August Sperl
Die Fahrt nach der alten Urkunde
August Sperl

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Der kalte Baum.

An diese kleine Begebenheit dachte ich, als wir schweigend hügelauf und hügelab der Stadt zuschritten, in der einst die Väter ihre Zuflucht gefunden hatten.

Es ist ein armes Land mit großen, schwarzen Wäldern, mit felsigen Hügeln, mit breiten Thälern und mit kärglichen Äckern – aber es ist ein schönes Land, das man wohl liebgewinnen kann; denn die schwarzen Wälder spiegeln sich in stillen, dunkeln Teichen, auf den felsigen Hügeln stehen zerfallene Burgen, in den breiten Thälern fließen klare Gewässer, und zwischen den kärglichen Äckern liegen da und dort alte Siedelungen der Menschen.

Dieses Land der Hügel und der Weiher ist nur ein Teil des Nordwaldgebirges, das eine große Landfläche bedeckt, öfter zu ansehnlichen Bergen emporsteigt und auf der Morgenseite einen hohen Wall bildet gegen das fremde Böhmen.

Schön sind die Leute nicht in diesem Lande. Slaven 52 und Deutsche bewohnten es vor Zeiten gemeinsam, die Deutschen waren die Herren, die Slaven die Knechte. Heute haben sich Herren und Knechte längst vermischt, und was aus solchen Mischungen der Rassen erwächst, ist selten schön. Steinreich nennt man draußen die Leute – aber es ist Spott; denn sie sind nur an Steinen reich. Und auf ihren Ackern müssen sie sich abplagen und abmühen um ihr tägliches Brot, die schwere Arbeit krümmt die Glieder, die Sonne verbrennt die Gesichter. Sie haben es schlechter, als die Bauern im flachen Lande.

Sie haben es heute nicht gut – aber vor Zeiten mußten ihre Vorfahren noch weit bösere Dinge ertragen. Ich meine nicht die vielen Kriege, die über das Land gegangen sind – es ist ja der Krieg ein schweres Unglück, er verwüstet die Äcker, er setzt den roten Hahn auf das Dach, und die wilden Soldaten treten das arme Volk mit Füßen; ich meine auch nicht die vielen Seuchen, die über das Land gegangen sind – es ist ja etwas Furchtbares um die Pest, die gleich einem Gespenste dahinzieht und die Menschen niedermäht wie der Schnitter die Ähren. Was Krieg und Seuche anrichten, verwischt sich im Laufe der Zeit, mag das Leben tausendfach zertreten werden, tausendfach ringt es sich wieder empor, neue Frühlinge kommen, aufs neue grünen die zerstampften Äcker, unter dem neuen Giebel girrt die Taube, als ob nie etwas geschehen wäre, und schau' dir einmal die 53 spielenden Kinder auf der Gasse an, kannst du in ihren Gesichtern noch lesen von den Drangsalen der Voreltern?

Aber es gab etwas, das war schrecklicher als der Krieg und unheimlicher als die Pest: gewaltsame Religionsänderung.

Auch sie hat Saatfelder zertreten und Häuser verbrannt, aber dazu hat sie gleich einem langsamen Gifte die Herzen der Menschen zerfressen und einem ganzen Volk den Stempel der Furcht und des Mißtrauens aufgedrückt.

Und den tragen sie auch auf dem Nordgau.

Es ist kein Wunder. Gleich einem Sturmwind war die Reformation über dieses Land gegangen, und die große Mehrzahl des Volks hatte sie verlangt. Dann aber hatte man bald den schrecklichen Spruch zu fühlen bekommen »cuius regio, eius et religio.« Das Land hatte kalvinisch werden müssen, weil der Kurfürst in Heidelberg kalvinisch war, es hatte wieder lutherisch beten dürfen, als man da drüben anders betete, es hatte nicht lange gedauert, dann war wieder alles unter den Kalvinismus gezwungen worden, und zuletzt, während des großen Kriegs, hatte der eiserne Maximilian von Bayern mit Soldaten und Jesuiten die Kalvinisten wieder zur alten Lehre gebracht, so nachdrücklich, daß es heute noch als schärfstes Drohwort gilt: »Dich will ich katholisch machen.«

Nur ein ganz kleines Gebiet konnte sich durch die Zeiten des Schreckens und der Verfolgung den lutherischen 54 Glauben bis herab auf unsere Tage retten, und es war dies die zweite Heimat unserer Altvordern.

