August Sperl
Die Fahrt nach der alten Urkunde
August Sperl

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Das Kerdernhaus war einsam gelegen; denn es stand mitten auf der Heide. Nur wenn ich auf den kleinen, dicken Turm stieg, der an seiner Südostseite Wache hielt, dann sah ich weit hinten über dem dunkeln Föhrenwald, ganz draußen am Horizont, die Kirche vom nächsten Ort.

Ob es heute noch so steht, wie damals, ich weiß es nicht. In zehn Jahren kann sich viel verändern; und seit zehn Jahren habe ich es nicht mehr gesehen – seit Kerderns frühem Tode.

Dies Heidehaus war mir lieb. Ich freute mich, so oft ich wieder auf der breiten Landstraße heranfuhr, ich freute mich, wie es so ruhig mit seinen grauen Mauern und Türmchen, seinen grünen Fensterläden und seinem roten Giebeldache dalag vor den rauschenden, vielhundertjährigen Lindenbäumen. Ich habe schöne Zeiten verlebt in dem Heidehause.

Dorthin sollst Du mit mir im Geiste gehen, lieber Leser! Denke Dir, Du kämest mit mir an einem Sommerabend auf der Straße über die braune Heide hergegangen. Denke Dir, wir wären alte Freunde und wollten 2 ihn besuchen in seiner Einsamkeit. Wir bögen von der Straße ab in sein kühles Haus, unter seine kühlen Linden. Magst Du Dir das alles so recht lebendig vorstellen in Deinem Sinn?

Gut. Dann denke weiter: Es kommt der Abend; wir sitzen mit ihm hoch oben im Wipfel der größten Linde, in der lustigen Laube, die er in das Geäste zimmern ließ – unter uns liegt das Haus, vor uns, so weit wir schauen, dehnt sich die Heide, rotglühend im Abendsonnenschein. Und denke Dir: Es ist ein heißer Tag, der draußen zur Rüste gehen will, so heiß, daß nicht einmal die Heidelerche mehr singen mag. Wir aber sitzen im Schatten, und ein kühles Lüftlein spielt mit den Blättern über uns, um uns und unter uns. Jetzt wird es allmählich dunkel, und man bringt uns Licht in einer schönen, weißen Ampel. Das Licht kämpft mit den Schatten, die immer mächtiger von der Heide herübergreifen, es leuchtet flackernd hinauf in das grüne Dach und läßt den Wein in unsern Gläsern erglühen.

Wir aber reden von diesem und von jenem, vom heißen Wetter und von der kommenden Ernte, von den Menschen draußen im Lande und von den Tieren auf der Heide. Du fragst ihn, wie alt wohl das Heideschlößlein sei, und er sagt Dir, daß es vor zweihundert Jahren gebaut worden ist, daß aber der eine von den dicken Türmen noch um ein gut Stück älter ist. »Türme und Schlösser«, setzt er leise hinzu, »sind fest und bleiben 3 immer auf ihrem Platze, bis sie zerfallen; aber die Geschlechter der Menschen werden umhergeworfen.« Dann steht er auf, steigt die gewundene Holztreppe hinab und holt aus dem Hause eine kleine, alte Truhe, trägt sie herauf und erschließt sie, und das Licht der hängenden Ampel fällt auf graue Papiere. Er nimmt eine Rolle heraus und öffnet sie; es ist ein großer Stammbaum mit vielen Namen und Schilden. Jetzt flackert das Licht über uns, und ein Teil des alten Papiers liegt im Dunkeln da, ein anderer ist hell beleuchtet, je nachdem sich die Blätter unter der Ampel bewegen.

Er fängt an und erzählt uns eine Reihe von Geschichten.

Hast Du die Stimmung? Gut; halte sie fest! Saitenspiel sei mein Erzählen – Dein Herz der Resonanzboden.

So höre denn, was mir Hans Georg Kerdern oft erzählt hat in dem Geäste der alten Linde. 4

 


 


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