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IX.

Sie hatten den Hans einen Tagedieb und Bärenhäuter gescholten, als ihn der Bäcker aus dem Dienst gejagt und Niemand sonst im Dorf ihn in Arbeit nehmen wollte; jetzt, da er bei Ernst Repke auf der Gipsmühle Arbeit gefunden, war es ihnen wieder nicht recht. Zu dem Repke, hieß es, zöge kein ehrlicher Bursch. Der Repke habe nach und nach alle Bursche aus dem Dorfe weggeschickt oder vielmehr weggejagt und sich dafür Leute von anderswoher geholt, und auch nicht einmal aus den Nachbardörfern, sondern von so weit als möglich, und je weiter, je besser. Der Repke, meinten sie, werde ja wohl seine Ursach dazu haben, und wenn er mit dem Hans eine Ausnahme mache, werde er ja auch wohl wissen, warum. Weniger technologische als phantasiereiche Gemüther brachten sogar heraus, daß die Gipsmühle der Knochenmühle die Knochen abnehme, die eher auf einen Kirchhof, als in eine Mühle gehörten, sintemalen der Gips nicht von selbst so weiß werde. Zuletzt ging Keiner mehr an der Gipsmühle vorüber, der, wenn er das aus dem Innern schallende dumpfe Stampfen hörte, nicht einen frommen Schauder empfunden und ein Stoßgebet gemurmelt hätte.

Dem Hans selbst war es nichts weniger als geheuer bei seiner neuen Arbeit. Nur die äußerste Noth hatte ihn zu dem Repke getrieben, und nur die äußerste Noth und die fixe Idee, das Dorf nicht eher verlassen zu dürfen, als bis Alles entschieden sei, hielten ihn in der Mühle fest. Die Arbeit selbst war leicht genug; oft gab es tagelang gar nichts zu thun, und die Mühle stand aus Mangel an Wasser oder Material, oder weil etwas an dem, wie das ganze Gebäude, halb zerfallenen Werk schadhaft geworden war, still. An solchen Tagen arbeitete er oben auf dem Hof in demselben Schuppen, in welchem er damals das Holz gespalten hatte. Auf dem Hof sah es jetzt bei dem trüben Herbstwetter gar zu melancholisch aus; noch immer ließ sich nur selten einmal ein menschliches Wesen sehen, noch immer wälzte sich die dicke schwarze Rauchsäule aus dem Schlot über den Hof, noch immer kam die alte Katze, setzte sich vor den Holzstoß und wartete, ohne sich zu regen, auf Beute. Allmälig gewöhnte sich Hans an diese Existenz; er spaltete sein Holz ganz mechanisch und konnte, wenn er in der Mühle war, stundenlang auf einer Stelle sitzen und zusehen, wie die Stampfen sich eine nach der andern hoben und herabstießen und sich wieder hoben und wieder herabstießen: Poch! poch! poch! – poch! poch! poch! immerzu, in gräßlicher Einförmigkeit, nur daß die eine, die dritte, immer etwas stärker stieß als die anderen. Das war im Anfang eine angenehme Abwechselung gewesen; bald aber hatte sich sein Ohr daran gewöhnt, und er hörte es nicht mehr.

Sein alter Lebensmuth war ganz gebrochen; er sang nicht mehr, er pfiff nicht mehr; er baute sich keine Luftschlösser mehr und hatte den Glauben, an dem er durch alle Wechselfälle seines Lebens festgehalten hatte: daß der Hans ein flotter Bursch und ein famoser Kerl sei, gänzlich verloren. Wenn ihm seine militairischen Vorgesetzten hundertmal gesagt hatten, er habe nur einen Naturfehler, der aber sei so groß, wie er selbst: er könne das Maul nicht halten, und wenn ihm diese Untugend wer weiß wie viele Unannehmlichkeiten zugezogen hatte, so war er jetzt vollständig davon kurirt. Er sprach mit Niemand mehr, selbst nicht einmal mit dem Claus, dem er, wenn er zur Arbeit ging oder von der Arbeit kam, manchmal begegnete. Er sagte sich, daß dies sehr undankbar von ihm sei, denn der Alte war der einzige Mensch im Dorf, der ihm, seitdem er zurück war, eine Freundlichkeit erwiesen hatte; aber er konnte sich nicht überwinden. Er fürchtete sich förmlich vor dem Claus und wich ihm aus, wo es ging. Immer kam ihm wieder der Traum jener Nacht in den Sinn, wo er des Vaters Büchse mit dem todten Hirsch in des Claus Wagen gesehen, und der Traum war ihm um so fürchterlicher geworden, als er jetzt gar nicht mehr zweifelte, daß der Alte in die Wilddiebereien, die noch immer, ja zuletzt immer häufiger vorkamen und nach der Aussage des Försters Bostelmann immer frecher wurden, verwickelt sei. Hans vermuthete, daß der Claus sich in nächtlicher Weile mit seinem Wagen an die ihm von den Wilddieben bezeichneten Stellen begebe, dort das Wildpret auflade und möglichst schnell an die Abnehmer schaffe, die, der Himmel weiß wo, in den benachbarten Dörfern oder Städtchen lauern mochten. Das Geschäft konnte ohne Zweifel mit um so größerer Sicherheit getrieben werden, als man unter den Ländchen, von denen drei oder vier auf dem Walde zusammenstießen, die Wahl hatte, und in dem einen vor den Forstbeamten oder der Polizei des andern so ziemlich sicher war.

