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Sechstes Capitel.

Der Doctor war, durch die Scene, die er eben erlebt, auf's Tiefste erschüttert, voll von innigster Bewunderung für die schöne junge Frau und schwerster Sorge um den geliebten Freund, mechanisch langsam treppab schreitend, bis auf den unteren Hausflur, und zur Thür gelangt, die er noch immer geöffnet hielt, gänzlich unschlüssig, ob er umkehren und die Durchsuchung des verdächtigen Schrankes selbst vornehmen, ob er weitergehen und den schlimmen Fall, in dessen Behandlung er sich so stark vergriffen, für hoffnungslos erklären solle, als ihm ein Windstoß die Thür aus der unsicheren Hand riß und hinter ihm zuschlug.

Der verdammte Wind! schrie der Doctor wüthend.

Es ist eine böse Nacht, sagte eine heisere Stimme neben ihm.

Holla! rief der Doctor.

Ich bin's, der Kabelmann!

Was spukt Ihr hier herum? ist Eure Frau kränker geworden?

I, Gott bewahre, Herr Doctor.

Nun?

Ich soll Sie bitten, zu dem Herrn Assessor zu kommen – von Amtswegen.

Der Doctor machte unwillkürlich eine Bewegung nach dem Drücker, trotzdem er wußte, daß die Thür in's Schloß gefallen und von außen nicht zu öffnen war. So sagte er denn, nur um Zeit zum Ueberlegen zu gewinnen:

Was giebt's, Kabelmann? Ist es die Ledebur? ich sagte es dem Herrn Assessor ja, die arme Person würde tobsüchtig werden, wenn er sie noch länger mit Dunkelheit und Inquiriren so drangsalirt.

Es ist nicht wegen der Ledebur, Herr Doctor; die sitzt jetzt, auf des Herrn Doctors Verwendung, in Nummer sieben, wo sie doch wenigstens Luft und Licht hat; und warmes Essen hat sie heute auch gekriegt, und sie sagte selbst zu mir: Kabelmann, das habe ich dem Herrn Kreisphysicus zu verdanken, denn der Andere – der – es war ein recht schlechtes Wort, Herr Doctor, – der hätte mich ja wohl hier auf dem Stroh verfaulen lassen. Es ist –

Der Polizeidiener, der den langen Doctor noch um eines Kopfes Länge überragte, bückte sich und sagte in seinem heisersten Ton:

Ich soll es nicht sagen; aber der Herr Doctor, weiß ich ja, wird mich nicht verrathen; es ist wegen des Herrn Nudel und des jungen Herrn Fliederbusch.

Der Doctor versuchte es mit einem Lachen, brachte es aber nur zu einem Husten, den ihm der Wind in die Kehle zurücktrieb.

Wissen Sie was, Kabelmann, Sie brauchen es ihm nicht dienstlich zu melden, aber Ihren Herrn Assessor soll der Teufel holen!

Der Polizeidiener schob die Wachsmütze nach oben und kraute sich in dem kurzen starren Haar.

Je ja, je ja! Herr Doctor, ich wollt' nichts dagegen haben, und mit dem Teufel geht es auch zu; und wenn ihm der was in den Kopf gesetzt hat, dann hat er keine Ruhe Tag und Nacht, bis er's heraus hat, und nun hat er's heraus.

Dummes Zeug! sagte der Doctor; heraus haben! verrückt ist er!

Je ja! je ja! Herr Doctor: meinetwegen mag er auch verrückt sein, und ich gönne ihm die Nummer vierundzwanzig lieber als der Ledebur; – wenn nur der verflixte Wandschrank nicht wäre!

Dem Doctor rieselte es kalt durch die Adern. Also auch das!

