August Sperl
Die Fahrt nach der alten Urkunde
August Sperl

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Carriere.

Was ist's doch Schönes um die Carriere, Vater,« sagte ich einmal, als wir auf unserer Fahrt wieder eine große Fußwanderung zu machen hatten.

»Arbeiten, ringen, steigen und herrschen! Es liegt für mich ein zauberhafter Klang in dem Worte Carriere. Ich möchte wohl auch einst Carriere machen, ich denke, daß dies gerade eines alten Geschlechts sehr würdig ist.«

Der Vater sah mich einen Augenblick von der Seite an, aber er entgegnete kein Wort.

»Vater,« begann ich wieder, »hältst du das Streben nach Ansehen und Einfluß für verwerflich? Warum antwortest du nicht?«

»Weil ich an eine Geschichte denke. Ich will sie dir erzählen. Unterbrich mich nicht, wenn dir auch einzelnes davon schon bekannt ist. Du warst ein Kind, als sie sich zutrug, und ich habe es später vermieden, von ihr zu sprechen. Aber heute will ich sie erzählen, diese 97 fast unglaubliche Geschichte aus dem Leben. Höre sie; denn in ihr spiegelt sich – unsere Zeit.

Es war kurz nach meiner Versetzung in die Hauptstadt vor dreizehn Jahren. Ein schöner Herbstmorgen war angebrochen, und die glänzende Sonne lachte in die Straßen herein. Ich trat aus der Hausthüre, du und Fritz waret bei mir.

Zu einem bedeutungsvollen Gange schickten wir uns an: zum ersten Gang in die Lateinschule.

»Arme Kinder!« dachte ich, und die alten, halbvergessenen Gespenster von Skriptionen, Jahreszahlen, unregelmäßigen Zeitwörtern und mathematischen Sätzen gingen mir durch den Kopf.

Ihr »armen Kinder« aber waret seelenvergnügt und schautet ahnungslos in die Welt. Ihr wußtet ja nicht, daß sich in diesem Augenblick leise hinter euch eine Thüre schloß, die Thüre eurer goldenen Kindheit.

Wir schritten weiter. Die Spatzen schrieen so lustig auf den Dächern, die Sonne glänzte so golden, die frische Morgenluft wehte so erquickend um die Gesichter. Ich aber that ein Gelübde in meinem Herzen. Das hieß: ich will die harmlosen Geschöpfe da neben mir, den eigenen Sohn und das anvertraute Kind des verstorbenen Bruders, treu und gewissenhaft zur Arbeit erziehen, aber ich will sie mit weiser Hand leiten, ich will es ihnen leicht machen, wo ich es nur immer leicht machen darf. Von Stufe zu Stufe will ich sie führen, will ruhig 98 abwägen, was für ihre Schultern paßt und was ihnen zu schwer ist. Das Alles will ich thun, weil ich wünsche, sie möchten dereinst dem wirklichen Leben mit starken Leibern und mit frischen Herzen entgegentreten und noch als Greise das Andenken ihres Erziehers segnen.

So dachte ich. Da zupftest du mich am Arme und sagtest: »Vater, da kommt hinter uns der Onkel und Hans.«

Ich wandte mich um, begrüßte den Vetter und strich seinem Hans über die Wange. Der zog die Mütze und gab mir die Hand. Da bemerkte ich Thränen in seinen Augen.

»Ja, Hans!« sagte ich, »was ist denn das? Sei doch tapfer! Schau' dir meine Buben an! Die gehen ohne schwere Sorgen in die Lateinschule und glauben, sie werden jetzt große Herren. Kopf in die Höh', Herz auf, daß die Sonne drein scheint!«

Hans sah mich betrübt an. Sein Vater aber sagte: »Es schadet nichts, wenn er bei Zeiten den Ernst des Lebens erfaßt und etwas nachdenklicher wird. Gestern noch war er so ausgelassen, daß ich ihn gehörig vornahm. Ich habe es ihm gesagt: jetzt ist's aus mit dem kindischen Wesen, jetzt gibt es nur noch Arbeit. Er versteht es noch nicht ganz. Aber an mir soll's nicht fehlen!«

Ich schritt schweigend neben dem Vetter und machte mir meine Gedanken. Ich kannte ihn ja seit langen Jahren. Er war ein Mensch von sehr großer Begabung 99 und von ebenso großem Fleiße – aber größer noch als alle seine sonstigen Eigenschaften war sein Ehrgeiz. Wie oft hatten wir schon über unsere Lebensanschauungen gesprochen, und wie oft hatten wir erkannt, daß sie ganz unendlich weit von einander abwichen! Sein Ehrgeiz verzehrte ihn. Wir waren auf einer Schulbank miteinander gesessen – Streben und Glänzen waren dort seine Ideale gewesen, Streben und Glänzen, das blieb seine Losung auch auf der Hochschule. Er wurde älter, er trat ins Amt, und ein Zaubergebilde tanzte vor ihm: das hieß Carriere. Die nahm sein Dichten und Trachten ein, die beherrschte sein Thun und Lassen, für sie lebte er, sie gab seinem Dasein Wert und Inhalt, sie war seine Göttin. Die Vorgesetzten wurden aufmerksam auf ihn, er stieg, und Seher in seinem Amte weissagten ihm eine glänzende Laufbahn.

