August Sperl
Die Fahrt nach der alten Urkunde
August Sperl

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Aus meiner Kindheit.

Wir wanderten durch die Wälder und schwiegen. Mir aber trat plötzlich in voller Frische ein Erlebnis aus meiner Kindheit vor die Seele. An einem Herbsttag war's gewesen vor vielen Jahren, und lange hatten wir zu steigen gehabt; endlich standen wir auf der Höhe. Es war einer der schönsten Berge im bayerischen Walde.

Eine frische Luft strich über den Bergrücken, man rief die erhitzten Kinder herzu und hüllte sie in warme Überkleider.

Dann standen die großen Leute auf dem höchsten Punkte des Grates und schauten über das wogende Waldmeer hinein in das hellbeleuchtete böhmische Land. Ich hatte meinen Steinhammer gezogen und klopfte an den schwarz und weiß gesprenkelten Felsblöcken, den letzten Resten eines uralten Gemäuers. Der Fernblick kümmerte mich wenig; was wissen Kinder mit dem anzufangen, das sie nicht zu greifen, in ihren Besitz zu ziehen vermögen? Später freilich bin ich einmal an derselben 42 Stelle gestanden, und da ist mir die gewaltige Rundschau tief zu Herzen gegangen, und ich habe mich fast nicht zu trennen vermocht von dem Blick auf das unendliche Land, das sich von diesem Berge hinzieht, soweit die Wolken gehen, das ein Menschenherz hinlockt über seine grünen Wellen und eine mächtige Sehnsucht in ihm entbrennen läßt, hinabzusteigen und zu wandern, immer weiter zu wandern.

Das alles war damals auch schon vorhanden, ich sah es nicht. Zuletzt ward ich müde, setzte mich auf einen Stein und schaute einem Käfer zu, der neben mir über den Rasen kroch.

Da stand auf einmal mein Vater hinter mir und fragte mich: »Georg, siehst du den Wald dort unten?«

Ich wandte meinen Kopf und sagte: »Ja wohl, Vater.«

»Dann schau' auch dorthin! Siehst du das glänzende, weite Land und die Hügel ganz draußen, zu denen der große Wald hinläuft?«

»Ja, ich sehe sie.«

»Wie weit mag es wohl bis dorthin sein, Georg, wenn einer rüstig ginge?«

Ich besann mich und sagte: »Eine gute Stunde.«

»Nein,« antwortete mein Vater und lächelte. »Es sind sechs gute Wegstunden.«

Ich sagte nichts mehr. Der Vater aber setzte sich zu mir auf den moosigen Stein und schlang den Arm um mich. Das that er sonst nur an meinem Geburtstag.

43 Ich war recht verwundert und wegen meiner thörichten Antwort in ziemlich gedrückter Stimmung. Dann grübelte ich darüber nach, was der Vater wohl jetzt denken möchte.

Was der Vater jetzt wohl denke! Das beschäftigte mich auch sonst sehr oft, es beschäftigte mich, wenn ich mein Mittagsbrot mit Vater, Mutter und der kleinen Schwester verzehrte, wenn ich mit den Meinen spazieren ging, oder wenn ich den Vater gar zu seinem Amtshause begleitete. Immer hatte ich eine so unendlich hohe Vorstellung von dem Ernst und von der unergründlichen Tiefe seiner Gedanken, daß ich's gar nicht auszudenken vermochte. Die blühende Mutter – ja, die war mir zwar das Idealbild aller irdischen Schönheit, und von dieser ihrer Schönheit und meiner Liebe zu ihr war ich einst so überwältigt, daß ich mich vor sie hinstellte, lange unverwandt zu ihr emporschaute und endlich in einer seltsamen Ideenverbindung mit zuckenden Lippen sagte: »Mutter, wenn du einmal gestorben bist, dann laß' ich dich ausstopfen und stelle dich in mein Zimmer.« Darauf umklammerte ich ihre Schürze und begann zu schluchzen. Das war meine Mutter – aber daran, daß sie gleich dem Vater so ganz unergründliche Gedanken habe, daran hatte mein Herz nie gedacht. Sie war uns ja doch den ganzen Tag so nahe, vom Aufstehen bis zum Niederlegen, teilte alle unsere kleinen Freuden und Leiden, und wir sahen sie viel mehr für unseresgleichen an. –

Da saß ich denn auf dem Stein und hatte meinen 44 Kopf an die Brust des Vaters gelehnt und getraute mich in meiner feierlichen Stimmung kaum zu atmen.

Der Vater sprach lange nichts mehr, und als ich endlich vermeinte, er habe mich über seinen Gedanken gar vergessen, und verstohlen zu ihm emporsah, da bemerkte ich, daß seine glänzenden Augen unverwandt über die Wälder in die Ferne schauten. Ich schlug meinen Blick nieder und holte leise recht tief Atem.