Von mir hat er's nicht, fuhr der Polizeidiener entschuldigend fort, obgleich ich's ihm ja hätte sagen können, da ich das Haus kenne wie meine Tasche, und den Wandschrank da oben in der Eckstube, wo der selige Herr Senator wohnte, der seine Acten darin hatte, daß ich sie oft genug selber heraus- und hineingelangt habe. Sagte auch eines Tages, wie ich so davor stand: Kabelmann, sagte er, was meint Er wohl, wie viel tausend Thaler ich mir schon durch das Loch da aus dem Galgenberg geholt habe? – I, Herr Senator, sagte ich, wer glaubt denn daran? – Kabelmann, sagte er, Er glaubt dran und die ganze Stadt. Und dabei lacht er so, und ich lache auch, denn er machte gern seine Späßchen; aber Nebelow schwört Stein und Bein darauf, der Herr Senator habe aus seiner Stube gehen können, ohne eine Thür zu öffnen, und wird ja wohl auch Einem und dem Anderen davon gesagt haben. Aber dem Herrn Assessor, Nebelow, sage ich, dem sagst du nichts nicht davon; und hat's auch nicht gethan, als er ihn gefragt hat, wie das da oben mit dem Wandschrank wäre, von dem die Leute erzählten? Na, Herr Doctor, und ich habe ihm wahrhaftig nichts gesagt, sondern immer: Das ist ja nur so ein dummer Schnack, Herr Assessor, und glaubt' ja auch, er würde sich dabei beruhigen, bis er vor einer halben Stunde nach mir klingelt und läuft in seinem Zimmer herum und reibt sich die Hände und sagt: Nun, Kabelmann, habe ich es doch heraus; und um zehn, wenn der Herr Nudel zurückkommt, wollen wir mal in dem Wandschrank nachsehen, ob wir da nicht etwas finden, das seiner jungen Frau Freude macht. – I, Herr Assessor, sage ich, der Herr Nudel, der ist ja schon zurück seit acht Uhr, und ist eben wieder nach dem Bahnhof, die alten Herrschaften zu holen; denn ich hatte Nebelow gesprochen, Herr Doctor, den Frau Uelzen zu Senator Zingst geschickt hatte, um Silberzeug zu holen, weil der Herr Nudel den Schlüssel zum Wandschrank verloren, und sage das dem Herrn Assessor, und daß der Herr Doctor bei der jungen Frau wäre. Da lacht der Herr Assessor – so recht wie ein alter Affe, Herr Doctor, – und sagt: Den Schlüssel hat er verloren? wir wollen ihm ein bischen suchen helfen! und ich solle hinübergehen und dem Herrn Doctor sagen: Sie möchten doch gleich einmal auf eine Minute herüberkommen, der Herr Assessor habe in dringenden Geschäftsangelegenheiten mit Ihnen zu sprechen, und da kamen der Herr Doctor gerade heraus.

Der Doctor hatte, wie sehr ihm auch daran gelegen war, fortzukommen, den alten Mann ruhig ausreden lassen; jetzt schlug er seinen Rockkragen hinauf und sagte: Schön, Kabelmann, in einer Stunde, sagen Sie ihm; jetzt hätte ich absolut keine Zeit.

Er machte einen Schritt; der Polizeidiener blieb ruhig stehen.

Thun Sie es nicht, Herr Doctor! es hilft nichts; er hat den Martens gleich auf den Bahnhof geschickt; der darf dem Herrn Nudel nicht von der Seite, aber ohne daß Herr Nudel was merkt; ich habe selbst gehört, wie er ihn instruirt hat.

So! dann warten Sie eine Minute; ich bin gleich wieder hier.

Der Doctor griff nach der Schelle; der Polizeidiener schüttelte den Kopf.

Thun Sie es nicht, Herr Doctor. Nebelow ist nicht da, es könnte zu lange dauern, bis aufgemacht wird, und ich habe strengsten Befehl, den Herrn Doctor unverzüglich zu bringen; ich wundere mich schon, daß er nicht schon wieder geschickt hat.

So sagen Sie, Sie hätten mich nicht gefunden; ich wäre schon fort gewesen.