»Es ist doch etwas Entsetzliches,« sagte der Vetter gedankenvoll, während wir durch einen Strom von Knaben hindurchgingen, die alle demselben Ziele zusteuerten. »Es ist etwas Schreckliches um diese Konkurrenz! Sieh' nur her, diese Menge, diese Menge! Was soll aus den Kindern werden?«

»Darüber mache ich mir zur Zeit noch nicht die geringste Sorge,« sagte ich, während ihr drei Knaben außer Hörweite vor uns dahinschrittet. »Mir bereitet nur das Eine Kummer und Kopfzerbrechen: wie bewahre ich meine gesunden Kinder, daß sie mir in den acht 100 Jahren nicht durch das verrückte Schulhocken an Körper und Geist krank werden? Ich habe mir's aber auch fest vorgenommen, sie in jeder freien Stunde in Feld und Wald zu führen, und gestern habe ich für die Regentage ein prächtiges Reck zwischen die Pfosten der Wohnzimmerthüre bauen lassen. Ich rate dir, mach's mit deinem Hans auch vernünftig und gib ihn mir recht oft in die Kur. Für alles andere sorge nicht.«

Der Vetter verzog den Mund. »Ich bin gewiß auch für Bewegung im Freien,« erwiderte er, »aber meine erste Sorge ist die, daß Hans arbeiten lernt. Unsere Ansichten sind ja in diesen Sachen von jeher auseinander gegangen. Ich kenne die deinigen recht gut, aber ich verstehe sie nicht. Die Menschheit zerfällt für mich in zwei große, ungleiche Teile: in die Herrscher und in die Beherrschten. Das war von jeher und wird auch immerdar so bleiben. Du hältst doch sehr viel auf das Alter unseres Geschlechts und hast mir schon so manchen Vortrag darüber zum besten gegeben. Auch mir war es immer interessant, zu wissen, daß unsere Vorfahren je und je, bald in größeren, bald in kleineren Kreisen, zu den Herren gehört haben. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich auch zu Hans schon öfter über die Vorfahren gesprochen; denn ich wünsche, daß auch er einst zu der herrschenden Kaste gehöre. Von Anfang an will ich ihn zu meinen Idealen erziehen, und er muß mit seinen Gaben glänzen. Der Sporn des Daseins ist der 101 Ehrgeiz. Ich habe mich kalt und nüchtern umgesehen in der Welt und habe als letzte Triebfeder hinter allem den Ehrgeiz und immer wieder den Ehrgeiz gefunden.«

Ich schwieg eine Zeit lang. Es war ja der alte Zwiespalt. Dann sagte ich: »Dein tiefsinniger Satz über den Ehrgeiz findet vor allem in einem schönen Pferderennen oder in einem Hahnenkampf ganz prächtige Bilder.« – –

Wir waren am Ziele. Unter dem großen Thore des Gymnasiums schoben und drängten sich die Haufen. Ich gab euch die Hand. Der kleine Hans blickte ängstlich aus seinen großen Augen zu seinem Vater empor. Der hatte die Linke schwer auf des Knaben Schulter gelegt und hob drohend den Zeigefinger der Rechten.

Ich stand und sah euch lange nach, und wieder wollten die schweren Gedanken kommen – aber es waren nicht mehr eure Krausköpfe, um die ich mich sorgte.


Zwei Jahre waren ins Land gegangen. Der Vetter war an der goldenen Leiter eine Sprosse höher gestiegen.

Ihr Knaben saßet in der dritten Lateinklasse, aber Hans hatte längst seine roten Backen verloren. Denn er mußte den Lebensanschauungen seines Vaters entsprechen und nicht nur ordentlich lernen, sondern auch glänzen, glänzen in den Lehrfächern der Schule, glänzen in der Musik, glänzen in der französischen Sprache – 102 und auffallend oft erkundigte sich damals der Vetter bei mir über die Beweise unserer adeligen Herkunft. Ich bin überzeugt, er hatte seinen Hans zum Diplomaten bestimmt.

