August Sperl
Die Fahrt nach der alten Urkunde
August Sperl

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Der Grabstein in der Mühle.

In der Mühle wäre ein Grabstein vorhanden, hatte uns ein Bürger gesagt. Da gingen wir in die Mühle.

Mitten im Wiesengrunde, der sich unter dem Städtlein dehnt, liegt sie am Bache. Sie hat einen hohen Giebel und stammt wohl aus sehr alter Zeit. Der Brand, der fast alle die Häuser droben verzehrte, konnte der einsamen Holzmühle drunten zwischen den grauen Weiden und buschigen Erlen kein Leid thun, und so hat sich ihr Schindeldach durch lange Jahrhunderte erhalten.

Wir gingen den schmalen Wiesenpfad entlang, schritten auf dem Holzsteg über das reißende Wasser und kamen vor das Haus. Rote Nelken und fette Meerzwiebeln standen auf den braunen Fenstersimsen, unter dem Dachfirst girrten die Tauben, die Mühle klapperte, und am Brunnen spielten zwei blondhaarige Kinder, ein Knabe und ein Mädchen.

Ja, die Mühle war uralt. Vor Zeiten hatte man 65 wohl zu ebener Erde durch die spitzbogige Thüre einzugehen vermocht; jetzt hatten die langen Jahre den Erdboden vor ihr um manche Schichte erhöht, und über fünf Stufen, wie in einen Keller, mußten wir hinuntersteigen in den kühlen, gepflasterten Flur.

Aus dem Hintergrunde kam eine kleine, hagere Gestalt hervor, über und über bestäubt. Es war der Müller.

»Bei Euch soll ein alter Grabstein liegen,« rief ihm der Vater entgegen. »Wir sehen gern Altertümer. Können wir den schauen?«

»Den Grabstein? Ha, daß den wer schauen wollt', hätt' ich auch nicht gedacht. Warum denn nicht? Die Herren stehen grad' drauf. Warten's, ich will gleich ein Licht holen.«

Wir waren zurückgetreten und spähten auf dem Boden umher. Er war etwas uneben, aber von einem Grabstein konnten wir nichts entdecken; es war zu finster in dem Flur.

Der Müller kam mit einem Talglicht und leuchtete auf den Boden, der von Schmutz starrte.

»Müssen schon entschuldigen,« meinte er, »es ist nit ganz sauber. Wird halt viel hereingetragen den ganzen Tag.«

»Da, Vater,« rief ich und nahm dem Müller die Kerze aus der Hand, »da ist er!«

Inmitten des Flurs lag ein großer Grabstein von Manneslänge.

66 »Ja,« schrie der Müller, der die Hände auf die Kniee gestemmt hatte und pfiffig lachte, »ja, mitten da herein hat ihn mein Schwäher selig mauern lassen. Ich hab' mich oft geärgert darüber. Aber den Stein hätt' er nicht um alles herausthun lassen. Da bin ich einmal auf der Unebenheit recht hingeschlagen und hab' aber nachher eine Hacke genommen und die zwei Spatzen da weggehaut, daß es eine Freud' war. Meine Alte dürft's freilich heut' noch nicht wissen; denn die hat's auch immer mit dem Stein.«

»Ja, woher stammt denn der Stein?« fragte der Vater. »Steht kein Name drauf?«

Ich leuchtete auf allen Seiten umher, aber ich vermochte wegen der tiefen Schmutzschichte weder das Bild des Wappens zu erkennen, das fast die ganze obere Hälfte des Steins einnahm, noch auch von der Schrift, die darunter eingemeißelt sein mußte, einen Buchstaben.

»Vom Gottsacker ist er hergekommen,« erwiderte der Müller. »Vom alten Gottsacker. Ich weiß noch wie heut, ich bin grad vierzehn Tag' als Bursch auf der Mühl' eingestanden gewesen. Hat mir gleich die Kreszenz gar so gut gefallen gehabt. Wissen's, die hat so 'was Apartes. Dazumal haben's den alten Gottsacker droben von der Kirchen weg und hinaus vors Städtl verlegt, und ist ausgeschrieben gewest, daß alle die alten Grabstein müssen weggeräumt werden, wenn einer noch ein Eigentum an einem hätt'. Die andern thät man 67 zerschlagen und den Kanal damit ausmauern. Da hat der Schwäher selig den da hereinbringen lassen.« »Muß schon gar alt sein,« setzte er prüfend hinzu und scharrte mit dem Schuh über den zollhohen Schmutz. »Gewiß hundert Jahr.«

»Ja, zweihundert Jahre, Meister, wenn er nicht noch älter ist,« antwortete der Vater. »Aber lesen möchte ich, was darauf steht.«

»Für dieses ist Wasser gut,« meinte der Müller und schrie in den Hof: »Kreszenz! Kreszenz!«

Eine große Frauensperson trat unter die Thüre und rief: »Was willst, Martin?«

»Geh', bring ein Schaff Wasser und einen Besen. Die Herren wollen den Spatzenstein sehen.«

Eilig verschwand die Frau und kam bald wieder mit einer Magd zurück. Die stellte ein Schaff vor uns nieder, schürzte ihren Rock und schüttete einen Wasserguß über den Boden. Dann nahm sie den Besen und scheuerte den Stein.

Die Müllerin war nahe herangetreten und musterte uns neugierig. Dann rief sie ein über das andere Mal ihrem Manne in die Ohren: »Jetzt sollt' halt der Vater da sein, jetzt sollt' halt der Vater da sein!«

Auf dem Boden entstand nun unter den Händen der Magd eine Veränderung zum Bessern, und immer deutlicher traten in dem flackernden Kerzenlichte die Umrisse eines tief ausgearbeiteten Wappens zu Tage.