Kann ich nicht, Herr Doctor, ich muß es ja auf meinen Diensteid nehmen. Wissen Sie was, Herr Doctor, kommen Sie mit; vielleicht nimmt er doch Vernunft an, wenn Sie mit ihm reden, und läßt es wenigstens bis morgen. So eine arme, junge Frau – gleich an dem ersten Abend – das ist zu schrecklich; morgen wird's ja denn freilich vorbei sein.

Aber, Kabelmann, rief der Doctor, Ihr seid doch ein vernünftiger, alter Kerl; glaubt Ihr denn wirklich, daß einer einen Menschen ohne Veranlassung todt schlägt und reist ruhig fort und macht Hochzeit?

Je ja, erwiederte Kabelmann, Veranlassung wird er wohl schon gehabt haben, und ruhig wird er ja auch wohl nicht sehr gewesen sein, sonst ist Alles schon dagewesen und noch viel curiosere Dinge. Nun aber kommen Sie, lieber Herr Doctor, es ist die höchste Zeit!

Der Doctor überlegte; es schien wirklich das Beste, daß er mitging. Sollte er auch Herrn von Frank nicht überzeugen, daß der Verdacht haltlos sei – und wie konnte er das? und wie viele gravirende Momente mochte die Spürnase des Mannes noch sonst herausgedüftelt haben? – eine Waffe hatte er im Nothfalle; er konnte sagen: ich kenne die persönlichen Motive, von denen Sie sich in dieser Angelegenheit treiben lassen! – eine schwache Waffe in der That einem so boshaften und rachsüchtigen Manne gegenüber! man mußte eben sehen, wie weit man damit kam.

Von dem Thurme der Nicolai-Kirche zitterten dumpfe Töne durch die sturmgepeitschte Luft; drei Viertel auf zehn! in einer halben Stunde spätestens war Lebrecht mit den Eltern da – und die junge, schöne, blasse Frau oben –

Nun denn, Kabelmann! sagte der Doctor und schritt aus dem tiefen Portale, wo diese Unterredung stattgefunden, die Fronte des alten Giebelhauses entlang, an dem engen Gäßchen vorüber, nach dem Rathhause.

Der alte Polizeidiener folgte schweigend.

 

Inzwischen war das Fortgehen des Doctors auch in der Küchenregion nicht unbemerkt geblieben. Dörthe, die schon lange an dem Fensterchen gestanden, durch welches man einen Theil der Galerie und den Treppenaufgang überblicken konnte, ließ den erhobenen Zipfel der Gardine fallen und sagte, sich zu Frau Uelzen wendend:

Na, endlich! Nun gehen Sie aber auch hinein und fragen Sie: was ich denn eigentlich fertig braten soll?

Ich rühre mich nicht vom Fleck, erwiederte Frau Uelzen, die kurzen Daumen langsam um einander drehend; wenn die gnädige Frau Zeit hat, eine Stunde mit dem Herrn Doctor zu schnacken, anstatt sich um ihre Wirtschaft zu bekümmern – mir kann es recht sein.

I, dafür sind Sie ja die Wirthschafterin, sagte Dörthe; und was eine so junge Frau ist, die hat mit dem Doctor immer noch ganz was Besonderes –

Du schämst Dich wohl gar nicht, Dörthe! so ein junges Ding! sagte Frau Uelzen.

Na, von gestern bin ich auch nicht, erwiederte das Mädchen lachend; man weiß doch am Ende, wie es in der Welt zugeht; und das muß ich sagen: mir gefällt sie.

Ich kaufe die Katze nicht im Sack, sagte Frau Uelzen mit einem philosophischen Blick nach den blankgescheuerten Kesseln auf dem großen Küchenschrank.

Wie eine Katze sieht sie nun gar nicht aus, sagte Dörthe; sie hat so gute treue Augen; und so schön, wie die ist, und so rank und schlank im Leibe, und wie ihr das braune Reisekleid stand – ne, Frau Uelzen, so was giebt's hier bei uns zu Lande nicht; da ist selbst die Frau Senator Zingst gar nichts dagegen. Ein Bischen lustiger freilich – das könnte nicht schaden. Du lieber Gott, wenn ich das denke: so jung und so schön und so reich, und einen jungen, schönen, reichen Mann –

Ich danke Gott, daß ich nicht in ihrer Haut stecke, sagte Frau Uelzen.