Hans wußte jetzt auch , wer der Wilddieb sei, nachdem er ein paar Mal gesehen, daß Herr Repke und der Claus sich begegneten, wo sie glaubten, daß sie Niemand sah, und dann gleich die Köpfe zusammensteckten, und ein ander Mal, wenn Leute in der Nähe waren, thaten, als kennten sie sich nicht. Freilich! der reiche Herr Repke ein Wilddieb – das war allerdings unwahrscheinlich; aber es gab auch wieder Andere, die da meinten, der Repke nage erst die Knochen ab, ehe er sie in seine Mühle bringe. Ueberdies war der sonst so rauhe und wortkarge Herr Repke zu ihm so freundlich und zutraulich, und Hans meinte, da müsse der Mann doch ein böses Gewissen haben, weil er selbst wortkarg und unwirsch gegen die Anderen war, und doch ein gutes Gewissen hatte. Ja, der Hans hatte ein gutes Gewissen! Er war kein Wilddieb und wollte es nicht werden, obgleich es ihm jetzt so leicht gemacht war! Er hatte es der Grete geschworen, er wolle ihr die Schande nicht anthun, und er wollte sein Wort halten, wenn sie ihres nicht hielt und ihm das größte Herzeleid anthat. Aber warum sollte er sagen, daß er des Vaters Büchse gefunden? Wen ging es was an? Als er schwur, er wisse nicht, wo sie sei, da hatte er's nicht gewußt, und jetzt, wo er's wußte, fragte ihn Niemand. Sollte er hingehen und es den Leuten sagen? Daß er ein Narr wäre! Wer würde ihm glauben, daß er den alten Versteck nicht ebenso gut gekannt, als den neuen? Ja, da sollten sie suchen! In dem Hause hätten sie's über kurz oder lang doch gefunden, oder die Ratten hätten ihm das Lederzeug zernagt; in der alten hohlen Tanne oben im Kronwald an der Weiherwiese über der Landgrafenschlucht, da suchte Niemand, und Ratten gab's da nicht. Und wenn er's einmal nicht mehr aushalten konnte hier unten vor blutigem Herzeleid, dann knallte es so schön da oben, die Landgrafenschlucht herunter, und zwischen den Tannen lag der Hans, so lang wie er war, nur daß vielleicht ein Stückchen vom Kopf fehlte, und die Füchse konnten das Uebrige fressen.

Denn den Körner todt zu schießen, daran hatte der gute Hans nicht wieder gedacht, oder doch nur, um drei Vaterunser darauf zu beten. Das ist ja gottloses Zeug, sagte Hans, und dummes Zeug. Ich wollt', er finge mit mir an, ich wollte dem Schuft die Seele aus dem Leibe prügeln; aber so hinterrücks, daß er vornüber auf sein dickes, dummes Gesicht fiele und alle Viere von sich streckte … Pfui, Hans! Das thätest du doch nicht; so schlag' dir den bösen Gedanken aus dem Sinn. Mit mir selbst – ja, das ist was Anderes! Gottlos ist's auch, sagt der Pfarrer; aber er weiß viel, wie mir zu Sinn ist; er steckt nicht in meiner Haut.

Haus war am letzten Sonntag in die Kirche gegangen, zum ersten Mal, seit er wieder zu Haus war, um mit seinen eigenen Ohren die Grete und den Jakob Körner aufbieten zu hören. Grete war nicht in der Kirche gewesen, und das war gut, sonst hätt's Hans gar nicht ausgehalten; war ihm doch, da von der Kanzel herab die Namen erschallten, als ob das Dach der Kirche über ihm zusammenstürzen würde, und hatte sich so eilig davon gemacht, daß die Leute meinten, da sehe man's ja, wie der Gottseibeiuns seine guten Gesellen nicht im Gotteshause lasse, sondern an den Haaren herausziehe.

