August Sperl
Die Fahrt nach der alten Urkunde
August Sperl

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Summa summarum

Als der Spätherbst kam und als die gelben Blätter fielen, da kehrten wir heim, der Vater und ich. Fünf Wochen waren wir gewandert. Was hatten wir gefunden?

Wir waren ausgezogen, ein altes Pergament zu suchen, und das hatten wir nicht gefunden. Wir waren ausgezogen, den Ursprung unseres Geschlechts klarzulegen – wir hatten die Brücke nicht zu finden vermocht, auf der es in die Fremde herübergekommen war.

Großes hatten wir erwartet, Kleines hatten wir gefunden.

Das Moos umkleidet den rauhen Felsen, die grüne Patina legt sich auf das kalte Erz, der finstere Wald grüßt blau und duftig aus der Ferne herüber, Blumen wiegen sich auf den Gräbern – und alle Vergangenheit umgibt sich für unsere Augen mit einem falschen Glanze.

Als wir auf die Fahrt nach der alten Urkunde gezogen waren, da hatte auch ich an der Vergangenheit 253 meines Geschlechts nur das weiche Moos, nur die grüne Patina, nur den blauglänzenden Duft gesehen, und alles war mir so prächtig, so kraftvoll erschienen – weil es so weit zurücklag. Jetzt kamen wir heim, und ich hatte unter dem Moos das rauhe Gestein, unter der Patina das harte Erz, unter den Blumen die Verwesung geschaut.

So wäre demnach unsere Fahrt unnütz gewesen?

Ich glaube nicht.

Stolz auf mein Geschlecht, auf meine Ahnen, auf meinen Uradel war ich ausgezogen. Großes hatte ich gesucht – da fand ich die Wahrheit:

Es hat niemals eine gute, alte Zeit gegeben, immer war das Leben des Menschen eine harte, sorgengetränkte Arbeit. Das ist es heute, das wird es bleiben bis zur Schwelle der Ewigkeit. Es ist immerfort Kampf auf Erden, den alle kämpfen müssen, Reich und Arm, Hoch und Niedrig, Jung und Alt, und der Kampf ist ein Stück der weisen Weltordnung selber. Alle Menschen müssen den Kampf kämpfen – es ist nur darin ein Unterschied, ob sie als Herren oder als Knechte, als Edle oder als Unfreie in diesem Kampf stehen; denn zwei Richtungen unterscheiden sich scharf von einander auf Erden: aus der Tiefe in die Höhe, das ist die eine. Und die sie suchen, sind die Edlen. Von Tiefe zu Tiefe, das ist die andere. Und so gehen die Wege der Unedlen, der Unfreien, der Knechte.

Der arische Uradel geheimnisvollen Ursprungs, jene 254 Herrengeschlechter der alten Zeit, sind längst zerrieben und zerstoßen bis auf wenige Stämme. Aus den Ständen des Mittelalters, den Edelingen, den Bürgern, den Bauern, ist ein großes, freies Volk geworden mit gleichen Rechten und mit gleichen Pflichten, und was von dem Blute jener uradeligen Geschlechter jetzt noch in unserm Adel, in der breiten Masse des Mittelstandes und oft in den ärmlichsten, engsten Verhältnissen lebt, das können wir nur ahnen.

Aber als die ursprünglichsten Tugenden des echten deutschen Adels werden geschildert:

Der furchtlose Blick ins Leben, auch wenn am Himmel die schweren Wolken hängen.

Die innere Gleichgültigkeit gegen die vergänglichen Güter dieser Erde.

Die Wahrhaftigkeit der Rede. Die Lauterkeit des Herzens.

Das sind Herrentugenden! Sieh um dich, du findest sie da und dort, bald unter dem feinen Rocke, bald unter dem groben Wams, bald auf einem Thron, bald in einer Hütte. Aber sie sind selten zu finden – denn der Knechtsseelen gibt es tausendmal mehr als der Herrenherzen.

Ich hatte diese Herrentugenden auch an manchen Gliedern meines Geschlechtes gefunden, – ich hatte aber auch erkannt, aus welcher Wurzel in Wahrheit diese Herrentugenden kommen.

255 Und welches ist diese Wurzel?

Der ewige Uradel des Menschengeschlechts!

Alles, was ich auf unserer Fahrt an bemerkenswerten Dingen gefunden hatte, das stammte nicht aus dieser armen irdischen Welt des Todes und der Vergänglichkeit, es entstammte jenem unvergänglichen, oft beschmutzten, oft verborgenen, immer und immer wieder emporblitzenden Uradel, der auf der ganzen Menschheit ruht.

Und wie heißt dieser Uradel?

Der todesmutige Paulus hat einst einem ahnenstolzen, verkommenen, überklugen, von buntschillernden Lehren hin und her getriebenen Volke auf dem Areopag zu Athen ein altes Dichterwort im Lichte der neuen Lehre entgegengeschleudert:

»Gott hat gemacht, daß von einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen, und hat Ziel gesetzt, zuvor versehen, wie lange und weit sie wohnen sollen;

»daß sie den Herrn suchen sollten, ob sie doch ihn fühlen und finden möchten; und er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns: –

»Denn in ihm leben, weben und sind wir; als auch etliche Poeten bei euch gesagt haben:

Wir sind seines Geschlechts


Wollen wir mit Ernst unsere Wege weiter ziehen als Glieder jener unendlichen Ketten, die man Geschlechter 256 nennt, und wollen wir für unser Teil sorgen, daß den Nachkommen nicht durch unsere Schuld der Uradel zu Verluste geht. Denn wir sind nicht für unsere vergängliche Person allein verantwortlich: wie du selbst das scheinbare Endglied einer langen, langen Reihe bildest, so werden auch von dir vielleicht wieder unabsehbare Geschlechter ausgehen, die deine Vorzüge und deine Fehler fortpflanzen bis in die fernsten Zeiten. Wenn es Krankheitsgifte gibt, die sich durch viele Generationen von Körper zu Körper vererben – warum sollte es nicht auch selbstverschuldete Seelenkrankheiten geben, die vielleicht für unsere Nachkommen gefährlicher zu werden vermögen als jene organischen Gifte?

Darum müssen wir treu sein, nicht nur um unseres eigenen Heils willen, sondern auch im Hinblick auf unsere Geschlechter – und das ist das Wesen des wahren Adels.

* * *

Warum muß denn Geschlecht auf Geschlecht über die Erde ziehen? Wir wissen's nicht. Rätsel und Finsternisse sind um uns her und in uns.

Sind die Rätsel und die Finsternisse in der That so groß und so undurchdringlich? Ich glaube nicht!

Wohl ist alles dunkel – aber blicke doch hinaus! Gleich einem fernen Lichtschimmer schaut auf uns her die verheißene endliche Lösung.

Und nicht bloß vor uns ist Licht, nein, auch hoch 257 über unsern dunklen Erdenwegen steht ein klarer Stern und leuchtet dem, der ihn sehen will.

Von diesem ewigen Stern lesen wir in der ehrwürdigsten aller alten Urkunden.

Den flammenden Worten Bildads

»Frage die vorigen Geschlechter, und nimm dir vor zu forschen ihre Väter; denn wir sind von gestern her und wissen nichts, unser Leben ist ein Schatten auf Erden; sie werden dich's lehren und dir sagen und ihre Rede aus ihrem Herzen hervorbringen: die Hoffnung der Heuchler wird verloren sein –«

steht dort der frohlockende Ruf des königlichen Sängers gegenüber:

»Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind bei denen, die seinen Bund halten.«

 


 


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