Das Mädchen lachte überlaut. Das sollte schwer halten, Frau Uelzen, sagte sie.

Wir werden's ja erleben, sagte Frau Uelzen; das heißt: ich hier nicht. Ich bin die längste Zeit hier gewesen.

Das sagen Sie so, Frau Uelzen.

Das sage ich nicht so, das ist so! erwiederte Frau Uelzen eifrig; eine, die bei so vielen Herrschaften gewesen ist wie ich, die weiß, wenn der Topf ein Loch hat, und beim Auskehren, da findet es sich. Das ist hier gerade wie bei Baron Grieben, wo ich fünf Jahre lang Ausgeberin war, der die junge Comtesse Pustow heirathete, und es gingen keine acht Tage in's Land, da hat er sich todtgeschossen in seiner eigenen Schlafstube, denn, was die junge gnädige Frau war, die schlief am anderen Ende vom Schlosse und –

Frau Uelzen rückte ihren Sessel ein paar Zoll näher und sagte in geheimnißvollem Ton:

Er hat sechs Zehen an dem rechten Fuß gehabt; die Leichenfrau, die ihn gewaschen, hat es mir selbst erzählt.

Herr Gott! rief Dörthe, die rothen Hände zusammenschlagend, hat sie es denn nicht gewußt? ich meine, was die junge Frau war?

Frau Uelzen umging die heiklige Frage, indem sie, noch unheimlicher flüsternd, fortfuhr:

Da war der Herr von Lindblad aus Schweden, der die jüngste von den zwölf Passelwitzer Fräuleins heirathete, und dem der alte Herr von Passelwitz Randow abstand, weil er ganz in ihn vernarrt war. Und eines Tages kommt seine erste Frau aus Schweden auf den Hof gefahren, der er weggelaufen ist, und läßt sich bei der gnädigen Frau melden –

Herr Je, Herr Je, was giebt es für Menschen! rief Dörthe, was sagte denn die arme gnädige Frau – ich meine, die zweite?

Was die gesagt hat? gar nichts hat sie gesagt, sondern hat anspannen lassen und hat ihre beiden kleinen Kinder genommen – das jüngste war noch kein halbes Jahr – die andere hatte auch ein paar mitgebracht – lauter Flachsköpfe – und ist nach Passelwitz zurückgefahren, und jetzt wohnt sie in Sundin –

Und Sie glauben, daß unser Herr so eine heimliche Frau Liebste hat? fragte Dörthe.

Frau Uelzen lächelte verächtlich. Da passiren schlimmere Dinge, Dörthe; und ich sage: wenn die alten Herrschaften acht Tage früher kommen, als sie haben kommen wollen, und schicken eine Depesche, und der Herr wird kreidebleich, als er das liest, und wir haben kein Silberzeug für die Herrschaften, und er hat den Schlüssel verloren und läßt den Schrank nicht aufmachen – das hat seine Bewandtniß, sage ich, und das sagt Nebelow auch.

Und schämen sollten Sie sich alle Beide, rief Dörthe eifrig, denn das ist gar nicht recht, wenn man in einem Hause ist und noch dazu schon so lange, und es passirt etwas in dem Hause, und Keiner weiß was, und man läßt die Leute in der Stadt reden und redet selber mit, ja und noch viel Schlimmeres, daß einem armen Mädchen, das erst sechs Wochen im Hause ist, die Haare zu Berge stehen, während der Herr Fliederbusch blos weggelaufen ist, und ich habe ihn gewiß gern gehabt, wenn er bei Mutter Ihlefeldt immer der Tollste war; aber jetzt wünschte ich, er hätte so viel Trachten Schläge gekriegt, als er Tage weg ist – dann würde er wohl wiederkommen.

Was das Wiederkommen betrifft, daran läßt er es nicht fehlen; er hat sich heute Abend schon zweimal gemeldet, sagte der alte Nebelow, der, von den beiden eifrigen Frauen unbemerkt, eben in die Küche getreten war.