Es war in der That erstaunlich, welche Kenntnisse der überreizte Knabe in Dingen besaß, die sonst weit über die Fassungskraft dieses Alters hinausgehen. Ich habe mich durch dieses Strohfeuer nie blenden lassen, sehr oft aber den Kopf darüber geschüttelt.

Auch ihr hattet euch brav emporgelernt; aber ungestört befandet ihr euch noch im Besitze eurer Gesundheit; denn ich verlangte von euch das Glänzen ebensowenig, wie ich euch auferlegte, auf dem Seile zu tanzen. –

An einem Abend gegen Ende Oktober war ich in Gesellschaft gewesen und bog um halb zwölf Uhr in meine Straße ein. Alles war still, die meisten Fenster lagen dunkel da, und ein leiser Regen ging zur Erde nieder.

Ich hüllte mich fester in meinen Mantel, summte ein Liedlein vor mich hin und kam so allmählich an unser Haus.

Eben wollte ich den Schlüssel anstecken, da hörte ich aus dem Hause gegenüber eine kreischende Stimme. Ich wandte mich um. In der Wohnung des Vetters im zweiten Stock brannte noch Licht. Die weißen Vorhänge waren herabgelassen, und ich sah zuweilen einen dunklen Schatten an ihnen, der sich hastig hin und herbewegte. Ich ging mitten auf die Straße. Der Schatten bewegte 103 sich immer noch, und ich vermochte nun auch einzelne Worte aus den geschrieenen Sätzen zu unterscheiden. Der große Pädagoge nahm mit seinem Kinde griechische Vokabeln durch.

Ich stand regungslos. Die feinen Tropfen fielen auf mich herab, und in meinen Ohren gellte das entsetzliche Geschrei. Wie gebannt sah ich zu den Fenstern empor, der Schatten ging auf und nieder, ich glaubte, ein wutbebendes Menschenantlitz zu sehen, ich dachte an den sanften, schüchternen Knaben, über den sich dieses Geschrei ergoß, ich glaubte, auch sein bleiches, abgespanntes Gesicht zu schauen, ich stellte mir vor, wie er sich müde und verweint zusammenduckte unter der gräßlichen Erschütterung und seine Gedanken nicht mehr zusammenzufassen vermochte. Das Entsetzen und der Zorn packten mich. –

Am andern Morgen erzählte ich der Mutter, was ich gehört hatte, und sie teilte mir mit, daß dem kleinen Hans das Griechische Schwierigkeiten bereite.

»Ah,« sagte ich, »das ist der Rückschlag. Die Sehne war zu straff gespannt, nun bricht der Bogen. Und heute ist ja die erste Probearbeit; da war wohl das, was ich gestern hörte, die Vorbereitung. O du Thor!«

Als ich den Vetter am selben Tage noch traf, machte ich ihm rückhaltlose Vorwürfe und sagte ihm, daß er sein Kind auf diese Weise in kürzester Zeit zu Grunde richten werde.

104 Er verstand mich nicht, sprach von Starrsinn und Flatterhaftigkeit und schloß mit den Worten: »Laß' du mich nach meinen Grundsätzen verfahren. Sein eigenes Fleisch und Blut kennt man am besten. Ich will den Baum biegen, so lange er jung ist, und Hans wird mir's einstens danken, wenn ich streng gegen ihn war.«

Ich konnte nichts ausrichten. Er dressierte den Knaben auf Carriere, wie man einen Hund hetzt auf die Strohpuppe. Nach einigen Tagen kam das Ergebnis der Probearbeit heraus. Du, der gutbegabte Leichtfuß, hattest die dritte Note bekommen. Fritz aber, dem das Lernen viel langsamer einging, hatte die Zwischennote »drei zu zwei.« Ich weiß es noch sehr wohl: ich sprach dir ernsthaft zu und diktierte dir eine kleine Strafe. Denn du konntest besser arbeiten, wenn du wolltest. Zuletzt fragte ich dich, warum du nicht auch die Note III–II bekommen habest.

»Ach Papa,« sagtest du kleinlaut, »ich habe um einen Viertelsfehler mehr als Fritz; ich habe 17¼ und Fritz hat nur 17 Fehler. Mit 17 Fehlern hätte ich noch III–II.

Wir setzten uns zu Tische, es wurde nicht weiter über die Angelegenheit gesprochen. Ich machte mir meine besonderen Gedanken über Klausurarbeiten und Angstprodukte im allgemeinen und über Viertelsfehler im besondern.

Abends fragte ich euch nach Hansens Note.

