August Sperl
Die Fahrt nach der alten Urkunde
August Sperl

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Im Pfarrhaus meines Oheims.

Es ist eine sehr bescheidene Gegend, durch die wir heute wandern, der Vater und ich, und man muß sie mit großer Liebe anschauen, wenn man sich ihrer erfreuen will – so etwa mit den Augen einer Mutter, die ihr Kind eben auch mit ganz besonderen Augen ansieht.

Es ist ein breites, langes, langes Thal; durch seine Wiesen windet sich ein träges Flüßlein in unzähligen Krümmungen; still und anspruchslos fließt es dahin, und viele graugrüne Erlen stehen an seinen Ufern.

Rechts und links wird das Thal von niederen, mäßig bewaldeten Höhen eingesäumt, und ein Fremder könnte nun vielleicht auf den Gedanken kommen, daß sich in dieser Weise das ganze Land in Thälern und Höhen hebt und senkt. Ich weiß das besser; denn ich kenne ja die Gegend gar wohl: wenn ich auf eine dieser Höhen emporsteige und hinausschaue, dann dehnt sich meilenweit zur Rechten und zur Linken des Thales eine öde, öde Hochebene aus.

186 Und doch liebe ich dieses Land, es erscheint mir so merkwürdig, unsagbar merkwürdig, es dünkt mir so schön wie nicht viele andere, ich glaube, daß die Mühlen weit und breit nicht mehr so traulich klappern wie die da drunten am Wasser unter den Erlen, ich fühle, daß ich lange nicht mehr so von Herzen froh war wie heute, und wir reden doch so wenig gerade heute, der Vater und ich. Aber ich gehe ja nicht zum erstenmal durch dieses Thal; aus den Flügeln der Erinnerung jagen meine Gedanken zurück, weit zurück, kommen wieder und malen, malen mir herrliche Bilder, jagen wieder zurück und kommen wieder, bringen mir geschäftig neue Farben, und mein Herz thut sich auf, und ich schaue in die strahlende, längst entschwundene, unwiederbringlich versunkene Kindheit.

Wir gehen weiter und weiter. Jetzt steigt vor unsern Augen die Anhöhe mit dem großen Dorf empor und scheint das ganze Thal gleich einem Riegel abzusperren. Von dieser Höhe grüßt er hernieder, der alte, romanische Kirchturm, der mich so oft schon grüßte, wenn ich mit dem leichten Ränzlein auf dem Rücken zum Onkel in die Ferien kam.

Wir gehen durch die engen Gassen empor zum Pfarrhaus. Die Weiber vor den Häusern halten mit ihrer Arbeit inne und schauen uns neugierig an. Sie haben rote Kopftücher und blaue Röcke wie vor Zeiten. Da liegt auch an der Halde rechts der alte, verlassene Kirchhof mit seinen gemauerten Gräbern und seinen 187 eingesunkenen Grabplatten – wie oft haben wir als Kinder durch die Spalten in die dunklen Tiefen geschaut und uns gefürchtet.

Wir gehen weiter, und an jeder Ecke habe ich Erinnerungen.

Wir halten vor dem Pfarrgarten. An dem Thürchen sind ehedem zwei hohe Pappeln auf Schildwacht gestanden – jetzt ragt nur noch die eine von ihnen und streckt ihre kahlen Äste in die Abendluft empor. Vor uns liegen die großen Blumenbeete des Onkels. Späte Astern blühen darauf.

Aus dem Hintergrunde schaut das alte, weitläufige Pfarrhaus mit seinen kleinen Fenstern und seinem hohen, breiten Dache zu uns her. Das ist noch ganz so, wie es vor Zeiten auch war.

Hei, die wohlbekannte Glocke tönt wieder, droben am Fenster der Studierstube bewegt sich der ehrwürdige, liebe Kopf des Oheims; ein paar Schritte, und wir sind in der Wohnstube und grüßen und lassen uns grüßen.

Schlicht und groß stehst du, teure Gestalt, heute, wie ich das schreibe, vor meinem geistigen Auge. Ich habe dich gleich einem Vater geliebt. Du warst ein weiser Mann. Deine Redeart war kurz und rasch; aber alles, was du sprachst, kam fertig, gleichsam gemeißelt aus deinem Munde. Unnötiges habe ich nie von dir gehört.