Morgen war wieder Sonntag, da wurde die Grete am Vormittag zum dritten Mal aufgeboten, und am Nachmittage war die Hochzeit. Als Hans heut Mittag beim Bäckerhaus vorüberging, hatte er die Leute mit den Kuchen sich schleppen sehen. Jakob Körners Haus wurde schon seit ein paar Tagen mit Tannensträuchen und Tannenkränzen geschmückt, und der dicke Jakob stand, trotz der kalten Witterung, in Hemdärmeln da und sah den Arbeitern zu. Eine Musikbande war auch verschrieben und sollte heut Abend schon kommen; Hans hatte das erfahren von den Kindern seiner Abmietherin, die ein lebhaftes Interesse für das Fest entwickelten, bei dem voraussichtlich auch etwas für sie abfiel. Er hatte sein letztes Geld unter sie vertheilt – es war wenig genug – hatte der Frau die Bretter des zertrümmerten Schrankes geschenkt, nach welchen sie wiederholt in ihrer zudringlichen Weise verlangt hatte; in den Rest mögen sie sich theilen, wie sie wollen, sagte er, als er zum letzten Mal aus der Thür ging.

Zum letzten Mal!

Und jetzt saß er in der Gipsmühle und sah den Stampfen zu, wie sie herauffuhren, ein paar Augenblicke oben still standen, um wieder herunterzufahren: Poch! poch! poch! immer eine nach der andern: Poch! poch! poch! Heut war die dritte wieder lauter, als die Tage vorher, es war, als ob sie etwas Besonderes zu sagen hätte. Hans gab genau Acht; aber er verstand es nicht, denn immer kam die vierte hinterher und ließ die dritte nicht ausreden; wer konnte daraus klug werden?

Es regnete heut einmal ausnahmsweise nicht; aber der Himmel war nichtsdestoweniger mit schweren, dicken, schwarzen Wolken verhangen, daß in der Mühle, in der es freilich nie sehr hell war, fast schon Dunkelheit herrschte. Draußen gurgelte das Wasser des Baches, welcher das Mühlrad trieb, und drinnen sickerte es durch die Decke von dem Regenwasser, welches sich drei Tage vorher aufgesammelt hatte. Vor den inwendig mit Gips bespritzten Fenstern schüttelten sich die ächzenden Tannen, und die Stampfen gingen: Poch! poch! poch!

Hans stützte den Kopf in beide Hände. Wie lange würde er das noch können? Er hatte einmal einen Kameraden gesehen, der sich in der Kaserne erschossen hatte. Es war kein schöner Anblick gewesen. Wie macht man's denn am besten, dachte Hans. Man wird die Büchse zwischen den Beinen auf die Erde setzen und mit dem Fuß abdrücken; aber ja nicht vorher stechen! Das geht sonst vor der Zeit los und man bekommt den Schuß in die Schulter oder wo er nicht hingehört. Also mit dem Fuß: Eins, zwei, drei, knack! Und dann?

Ein dumpfer Krach machte Hans aus seinen Träumereien auffahren. Die Stampfen bewegten sich nicht mehr; die Mühle stand. Hans wußte, was es war; ein alter Fehler, den er allein nicht ausbessern konnte. Ueberdies war in einer halben Stunde Feierabend. So mochte sie denn stehen bleiben; sein Nachfolger konnte sie wieder in Gang setzen.

Hans räumte Alles bei Seite, verschloß, was zu verschließen war. Zuletzt trat er noch an die dritte Stampfe heran. Sie sah gerade so aus, wie die andern: ein starker Tannenbalken und unten ein dicker eiserner Beschlag. Sie stand auch ganz still und sagte nichts. Hans seufzte tief und verließ die Mühle.

Er schlug sich gleich über den Weg in den Wald, immer bergauf in den Tann, ohne der hierhin und dorthin sich schlängelnden Pfade zu achten, immer in der Richtung nach dem Kronwald über der Landgrafenschlucht. So wenig eilig er es hatte, hastete er doch vorwärts, als wenn er gejagt würde. Es war ihm immer, als müßte ihm oben irgendwie die Last abgenommen werden, die ihm so schwer auf der Brust lag.

Wo er jetzt stieg, standen die jungen Tannen dicht; er mußte sich oft durch die zähen Zweige Bahn brechen. Die schüttelten dann die Tropfen, die an ihren Nadeln hingen, auf ihn nieder oder streiften sie an seinen Händen und Kleidern ab. Das that ihm wohl, denn seine Haut brannte; er sehnte sich, ins Freie zu kommen; es war ihm, als ob er ersticken sollte.