Wenn Sie noch einmal so was sagen, dann schrei' ich! sagte Dörthe.

Er hat sich gemeldet? wo denn? wann denn? wie denn? so reden Sie doch! rief Frau Uelzen.

Der Alte hatte den Kasten, den er unter dem Arm trug, auf den Anrichtetisch fallen lassen, daß die Löffel zum Theil herausrollten, und sich selbst auf den Sessel, von dem Frau Uelzen in ihrem ersten Schrecken aufgesprungen war, und saß jetzt so da mit schlotternden Knieen, während die blutunterlaufenen, wässerigen Augen auf die Fliesen stierten.

So reden Sie doch! rief Frau Uelzen noch einmal.

Oder ich schreie! rief Dörthe.

Laß ihn nur erst zu sich kommen! sagte Frau Uelzen.

Sie hatte aus dem Küchenschrank eine Flasche genommen und ein Gläschen vollgeschenkt, das sie dem Alten unter die Nase hielt. Der hatte es mit zitternder Hand empfangen, dann aber auf einen Zug geleert, räusperte sich und sagte, immer vor sich hin auf die Fliesen stierend, mit seiner hohlen Stimme:

So um sieben – eine Stunde, ehe die Herrschaften kamen. Ich war unten, die jungen Leute zu fragen, ob sie nicht zumachen wollten von wegen der Singerei um zehn. Und Schuster Böhm ist auch gerade drin und erzählt, daß ihn der Herr Assessor hat gestern kommen lassen und hat ihm ein Paar Stiefel gezeigt, und ob das dem Herrn Fliederbusch seine Stiefel wären, weil er doch immer für Herrn Fliederbusch gearbeitet hätt'? Und Schuster Böhm sagt: ja, das wären seine Stiefel, und wo der Herr Assessor die her hätt'? Und der Herr Assessor fängt so recht bös an zu lachen und sagt: das ginge ihn nichts an; er wisse nun genug, und er könne nun wieder gehen. Und wir sprechen noch so darüber, und Herr Schmidt steckt die Lampen an, weil es schon ganz dunkel war, und sagt noch: wie man Stiefel beschwören könne, die man vor einem Vierteljahr gemacht hat, und er wisse kaum noch, wie Herr Fliederbusch aussehe, und das sei doch erst sechs Wochen her; und ich sehe so nach dem Fenster und frage mich, ob ich's wohl noch wüßte, und da steht sein Gesicht leibhaftig zwischen den zwei Zuckerhüten und guckt mich an, daß ich meinen halben Rum verschütte, und wie ich wieder hinsehe, ist es weg. Frau Uelzen, geben Sie mir noch einen!

Willfährig füllte die Haushälterin das Glas zum zweiten Male; der Alte trank, räusperte sich und fuhr fort:

Ich erzähle das dem Kabelmann, als ich vorhin am Rathhause vorbeikomme, wo er in der Thür stand, und Kabelmann sagt: Der ist mausetodt; und die Stiefel hat der Herr Assessor vorgestern selber auf dem Galgenberg zwischen den Tannen gefunden – Märtens ist bei ihm gewesen – und ist gerade auf die Stelle zugegangen, als ob er die Stiefel gerochen hätt', – wie ein Hühnerhund, sagt Märtens; – und – sagt Kabelmann – du sollst es sehen, Nebelow, er kriegt es 'raus! halte nur dein Maul über den Wandschrank, ich thu's auch; dann sind wir es doch nicht, die ihn an den Galgen gebracht haben. – I, wo werde ich was sagen, sage ich. – Gut! ich gehe also zu Zingsts und bitte um ein Dutzend Löffel, weil die alten Herrschaften kämen, und unser Herr habe den Schlüssel zum Wandschrank verloren. Guckt der Herr Senator die Frau Senator an, und die Frau Senator guckt den Herrn Senator an – sie saßen nämlich gerade bei Tisch – und die Frau Senator steht auf und holt die Löffel und guckt mich an und sagt kein Sterbenswörtchen, und ich auch nicht, und denke noch so daran, wie ich über den Markt komme, und der Regen schlägt mir in's Gesicht und stoße darüber mit dem Regenschirm gegen die Hausthür. Bist du betrunken, Balthasar Nebelow? sage ich zu mir und klappe den Schirm zu! – Nebelow! sagt es neben mir.