»Georg!«

»Ja?«

»Georg, schau' noch einmal hinaus zu den blauen Hügeln.«

»Ja, Vater.«

»Sieh', Georg, das ist unsere alte Heimat.«

»Wie?«

Mein Vater hörte mich schon nicht mehr, und ich hatte Zeit, über seine seltsamen Worte nachzudenken. »Unsere alte Heimat« – das verstand ich doch gar nicht. Unsere Heimat war ja nicht da drüben, sondern hinter uns, draußen im flachen Land! Da lag das Städtlein mit dem hohen Kirchturm und mit der großen Burg auf dem waldigen Hügel und mit den breiten Straßen, und dort stand unser Wohnhaus, und dort war ich geboren, und dort hatte ich meine guten Freunde, und dort war unsere Heimat. Ich wußte nicht, was der Vater wollte.

»Georg!«

»Ja?«

45 »Georg, weißt du, auf was wir sitzen?«

»Ja, es ist ein Felsen, und einen solchen habe ich noch gar niemals gesehen und habe auch keinen in meinem Steinkasten. Er ist aber so hart, daß ich kein Stücklein von ihm wegbringe. Bitte, haue mir doch ein Stück weg.«

Mein Vater hieb lächelnd ein Stück ab von der vielhundertjährigen Mauer, die ich für einen Felsblock hielt.

Dann sagte er: »Höre, Georg, das ist kein gewachsener Felsen, sondern eine alte Mauer. Auf diesem Berg ist einmal vor langer Zeit ein vornehmer Mann, ein Graf, gestanden, hat weit umhergesehen und sodann beschlossen, hier eine feste Burg mit Türmen und Ringmauern und Gemächern zu bauen. Seine Leute kamen aus dem Thale heraus, hieben tiefe Keller in den Felsen und bearbeiteten die Steine. Und der Graf freute sich in seinem Herzen und trieb seine Leute an, damit er recht bald auf dem hohen Berg wohnen könnte, so hoch, wie sonst keiner im Lande. Aber – es ging alles anders, als er sich dachte: Auf einmal fielen Feinde ins Reich und der König rief seine Ritter zu Hilfe. Alles zog in den Krieg, auch der Graf machte sich auf mit seinen Leuten, wie es seine Pflicht war, und die halbfertige Burg da oben blieb einsam und verlassen. Er ist nie mehr zurückgekehrt, die Feinde hatten ihn in einer blutigen Schlacht getötet; auf die Mauern aber, auf denen wir sitzen, fiel durch lange Jahrhunderte der Regen und der Schnee, die Sonne brannte auf sie hernieder, 46 und der scharfe Frost zerbröckelte die harten Mauern bis auf diese kleinen Reste. Kannst du dir den Grafen vorstellen, Georg?«

»O ja Vater, wie der bei uns zu Hause mit dem blauen Zwicker und mit den gelben Hosen, der mir alle Mittag begegnet und mich immer in den Backen kneipt!«

Der Vater lachte laut auf; ich aber schwieg beschämt; denn ich hatte wieder das Gefühl, etwas sehr Dummes gesagt zu haben.

»Nein, Georg, so gewiß nicht. Denke dir etwa einen großen, stolzen Mann, und denke dir, der habe einen schönen Helm auf dem Haupte, einen glänzenden Harnisch am Leibe und sitze auf einem kräftigen Pferde – dann wird's richtiger sein. Hast du das alles vor Augen?«

»Ja,« sagte ich leise und dachte mir meinen Vater auf dem Pferde.

»Jetzt schau wieder hin über die Wälder, Georg, zu dem Lande, das so glänzend daliegt.«

»Ja, Vater.«

»In diesem Lande gibt es Städte mit hohen Häusern und Dörfer mit strohgedeckten Hütten, und fast auf jedem Hügel steht eine alte Burg oder eine Ruine. Vor vielen Jahren nun, vor Hunderten von Jahren, als die alten Burgen noch viel neuer waren, als es noch viel weniger Trümmer gab auf den Hügeln, da wohnten dort 47 vornehme Herren gleich dem Grafen, von dem ich dir vorhin erzählte, sie wohnten dort wie ihre Väter und Großväter und hofften, daß dereinst auch ihre Kinder und Kindeskinder dort nach ihnen wohnen würden. Aber da kam ein schwerer Krieg in das schöne Land, einer der entsetzlichsten Kriege, die es gibt, ein Religionskrieg.«

»Was ist ein Religionskrieg?«

»Die Leute wurden uneins darüber, wie man dem lieben Gott am besten diene, und zuletzt wurde ihr Streit so arg, daß sie zu den Waffen griffen. Da wurde Feuer in die Städte geworfen, viele Burgen wurden zerstört und liegen seitdem in Trümmern gleich den Trümmern, auf denen wir sitzen, unzählige Menschen wurden getötet, und die Flüsse des Landes färbten sich rot vom Blute der Erschlagenen. Sehr viele Menschen aber, die Gott auf die alte Weise verehren wollten, wurden von ihren stärkeren Gegnern aus ihrer Heimat vertrieben. Es wurden Bürger aus den Städten vertrieben, und sie mußten mit ihren Frauen und Kindern fliehen, es wurden Bauern aus den Dörfern vertrieben, es wurden Edelleute aus den hohen Burgen vertrieben. Hörst du, Georg?«

»Ja,« sagte ich und hielt den Atem an.