Endlich kam er, aus dem jungen Walde heraustretend, schon beinahe auf der Höhe des Berges, zu der mit großen Steinen und allerlei buschigem Kraut bedeckten Halde, die sie die Hexenhalde nannten und die sich ein paar hundert Schritte zu dem Hochwald hinaufzog. Er blieb stehen und athmete ein paar Mal tief auf. Es kam ihm in Erinnerung, daß er einmal vor langen Jahren als halbwüchsiger Bube mit Grete, die noch ein ganz kleines Mädchen, bis hier hinaufgeklettert war, wo sie zwischen den Steinen unter einer Ginsterstaude ein Lerchennest entdeckt hatten. Er hatte die halbflüggen Jungen in seiner Mütze mitnehmen wollen, aber Grete hatte an zu weinen gefangen und gesagt: Thu's nicht Hans; der liebe Gott hat sie da hingelegt, und wenn er kommt und ihnen zu essen geben will, findet er sie nicht. Er hatte gelacht, daß sie so dumm sei, aber ihr doch den Willen gethan, und hatte von der Zeit an nie wieder aus bloßem Muthwillen ein Nest mit jungen Vögeln ausgenommen.

Ja, ja, sagte Hans vor sich hin; ob mich der liebe Gott auch wohl findet, wenn ich dort oben liege?

Er strich sich mit der Hand über Stirn und Augen und schaute von dem Boden auf in die Weite. Ach! es gab heut keine Weite! Ueberall in den Schluchten und Thälern brauten die Nebel, und die Ebene, in die man sonst von hier aus meilenweit sehen konnte, war von einer Regenwolke verschleiert. Da liegt dies und da liegt das, sagte Hans und nannte alle die Dörfer und Städtchen, deren Lage er so genau kannte, daß er sie sich oft des Nachts auf Posten hergezählt und sich darauf gefreut hatte, wenn er dies Alles von der Hexenhalde an einem schönen Sommermorgen wiedersehen würde. Er war, seitdem er heimgekehrt, nicht hierher gekommen, und nun sah er nichts.

Hans schüttelte wehmüthig den Kopf; es ist schon gerade, als sollt' es nicht sein, sagte er.

Dann ging er weiter, aber langsamer als vorher, und sich öfter umblickend, wie weit die Regenwolke unterdessen sich vorwärts geschoben hatte. Sie kam immer mehr herauf. Die großen Tannen vor ihm fühlten schon ihren Hauch und schüttelten die schwarzen Häupter. Ein Gabelweih, der auf einem der Bäume gesessen hatte und den Herankommenden schon lange beobachtet haben mochte, schwang sich auf und kreiste bald hoch über ihm. Der hat's gut, dachte Hans.

Er trat in den sausenden Hochwald, und immer langsamer wurde sein Schritt, je mehr er sich dem Kamm des Berges, der sich quer durch den Wald zog, näherte. Auf der andern Seite, nur wenig bergab, an dem Rande der versumpften Weiherwiese, stand die hohle Tanne, in welcher er seine Büchse versteckt hatte. Es war ihm jetzt, als käme er dahin noch immer zeitig genug.

Hier, wo er jetzt stand, war der höchste Punkt. Von hier aus hatte er mehr als einmal die Entfernung nach dem Dorf gemessen, wenn er sich verspätet hatte. Auf dem Fußpfade, der etwas weiter unten in einen Holzweg fiel, der wieder weiter unten in die Chaussee mündete, war es eine Stunde. Auf dem Kuhwege und hernach auf der Straße war es eine dreiviertel Stunde; quer durch den Wald über die Landgrafenschlucht nur eine halbe; aber da mußte man allerdings geschmeidige Sehnen und straffe Muskeln haben.

Hans dachte an die drei Wege, und daß für ihn keiner zurückführe. Ein armdicker dürrer Ast streckte sich ihm in den Weg; er brach ihn mit einem Ruck ab und schleuderte das Holz gegen einen starken Stamm, daß es weit erklang. Es war doch ein eigen Ding, sterben zu sollen, wenn man solche Kraft in den Armen fühlte!

Eine seltsame Empfindung bemächtigte sich seiner. Es war ihm, als ob er von zwei Gewalten zu gleicher Zeit zurückgehalten und vorwärtsgedrängt würde; aber die Gewalt, die ihn vorwärts drängte, war doch die mächtigere. Langsam aber unwiderstehlich schob es ihn weiter und weiter. Da war die Weiherwiese, und da war der hohle Stamm. Er war so gerade daraus zugegangen, daß er sich selbst darüber verwunderte. Es ist schon, als sollte es sein, sagte er.