Dummes Zeug! schrie Dörthe.

Still! rief Frau Uelzen; – Herr Fliederbusch?

Frage ich auch, sagte der Alte. Herr Fliederbusch? Denn es war leibhaftig, als wie er aus dem Comtoirfenster unten über den Hof hier hinauf zu rufen pflegte, wenn sie wissen wollten, ob der Herr ausgegangen wäre, damit sie eine Stunde früher zu Mutter Ihlefeldt kämen. Da ruft es schon wieder: Nebelow! daß ich den Drücker beinahe fallen lasse; und wie ich eben die Thür aufmache, kommt es und faßt mich eiskalt hinten in den Hals und zum dritten Male –

Ein furchtbares Sausen und Prasseln ließ den Alten nicht ausreden; die Feuer schlugen fußlang aus den Heerdthüren, dicke Rauchsäulen strömten nach, die Küche erfüllend; Dörthe, die während der Schreckensgeschichte des Alten der Muth völlig verlassen hatte, kreischte gellend auf und sank in die Kniee, ihr Gesicht mit den Händen bedeckend und immerfort schreiend; als sich jetzt eine Hand auf ihre Schulter legte, die sie für Frau Uelzen's hielt, bis eine Stimme, welche nicht Frau Uelzen's Stimme war, sagte: Was ist dem Mädchen?

Dörthe blieb auf den Knieen liegen und rief, die gefaltenen Hände zur jungen gnädigen Frau emporstreckend, unter krampfhaftem Schluchzen:

Ich kann nichts dafür, gnädige Frau; ich hab' mich gewehrt, so lange ich konnte, und immer gesagt: es ist eine Sünde und eine Schande, so was von unserem Herrn zu erzählen, und ich glaub' es ja auch nicht, gnädige Frau! ich glaub' es wahrhaftig nicht!

Steh' auf, liebes Kind! sagte Aennchen.

Das Mädchen hob sich von den Knieen und trat an den Heerd, der gnädigen Frau halb den Rücken zukehrend, so gut es ging ihr Schluchzen unterdrückend und in schrecklicher Verlegenheit, was sie erwiedern solle, wenn die gnädige Frau sie nun fragte: weshalb sie so geschrieen habe? und was sie denn nicht glaube?

Aber die gnädige Frau schien weiter keine Notiz von ihr zu nehmen, sondern fragte – mit ganz ruhiger Stimme, worüber sich Dörthe sehr wunderte – ob es öfter in der Küche rauche? und was das für Löffel da in dem Kasten wären? und wer Befehl gegeben, die Löffel zu holen? worauf denn Frau Uelzen antworten mußte, daß sie es gethan, weil der Herr fortgefahren wäre, ohne etwas zu hinterlassen, und sie die gnädige Frau nicht habe stören wollen, und die gnädigen Herrschaften doch nicht ohne Löffel essen könnten.

Auch darauf erwiederte die gnädige Frau nichts Besonderes, sondern fragte nur: ob schon gedeckt sei? und für wie viele? Frau Uelzen möchte so freundlich sein und sie nach den Fremdenzimmern führen, die sie doch vorher sehen wollte, bevor die Eltern kämen, wenn sie auch im Voraus überzeugt sei, daß es an nichts fehlen werde.

Damit verließ Aennchen die Küche, Frau Uelzen mit sich nehmend.