105 »Ach, Onkel, der hat auch Note III,« sagte Fritz, »und weil er so geweint hat, ist er vom Herrn Professor vor die Thüre geschickt worden.«

Ich warf der Mutter einen Blick zu. Sie sah mich traurig an; denn sie liebte den kleinen Neffen sehr. –

Ihr Kinder waret längst in den Betten. Die Uhr ging stark auf die elfte Stunde. Da rief mich die Mutter in das Nebenzimmer, öffnete leise das Fenster und sagte: »Höre!«

Wieder bewegte sich drüben hinter den weißen Vorhängen der kleine Schatten, wieder donnerte und schrie und kreischte es, und dazwischen hörte ich klatschende Schläge. Die Mutter flüsterte: »Barmherziger Gott, welche Sünde! Der martert sein zartes Kind noch zu Tode.«

»Ich habe das Meine gethan,« sagte ich und schloß das Fenster. »Ich kann gar nichts mehr thun. Der Vetter bricht sofort ab, wenn ich die Rede darauf bringe.« –

Lange noch glaubte ich in meinen Träumen das Geschrei zu hören, und ich sah das erbarmungswerte Kind, wie es sich tief herabduckte auf sein nasses Heft.


Immer rauher wurde es draußen in der Natur, immer schwerer wurden die griechischen Deklinationen in der Schule, und immer trübseliger wurde das Gesicht des kleinen Hans. Wer ihm doch hätte helfen können! Er kam gar nicht mehr hinauf über seine Dreier.

106 Es war in der letzten Woche vor Weihnachten. Tiefer Schnee lag, eine grimmige Kälte herrschte. Alles rüstete sich auf das Fest, und in der dritten Lateinklasse wurde noch eine Probearbeit geschlagen, die letzte vor den Ferien.

»Sie war sehr schwer,« sagtest du am Abend; »aber ich glaub', ich habe nicht viele Fehler gemacht.« – »Ich glaub', mir ist's nicht recht gut gegangen,« sagte der bedächtige Fritz.

»Nun, wir werden sehen,« lautete meine Antwort. »Gelernt habt ihr ja ordentlich, das weiß ich wohl.«

Ihr sagtet »Gutenacht«.

Als auch wir zur Ruhe gehen wollten, rief mich die Mutter wieder ins Nebenzimmer. Und wie so oft schon hörten wir das schreckliche, nervenzerrüttende Schreien. Nach und nach verstand ich abgerissene Worte. Der Mensch nahm mit seinem Kinde das Konzept der Probearbeit durch. »Zwanzig Fehler!« schrie er. »Da bekommst du ja einen Vierer! Aber warte dann! Freue dich auf den Christabend und auf die Feiertage. Ich schlage dir den Leichtsinn aus dem Leibe. Du wirst mir nur Schande machen, du Bursche!«

Seufzend schloß ich das Fenster und fragte: »Was sagt denn die Mutter dazu?«

»Sie weint immer,« lautete die Antwort.

Am Tage vor dem Christabend wurde die Probearbeit herausgegeben! Ich kam an jenem Nachmittag 107 schon frühzeitig nach Hause. Fritz sprang mir entgegen: »Hurrah! Note II.«

»Brav! Und hast gedacht, es sei dir schlecht gegangen.«

Da kamst du kleinlaut heran.

»Nun?«

»Note III, Vater.«

»Aber Georg! Leichtfuß!« –

»Ach, Vater, die war auch arg schwer. Der Hans . . .«

»Was ist's mit dem Hans?« rief ich und hatte eine böse Ahnung.

»Der hat III–IV.« –

Ich schwieg. Aber diese fatale Note – »fast ungenügend« – hätte ich heute lieber in meinem Hause gesehen, als da drüben. –

Da streckte unsere Köchin den Kopf zur Thüre herein: »Die Frau Rätin läßt fragen, ob der Hans vielleicht bei uns ist.«

Wir verneinten. »Er ist heute gar nicht mit uns heimgegangen,« sagtet ihr. »Er hat noch auf den Herrn Professor gewartet.«

Das Mädchen entfernte sich, und ihr erzähltet, Hans habe sich in der Klasse vor den Lehrer hingeworfen und ihn flehentlich gebeten, ihm doch einen »halben Fehler« nachzulassen; dann hätte er noch die dritte Note. Der Lehrer habe das natürlich nicht thun können, er habe ihn aber aufgehoben, habe ihm freundlich 108 zugesprochen, er solle eben das nächste Mal besser arbeiten. Hans habe die Hände gefaltet, habe gefleht und schrecklich geweint.

Es ergriff mich Sorge um das Kind. Ich warf meinen Mantel um und eilte über die Straße zur Cousine.