Schon der Adel deiner äußeren Erscheinung war ehrfurchtgebietend. Auf einem mittelgroßen Körper saß 188 ein bedeutendes, weißhaariges Haupt. Der Schnitt deines Antlitzes war ungemein charakteristisch. Schön stand dir der weißgraue Vollbart, und durchdringend blitzten deine blauen Augen hinter den Gläsern der Brille hervor.

Man fühlte sich so klein und unbedeutend in deiner Nähe, obwohl du mild in deinem Urteil über andere warst und so freundlich für alles Interesse hattest. Oft scheute ich mich, zu sprechen, wenn du zugegen warst, und jedenfalls wog ich alles, ehe ich es aussprach. Oft auch erkannte ich etwas erst dann in seinem wahren Werte, wenn ich mich anschickte, dir davon zu erzählen. Der eitle Flitter, mit dem sich die Dinge so häufig umkleiden und unkenntlich machen, der hielt vor deinem klaren Auge nicht stand.

Die Heimat, in der du dich wohl fühltest, war die lichte Höhe der Spekulation. Durch die philosophischen Systeme aller Zeiten warst du gewandert, hattest alle ihre Weiten durchmessen – aber bei alledem war dir die ewige, einfache Grundwahrheit des Evangeliums das feste Zentrum deiner Gedanken geblieben.

Wer dich in geistiger oder leiblicher Not um Rat ansprach, der ging nicht leer von dir hinweg; denn du warst nicht bloß ein gelehrter, du warst auch ein weiser Mann, und über deinen hohen Gedanken hattest du niemals den Blick für die Fragen des täglichen Lebens verloren.

So steht deine Gestalt vor meinen Augen, du Edler meines Geschlechts. Wenn ich von den Weisen der alten 189 Zeit reden höre, dann tragen sie deine Züge. Segensvoll hast du auf alle gewirkt, die sich deinem Einflusse hingaben, auch auf mich. Ich bin dir dankbar bis an mein Lebensende.

Und da erhebt sich die gute Tante aus ihrem Lehnstuhl, in dem ich sie auch heute noch sitzen sehe, so oft ich an sie denke, die gute, fromme Tante. Ihr feines Antlitz war bleich, sie kam ja so selten aus dem Zimmer, weil sie krank war seit vielen Jahren. Ich sah sie nur gerne an, diese edle Frau; sie hatte viele Mühsale durchzumachen gehabt, hatte aber auch viele Freude in ihrem Hause, an den Ihrigen erlebt, und ich kannte sie nie anders, als gleichmäßig freundlich und heiter. Frühjahr und Sommer, Herbst und Winter zogen draußen vorüber, die Welt ging ihren Gang, nur ganz von ferne schlugen die lärmenden Wellen an ihr Ohr – aber im Hause war sie der Mittelpunkt.

Am liebsten saß ich und schaute dich verstohlens an, wenn du in deiner alten Bibel lasest. Da warst du so schön.

Doch wohin gerate ich! Der Onkel und die Tante und die hilfreiche, hingebende Schwester des Vaters, deren besonderer Gunst ich mich immer zu erfreuen hatte, und die kluge, geistsprühende Cousine mit ihrem nie versagenden, schlagfertigen Witz, gegen den der langsamere Vetter niemals recht hatte aufkommen können, alle umringten sie uns und freuten sich über unsere Ankunft.

190 Freilich, es ist vieles anders geworden in diesem Hause seit meiner Kindheit: die Vettern fehlen, sie sind flügge geworden und haben das Nest verlassen. Wie stehen auch sie mir noch alle vor Augen! Der Große, der Student, mit dem dicken Kopf, dem biedern, treuen Angesicht und dem bärenhaften Ferienfleiß, den ich damals anzustaunen pflegte, weil ich in meiner Unschuld seine tiefliegenden Semestral-Ursachen nicht kannte. Der andere, mit dem feinen Gelehrtengesicht, der als Gymnasiast so lehrhaft mit mir verkehrte und vor dessen ernstem Wesen ich immer eine gewisse Scheu hatte. Beide sind sie Pfarrer wie der Vater es ist und wie es Großvater und Urgroßvater waren – und der dritte, der kleine, mit dem blonden Lockenkopf und dem ehrlichen Leichtsinn, mein guter Spielgenosse – wie sich die Zeiten ändern! der ist auch ein würdiger Pfarrherr. Ja, was sollten denn auch drei Pfarrersbuben zunächst anderes werden als wieder Pfarrer? – – –