68 Jetzt lag die Helmdecke frei, die in der reichen Ornamentik der Spätrenaissance unter dem gekrönten Helme hervorquoll und neben und hinter dem Schilde herabfloß. Rechts und links aber fehlten die zwei höchsten Blätter des Ornaments. Sie mußten mit Gewalt abgesprengt worden sein.

»Sehen's,« lachte der Müller, schielte nach seinem Weibe, bückte sich und tastete mit den Fingern über die Bruchfläche.

Das waren also die »Spatzen«, von denen er vorhin gesagt hatte.

»Mit Verlaub, einen Augenblick,« schrie die Dirne. Wir traten zurück. Ein neuer Guß strömte über den Stein. Noch ein paar kräftige Besenstriche, und der Schild lag frei.

Die Müllerin hatte das Licht in die Hand genommen, kniete in die Nässe und wischte mit der Schürze an dem Schild.

»Sehen's! Sehen's!« rief sie eifrig, »da sitzt der Spatz auf dem Berg; wegen dem hat der Vater selig den Stein da herein, daß er nit verderben thät.«

»Ach was!« lachte der Müller und stieß mit dem Schuh auf die zwei abgehauenen Blätter der Helmdecke, »da sind die Spatzen gesessen; ich hab's ihnen aber . . .« Das weitere verschluckte er.

»Nein,« schrie das Weib und wischte ganz zärtlich, »da sitzt der Spatz.« –

69 Ich war längst mit dem Vater hinter die Beiden getreten und hatte längst erkannt, was auf dem Schilde eingegraben war: das Talglicht stand gerade auf dem Helm und flackerte im Luftzug, im nassen, glitzernden Schildfeld aber dehnte und reckte sich, als wollte er über Thäler und Höhen davon, mit weitgespannten Flügeln, mit hocherhobenem Kopfe, mit dem Ring um den Hals auf dem Dreiberg, der von Wasser troff, ein wohlbekanntes Wappentier – unser Falke! Es war ein Kerderngrabstein aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts.

Noch kniete das Weib und fuhr mit den Fingern die schönen Umrisse nach, wischte an dem Steinbild, wischte auf dem Schildfeld und rief immer wieder: »Ganz und gewiß, da ist der Spatz.« Und immer wieder brummte der Müller: »Was verstehst denn du davon!« Und das Mühlwerk klapperte im Takte dazu.

Nochmals traten wir zurück, und neue Güsse klatschten auf den Stein, und eine Schmutzschichte nach der andern wich unter dem Besen.

Endlich lag die ganze Platte frei, auch der Falke auf dem Helm war deutlich zu erkennen, und nun versuchten wir die Schrift zu entziffern. Vergeblich. Sie war völlig weggetreten, und wir vermochten keinen Buchstaben zu erkennen. Wem er wohl einst die stille Gruft gedeckt hatte – zum »ewigen Gedächtnis«?

»Frau,« sagte ich, »warum hat denn Euer Vater an dem Stein so große Freude gehabt? Man sieht ja 70 keine Schrift mehr darauf und kann ja nicht wissen, wem er gehört hat.«

»Ja, Herr,« erwiderte die Müllerin, machte Daumen und Zeigfinger naß und löschte die Kerze aus, »ja, Herr, der Vater wird's schon gewußt haben, warum. Die Schrift hat man auch damalen noch recht gut lesen können, wer's gekonnt hat. Der Vater hat immer gesagt, ›Kreszenz,‹ hat er gesagt, ›den Stein halt' in Ehren, der Stein gehört in die Freundschaft.‹«

»In die Freundschaft?« fragte mein Vater und trat vor die Frau. »Wie schreibt Ihr Euch denn?«

»Kreszenz Meyer mit ey« sagte die Müllerin.

»Ja, Martin Meyer,« bekräftigte der Mann.

»Wie hat sich aber Euer Vater geschrieben, Müllerin?«

»Ja, wir haben einen raren Namen. Mein Vater selig und der ganze Stamm, der auf der Mühl' gewesen ist von alten Zeiten her, hat sich Kerdern geschrieben, mein Vater hat Hans geheißen, Hans Kerdern.

»Gibt's denn hier noch solche, die sich Kerdern schreiben, Müllerin?«

»Ei ja freilich,« sagte sie und trat unter die Hausthüre. »Schauen's, gleich da droben, an der Stadtmauer steht mein Vatersbruder und hantiert bei seinen Fässern. Der schreibt sich auch Kerdern. Der ist der einzige noch und hat keine Kinder.«

Wir traten noch einmal an den Stein und schauten auf das alte Zeichen unseres Geschlechts, das jetzt wieder 71 im Dämmerlichte dalag. »Den haltet in Ehren,« sagte der Vater und gab der Müllerin und dem Müller die Hand. – –

Draußen spielten noch die zwei Kinder. Wir blieben stehen und sahen sie an. Der Knabe hatte die derben Züge, die starken Backenknochen und den Körperbau der slavischen Rasse, die in dem Grenzland wohnt. Das Mädchen aber hatte schmale Wänglein, rundes Kinn, blaue Augen, zarte Glieder – und es war uns, als ob ein unsichtbares Band geschlungen wäre um den abgetretenen, namenlosen Stein, um das Weib des Müllers und um das Kindlein im Hofe.

»Wie lange wird's noch dauern,« sagte der Vater, »dann haben die groben Schuhe des slavischen Müllers und seiner Knechte auf dem Grabstein da drinnen den Falken für immer verwischt – und wie lange wird's dauern, dann wird man auch das Blut des deutschen Flüchtlings im fremden Volk nimmer zu erkennen vermögen!« 72

 


 


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