Die zarte Frau war in großer Aufregung. Sie stand zum Ausgehen gerüstet, und ich bot ihr meine Begleitung an. Auf dem Wege zum Lehrer des kleinen Hans erzählte ich ihr das Gehörte. Da brach sie in krampfhaftes Weinen aus und sagte: »Mein armes, armes Kind! Ich glaube, es thut sich ein Leid an. Es fürchtet seinen Vater. Was wir beide aber in den letzten Wochen ausgestanden haben, das weiß der liebe Gott allein!« –

Wir kamen zum Lehrer. Er wußte nichts über den Verbleib des Kleinen. Er war sehr bestürzt; denn er liebte den braven Schüler. Wer hätte dieses Kind auch nicht lieben sollen? –

Wir riefen die nächste Droschke an und fuhren zum Gymnasium. Das große Gebäude lag dunkel und öde. Lange mußten wir vor dem Thore warten, und ich hatte Zeit, mich an jenen sonnigen Herbstmorgen zu erinnern. Endlich kam der Pedell. Auch er wußte nichts von dem Knaben.

Ich wandte mich zu der zitternden Mutter: »Nun fährst du am besten aufs Bureau zu deinem Mann und 109 bestellst ihn auf die Polizei. Ich gehe die paar Schritte zu Fuß hinüber und mache die Anzeige. Er trifft mich dort.« Wir drückten uns die Hände und trennten uns. –

Ich nannte dem Beamten den Namen des Kindes und gab eine kurze Beschreibung seiner Person. Nach fünf Minuten eilten Schutzleute in die Winternacht hinaus.

Jetzt kam ein Wagen angerasselt. Der Vetter stürzte in das Zimmer. Er war totenbleich, und das böse Gewissen sah aus seinen Augen. Ich trat ihm entgegen. Er tastete nach meinen Händen, als wollte er sich daran klammern.

»Das Nächste ist besorgt,« sagte ich. »Wir können jetzt nichts thun, als warten. Fasse dich!«

»Warten!« stöhnte er und bedeckte das Antlitz mit den Händen. – –

Ja, es war ein entsetzliches Warten in jener Nacht. Von fernher drang verworren der Lärm der großen Stadt in das stille Amtszimmer. Alle halben Stunden kam das Dienstmädchen der Cousine, und immer wieder mußte ich es ohne Trost entlassen. Der Vetter hatte sich in die dunkelste Ecke auf ein Sofa gesetzt und starrte vor sich hin. Ich stand an einem der hohen Fenster und schaute in den schwarzen Hof hinaus. Das Feuer im Ofen krachte, der Beamte schrieb an seinem Pulte, und seine Feder fuhr knisternd über das Papier. Die Minuten wurden zu Stunden, und die Stunden wollten sich zu Nächten dehnen. Zuweilen kam ein Schutzmann 110 herein, und mit ihm drang ein eiskalter Luftstrom aus dem Korridore in das Zimmer. Und wieder ward es ganz stille in dem weiten, dunklen Gemache, nur das Feuer krachte, und nur die Feder knisterte. Aber um so geschäftiger, um so lauter war die Phantasie, die entsetzliche Phantasie. Mit Geisterhänden zog sie meine Gedanken hinaus unter den blitzenden Sternenhimmel, hinein in die Gassen der Stadt. Ich sah, wie das verschüchterte Kind, das sich nicht heimzugehen getraute, mit verweinten Augen, müde an den Häusern durch das Gewühle der Menschen hinschlich, ich sah, wie es sich allmählich aus den belebten Straßen in die öden Stadtteile verirrte, ich ging mit ihm immer weiter und weiter, der Schnee knirschte, und aus der Ferne her rauschte der Fluß. Jetzt stand der Knabe zitternd auf der langen, menschenleeren Holzbrücke, und ich sah, wie er sich über das Geländer beugte, wie er kämpfte mit der Todesangst und mit der Angst vor der Strafe. . . . . Immer weiter beugte er sich hinab, die schwarzen Wellen trieben eilig daher und stießen einander und sangen verwirrende Lieder. . . .