Als das Abendessen verzehrt war, die Frauen ihre Handarbeiten vornahmen und unsere blauen Tabakswölklein emporstiegen und luftige Brücken bauten für Rede und Wechselrede, da begannen wir, von allem zu erzählen, was wir erlebt und gesehen hatten. Wir waren ja am Ende unserer Fahrt angelangt.

Und es war schön, dieses Erzählen von den alten Zeiten des Geschlechts, die Mitternacht war nahe, als wir abbrachen.

191 Alles schwieg, der Oheim aber lehnte sich in die Sophaecke zurück, strich seinen langen Bart und sagte: »Ja, es sind seltsame Geschicke, die unser Geschlecht getroffen haben. Auf Prädikate gebe ich nichts. Sie sind mir leerer Schall. Aber auf etwas gebe ich sehr viel: auf unsere Eigenart. Und die wollen wir sorgsam wahren. Unsere festen Sitze haben wir freilich längst verlassen und sind Nomaden geworden, die der Beruf heute dahin, morgen dorthin wirft. Aber unsere Familien sind ja auch feste Bollwerke, wenn sie richtig gefügt sind. Unsere Zeit bemüht sich, alles gar eben zu machen. Darum ist's gut, wenn wir unsere Familien mit Wall und Graben umziehen und im Innern die alten Überlieferungen hegen und pflegen.

»Ich will euch morgen etwas vorlesen, was ich vor wenigen Wochen gefunden habe. Ich denke, es wird das eurer Fahrt einen guten Abschluß geben.«

Wir standen auf und beteten den Abendsegen miteinander. Und wieder mußte ich an meine Knabenzeit denken: da hatte ich mich immer gar sehr in acht genommen, doch ja das Vaterunser mit derselben Betonung auszusprechen wie die Verwandten; bei mir zu Hause sprach man es etwas anders. Und ich weiß noch recht gut, wie verlegen ich jedesmal wurde, wenn ich an irgend einer Stelle in meine altgewohnte Weise hineinkam; denn ich glaubte, das müsse allen aufgefallen sein.

Hernach ging der Onkel mit uns in die Gaststube. 192 Da hingen die steifen, weißen Vorhänge an den Fenstern, da standen die großen, schweren Betten, da umflutete mich wieder wie in alten, glückseligen Zeiten jenes unnennbare Gemisch von Äpfel- und Seifengeruch, das dem Kinde am ersten Abend in dem Gast- und Vorratszimmer jedesmal das erhebende Gefühl des »Gastseins« so voll und ganz zum Bewußtsein brachte.

Seltsame Welt! Da steht ein großer, fremder Mensch vor dem alten, oft angestaunten Glaskasten mit seinen kunstvollen Tassen, Gläsern und Krügen, vor der geschweiften Kommode mit ihren blinkenden Messingschildern, ans Fenster pochen leise die Zweige des Apfelbaums, wie damals, und der fremde Mensch bin ich! Ich begebe mich zu Bette, schließe die Augen und liege zwischen Wachen und Träumen – da geht unter dem Fenster der Nachtwächter vorüber, tutet dreimal auf dem Horn und singt sein altes Lied. Es fehlen nur noch die Kater auf dem Nachbardach, und der Zauber ist fertig. »Kreisrunde Welt«, denke ich bei mir und dehne mich in den Kissen, »alles wie damals, und du so verändert!«

* * *

In aller Frühe wachte ich auf. Der Vater schlief noch fest. Leise kleidete ich mich an und ging auf den Zehen hinaus. Ich mußte wieder einmal allein sein in der »Bibliothek«.

Da stand ich in dem großen Zimmer, und wieder drängten sich mir die Gedanken an meine Kindheit auf.