Der Versteck war gut gewählt. Niemand hätte es dem starken Baum, der überdies mitten zwischen anderen ebenso starken Bäumen stand, angesehen, daß er dicht über der Wurzel einen mehrere Fuß langen Riß hatte, schmal an der Außenseite, aber sich nach Innen erweiternd und vertiefend. Hans stand davor. Vielleicht hat's doch Einer gefunden, sagte er, und hat's mitgenommen, und es ist nicht mehr da.

Er athmete tief. Pfui, sagte er, Du bist ein Feigling. Hast Dir's so lange überlegt und bedacht, und hast nun kein Herz!

Er langte hinein und zuckte ein wenig, als er den kalten Lauf berührte. Vorsichtig nahm er das Gewehr heraus. Es hatte sich gut gehalten in dem trocknen Moose, mit dem er das Versteck ausgefüttert hatte. Ein paar kleine Rostfleckchen waren auf dem schön damascirten Lauf. Das sieht aus wie Blut, sagte Hans.

Zu laden brauchte er nicht; er hatte schon neulich den alten Schuß herausgezogen und frisch geladen. Nur ein neues Zündhütchen setzte er auf, nachdem er sich überzeugt, daß das Pulver noch oben im Piston war. Er hatte von dem Vorrath ein paar zurückbehalten, die er seitdem in der Westentasche trug.

Nun wären wir ja wohl so weit, sagte Hans.

Er hatte sich am Fuß des Baumes hingesetzt und die Büchse quer über seine Kniee gelegt.

Wenn ich sie doch nur noch einmal hätte sehen können, sagte er.

Er starrte gerade vor sich weg, zwischen die Bäume durch, in die Lichtung hinein. Plötzlich wurde es ihm dunkel vor dm Augen. Das ist doch wunderlich, sagte er und riß die Augen weit auf.

Da stand drüben auf der andern Seite der Lichtung, dicht neben dem Weiher, zwischen dem Stangenholz, ein starker Hirsch mit hochaufgerichtetem Haupt, über die Lichtung herüberäugend nach dem Waldrande, in welchem Hans saß. Hans hatte ihn nicht kommen hören; der Hirsch mußte sich eben aus der Suhl erhoben haben.

Hans stockte der Athem, und sein Herz fing heftig an zu schlagen. Seine rechte Hand glitt zu dem Hahn hinab. Seine Linke hob sich zu seinem Kopf und zog langsam die Militairmütze mit dem rothen Streif auf die Schulter, von der Schulter in das Moos neben sich, und legte sich dann langsam an die Büchse.

Der Hirsch stand noch immer in derselben Stellung; aber er konnte nichts gesehen haben, denn er senkte jetzt das mächtige Geweih und begann zu äsen.

Hans sank von der Wurzel, auf der er gesessen hatte, in die Kniee. Der Daumen lag am Hahn; langsam in die Mittelruh! – Der Hirsch äs'te ruhig weiter: noch ein leiser Druck! der Hirsch sicherte. Hans dachte, ihm sollte das Herz springen. Ein Satz – und der Hirsch war in den Wald zurück.

Aber da bog er den schlanken Hals wieder, und jetzt – nein, jetzt nicht! – warten, bis er sich noch etwas mehr nach links wendet.

Hans hob die Büchse zur Wange und visirte. Es ging noch eben. Das Korn wurde nicht mehr ganz deutlich in der Kimme, und sein Korn mußte es sein bei der geringen Entfernung.

Da – daß der Blitz drein schlage! – muß das verdammte Thier sich, anstatt nach links, nach rechts wenden! Es hilft nichts; die paar Schritte bis zu der großen Tanne am äußersten Rande – von dort hab' ich ihn sicher.

Und Hans gleitet auf den Knieen, die Büchse in der Linken, langsam, leise weiter, von einem Stamm zum zweiten, und zum dritten, und zum vierten, immer die Augen auf den Hirsch; nun ist er an dem mächtigen Stamm der Tanne, die er erstrebt; aber da er nach dem Rande der Wiese gerutscht und jetzt etwas tiefer sich befindet, als vorher, schiebt sich das Schilf von dem Weiher gerade zwischen ihn und den Hirsch. Er muß sich aufrichten und sich nach links um den Stamm herumdrücken; das wird den Schuß erschweren, aber es geht nicht anders.

Jetzt!