Da! Wieder war ein Schutzmann in das Zimmer getreten, hatte sich das Eis vom Bart gestrichen und sprach flüsternd mit seinem Vorgesetzten. Jetzt kam dieser langsam auf mich zu; er wollte mir etwas sagen – etwas Entsetzliches. Der Verzweifelte auf dem Sofa aber sprang auf und rief heiser: »Sagen Sie's nur! Er 111 ist tot! Ich will alles wissen!« Bekümmert erwiderte der Beamte: »Wir wissen noch gar nichts Bestimmtes; aber ein Schutzmann, der soeben in der Kanalvorstadt abgelöst wurde, erzählt von einem Knaben, den sie aus dem Fluß gezogen haben. Näheres kann er nicht sagen; aber er weiß, wo der Verunglückte hingebracht wurde. Wenn Sie hinausfahren wollen, kann er den Weg zeigen.«

Die letzten Worte hörten wir kaum mehr. Eine Droschke wurde angerufen, wir sprangen ein, der Schutzmann schwang sich auf den Bock, und im Galopp ging es hinaus in die Vorstadt. Wie lange, wie entsetzlich lange erschien mir die Fahrt! Der Wagen rollte über den pfeifenden Schnee. Die Laternen flogen vorüber. Ich kratzte ein Stück der gefrorenen Scheibe frei und starre hinaus. Seltsam, es war derselbe Weg, den auch vor wenigen Minuten meine Phantasie geführt hatte! Die Straßen wurden öder, die Laternen standen weiter auseinander, jetzt rauschte der Fluß, jetzt fuhren wir langsam über die Holzbrücke, dann ging es wieder im alten Tempo weiter, und endlich hielten wir mit einem Ruck vor einem niedern Hause. Ein Haufe Neugieriger umdrängte die kleinen Fenster, die Vordersten schauten gespannt in die Stube hinein und tauschten leise Bemerkungen. Der Schutzmann bahnte uns den Weg, und wir standen in der warmen, dampferfüllten Stube einer Wäscherin. Eine trübe Lampe hing an der Decke 112 und warf ihr unsicheres Licht über einen Tisch und über den entkleideten, leblosen Körper eines halbgewachsenen Knaben. Ein Blick auf das bleiche Antlitz – es war unser Kind nicht. Aber unwillkürlich blieben wir stehen und sahen dem Arzte zu. Es war ein alter Herr; er hatte den Rock ausgezogen und waltete mit bekümmertem Gesichte seines Amtes. Neben dem Tische kniete ein Weib in dürftigen Kleidern und schluchzte laut. »Es ist ihr Einziger,« sagte ein Mann, der neben uns stand. Sonst war es ganz stille, und nur zuweilen gab der alte Herr kurze Befehle an die Wäscherin und an die Männer, die ihm Handreichung thaten. Es war ein jammervoller Anblick – aber der Jammer in unsern Herzen war gerade so groß. Der Vetter zog mich leise aus der Stube fort, wir stiegen in unsern Wagen und fuhren ab. Da kam plötzlich Bewegung in den Haufen vor den Fenstern. Wir hörten noch schreien: »Er lebt! Er lebt! Ein Hoch dem Doktor!« Der Vetter aber lehnte sich tief in die Kissen zurück und schluchzte laut. –

Nach einer Viertelstunde saßen wir wieder in dem Zimmer des Beamten und nahmen das schreckliche Warten von neuem auf.

Ich will sie nicht weiter schildern, jene Nacht, die ich niemals vergessen werde. Es war ja immer dasselbe Einerlei: Ich ging auf und ab, der Vetter saß gebrochen auf dem Sofa, in den Straßen wurde es allmählich totenstill, rapportierende Schutzleute kamen und gingen, 113 die Beamten lösten sich ab – von dem Knaben hatte man keine Spur gefunden.

Der Morgen dämmerte heran. Ich stand wieder am Fenster und schaute müde und abgespannt zu, wie die Finsternis wich und ganz allmählich die Umrisse der hohen Hofmauer in graues Frühlicht traten. Der Vetter war seit einer Stunde in einen unruhigen Halbschlummer gefallen, aus dem er oft stöhnend emporfuhr und fragte: »Noch nichts?« – »Noch nichts,« lautete meine immer gleiche Antwort.

Es war um acht Uhr. Da hörte ich auf einmal von fernher Stimmen und eilige Schritte. Ich lauschte. Die Schritte kamen näher. Die Thüre wurde aufgerissen. Der Beamte von gestern stand auf der Schwelle; hinter ihm sah ich Schutzleute. »Herr Rat!« rief er in die Stube. »Herr Rat! da ist er!«

Der Schläfer erwachte und starrte auf die Thüre. Der Beamte aber zog aus dem dunklen Korridore den Knaben herein. Ich hätte jubeln können – es war Hans.