* * *

Woher wohl die deutschen Bauern des Landes gewandert kamen, als sie sich unter den Slaven niederließen? Wo sie ehedem wohnten? Wenn sie an langen Winterabenden beisammensitzen und ihren Kindern Märchen und Sagen erzählen, dann weht es wie Meerluft mitten im steinigen Waldland, Wasserriesen und Wasserzwerge, Meerfrauen und Eiskönige treten auf, und niemand findet dies sonderbar – obgleich es viele hundert Meilen hin zum Meere ist. Wer kennt die Geschicke eines Volkes, wer kann sagen, woher es kam, müde vom Wandern und ruhesuchend? Die Jahrhunderte reihen sich aneinander, die Fremde wird zur neuen Heimat, und aus der alten Heimat klingen nur leise noch halbverstandene Grüße zu den Spätgeborenen herüber.

Dreihundert Jahre lang waren die Geschicke meines Geschlechts mit den Geschicken dieses Volkes verflochten, wohl weit über das Doppelte von Jahren mag jetzt vergangen sein, seit die Andern vom fernen Meere hergekommen sind – verworrene Sagen sind das einzige, was das Volk aus seinen alten Sitzen, verworrene Sagen sind das einzige, was mein Geschlecht aus seiner Flucht gerettet hat. –

Der Abend kommt, und kühl wird die Luft. Wir schreiten rüstig weiter; denn wir wollen heute noch die 55 Stadt erreichen, die uralte Grenzstadt Hohendreß. Durch Wälder und über Wiesen gehen wir, stetig zieht sich die Straße in die Höhe und läuft zuletzt auf einem breiten, kahlen Bergrücken gerade gegen Norden hin, und wir sehen weit hinaus über Thäler und Höhen und wandern und schweigen.

Das ganze Land gleicht einem großen See, die Hunderte von Hügeln sind versteinerte Wellen, unser Bergrücken ist eine der höchsten, und drüben gegen Morgen steht, von Mitternacht nach Mittag gerichtet, wie ein hohes Ufer der breite, dunkle Wall der böhmischen Berge. Die Strahlen der Abendsonne weben Gold um ihre Kämme, und schwarz liegen ihre Thäler; da herüber ist einst mein verstoßenes Geschlecht gewandert.

Aber weg vom Alten! Ich wende den Blick gegen Abend und sehe immer wieder, daß ich recht habe mit meinem Bilde: ein See ist's, ein großer See. Soweit das Auge schaut, schiebt sich ein Waldhügel hinter dem andern empor, immer höher und höher, immer duftiger, immer glänzender – aber hier ist der See ohne Ufer, und der feurige Sonnenball scheint in blaue Hügelwellen niederzutauchen.

In dem feuchten Grunde zu unsern Füßen, wo die kleine Luhe in unzähligen Krümmungen fließt und die Dörfer im Schatten der Wälder liegen, da ziehen weiße Nebelstreifen das Wasser entlang. Die Hüterbuben jauchzen und knallen mit den Geißeln, die Herdenglocken läuten.

56 Jetzt sinkt die rote Feuerkugel völlig nieder, goldig spannt sich der Abendhimmel, und in der klaren Luft kann ich die Hügelwellen noch besser schauen. Wie hohe Inseln ragen aus ihnen feste Schlösser und zerbrochene Burgen mit grauen, drohenden Mauern – gleich da drüben über dem Grunde die uralte Landgrafenburg mit ihren zerstörten Hallen und dem großen Dorf, das sich hoch oben um den schlanken Bergfrid gelagert hat wie eine Ziegenherde um den graubärtigen Hirten; vor dem Walde dort glänzt ein großes Schloß, weiter drüben noch eines, und aus den Tannen selbst ragt ein schwarzer Turm. Ich habe ernste Gedanken bei dem Anblick der alten Grenzwächter des Nordgaus. –

Der Herbst ist allenthalben vor der Thüre, aber es ist, als ob er hier oben schon früher Einlaß heischen wolle. Ein großes Volk von Staren fliegt schreiend über die Wiesen im Grunde. Sie halten Heerschau und üben ihre Jungen; es ist ihnen nicht mehr geheuer, sie denken an die Heimfahrt. Warte, über ein kleines, dann werden die Strahlen der Sonne schwach, dann fegen kalte Stürme vom Norden her über das hochgelegene Land und schütteln die Bäume, und was Blätter hat, das muß sie lassen. Und wieder über ein kleines liegt die weiße Decke da und spannt sich aus von den dunklen böhmischen Wäldern her, legt sich über den breiten Bergrücken, wirft ihre Falten hin auf den Grund, kriecht empor zum Landgrafenschlosse, und die schwarzen Wälder ächzen unter der 57 weißen Last. Dann trägt der Bergfrid drüben eine weiße Kappe, und das Burgdach am Walde trägt auch eine, und an den Dächern der Schlösser hängen Eiszapfen. Dann sind die Staren längst fortgezogen, es ist alles tot im Lande der Hügel, nur da und dort steigt Rauch aus den verschneiten Dörfern empor, nur da und dort streichen krächzende Raben über die Fläche. –

Langsam sind wir in der Dämmerung auf dem Berggrat weitergegangen bis dahin, wo er rasch gegen Mitternacht zum Thale abfällt.

