hinderniß, das sie auf ihrem Wege trafen, war nur eine Veranlassung mehr gewesen zu Scherz und Lachen und Glückseligkeit! Wenn er nun heute stumm und in schlimmer Laune an ihrer Seite saß, hätte sie nicht die Pflicht gehabt, ihn durch verdoppelte Heiterkeit zu beruhigen, sie, die doch so heiter sein konnte, die er so gern recht heiter sah? hatte er nicht vielleicht nur darauf gewartet? nicht ihre müde Schweigsamkeit für den Beweis gehalten, daß seine Befürchtungen in Erfüllung gegangen und sie sein geliebtes Pommerland abscheulich fand? Und nun, als sie das Haus betreten, als sie durch die Zimmer gewandert – mein Gott, ja, er hatte sehr geeilt, aber warum hatte sie sich's gefallen lassen? warum nicht darauf bestanden, die fürstliche Pracht, mit der offenbar Alles ausgestattet, in Ruhe bewundern zu dürfen? Und als sie zuletzt in dieses Zimmer getreten, das gar kein Zimmer zu sein schien, sondern ein großes Zelt in Blau und Silber tapeziert und meublirt – so elegant, so reich, und doch so traulich und behaglich, wie sie es sich geträumt, wie sie es ihm gelegentlich in einem neckischen Augenblicke mit ein paar scherzenden Worten ausgemalt – er, der Gute, hatte Alles behalten, verstanden, hatte es noch tausendmal schöner herzurichten gewußt! – und sie! war sie ihm um den Hals gefallen? hatte sie ihm gedankt für seine Fürsorge, seine Güte, seine Liebe! hatte sie gesagt: dafür soll dir meine Liebe dein dunkles Haus so hell machen wie einen Thautropfen der Morgensonnenschein! und ich will dir die Wolke von der Stirn küssen, du lieber, närrischer Mensch! und du sollst so glücklich sein, wie ich es selber bin!

Ach! nichts, nichts von dem Allen hatte sie gesagt! hier in den Stuhl hatte sie sich geworfen und durch ihr thörichtes Benehmen – zum ersten Male, seit sie ihn gesehen – dem allezeit Gütigen ein rauhes Wort ausgepreßt. Und als er sie vorhin verließ, war die Wolke auf seiner Stirn so düster wie nie zuvor, die Wolke, die – nicht seit heute da stand, die sie also auch nicht durch ihr heutiges Benehmen hervorgerufen hatte; die verhängnißvolle Wolke, die da schon seit Wochen hing und folglich einen anderen tieferen Grund haben mußte und nur einen haben konnte: ich habe mich in dir geirrt; du bist das Weib nicht, das mich glücklich machen kann!

Und wie nun all' ihr Nachdenken sie auch diesmal genau zu demselben trübseligen Schluß geführt, zu welchem ihre Grübeleien bis jetzt noch jedes Mal gelangt waren, brach das arme Aennchen – einem Kinde gleich, das kein Entrinnen mehr vor der verfolgenden Gefahr sieht – in lautes Weinen aus, vornüber gebeugt, das Gesicht mit den Händen bedeckend, daß die Thränen durch die schlanken Finger rieselten.

So konnte sie denn freilich die dicke Haushälterin nicht sehen, welche, nachdem sie leise – sehr leise – angeklopft, ohne ein »Herein« abzuwarten, die Thür ein wenig – ein ganz klein wenig – aufgethan hatte und jetzt bereits seit einer halben Minute durch die Spalte blickte, dann die Thür behutsam wieder zumachte, laut anpochte, als wäre es zum ersten Male, und nun hereintrat, ein geschäftiges Lächeln auf den dicken Lippen, auf dem Präsentirbret die Tasse Kaffee, welche die gnädige Frau vorhin befohlen.



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