Stille stand er da, das Haupt ein wenig auf die Seite geneigt, als zaudere er, weiter zu gehen, und angstvoll schaute er auf seinen Vater hinüber. Der aber sprang empor, eilte auf das Kind zu, schloß es in seine Arme, bedeckte sein Antlitz mit Küssen, streichelte seine Locken und konnte nichts hervorstoßen als: »Mein Sohn! Mein Sohn!«

114 Jetzt ließ er ihn aus den Armen, hielt ihn von sich ab und sah ihm lange in die Augen. Das Kind aber öffnete mit Anstrengung die Lippen und sagte langsam: »O Papa, ich habe ›fast ungenügend‹.«

Und wieder schloß der Vater seinen Knaben ans Herz. –

Wie er gerettet worden war? Nach der Schule hatte ihn die Angst zur Stadt hinausgetrieben. »Nur nicht heim, nur nicht heim!« Das war sein einziger Gedanke gewesen. Und so lief er immer fort auf der Landstraße, immer fort in den frühen Abend, in die Nacht hinein. Draußen endlich, dort, wo die Straße durch den großen Wald geht, konnte er nicht mehr weiter vor Kälte und Erschöpfung. Er setzte sich auf einen Stein am Wege und wollte nur ein wenig ausruhen. Dort wurde er halberstarrt von einem Milchbauern bemerkt, der aus der Stadt heimfuhr. Der Mann hob den Knaben auf seinen Wagen, brachte ihn in sein Dorf, gab ihm zu essen und steckte ihn in ein Bett. In aller Frühe nahm er ihn wieder mit sich in die Stadt und lieferte ihn auf der Polizei ab; denn der Knabe hatte ihm um keinen Preis die Wohnung seines Vaters gesagt.


Der Vetter hat seinen Knaben nicht mehr gescholten oder geschlagen, wenn er einmal eine schlechtere Note heimbrachte. Auch verlangte er nicht mehr von ihm, daß er »glänze«. Er überließ ihn von nun an dem 115 sanften Einfluß der Mutter; denn es mochte ihm in den qualvollen Stunden jener schrecklichen Nacht wohl die Erkenntnis von seiner erzieherischen Unfähigkeit gekommen sein. –

Für seine eigene Person nahm er keine Lehre aus jenen Erfahrungen. Im Gegenteil, es war, als wollte er durch doppeltes Streben ersetzen, was er an Hoffnung auf eine glänzende Zukunft seines Kindes verloren zu haben glaubte.

So jagte und hastete er weiter. Vor ihm rollte auf der glänzenden Kugel seine Göttin. Viele rannten neben ihm, vor ihm, hinter ihm. – –

Da warf man einen kleinen Stein in die Bahn vor seine Füße, und er stürzte, gerade als er die Hand nach dem höchsten Posten ausstrecken wollte. Es war nur ein kleiner Stein, doch er kam durch ihn zu Fall. Er hätte den Posten verdient, er hätte das nächste Anrecht darauf gehabt – ein Günstling wurde ihm vorgezogen. Eine so einfache, selbstverständliche Sache, eine Sache, die alle Tage vorkommt. Dem armen Menschen aber brach sie das Herz; denn er kannte ja nichts auf Gottes weiter Erde als den Ehrgeiz.

Sie suchten ihn zu zerstreuen, sie unternahmen eine Reise in die Alpen mit ihm; es half alles nichts, er wurde krank. Das kranke Herz machte auch den Körper krank. Er kehrte heim, ich hätte ihn kaum wieder erkannt. Er war nur von einem Gedanken beherrscht: »Ich 116 bin übergangen!« Und der Gedanke nagte wie ein Wurm an seinem Mark. Tagelang saß er da in dumpfem Brüten. Er konnte sich nicht emporreißen. Er sah nur auf den staubigen Weg, auf dem die Göttin in der Ferne verschwand, seine Göttin.

Da kam ein Mächtiger. Der streckte seine eisigen Hände aus und rührte ihn an. Da verdunkelten sich seine Augen, und seine Pulse stockten. – –

Ich stand lange vor seiner Leiche und schaute in das tote Antlitz. Die Züge waren noch härter, noch schärfer als ehedem. Der Mund war krampfhaft geschlossen, auf der wachsgelben Stirne waren tiefe Furchen zu sehen. »Dies Leichenantlitz ist so friedlos,« dachte ich bei mir.

Und wie friedlich hätte dieser Mensch leben können, wenn er bei Zeiten das wahre Erdenglück erkannt hätte. Er war gewiß nicht unedel gewesen, dieser hochbegabte Mann; aber er hatte sein Leben in einem Wahn vergeudet.

Ich stand und dachte an die Verblendeten, die keuchend einherlaufen hinter der Göttin, und ich wünschte, sie möchten einen Augenblick innehalten und auf diesem friedlosen, starren Antlitz ihr Spiegelbild schauen können.