Frau Uelzen hatte durchaus die Empfindung, daß die gnädige Frau, die ganz anders aus den Augen blickte als vorhin und in einem ganz anderen Tone gesprochen hatte, sehr böse sei, und war entschlossen, dem Sturme zuvorzukommen: die gnädige Frau dürfe sie platterdings nicht dafür verantwortlich machen, wenn nun einmal so häßliche Gerüchte in der Stadt umliefen; sie habe ja schon vorhin gesagt, man könne den Leuten den Mund nicht verbieten, und nun habe es ja die gnädige Frau mit ihren eigenen Ohren gehört. Aber wie könne es auch anders sein, wenn der Herr Assessor drüben es förmlich darauf anlege, den Herrn um Ehre und Reputation und – Gott verzeih' ihm die Sünde – an den Galgen zu bringen? Sie habe vorhin nicht davon sprechen wollen, um der jungen gnädigen Frau, die eben erst in's Haus gekommen, nicht bange zu machen. Indessen es sei am Ende ganz gut, wenn die gnädige Frau es erführe und es dem Herrn sagte, was er sich von dem Herrn Assessor zu versehen habe, um sich bei Zeiten vor ihm in Acht zu nehmen; denn in einer kleinen Stadt, da heiße es: trau, schau – wem? und wenn Einer, der nach dem Herrn Bürgermeister der Oberste in der Stadt sei und immer Lackstiefel und gelbe Glacéhandschuhe trage, bei dem gräulichen Wetter in eigener Person nach dem Galgenberg gehe, um ein Paar alte Stiefel zu suchen und sich hernach von dem Schuster Böhm beschwören zu lassen, das seien des Herrn Fliederbusch seine – da möchte sie denn doch die gnädige Frau fragen, ob man so Einem über den Weg trauen dürfe?

Der Frau Uelzen war es höchst unheimlich gewesen, daß, während sie, in der Tiefe des Zimmers an den Betten streichend und an den Stühlen rückend, also sprach, die gnädige Frau, welche, ihr den Rücken zukehrend, am Fenster stand, kein Sterbenswörtchen erwiederte; und sie hatte in Folge dessen immer weiter gesprochen und die Farben immer stärker aufgetragen. Wie erschrak sie aber nun, als die Gnädige, sich plötzlich umwendend, ihr ein Gesicht zeigte, das so weiß war wie die Gardinen, die rechts und links an ihr hinabfielen, und so starr, daß selbst die großen braunen Augen sich nicht bewegten, und nun – mit dem weißen Gesicht und den starren Augen – an ihr vorüber nach der Thür schritt, die offen geblieben war, und dort, ohne sich umzublicken, so gerade vor sich hin sagte – in einem Ton, der gar nicht klang, als ob die Gnädige spräche: Wenn nach mir geschickt wird – ich bin in des Herrn Zimmer.

Frau Uelzen war so erschrocken, daß sie noch ein paar Minuten, nachdem die Gnädige verschwunden, wie festgenagelt auf demselben Fleck stehen blieb, und als sie in die Küche zurückkam, zwar den Befehl der Gnädigen an Nebelow ausrichtete, auf die Fragen des Alten und Dörthen's aber, was denn das zu bedeuten habe? nur erwiederte: wenn andere Leute sich die Finger verbrennen wollten, so möchten sie das thun. Sie für ihr Theil werde kein Wort mehr sprechen, und wenn man ihr die Zunge mit glühenden Zangen aus dem Munde risse.

 