Er hat ihn gut auf dem Korn; der Zeigefinger bewegt sich nach dem Stecher, und von dem Stecher zum Hahn. In dem Augenblick stampft der Hirsch mit allen vier Läufen und ist mit einem mächtigen Satz in den Wald zurück.

Himmeltausend, knirscht Hans und läßt die Büchse sinken; Himmeltausend Donner –

Das Wort stockt ihm im Munde. Nicht zehn Schritte von ihm sitzt, in sich zusammengesunken, daß der Kopf in den flachen Händen auf den Knieen ruht, eine weibliche Gestalt, auch am Rande der Lichtung, am Fuße eines Baumes.

Grete! schreit Hans.

Die Gestalt schreckt in die Höhe.

Grete! schreit Hans noch einmal.

Die Büchse entgleitet seiner Hand und sinkt gegen den Baum. Er streckt die Hände nach ihr aus, und da ist sie schon bei ihm und wirft sich, laut weinend, an seine Brust.

Grete, liebe Grete!

Hans, lieber Hans!

Die Grete schluchzte, als ob ihr das Herz brechen sollte; sie preßte sich wieder und wieder an ihn und küßte seinen Mund, seine Hände.

Grete, sagte Hans, den dies Uebermaß von Zärtlichkeit schier erschreckte; ja, wie kommst denn Du nur hierher?

Ich kann's nicht, und ich will's nicht, stammelte Grete. Lieber todt! Ich hab's Dir ja gesagt.

Dem Hans lief es eiskalt über den Nacken. Ein Blick von Grete seitab nach dem Weiher hatte ihm Alles erklärt.

Grete! rief er; Grete, das wolltest Du doch nicht thun?

Ich hab' Dir's ja gesagt, murmelte Grete.

Und ich leid's nicht, schrie der Hans, daß Du Dir das thust. Du willst immer gleich in's Wasser laufen, dummes Mädel! Aber ich leid's nicht! Hörst Du?

Er faßte Grete bei beiden Händen; es war keine angenehme Empfindung, wenn der Hans Einem mit aller Kraft die Hände zusammendrückte; dennoch lächelte sie; er hatte sie also doch noch lieb!

Auf einmal fiel ihr Auge auf die Büchse, die dicht neben ihnen an dem Baum stand.

Hans! schrie sie; Hans! und deutete mit zitternder Hand auf das Gewehr.

Nun ja! sagte Hans.

Er hätte in diesem Augenblick seine rechte Hand gegeben, wenn das Gewehr, anstatt da am Baum zu stehen, tausend Klafter tief in der Erde gelegen hätte.

Was wolltest Du damit, Hans? sagte sie und sah ihn mit großen, strengen Augen an. Ich hab's immer nicht glauben wollen und immer den lieben Gott gebeten, daß es doch nur nicht wahr sein möge, und das sollte mein Trost im letzten Augenblick sein; ich –

Sie konnte nicht weiter sprechen und fing wieder an zu weinen, daß es dem Hans durch's Herz schnitt. Gretchen, sagte er, liebes, bestes, einziges Gretchen, hör' doch nur, ehe Du Dich so grausam gebehrdest. Ich habe es ja gar nicht gewollt, ich wollte –

Und nun erzählte er der Grete Alles, wie es gekommen war; wie er lange gekämpft, ob er Wilddieb werden oder sich das Leben nehmen solle, und wie er dann beschlossen, Greten sein Wort zu halten, wenn sie auch das ihre nicht gehalten; und sein Entschluß, nicht Wilddieb zu werden, und seine Absicht, sich das Leben zu nehmen, und der Hirsch, der just in dem Augenblick dagestanden, und Gretchen, die dann, wieder just in dem Augenblick, dagesessen – das gab eine so gräuliche Verwirrung, daß dem ehrlichen Burschen der Angstschweiß vor der Stirn stand.

Dann wollen wir Beide sterben, sagte Grete plötzlich. Du schießest mich erst todt und dann Dich.

Ich kann Dich nicht todtschießen, sagte Hans; ich will mich erst todtschießen; aber dann kannst Du nicht wieder laden. Nein, Du wirst nicht damit fertig, Grete; und überdies: ich leid's nicht, daß Du Dich umbringst, und ich sag' Dir's noch einmal: ich leid's nicht.

Er hatte die Büchse in die linke Hand genommen und hoch empor gehalten. Die Augen der Grete funkelten so seltsam; er meinte, sie könne jeden Moment zugreifen und sich ein Leides thun.