Und den andern, den Streber, wünschte ich zum Bahrrecht her an diesen Schragen, den Günstling, für den man dem Toten das Steinchen in den Weg geworfen hatte. Auch wäre es gut, wenn solche Menschen den Jammer ihrer Opfer ansehen müßten, sie sollten dabei 117 sein, wenn diese sich totwund verkriechen und zum Sterben legen! –

»Du Thor!« wird da der eine oder der andere sagen. »Du Thor! das ist eben einmal so im Leben, das ist der Kampf ums Dasein, das ist die Carriere!«

»Ja wohl,« sage ich, »du Thor, das ist die Carriere!«


»Vater,« begann ich, nachdem wir lange schweigend neben einander hergegangen waren. »Vater, hältst du also das Verlangen nach Auszeichnung überhaupt für verwerflich? Diese Geschichte, die ich in ihrem ganzen Zusammenhange nie gekannt habe, hat mich erschüttert. Aber ich glaube, daß es doch auch ein Streben gibt, das sehr achtenswert ist.«

»Gewiß, mein Sohn,« erwiderte der Vater. »Ich habe deinen Einwand erwartet. Höre weiter:

»Es liegt dem Menschen im Blute, sich zur Geltung zu bringen, sich hervorzuthun, und dieser Drang ist eine der mächtigsten Triebfedern der menschlichen Gesellschaft. Wer die Kraft in sich fühlt, hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, nach der Stellung im Staate zu ringen, die ihm volle Entfaltung möglich macht; denn das Wort vom vergrabenen Pfunde ist ein furchtbar ernstes Wort, und der Zweck unseres Daseins ist nicht die Beschaulichkeit, sondern die Arbeit.

»Aber gleichwie alle großen, gottgewollten 118 Einrichtungen, so kann auch dieser Trieb mißbraucht und zu Knechtsdiensten herabgewürdigt werden, und das rechtschaffene Streben verwandelt sich in eine wilde Jagd nach dem Glück!

»›Nit eitel Ruhm!‹ hat vor Zeiten einer unseres Geschlechts in das Spruchband seines Wappens als Wahlspruch geschrieben. ›Nit eitel Ruhm!‹ möchte auch ich dir auf deine Frage antworten.

»Arbeite, ringe, kämpfe – steig' auch meinetwegen, aber thue alles um der Sache willen; nur dann wirst du Frieden haben. Niemals strebe um deiner selbst willen; denn das ist ein jämmerlicher Lebenszweck, bei dem das Herz verdorrt, bei dem die Augen blöde werden. Und wenn du nicht lediglich um der guten Sache willen arbeitest, so wirst du auch wohl dann und wann im stande sein, das gute Recht des unbequemen Nächsten deinem Ich zu opfern.

»Ich mag es nicht hören, das welsche Wort Carriere, dieses Wort, das so viele unserer besten Geschlechter seit Generationen vergiftet, das schon so manchen kraftvollen Jüngling unvermerkt zum gefügigen Ja-Herrn gemacht hat.

»Ein anderer unseres Geschlechtes, ein Mann vom Scheitel bis zur Sohle, der unter den widrigsten Verhältnissen durch treue Arbeit zu hoher Stellung emporgestiegen war und zuletzt in stolzer Bescheidenheit einen Ministerstuhl ausschlug, hat, als er sich zum Sterben legte, seinem Sohne gesagt: ›Du sollst mir kein Ja-Herr werden.‹

119 »Hüte auch du dich, mein Sohn, jemals das letzte Ziel alles unseres Strebens aus den Augen zu verlieren. Dann wird alles, was du thust, einen großen Hintergrund bekommen, dann wirst du dir von selbst klar über die unendlich feinen Grenzen, die zwischen dem Guten und dem Bösen gezogen sind. – –

»Wir Menschenkinder tragen zu tiefst im Herzen ein stilles Heimweh, ein Sehnen nach unbekannten, unvergänglichen Gütern; denn unsere Heimat ist nicht in dieser Welt.

»Dies Sehnen dürfen wir nicht unterdrücken, wir dürfen es nicht ungehört verhallen lassen im Lärm des Lebens. Dies Sehnen ist unser bestes Teil. Es wird mächtiger und mächtiger, je älter und reifer wir werden, je klarer wir das Leben durchschauen, das uns umgibt. Und mit diesem Sehnen werden dereinst die Glockentöne der Ewigkeit in wunderbaren Harmonieen zusammenklingen.

»Über all dem Kämpfen und Streben hienieden vergiß niemals das Wort:

»Mach' deinen Raupenstand
Und deinen Tropfen Zeit
Den nicht zu deinem Zweck,
Die nicht zur Ewigkeit.« 120

 


 


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