»Dann höre weiter. Auf einer von den Burgen wohnte ein Mann, der gehörte auch zu denen, die den Willen ihrer Feinde nicht thun wollten, und so mußte er in die Fremde ziehen. Er verließ mit den Seinen 48 die alte Burg, zog mit ihnen traurig aus dem schönen Land, kam in die Wälder, die vor uns liegen, wanderte viele Tage lang, bis er endlich da drüben am Thore eines Städtleins anklopfte und bat, man möchte ihn doch einlassen und möchte ihm eine Wohnung geben. Man gewährte ihm seine Bitte, und der Edelmann wohnte noch manche Jahre in der fremden Stadt, wo er auch endlich gestorben ist. Sein Sohn aber ist nie mehr in die Burg seines Vaters zurückgekehrt. Er hatte Nachkommen, und diese hatten wieder Nachkommen, und so breiteten sich mit der Zeit die Leute, deren Urväter einst auf stolzer Burg gelebt hatten, in der Stadt und in dem fremden Lande aus und dachten nur ganz selten noch an ihre alte Heimat, an das schöne, glänzende Böhmen und an die traurige Begebenheit, die ihre Vorfahren damals vertrieben hatte.«

»Kannst du dir denken, wie der Mann, von dem ich dir dies erzählte, geheißen hat, und wie seine Enkel und die Enkel seiner Enkel?«

»Nein.«

»Höre, mein guter Georg,« sagte der Vater und nahm mich unter dem Kinn, daß ich den Kopf zu ihm emporheben mußte. »Höre es und vergiß es in deinem ganzen Leben nicht wieder: Der unbeugsame Mann, der Gott auf seine Weise anbeten wollte, der hieß Hans Kerdern, und wir tragen heute noch seinen Namen, unsere Urväter sind Kinder und Enkel von ihm gewesen, und 49 da drüben über dem Wald liegt, wir wissen es nicht mehr, auf welchem Hügel, die alte Burg, die uns die Feinde einst vor vielen Jahren entrissen haben. Hör' es, vergiß es nie wieder in deinem ganzen Leben, werde ein tüchtiger Mann und beuge dich niemals vor deinen Feinden, sondern allein vor Gott.«

Damit stand der Vater auf. Ich saß, und es war mir, als säße ich im Traum. Aber es war ein wundersamer Traum, und ich sah auf einen langen Weg, in ein fremdes Land, in eine ferne Vergangenheit. Noch nie hatte der Vater so ernsthaft mit mir gesprochen, und ich fühlte es, daß er mir sehr Wichtiges gesagt hatte. Ich fühlte es nur – aber es ergriff mich eine Ahnung von so stolzen und doch so unsäglich traurigen Dingen, von denen sonst ein Kind noch nichts weiß; der grüne Wald zerfloß mir vor den Augen, das glänzende Land verschwamm mir im Nebel, ich war so betrübt, daß ich den Kopf in den Händen barg und bitterlich weinte.

Erschrocken trat der Vater herzu, setzte sich neben mich, legte wieder den Arm um meine Schultern, streichelte meine heiße Stirne und sagte mir beruhigende Worte. Da ließ der heftige Sturm meiner unbewußten Gefühle nach, ich weinte stille an der Brust meines Vaters und sah wie in einem seligen Traume durch den grünen Flor meiner Thränen hinein in das hellglänzende Land. – – –

Wir saßen noch eine Weile, dann gingen wir von 50 dem kahlen Grat herab auf den Weg, den wir gekommen waren. Ich hatte die Hand des Vaters genommen und ließ sie in den nächsten Stunden nicht mehr los. Jetzt wußte ich doch etwas von seinen Gedanken! – Wir sprachen von gleichgültigen Dingen, von den glänzenden Pilzen am Weg, von den hohen Buchen mit ihren glatten Stämmen, unter denen wir dahinschritten, von den riesigen Farrenkräutern im Moose. Dann schwiegen wir, ich dachte an meine Freunde und malte mir aus, was die wohl zu diesen Geschichten sagen würden. Aber nur kurze Augenblicke – und ich nahm mir fest vor, ihnen kein Wort von allem dem zu verraten, was ich heute gehört hatte.

Ich war damals ein kleiner Knabe, und es sind viele Jahre vergangen bis heute. Oft kamen mir seitdem die Geschicke der Alten in den Sinn – und oft war mir's dabei, als säße ich auf dem hohen Berg, als schaute ich über den grünen Wald hinein in ein wunderbares Land, wie damals, und es war ein Schleier vor meinen Augen, wie er vor den Augen des weinenden Knaben gewesen war. 51

 


 


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