Der Mond steigt hinter den böhmischen Bergen empor; eine mächtige Steinlinde streckt einen gewaltigen Ast über den dämmerigen Weg herüber. Sie ist wohl uralt und seltsam anzusehen; es ist, als ob ihr die Krone fehle. Ein kalter Wind streicht um den Baum; es fröstelt uns, und wir wollen rasch vorübergehen.

Da tritt ein mißgestalter Mann aus dem Dunkel hervor, zieht seine Mütze und bietet uns einen guten Abend. Wir erwidern den Gruß. Es ist der erste Mensch seit einem halben Tage.

»Wie weit haben wir noch nach Hohendreß?« fragt der Vater.

Der Mann tritt heran, schlenkert mit den Armen und lacht blöde: »Vom kalten Baum auf Hohendreß – ich weiß nicht.«

»Ist das der kalte Baum?«

»Ja, Herr.«

58 »Warum heißt er denn ›der kalte Baum‹?«

»Halt wegen dem kalten Wind, ist halt verhext,« sagt er und lacht.

Ich trete näher an die Linde und sehe, daß ihr Stamm hohl ist. Den Straßengraben entlang stehen viele Totenbretter, neue und alte. Der Wind streicht in kurzen Stößen durch die Äste, die Blätter rauschen.

»Alle Jahre schlägt er aus wie die andern Bäume und ist aber viel anders als die andern Bäume,« sagt der Mann, und ich weiß nicht, ob er das zu uns sagt oder ob er mit sich selber spricht. Er schaut uns nicht an, der kalte Wind zaust seine Haare, und er dreht sein Käpplein zwischen den Händen. Der Vater sagt, er solle es aufsetzen, aber er hört nicht und redet weiter:

»Den Baum kann niemand nennen, er sieht nur aus wie ein Lindenbaum. Er ist auch nicht faulig; der Ast da droben muß ja noch den großen Reiter tragen, wenn der Feind kommt, den du gar nicht zählen kannst. Da wird drunten und überall eine Schlacht sein um den Baum her, daß das Blut die Mühl' bei Linda treibt. Der Baum, den du nicht nennen kannst, wird stehen bleiben, bis alles zu Grunde geht. Hernach kommen aber neue, reiche Menschen, und alle armen Menschen sind tot.«

Das Männlein hat zuletzt ganz laut und fest gesprochen. Dann sagt es unterwürfig mit weinerlicher Stimme: »Bitt' gar schön, schenkt's mir einen Kreuzer.«

59 Der Vater reicht ihm eine Gabe, und es trollt weiter. Der Vater fragt mich, was das gewesen sei. Ich antworte: »Ein Blöder, der uns eine der ältesten Sagen seines Volkes erzählt hat.«

»Du hast recht,« sagt der Vater. »Es klang wie Auferstehen und Gericht.«

Langsam gehen wir unter dem Baum vorbei und sehen hinaus ins Land. Über den böhmischen Wäldern steht jetzt die volle Mondscheibe und übergießt die dunkle Landschaft mit ihrem weißen Lichte, weithin gegen Morgen, Abend und Mitternacht wallen die Nebel. Hinter uns rauschen die Blätter der Linde – wohl vom Herbst und vom Gehen, oder gar von dem geharnischten Reiter, von der schrecklichen Schlacht, von den Blutbächen, von der Götterdämmerung, von der Furcht vor einem Weltgericht, von der Hoffnung auf bessere Zeiten und von einem alten, verdrängten Glauben, der durchs Land irrt im Bettlergewande der Sage? Wer weiß es? –

Aber da! Vor uns, auf gleicher Höhe mit dem Berggrat, über dem weißen Nebelmeer drüben, ragt ein Schloß mit hohem Dach, mit dicken, runden Türmen; hinter ihm steht ein langgestreckter Hügel mit schwarzen Wäldern; das Mondlicht spielt auf den Wäldern, auf dem Nebel und auf dem Dach des Schlosses; das Schloß liegt da wie ein großes Auswandererschiff, vor einer stillen Insel verankert. Lange schauen wir hinüber. Es ist das Schloß von Hohendreß, es ist die Heimat unserer Väter. 60

 


 


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