193 Wie oft hatte es uns sehr langweilig dünken wollen, wenn wir uns in den Ferien ganz stille an diesen Tisch am Fenster begeben und unsere Arbeiten machen mußten. Da saßen wir dann: der ernste Gotthelf las irgend einen Klassiker, zu dem er ein ungeheures Lexikon neben sich auf den Boden gestellt hatte, der lustige Karl schmierte mensa, mensae, und ich grämte mich über ein griechisches Pensum mit seinen fatalen Accenten. Draußen aber lachte die Sonne, und der Wald war so grün, die Hüterbuben schürten Feuer auf den Halden und brieten sich Kartoffeln, drunten floß das Flüßlein und lud zum Krebsen – warum stand auch der Apfelbaum so verführerisch nahe am Fenster! Konnte man's dem lustigen Karl verargen, daß er auf einmal draußen in seinen Zweigen und drunten auf dem Rasen war, konnte man's dem leichtsinnigen Gaste verdenken, daß er das eilends dem Haussohne nachmachte? Nein! Aber der gewissenhafte Gotthelf kam auch hinterdrein und brummte nur ganz leise – und das war schlecht von ihm.

Heute bin ich allein, brauche keine griechischen Pensa mehr zu schreiben und habe auch gar keine Lust, durchs Fenster hinaus in den glänzenden Morgensonnenschein zu steigen.

Ernsthaft gehe ich die großen Büchergestelle entlang, die dem Knaben einst so gleichgültig waren. Es ist die alte Familienbibliothek! Durch drei Jahrhunderte her, von den Zeiten der Reformation hat sie sich bis auf den 194 Oheim vererbt, immer vom Vater auf den ältesten Sohn – gar oft die einzige Hinterlassenschaft. Wenn sie doch reden könnten, diese Bücher! Wie viel haben sie gesehen, wie mancher heiße Kopf hat sich über ihre Blätter gebückt und hat sich abgemüht, die Wahrheit zu finden, und hat sie nicht gefunden, wenn er sie mit dem Verstande allein suchte. In langen Reihen stehen die Kommentare da, friedlich wohnen bittere Streitschriften nebeneinander auf einem Brett; dort sehe ich ein Corpus juris, hier die Bibel, dort Merians Folianten, da Thomas a Kempis. Ich gehe weiter und weiter. Da fällt mein Blick auf eine Reihe ungebundener Schriften; sie sind vergilbt und verstaubt und sehr alt. Ich ziehe eine hervor und lese die berühmten Worte:

»An den Christlichen Adel deutscher Nation«

und darunter steht: Hans von Kerdern, Burgermeister in Hohendrazz zugehörig.

Ich nehme ein zweites; auf dem steht:

»Wider die mordischen und reubischen Rotten der Bauern«

und jetzt bin ich nicht mehr im stillen Pfarrhaus, nicht mehr bei meinen Jugenderinnerungen, sondern weit zurück bei meinen Altvordern auf dem Nordgau. Ich suchte mir Bilder zu machen von jenen Zeiten, in denen die römischen Fesseln brachen, wog die gelben Blätter in meinen Händen und träumte von den großen Marksteinen der Geschichte.

Da öffnete sich die Thüre, der Oheim kam herein. 195 Ich grüßte ihn ehrerbietig, er gab mir mit freundlichem Lächeln die Hand. Dann ging er auf eines der Gestelle zu und hob einen schweren Folianten herab. Der war kunstvoll in gepreßtes Leder gebunden und durch schwere Spangen verschlossen. »Sieh her,« sagte er und öffnete das Buch. Es war die deutsche Bibel vom Jahre 1545 – die letzte Ausgabe, die Luther selbst revidiert hatte. Jetzt schlug der Oheim das letzte Blatt auf, schlug es um und drückte auf eine abgegriffene Stelle des Holzdeckels, der sehr dick war. Mit leisem Geräusch sprang dieser auf, und der Oheim hielt mir ein dünnes Folioheft unter die Augen. Und ich las:

Mein, Jörg von Kerderns, Chronika.
Für meine Posterität aufgezeichnet,
Anno Domini 1628.

Ich stand sprachlos und rieb meine Augen. »Nun,« sagte der Oheim und lächelte, »was meinst du dazu? Nimm's mit hinunter, nach dem Frühstück will ich's vorlesen.« 196

 


 


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