Da fiel plötzlich ein Schuß – drüben, jenseits der Wiese. Der Hirsch, den Hans vorhin gesehen, that einen mächtigen Satz aus dem Walde heraus, brach dann aber sofort zusammen. Gleich darauf kam ein Mann mit einer Büchse aus dem Dickicht, das weiter weg lag, und lief am Rande des Holzes hin auf die Stelle zu, wo das Thier gefallen war.

Das ist der Repke, sagte Hans, dessen falkenscharfes Auge trotz der tiefen Dämmerung den Mann erkannt hatte.

O, du guter Gott! murmelte Grete. Und hernach sagen sie, Du hast's gethan!

Sie faßte Hans bei der Hand und lief in den Wald hinein. Hans folgte ihr; er wollte sie beruhigen, aber sie hörte nicht auf ihn; schneller und schneller lief sie, ihn krampfhaft bei der rechten Hand festhaltend, während er in der Linken die Büchse trug.

Ja, aber Grete, wo willst Du denn hin? sagte er.

Fort, fort! rief Grete. Ach, du guter, guter Gott! Sie sind gewiß hinter uns her, und nun kommst Du an den Galgen!

Da standen sie plötzlich, ehe es Hans sich versehen, an dem Rande der Landgrafenschlucht.

Grete, sagte Hans, hier hinab kannst Du nicht.

Grete hörte nicht; Hans wollte sie mit Gewalt aufhalten; unwillkürlich, wie er sie mit der Rechten fester fassen wollte, ruckte er mit der Linken; die bereits gestochene Büchse streifte an einem Strauch und der Donner krachte gegen die glatten Felsen.

O, du guter Gott! schrie Grete, vor Schreck in die Luft springend und dann mit einem Schmerzenslaut zusammenbrechend.

Hans wußte, daß sie der Schuß nicht getroffen haben konnte.

Aber, Grete, sagte er ärgerlich, wie Du Dich auch anstellst! Komm', steh' auf!

Ich kann nicht, sagte sie, nachdem sie sich vergeblich bemüht hatte, sich aufzurichten; ich glaub' ich hab' mir den Fuß gebrochen oder vertreten; ich kann nicht.

Da wurden im Walde dumpfe Stimmen laut, Hunde schlugen an.

Wirf mich hier hinab, sagte Grete.

Dummes Zeug, sagte Hans; versuch's noch einmal, es wird schon gehen.

Ich kann nicht, sagte Grete; wirf mich hinab, das überleb' ich nicht!

Hans stand einen Augenblick rathlos. Dann fuhr er, wie der Blitz so schnell, nach dem Gewehr, knüpfte den Riemen ab, nahm aus der Tasche seiner Blouse einen dünnen, festen Strick, band ihn an beiden Enden mit dem Riemen zusammen, warf ihn über die rechte Schulter und sagte:

Komm', Gretchen, nun mach's mir so leicht als möglich. So, das ist recht – Du weißt's noch von früher; hab' nur keine Bange; Du bist nicht viel schwerer geworden, ich aber desto größer. Nun sitz' nur still und lege Dich so viel als möglich auf meine rechte Schulter. Fallen kannst Du nicht, ich hab' den Knoten fest gemacht. Sitzest Du gut? Na, dann kann die Reise losgehen.

Und Hans begann, mit Grete auf dem Rücken, die Schlucht hinabzuklimmen. Für jeden Andern wär's ein Tollhausstück gewesen, aber der Hans konnte eben mehr als die Anderen.

Obgleich die schwarze Regenwolke aus dem Thal jetzt bei den Bergen angekommen war und das letzte Grau der Dämmerung rasch zu verlöschen drohte, schritt er doch mit seiner Last so sicher von Block zu Block, von Stein zu Stein, als wär's helllichter Tag und die verrufene Landgrafenschlucht nichts weiter als ein steiler Weg, wie hier unzählige von den Bergen in's Thal laufen. Die Büchse trug er in der Linken und stützte sich darauf, wenn's gar zu toll wurde.

Wie geht's, Grete? fragte Hans; hast Du noch viel Schmerz?

O, nein! sagte Grete.

Aber Hans hörte, wie sie manchmal leise wimmerte, auch fühlte er deutlich, wie es von Zeit zu Zeit durch ihren ganzen Körper zuckte.

Wie geht's, Grete? fragte Hans nach einer Pause wieder.

Sie antwortete nicht; ihr Kopf lag schwer auf seiner Schulter; er stand still; ihr Mund war dicht an seinem Ohr; aber er hörte und fühlte ihren Athem nicht.

Grete, sagte er noch einmal. Grete, wenn Du stirbst, werf' ich Dich unten in den Teich und mich hinterher.