In Lebrecht's Zimmer aber saß Aennchen an dem Kamin, vornüber gebeugt, die weißen Hände gegen das weiße Gesicht gedrückt, vor den geschlossenen Augen das Bild, das sie eben gesehen von dem Fenster der Schlafstube über das schmale Gäßchen hinüber: ein hochgewölbtes Zimmer des Rathhauses, etwas tiefer liegend als das, in welchem sie sich befunden, hell erleuchtet durch eine von der Decke herabhängende Lampe und mehrere Lichter, die auf einem großen mit Büchern und Acten bedeckten Tische brannten. An dem Tisch aber hatte die kleine bucklige Gestalt des Herrn von Frank gelehnt – die gräuliche Silhouette haarscharf abgezeichnet auf dem lichten Hintergrunde – und hatte mit den dünnen Aermchen hinauf gesticulirt zu dem Doctor, der, den Kopf gesenkt und das Kinn mit den Händen streichend, dicht vor ihm stand und der eifrigen Rede des Buckligen schweigend zuzuhören schien. Und dann hatte der Doctor seinerseits angefangen, mit den langen Armen zu gesticuliren, daß es aussah, als würde er dem Kleinen jeden Augenblick in das dichte, bis tief in die Stirn gewachsene Haar fahren, während dieser die Aermchen über der Brust gekreuzt hatte und höhnisch lächelte. Und dann hatte sich Herr von Frank plötzlich nach dem Tisch gewendet und auf eine Glocke gedrückt, worauf eine überaus lange Gestalt in Uniform hereintrat und sich hinter den Doctor stellte, während Herr von Frank, ohne sich zu setzen, über den Tisch gebeugt, auf ein Blatt, das in dem Schein der Lichter wie Schnee glänzte, mit hastiger Feder schrieb. Der Doctor aber hatte, ohne sich umzuwenden, den Arm weit hinter sich ausgestreckt nach dem Manne in der Uniform, der ebenfalls den langen Arm ausstreckte, so daß die Hände sich für einen Moment berührten und wieder aus einander fuhren; gerade als Herr von Frank das gefaltete Blatt in ein Couvert steckte, das er adressirte, um es dem nun herantretenden Diener zu geben, der dann sofort nach der Thür schritt, aus dem hohen, gewölbten Zimmer hinaus durch enge Corridore, eine breite Treppe hinab, auf den Marktplatz, an dessen hohen Giebelhäusern, hinauf und hinab, der dunkelrothe Schein der Fackeln flackerte, die auf einem schwarz verhangenen Gerüst brannten inmitten des Platzes; und auf dem Gerüst stand er – bleich und traurig – und blickte nach seinem eigenen Hause hinüber und streckte die Arme nach ihr aus: Du hättest mich retten können, aber du hast dir den Schlüssel nehmen lassen, und nun muß ich sterben! Und dann war es finstere Nacht, und aus der Nacht flammte ein leuchtender Blitz herab wie ein funkelndes Schwert –

Mit einem gellen Schrei fuhr Aennchen aus ihrer gräßlichen Vision in die Höhe – vor ihr stand der Mann, den sie erwartet.

Ich bitte um Entschuldigung, sagte der Mann; man hat mich hier hereingewiesen. Ich soll der gnädigen Frau eine Empfehlung von dem Herrn Assessor machen und diesen Brief abgeben.

Die heisere Stimme des alten Polizeidieners bebte, als er dies sagte, und die große braune Hand, mit der er den Brief hinreichte, zitterte; und er wunderte sich, daß die kleine weiße Hand, die ihm denselben abnahm, so fest war, und daß die schöne junge Dame, die nun an den Tisch trat, um den Brief im Lichte der Lampe zu lesen, ganz aufrecht stehen blieb und den Brief ruhig durchlas und auf den Tisch legte und dann, sich zu ihm wendend, ruhig sagte: Es ist gut, ich danke Ihnen.

Kabelmann schüttelte den Kopf. Keine Ursach', gnädige Frau, und mit Verlaub, gnädige Frau – ich bin ein guter Freund von dem Herrn Gemahl und von dem Herrn Doctor – und darf ich fragen: was der Herr Assessor Ihnen da geschrieben hat?

Nur, daß er in einer halben Stunde mit dem Herrn Doctor kommen wird, um uns und meine Eltern zu begrüßen; wir kennen den Herrn Assessor schon sehr lange.

Und als sie das sagte, lächelte sie so seltsam – dem Kabelmann lief es eiskalt über den Rücken. Er sagte im Flüsterton:

Wenn Sie ihn kennen, gnädige Frau, dann werden Sie ja wohl die halbe Stunde, die Sie vielleicht noch haben, benutzen und wissen, was Sie mit dem Schlüssel sollen, den mir der Herr Doctor zugesteckt hat.



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