Keine Antwort; dafür rief es jetzt laut vom Felsen rechts, der sich steil aus der Schlucht erhob, wohl ein fünfzig Fuß. über der Stelle, wo Hans jetzt stand:

Steh', Hans, oder ich geb' Feuer!

Es war des Försters Bostelmann Stimme; Hans konnte noch eben die Gestalt, die sich jetzt für ihn in der Tiefe von dem grauen Himmel abhob, erkennen.

Schieß' du nur, dachte er, jetzt ist doch Alles einerlei.

Steh', Du Hallunke! rief der Förster noch einmal.

Nun erst recht nicht! sagte Hans bei sich und fing an, noch schneller als vorher den Abhang hinabzuklettern.

Da krachte es, daß die ganze Schlucht wiederhallte, die Kugel pfiff Hans dicht am Ohr vorüber. Grete regte sich wieder.

Oho, sagte Hans; Gretchen, lebst Du denn noch?

Ach, Hans, ich kann's nicht mehr aushalten, wimmerte Gretchen, die aus ihrer Ohnmacht erwacht war.

Armes, gutes Ding, armes, gutes Ding! Ich will Dir den Fuß stützen; so, der ist's ja wohl? Ist's jetzt besser?

Viel.

Na, so halt' noch ein wenig aus. In einer Viertelstunde bin ich unten.

Wurde da nicht wieder geschossen, Hans?

Hans antwortete nicht; er that, als ob er keinen Athem zum Sprechen übrig hätte.

Und viel war's auch gerade nicht; denn jetzt, wo er, um Grete möglichst zu schonen, eine Haltung annehmen mußte, die ihm selbst äußerst unbequem war, fing auch seine Riesenkraft an zu erlahmen; sein Athem ging schwer, sein Herz hämmerte, der Schweiß rieselte ihm von der Stirn; der Strick, mit dem er Gretchen auf seinem Rücken festgebunden hatte, schnürte ihm die Brust zusammen und schnitt ihm in die Schulter; er biß die Zähne aufeinander. Ich halt's nicht durch, sagte er bei sich.

Da blinkte dicht unter ihm ein Schein; es war der Teich, in welchem sich ein Licht aus einem der Häuser spiegelte. Das gab ihm neue Kraft, und da war ja auch der Bach, der dicht über dem Teich aus den Tannen kam. Ein Sprung, und drüber war der Hans. Nun auf der andern Seite fort, im Trabe auf dem weichen, wenn auch immer noch abschüssigen Wiesengrunde, dann an den Pappeln hin, am Rande des Teiches.

Da wären wir, sagte Hans; wie kommst Du nun in's Haus?

Setz' mich nur ab hier; ich schleppe mich schon hinein.

Und was willst Du sagen?

Laß mich nur machen.

Na, dann leb' wohl, Grete.

Er hatte den Strick und den Riemen losgeknüpft und Grete sanft herab auf den Rasen gleiten lassen, und kniete jetzt an ihrer Seite.

Leb' wohl, Grete, sagte er noch einmal. Sie streckte ihre beiden Arme zu ihm empor und küßte ihn und weinte, und Hans küßte sie wieder und weinte auch.

Es fiel Licht aus dem Fenster von Gretchens Küche.

Das ist Christel, sagte Grete; ich kann sie von hier errufen; sie soll mir hineinhelfen. Nun mach' fort, Hans.

Hans küßte sie noch einmal, dann kroch er auf den Knieen fort, an dem Gärtchen hin, und hörte, wie Grete nach der Christel rief und wie Christel herauskam. Er richtete sich empor.

Nun ist's gut, sagte er und schleuderte die Büchse mit mächtigem Schwunge bis mitten in den Teich. Dann ging er unter den Pappeln hin in sein Haus, warf sich auf sein Bett und sagte: Sie werden mich nicht lange schlafen lassen; denn der Bostelmann wird schwören, ich sei's gewesen, obgleich er mich gar nicht erkannt haben kann. Aber mir ist's gleich, wenn nur morgen nichts aus der Hochzeit wird.

So lag er wohl eine halbe Stunde. Da hörte er unten im Hause Lärm; es polterte die Treppe herauf. Durch die Ritzen der Thür drang ein Lichtschimmer in die Kammer. Die Thür wurde aufgestoßen. Der Förster Bostelmann und zwei Landjäger traten herein.

Haben wir Dich endlich, Du Hallunke, rief der Förster und schüttelte ihn.

Nur nicht gemuckst, Kerl! schrie einer der Landjäger; sonst geht's Ihm schlecht!

Nu, nu, sagte Hans, sich aufrichtend, ich komme ja schon.



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